Cover

Über dieses Buch

Eine Reise zum Wiener Opernball? Finn und Joanna können sich was Aufregenderes vorstellen. Immerhin wohnen sie im berühmten Hotel Sacher, neben vielen prominenten Besuchern des Balls. Doch wider Erwarten wird ihr Aufenthalt spannender als gedacht. Denn das teure Collier von Finns Mama und andere Schmuckstücke von Hotelgästen verschwinden. Steckt ein gemeiner Dieb dahinter? Finn und Joanna recherchieren hinter den Kulissen des Hotels, verfolgen Verdächtige quer durch Wien und stoßen dabei auf die illegalen Machenschaften hochrangiger Geschäftsleute.

Der Autor

Andreas Schlüter wurde 1958 in Hamburg geboren. Bevor er mit dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begann, leitete er mehrere Jahre Kinder- und Jugendgruppen und arbeitete als Journalist und Redakteur. Mit dem ersten Band der Erfolgsserie »Level 4« gelang ihm 1994 der Durchbruch als Schriftsteller. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt er auch Drehbücher, u. a. für den Tatort und krimi.de. Andreas Schlüter arbeitet in Hamburg und auf Mallorca. Mehr auf www.schlueter-buecher.de

Der Illustrator

Markus Spang, 1972 in Karlsruhe geboren, beschäftigte sich eine Zeit lang mit Philosophie und Kunstgeschichte und studierte dann Illustration in Krefeld und Münster. Heute lebt er wieder in Karlsruhe, malt Bilder, zeichnet Schriften und ersinnt eigene Geschichten.

Inhalt

Was für eine Arie!

Eine böse Überraschung

Ein neuer Fall

Erste Ermittlungen

Ein großes Missgeschick

Eine aufregende Nacht

Der mysteriöse Gast

Jagd durch Wien

Ein spektakulärer Vorfall

Ein wertvoller Fund

Nachricht vom Dieb!

Finale

Kleiner Österreichisch-Wortschatz

Impressum

»OPERNBALL?«, rief Finn durchs Wohnzimmer. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er konnte einfach nicht glauben, was seine Eltern ihm und seiner älteren Schwester Joanna soeben mitgeteilt hatten. »Ihr wollt mit uns zu einem OPERNBALL?«

»Nun beruhige dich doch!«, forderte seine Mutter ihn auf. »Ihr sollt natürlich nicht mit zum Opernball, sondern nur mit nach Wien!«

»Kinder sind auf dem Opernball gar nicht zugelassen«, erklärte ihm sein Vater. »Ich habe eine Einladung über die Akademie der Künste bekommen. Das ist etwas ganz Besonderes. Da gehen eigentlich nur Promis oder reiche Leute hin, die sich sündhaft teure Karten leisten können. Und wenn wir so eine Gelegenheit bekommen, möchten eure Mutter und ich die auch gern wahrnehmen.«

»Kein Problem«, erwiderte Finn. »Fahrt doch. Joanna und ich bleiben hier!«

»Tickst du nicht mehr richtig?«, fuhr Joanna ihren Bruder an. »Ich will unbedingt mit nach Wien. Was denkst du denn? Das ist eine voll coole Stadt!«

»Ach ja?«, hakte Finn skeptisch nach. »Was ist denn dort so cool? Die Jungs oder wie?«

Joanna, die sich eigentlich gerade gemütlich in den bequemen Lesesessel ihrer Mutter gefläzt hatte, sprang auf wie eine Furie. »Sag mal, haben sie dich gebissen? Was denn für Jungs?« Während sie auf Finn losging, huschte ihr Blick schnell zu ihrer Mutter hinüber. Die würde doch Finns Behauptungen keinen Glauben schenken?

Eigentlich hatte ihr Bruder nicht geschwindelt, sondern nur eine Wahrheit unpassend ausgesprochen. Bei allen Städtereisen, die sie in der Vergangenheit unternommen hatten, war zweierlei geschehen: Erstens waren sie immer auf geradezu mysteriöse Art und Weise in einen Kriminalfall verwickelt gewesen, zweitens hatte sich seine Schwester jedes Mal in einen ortsansässigen Jungen verguckt und aufs Heftigste mit ihm geflirtet. Das Erste war gefährlich, das Zweite nervig.

