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D-68199 Mannheim, Mai 2019

Cover und Satz: Obada Al Syah, Mannheim; Barbara Metzler, Langenargen

Erste Auflage

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ISBN 978-3-944126-30-2

Eine unvorstellbare Vielzahl von Wohnblocks, nachts um zwei, oder war es schon drei? Hätte ein nervenkranker Mann ohne Schlaf zum gläsernen Himmel hinaufgeschaut, hätte er drei Schatten beobachten können, die in rasanter Geschwindigkeit zwischen den Hochhäusern Typ P flogen und nachher unerwartet um den Block Nr. 243 bogen und verschwanden. Der Mann hätte sie nicht beachtet, so wie es zur Angewohnheit der Meisten geworden war, auf nichts mehr zu achten, nur drei Mal am Tag „Gott sei Dank“ zu sagen, dass sie auch diesmal etwas Essbares auf den Tisch hatten. Und wenn dann seine Frau, verfroren und eingehüllt in mehrere Pullover und Bademäntel, auch auf den Balkon gekommen wäre, um zu fragen: „... was war das denn eben?“, hätte er ungefähr Folgendes geantwortet:

„Leg dich schlafen, Frau. Was quasselst du da?“

„Oh weh, oh weh“, hätte die Frau gejammert, „das sind Nornen. Jetzt holt uns der Satan!“

Jawohl, sie waren es, die Nornen, die gefürchteten Greaca, Leanca und Corbeanca. Die meisten Mütter, Tanten und Schwiegermütter riefen sie zu jeder Taufe eines Neugeborenen. Sie fürchteten zwar die Verordnungen der Machthaber, die den Aberglauben dem Volke austreiben wollten, die strengsten Verbote, zugleich aber griff ihre Angst vor den unbekannten Bedrohungen der Mythen tiefer. Für diese Botinnen des Schicksals deckte man ein Tischlein, direkt in der Nähe des Neugeborenen, ein Tischlein mit einem weißen Tuch. Kerzen wurden angezündet und aufgestellt, besondere Gaben wurden vorbereitet, die niemand berühren durfte: feiner, geräucherter Speck, der im Mund zergeht, eingelegtes Schweinefleisch oder geöffnete Fischkonserven. Es war eine bestimmte Anzahl von Kerzen, die von Stadtviertel zu Stadtviertel und von Wohnung zu Wohnung variierten; jede Mutter hielt eisern an ihrer Stückzahl fest, die sie von irgendwo gehört oder irgendwem geerbt hatte. Dies alles waren aber nur Nichtigkeiten. Wichtig war es, die Nornen zu rufen, ihnen zu verstehen zu geben, dass man sie erwartet, dass man ihnen huldigt. Egal ob mit fünf oder sieben Kerzen, ob mit einer Scheibe Brot oder einen Silberlöffel neben der Wiege des Kleinen, wichtig war die Anbetung. So hoffte man, das Kind und die Familie vor dem Zorn der fliegenden Weiber zu schützen.

In jener unerbittlich kalten und staubigen Novembernacht mit trockenem Frost beobachtete Alexiu den Himmel, doch ausgerechnet er konnte nicht sehen, wonach er suchte. Große Hoffnungen hatte er für diese Nacht nicht gehabt, ähnlich wie auch in den vergangenen Nächten. Dieses unendliche und quälende Suchen, Nacht für Nacht, ermüdeten ihn außerordentlich und brachte sein Leben am Tage durcheinander.

Er fror und war müde. Seine Hände waren steif vor Kälte, er hatte seine Handschuhe im Durcheinander eines Kaufhauses verloren. Unsinnigerweise hatte er versucht, etwas zu essen zu kaufen, es war um die Mittagszeit und er wollte keine Zeit verlieren, zu seiner Dienstkantine zu fahren. Danach, als seine Hände bereits froren, versuchte er, neue Handschuhe zu kaufen. Doch es war bereits zu spät, die Geschäfte schlossen schon mit Eintritt der Dunkelheit. Hinzu noch ein Ärgernis: ständig hielten ihn die Verkehrspolizisten an. Dabei hatte er sich ein normales Auto mit üblichen Kennzeichen genommen, um nicht aufzufallen, und damit er leichter durch die Stadt schleichen und unerkannt durchkommen konnte.