Finn konnte auf beides gut verzichten, weshalb er lieber zu Hause geblieben wäre. Vielleicht hätte er eine Chance gehabt, seine Eltern umzustimmen, wenn seine Schwester mitgezogen hätte. Da sie aber unbedingt mit nach Wien wollte, hatte er verloren. Nie und nimmer würden seine Eltern ihm erlauben, mit seinen dreizehn Jahren mehrere Tage allein zu Hause zu bleiben. Trotzdem versuchte er es noch mal.

»Aber dann sind wir den ganzen Abend und die halbe Nacht ohne euch in Wien«, argumentierte er. »Und ihr wisst, was passiert, wenn ihr uns in einer fremden Stadt alleine lasst: irgendetwas Gefährliches.«

Natürlich wussten ihre Eltern von den vielen Kriminalfällen, in die ihre Kinder verstrickt gewesen waren. Aber nach wie vor hielten sie es für Zufall, dass Finn und Joanna so oft in Gefahr gerieten.

»Ihr werdet keineswegs allein in Wien sein, wenn wir zum Opernball gehen«, widersprach seine Mutter. »Ihr werdet allein im Hotelzimmer bleiben. Das ist ein Unterschied. Dort seid ihr wohlbehütet und die Rezeption ist rund um die Uhr besetzt. Nichts kann passieren.«

»Im Hotelzimmer?« Das wurde ja immer schöner! Finn hatte seinen Widerstand noch nicht aufgegeben. »Eingesperrt wie in einer Zelle? Das ist doch unmenschlich! Was sollen wir denn dort den ganzen Abend machen?«

Finns Mutter lachte lauthals los. »Ja, total unmenschlich! Du machst dort das Gleiche, was du hier abends machst: fernsehen, am Handy oder Computer rumdaddeln oder – wie deine Schwester – vielleicht mal ein Buch lesen und rechtzeitig schlafen gehen.«

Finn war entsetzt. »Ein Buch lesen? Den ganzen Abend?« Für den Fall, dass seine Mutter immer noch nicht bemerkt hatte, was sie ihrem Sohn antun wollte, fasste er noch mal zusammen: »Wir fahren zum OPERNBALL, wo wir im HOTELZIMMER eingesperrt werden, um die ganze Zeit ein BUCH ZU LESEN?«

Seine Mutter aber wiederholte nur lächelnd: »Tagsüber sehen wir uns Wien an und am Abend des Opernballs kannst du im Hotel fernsehen, am Handy oder Computer rumdaddeln und …«

»Okay«, schlug Finn ein. »Dann darf ich an Papas Laptop!«

Seine Mutter wechselte Blicke mit ihrem Mann. Finn sah, dass sie sich ausgetrickst fühlte. Denn normalerweise waren Computerspiele während einer Städtereise tabu. Finn wartete gespannt, wie sie sich entscheiden würde.

Finns Vater nickte schmunzelnd, seine Mutter seufzte.

»Okay, ausnahmsweise. An dem Abend des Opernballs darfst du an Papas Laptop.« Da sie als Handelsvertreterin ihren Laptop dringender brauchte als ihr Mann, der Kunstmaler war, stand lediglich sein Laptop für Spiele zur Verfügung. »Aber nur an diesem einen Abend.«

»Yeah!«, freute sich Finn. So hatte sein Einwand wenigstens zu einem Teilerfolg geführt.

»Respekt!«, lobte ihn seine Schwester etwas später in ihrem Zimmer. »Allmählich beginnst du, von mir zu lernen.«

Finn wusste, worauf sie anspielte. Normalerweise nämlich war sie es, die ihren Eltern mit geschickter Taktik und ausgeklügelten Tricks alles abrang, was sie sich vorgenommen hatte.

»Wenigstens sprechen die Wiener Deutsch«, sagte Finn, als er sich Joannas Reiseführer auslieh und unter den Arm steckte. »Dann versteh ich auch mal etwas.«

»Abwarten«, erwiderte Joanna. »Die sprechen zwar Deutsch. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir alles verstehen, was die Wiener sagen.«

Finn schaute sie verwundert an. »Wieso das denn nicht?«

»Na, die sprechen österreichisches Deutsch. Und sie benutzen teilweise andere Wörter. Was ist, wenn du zum Beispiel Marillenmarmelade zum Frühstück bekommst?«

Finn zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Probiere ich. Was sind denn Marillen?«

»Aprikosen!«, übersetzte Joanna kichernd. Sie wusste, dass Finn Aprikosen-Marmelade verabscheute.

»Uäääh!«, machte der auch sofort. »Wieso sagen die denn Marillen?«

»Keine Sorge, in Österreich gibt es superleckere Mehlspeisen und Kuchen.« Joanna schlug einen beschwichtigenden Ton an. »Und auf den bekommst du eine Extraportion Schlagobers!«

»WAS?«, quiekte Finn entsetzt auf. »Nein! Was ist denn das schon wieder?«

»Na, Schlagsahne!«, erläuterte Joanna und kicherte wieder. Denn Sahne liebte Finn über alles.

»Oh Mann!«, stöhnte Finn. »Heißen die Wiener Würstchen dort wenigstens auch Wiener Würstchen?«

»Nein«, antwortete Joanna. »In Wien heißen sie Frankfurter.«

»Nee, is klar«, sagte Finn. »Die spinnen, die Wiener!«

Schon eine Woche später ging’s los. Auf der Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt musste Finn zugeben, dass Joanna nicht übertrieben hatte. Sie hatte behauptet, Wien sei mindestens so schön wie Prag, nur größer. Und genauso kam es Finn auch vor. So viele schöne historische Gebäude hatte er zuletzt in der Hauptstadt von Tschechien gesehen. Aber hier waren es deutlich mehr und durch die Größe der Stadt erschienen sie noch prächtiger und imposanter. Sie fuhren auch an der Wiener Staatsoper vorbei, die ein ebenso beeindruckendes Gebäude war.

»Es ist eines der bekanntesten Opernhäuser der Welt!«, erklärte ihm seine Mutter. »Eröffnet am 25. Mai 1869. Mit einer Oper von Mozart, der ab 1781 bis zu seinem Tod zehn Jahre später in Wien lebte. Seine Wohnung kann man hier übrigens besichtigen.«

Finn verzog das Gesicht. »Mozart? Das ist doch so ein langweiliges Gedudel und Opern-Gejammer, oder nicht?«

»Mozart?«, widersprach seine Schwester. »Das ist voll der Superstar gewesen. Vermutlich der berühmteste Musiker aller Zeiten!«

»So ’n alter Knacker?«, fragte Finn.

Joanna lächelte. »Sogar dir sagt sein Name was. 229 Jahre nach seinem Tod. Und das, obwohl er schon mit fünfunddreißig Jahren gestorben ist. Er hat so kurz gelebt und ist trotzdem so berühmt geworden, über Jahrhunderte hinweg.«

Finn nickte bedächtig mit dem Kopf. Er musste zugeben, das klang schon beeindruckend.

»Dann war der bestimmt superreich, oder?«

›Unter diesem Gesichtspunkt wäre eine Besichtigung seiner Wohnung vielleicht doch interessant‹, dachte Finn bei sich.

»Wieso wohnte der dann eigentlich nur in einer Wohnung? Hatte der keine Villa oder ein Schloss? Mit riesigem Pool und so?«

»Ja klar«, Joanna stöhnte auf. »Am besten noch mit Privat-Hubschrauber.«

»Ha, ha!«, erwiderte Finn. »So schlau bin ich auch, um zu wissen, dass es im 18. Jahrhundert noch keine Hubschrauber gab. Noch nicht einmal Flugzeuge. Und auch keine Eisenbahn. Die erste Eisenbahn der Welt fuhr 1825 in England. Siehst du, ich kenne mich aus.«

»Ich weiß«, gab Joanna zu. »Bei allem, was mit Rekorden und Technik zu tun hat.«

»Aber zu deiner Information, Finn«, warf seine Mutter ein. »Als Mozart starb, war er nicht besonders vermögend. Er war zwar gut im Geschäft und hat gut verdient, aber bei Weitem nicht so viel wie vergleichsweise die heutigen Superstars. Außerdem hat er auch sehr gern gut gelebt und viel Geld ausgegeben: für Personal, teure Kleidung, Reisen, Glücksspiel und so weiter. Am Schluss war er sogar verschuldet. Und es stimmt: Die vielen Reisen, die Mozart unternommen hat, musste er alle mit der Kutsche absolvieren.«