Er schaute sich um, keine Bewegung, keine Spur von einem Menschen, kein Auto, nur ein paar streunende Hunde, die ihn den ganzen Abend lang begleitet hatten. Er schaute zum Himmel – zum wievielten Male? – schaute dann zu der Terrasse des Wohnblocks. Die Terrasse wäre ein ausgezeichneter Beobachtungspunkt, aber der verdammte Hausmeister. Wer weiß, was für ein alter Idiot dieser wohl sein mag. Er hatte den Übergang vom Treppenhaus zur Terrasse abgeriegelt. Ein regelrechtes Gitter aus Eisen mit Schloss. Woher hatte er das Eisen dafür bekommen? Ich werde ihn auffordern, mir die Quittungen zu zeigen. Wer hat das alles so zusammengeschweißt? Fast hätte er über sich selbst gelacht, so weit war er gekommen, den Stadtteil-Polizisten zu spielen. Er betrat den Eingangsflur des Blocks, beide Lifts funktionierten, welch ein Wunder. Er stieg dann aber zu Fuß hoch, stufe um Stufe, nach einem Geräusch, einer Bewegung lauschend. Bei der betreffenden Etage hatte er gar keine Probleme, die Türe war halb geöffnet, dann wurde sie von irgendjemand gänzlich geöffnet, ein grau melierter Mann mit trübem Blick, sichtlich betrunken. Dieser wandte sich direkt an ihn: „Gib mir eine Zigarette!“ Er gab ihm eine, zündete sie ihm mit dem Feuerzeug an. Der Mann hängte sich ihm um den Hals, hauchte ihm ekelerregend direkt ins Gesicht und flüsterte:

„Mutter-Mütterchen ..., Mutter-Mütterchen, zum Teufel…“

Er hielt den Mann aufrecht und trat mit ihm in die Wohnung. Alle Türen standen offen, im Wohnzimmer ein gedeckter Tisch, der saure Rauch war so dicht, dass man ihn hätte durchschneiden können, schlechter Tabak, tiefe Stimmen, auf dem Tischtuch Flecken von verschüttetem Wein, die Männer drückten ihre Zigaretten aus, wo sie gerade waren, sie hatten ihre Krawatten gelockert, schienen gereizt und verschwitzt. Und die Augen... Was für Menschen! Sehen normale Menschen bei einem Fest so aus? Sehen normale Menschen so aus, wenn sie feiern?

„Nimm, Kindchen!“

Eine alte Frau bot ihm ein Glas Wein an. Sie kannte ihn, aus ihrem Blick konnte er erkennen, dass sie ihn kannte. Er stieß sie behutsam zur Seite, ging an ihr vorbei, schnurstracks ins Bad. Er öffnete die Tür, wieso gerade ins Bad? Was genau wollte er im Bad? Dort stand eine Frau vor dem Spiegel und versuchte, sich zu kämmen oder ihre Haare zu richten, sie wirkte weder überrascht noch empört, sie schaute ihn nur einfach an. Dann probierte er eine andere Tür, hier war das Kinderzimmer. Ein altes Frauchen machte ihm ein Zeichen mit dem Finger vor den Lippen, nicht laut zu sein. Überall nur alte Weiber! Dann noch eine Tür, ja, hier war es, überall Handtücher und Windeln, jener Geruch nach Milch, der Geruch eines Neugeborenen. Neben der Wiege war eine Kerze zu sehen.

„Zum Teufel!“, sprach Alexiu zu sich, „ja wirklich, so etwas…“