»Mit der Kutsche?«, quiekte Finn auf. Dann fiel ihm ein: »Ja, klar. Logisch. Man sieht ja sogar heute noch total viele Kutschen in Wien. Die spinnen, die Wiener.«

Nun mischte sich auch sein Vater ein: »Reisen im 18. Jahrhundert, das war nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich. Die Kutschen blieben im Schlamm stecken. Oder die Räder brachen. Oder sie wurden von Wegelagerern überfallen.«

»Das kenne ich von Robin Hood!«, sagte Finn.

»Na ja, der war noch fünfhundert Jahre früher«, korrigierte sein Vater. »Trotzdem kannst du es dir ungefähr so vorstellen. Heute ist es ja nur noch ein Touristenvergnügen, sich mit einem Fiaker, wie die Kutschen hier heißen, ein bisschen durch die Stadt kutschieren zu lassen. Damals aber waren die Kutschenreisen schmerzhaft, anstrengend und langsam. Die Entfernung zwischen zwei Etappen betrug etwa fünfundzwanzig Kilometer, für die man drei bis fünf Stunden benötigte. Dann mussten die Pferde gewechselt werden. Und trotzdem ist Mozart wahnsinnig viel gereist. In seinem kurzen Leben hat er mehr als zweihundert Städte in zehn Ländern besucht.«

»Wow!« Finn versuchte, sich das vorzustellen, als das Taxi hielt und Joanna sagte: »Wir sind da.«

Finn stieg aus und blickte auf die Wiener Staatsoper, über die sie gerade gesprochen hatten. »Hä? Ich denke, wir gehen erst ins Hotel?«

Joanna tippte ihm auf die Schulter. »Umdrehen. Andere Seite!«

Finn wandte sich um und sah auf die prunkvolle Fassade des Hotels. »Ui, nicht schlecht!«

»Nicht schlecht?«, wiederholte sein Vater. »Das ist das Hotel Sacher. Eines der berühmtesten Hotels der Welt.«

»Ach!«, sagte Finn. »Hier ist wohl alles berühmt! Das Opernhaus, Mozart, das Hotel …«

»Und die Torte«, ergänzte sein Vater lachend. Dabei zeigte er auf das Café, das gleich neben dem Hoteleingang lag. »Die Sachertorte im Café Hotel Sacher.«

»Und was genau ist eine Sachertorte?«, fragte Finn. Nach der Geschichte mit der Marillenmarmelade und dem Schlagobers fragte er lieber nach.

»Ein Schokoladenkuchen«, antwortete Joanna.

»Na, na«, widersprach ihr Vater. »Das ist kein gewöhnlicher Schokoladenkuchen, sondern eine Schokoladentorte, in der Mitte durchzogen von einer Schicht bitterer Orangenmarmelade und mit einer dicken Glasur aus Zartbitterschokolade obendrauf.«

Joanna lachte. »Die magst du wohl gern, was?«

Ihr Vater nickte. »Allerdings! Meine ab-so-lu-te Lieblingstorte. Aber nur mit Schlagobers.« Er tippte auf seine Armbanduhr. »Gleich heute Nachmittag werde ich hier im Café Sacher so eine Torte essen. Wer macht mit?«

»Jep!«, rief Finn. »Ich bin dabei. Gibt’s die auch mit Erdbeermarmelade?«

»NEIN!«, rief sein Vater entsetzt. »Auf gar keinen Fall! Und wird es hoffentlich auch nie geben!« Er holte die Koffer aus dem Kofferraum des Taxis, schüttelte dabei immer noch den Kopf und zischte vor sich hin: »Mit Erdbeermarmelade! Ich fasse es nicht!«

Finn betrachtete die Fassade des Hotels. Ein flaches schwarzes Vordach, welches zwischen zwei Eingangssäulen hervorschaute, präsentierte mit goldener Schrift stolz seinen Namen zu allen drei Seiten: Hotel Sacher. Über den Säulen noch einmal der gleiche Schriftzug: Gold auf Schwarz. Fünf Flaggen hingen schlaff vom Balkon im ersten Stock: die Europa-Flagge, die englische, die der USA, die deutsche und die Österreichs. Zu beiden Seiten des Eingangs schützten rote Markisen die Fenster des Restaurants zur Rechten und die des Cafés zur Linken vor der Sonne.

Ein Portier mit weißem Hemd, grauer Krawatte, roter Weste und einem roten Gehrock mit goldenen Knöpfen und golden abgesetztem Kragen sowie einem schwarzen Zylinder mit roter Schärpe auf dem Kopf empfing jeden Gast persönlich vor dem Eingang und nahm ihm das Gepäck ab oder bestellte für die Gäste ein Taxi. Jetzt kam Finn sich auch vor wie ein Promi im Kindesalter, wie dieser Mozart vor mehr als zweihundert Jahren.

Aber das sollte noch nicht alles sein. Sie betraten das Hotel und landeten in einem überraschend winzigen Foyer. Schon einmal – in Berlin – war Finn mit seiner Schwester in einem traditionsreichen Luxushotel gewesen. Damals hatte ihn das gigantische Foyer mit seinen gemütlichen Sitzecken und breiten Riesensesseln beeindruckt. Hier standen sie in einem Flur, der kaum größer war als der bei ihnen zu Hause. Rechts führte er zu einem Restaurant, links zu einem kleinen, unscheinbaren Tresen der Rezeption und geradeaus durch einen engen Gang in das eigentliche Foyer, das eingerichtet war wie ein zu vollgestelltes Wohnzimmer aus vergangenen Zeiten. Blumig gemusterte Plüschsessel und rote Sofas waren um Marmortischchen drapiert. Darauf standen dunkelrote Tischlampen, die gemeinsam mit gedimmten Kronleuchtern den fensterlosen Raum in ein mattes, warmes Licht hüllten. An der Wand hing ein riesiges Gemälde mit einem Segelschiff-Motiv. Überdimensional große Blumengebinde füllten die Tische.

Durch schmale, verschachtelte Flure ging es zu diversen Nebenräumen, deren Wände mit Hunderten kleiner Fotos prominenter Gäste verziert waren, und zu einem kleinen, engen Fahrstuhl, in dem höchstens drei Leute gleichzeitig Patz fanden.

Nachdem Finn und Joanna sich einen Überblick verschafft hatten, kehrten sie zurück in das kleine Foyer, in dem ihr Vater an der Rezeption eincheckte. Er bekam den Zimmerschlüssel und wollte gerade nach seinem Koffer greifen.

»Nein, nein!«, widersprach der Portier. »Das Gepäck wird Ihnen selbstverständlich aufs Zimmer gebracht. Lassen Sie es ruhig hier stehen, mein Herr.«

Auch Finn und Joanna wollten ihre Taschen nehmen, doch wieder meldete sich der Portier: »Wir bringen selbstverständlich das gesamte Gepäck hinauf.«

»Wie? Meines auch?«, wunderte sich Finn. Er hatte noch nie von einem Hotel gehört, in dem man Kindern das Gepäck nach­trug. Er war doch kein Popstar! Auch Joanna zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Aber selbstverständlich, die Herrschaften«, sagte der Portier. »Gehen Sie auf Ihr Zimmer. Ihr Gepäck wird in wenigen Minuten dort sein.«

Finn schaute unsicher zu seiner Schwester.

Joanna nickte dem Portier freundlich zu. »Vielen Dank. Auf Wiedersehen!«, sagte sie ausgesprochen höflich.

»Küss die Hand!«, rief der Portier ihr zu.

Finn prustete vor sich hin. Küss die Hand! Was war das denn für eine Vornehmtuerei?

»Also los!«, trieb ihr Vater sie an. »Worauf wartet ihr noch?«

Finns Familie bezog ein Zimmer der einfachsten Kategorie in der ersten Etage, das in anderen Hotels vermutlich als First-Class-Suite angeboten worden wäre. Neben dem Doppelbett für die Eltern fanden noch die Zustellbetten für Finn und Joanna Platz. So war es zwar ein bisschen eng. Aber die vier hatten mal Urlaub in einem gemieteten Wohnmobil gemacht. Dagegen war dieses Zimmer ein Schloss.

Kaum hatten sie es betreten, klopfte es an der Zimmertür.

»Zimmerservice! Ihr Gepäck!«

Finns und Joannas Mama öffnete die Tür.

»Küss die Hand, gnä’ Frau«, begrüßte sie ein blutjunger Portier. Oder sagte man »Page«? Den Begriff hatte Finn mal in einem sehr alten Kinderkrimi gelesen, der auch in einem vornehmen Hotel, allerdings in Hamburg, spielte.

An seiner Mutter vorbei sah Finn einen goldfarbenen Wagen hinter dem Pagen, auf dem ihr Gepäck gestapelt war. Der Page nahm erst die Taschen, die oben auf dem Kofferstapel standen, trug sie ins Zimmer und stellte sie vor dem großen Kleiderschrank ab.

Joanna sah ihm dabei entzückt zu, wie Finn bemerkte. Er verzog die Mundwinkel. ›Nicht schon wieder!‹, dachte er nur. Er schätzte den Pagen auf nicht älter als sechzehn Jahre. Vielleicht war er gar nicht hier angestellt, sondern machte nur ein Praktikum oder so. Jedenfalls sah er äußerst gut aus. Das musste Finn ihm lassen. Und – Finn seufzte unmerklich – er war genau Joannas Typ.

»Vielen Dank!«, säuselte sie. Ja, sie säuselte! Seine Eltern schienen das mal wieder nicht mitzubekommen. Sein Vater ohnehin nicht. Jetzt zum Beispiel stand er etwas ratlos da und wusste nicht, ob und wie viel Trinkgeld er dem Pagen für das Tragen des Gepäcks geben sollte. Hilflos schaute er seine Frau an. Finns Mutter war für die praktischen Dinge in der Familie zuständig. Als Geschäftsfrau sowieso. Sie pulte eine Münze aus dem Portemonnaie und drückte dem Pagen zwei Euro in die Hand. »Danke sehr!«

»Gern geschehen!«, strahlte der Junge.

»Ja, vielen, vielen Dank!«, säuselte Joanna ihn wieder an.

Finn verdrehte die Augen. Der Junge lächelte zurück. Joanna und er warfen sich Blicke zu, als würde ein rosafarbener Laserstrahl an den Himmel schreiben: Wir müssen uns unbedingt bald treffen!

Kaum hatte der Page das Zimmer verlassen, stellte Finn klar: »Für zwei Euro hätte ich das Gepäck auch hier hergebracht!«

»Ja natürlich«, meinte Joanna schnippisch. »Und dabei die Hälfte der Taschen unten stehen lassen. Döskopp. Nun gönn dem doch sein Trinkgeld!«

»Okay, Kinder!« Ihr Vater klatschte in die Hände. »So schön das Zimmer auch ist, ihr könnt es heute Abend genießen, wenn Mama und ich zum Opernball gehen. Jetzt lasst uns keine Zeit vertrödeln, sondern …«, er legte eine dramaturgische Pause ein, »was tun?«

»Schokokuchen essen!«, rief Finn. »Mit Schlagober!«

Sein Vater lachte. »Sachertorte heißt das. Und Sahne heißt Schlag­obers, nicht Ober wie Kellner.«

»Mir egal«, antwortete Finn. »Hauptsache Kuchen.«

Joanna verzog das Gesicht. »Ich möchte mir lieber Wien anschauen!«

Finn rollte mit den Augen. »Oh Mann! Neuerdings denkt sie ständig, sie wird zu dick!«

»Was?«, ging Joanna auf ihren Bruder los. »Erzähl doch nicht so ’n Scheiß!«

Ihre Eltern wurden sofort hellhörig.

»Stimmt das?«, fragte ihre Mutter.

»Nein, Unsinn!«, wehrte Joanna ab, die kein Gramm Fett am Körper hatte.

»Wirklich?«, hakte ihre Mutter besorgt nach. »Isst du anständig in der Schulkantine? Zu Hause stocherst du abends ja eher auf deinem Teller herum.«

Joanna warf Finn einen bösen Blick zu. »Ich esse ganz normal. Ich will lediglich weniger Zucker zu mir nehmen. Ist eh ungesund.«

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Das stimmt zwar. Und es ist auch in Ordnung, weniger Zucker zu essen. Aber nicht, dass du anfängst, insgesamt zu wenig zu essen. Du bist eh schon sehr dünn.«

»Ich bin schlank«, erwiderte Joanna. »Können wir jetzt gehen?«

»Ja!«, rief Finn. »Runter ins Café: Zucker schlecken! Schokotorte mit Schlagober.«

Sein Vater korrigierte erneut: »Obers! Mit s am Ende! Und ich nehme noch eine Melange dazu.«

»Melongsch?«, fragte Finn. »Was ist das denn nun wieder? Klingt wie Melonen-Mus.«

Joanna quiekte auf. »Ha. Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?«

»Die Wiener Melange ist eine Kaffeespezialität in Österreich«, erklärte ihr Vater. »Sie besteht aus gepresstem Kaffee mit Milch und einer Haube aus geschäumter Milch obendrauf.«

»Ach so!«, sagte Finn. »Ein Café au Lait. Kenne ich aus Paris. Aber ich trinke lieber eine heiße Schokolade.«

»Oh, vorsichtig!«, warnte sein Vater. »Wenn du in Wien eine heiße Schokolade bestellst, bekommst du nicht unbedingt einen Kakao, sondern heiße Milch mit echter Schokolade, Sahne und Eigelb!«

»Heiße Milch mit Eigelb? Uäääh!«, rief Finn. »Die spinnen, die Wiener.«

»Also, gehen wir jetzt?«, fragte Joanna. »Ich würde gern ins Mozart-Museum!«

»Och, nö!«, jammerte Finn.

»Du musst ja nicht mit. Stopf du dich mit Schokolade voll!«, raunzte Joanna ihm zu.

»Wartet einen kleinen Augenblick«, bat ihre Mutter und versprach: »Ich muss nur das hier kurz wegschließen, dann gehe ich mit dir ins Museum.«

Sie griff in ihren Koffer, der offen auf dem Doppelbett lag, und holte zwischen zwei Blusen eine flache, quadratische, fein verzierte Holzschachtel hervor.

»Was ist das?«, wollte Finn wissen.

Seine Mutter setzte ein feierliches Gesicht auf und lächelte, wie sie es sonst eigentlich nur zu Weihnachten kurz vor der Bescherung tat. Dann öffnete sie mit einer langsamen, würdevollen Bewegung die schmale Schatulle.

»Wow!«, stieß Joanna aus. Auf dunkelblauem Samt strahlte ihr ein mit unzähligen Diamanten besetztes Collier entgegen. »Wo hast du das denn her?«

»Das habe ich von meiner Mutter geschenkt bekommen, als ich volljährig wurde«, antwortete ihre Mutter. »Und sie hat es von ihrer Mutter und die wieder von ihrer. Es stammt also mindestens von deiner Ururoma, Joanna. Weiter kann ich es leider nicht zurückverfolgen. Laut einem Juwelier, bei dem ich es mal habe schätzen lassen, stammt es ungefähr aus dem Jahr 1870.«

»Irre«, hauchte Joanna. »Und wie schön es ist.«

Das Collier bestand aus mindestens zwanzig Diamanten, zusätzlich verziert mit zwei dunkelblauen Saphiren.

»Das hab ich noch nie an dir gesehen«, sagte Joanna.

»Kein Wunder«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe es auch noch nie getragen. Dafür ist es zu wertvoll. Es liegt immer in einem Bankschließfach.«

»Zu wertvoll?«, fragte Finn. »Was ist es denn wert?«

»Der Juwelier hat es auf rund 8000 Euro geschätzt«, antwortete seine Mutter.

»Boah!«, machte Finn nur.

»Aber ich dachte, wenn man schon zum Wiener Opernball eingeladen ist, dann wage ich, es zu tragen. Zum ersten Mal.«

»Das finde ich gut«, stimmte Joanna ihr zu. »Es steht dir bestimmt super!«

»Und wenn du volljährig wirst, bekommst du es«, versprach ihre Mutter.

Joanna verschlug es die Sprache. »Wow!«, hauchte sie nur.

Finn machte große Augen. »Und ich?«, fragte er.

Seine Mutter zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Tut mir leid. In der Tradition unserer Familie wurde es immer von Mutter zu Tochter weitergegeben.«