Es war still geworden in der Wohnung. Dort, wo sich vor wenigen Tagen noch Freunde und Verwandte getummelt hatten, herrschte nun Einsamkeit – nur noch Mira, Jonas und Sophie. Am Küchentisch brannten Kerzen, Kuchenreste zeugten von dem Tag, der alles verändert hatte. Er war gestorben. Sophies und Jonas’ Vater, Miras Ehemann, hatte seinen Kampf verloren. Eineinhalb Jahre nach dem schweren Autounfall, der ihn ins Wachkoma befördert hatte, mussten ihn die Ärzte aufgeben. Zu schwer waren die Schäden, die Roberts Gehirn abbekommen hatte. Nach der Todesnachricht war eine Welle der Anteilnahme über die kleine Familie geschwappt. Miras Freundinnen, Roberts Eltern, seine Arbeitskollegen, Tante Kati und Nino – alle waren gekommen, um über die schwere Zeit zwischen Tod und Begräbnis hinwegzuhelfen. Jeden einzelnen Tag war die enge Drei-Zimmer-Wohnung voll mit Menschen gewesen. Es wurde gelacht und geweint bis spät in die Nacht hinein. Und auch dann waren sie nie alleine: Kati und Nino hatten bei ihnen auf dem Sofa übernachtet. Nachbarn brachten Kuchen und Lasagne vorbei. Selten hatte sich Sophie, die von ihren Freundinnen nur Phie genannt wurde, so aufgehoben und behütet gefühlt. Und dann der Gang zum Friedhof, das endgültige Abschiednehmen: Der Himmel weinte, es war ein trüber Apriltag, und alle froren in ihren dicken Jacken. Die bunten Luftballone, die Miras Freundinnen steigen ließen, mühten sich ab, um gen Himmel zu segeln. Eine Bläsergruppe, die von Roberts Arbeitskollegen engagiert worden war, spielte wundervoll traurige Lieder. Doch Phie konnte nicht weinen. Sie war all die Wochen und Monate so stark gewesen, hatte die Hoffnung niemals aufgegeben, dass ihr Vater doch noch gesund werden würde. Diesen Schutzpanzer konnte sie jetzt, da alles vorbei war, nicht so einfach ablegen. Denn dann wäre sie verwundbar, und wer würde ihr dann helfen? Ihre Mutter kämpfte zwar ebenfalls tapfer gegen die Tränen, hielt Phies jüngeren Bruder Jonas fest umarmt, als die Beileidbekundungen der vielen Menschen, die auf den Friedhof gekommen waren, gar nicht mehr aufhören wollten. Doch Phie wusste, dass Mum, wie sie Mira zu nennen pflegte, am Ende ihrer Kräfte war. Ihre Mutter hatte sich aufopfernd um Robert gekümmert, war fast jeden Tag an seinem Krankenbett gesessen, hatte seine Therapien begleitet und ergänzt. Das alles neben ihrer Arbeit als Psychologin, die ebenfalls sehr fordernd war. Nein, auf Mira konnte und wollte sich Phie im Moment nicht verlassen. Sie war nun 14 Jahre alt, und damit erwachsen genug, um das alleine durchzustehen. Und immerhin ganz alleine war sie ja nicht: Da gab es Liv, ihre beste Freundin, auf die sie immer zählen konnte. Im realen Leben. Und dann waren da noch Phies Träume, ihr zweites, nicht reales Leben in einer Dimension, die sich erst vor Kurzem für sie geöffnet hatte. Genau an jenem Tag, an dem ihr Vater mit dem Auto verunglückt war.
Phie lag mit offenen Augen in ihrem Bett. Sie hatte sich heute für ihre Abendroutine besonders viel Zeit gelassen. Zähne putzen kann auch meditativ sein, hatte Phie festgestellt, als sie, vor dem Badezimmerspiegel stehend, einen Zahn nach dem anderen gründlich bürstete. Mit der Zahnseide reinigte sie gewissenhaft die Zahnzwischenräume, eine Fleißaufgabe, die sie sonst gerne vernachlässigte. Für die Gesichtspflege klaute sie sich Miras teure Creme, die so herrlich nach Frühling duftete. Wenn schon in ihrem Kopf nur dunkler Winter herrschte, so sollte wenigstens ihre Haut gut riechen. Dasselbe galt auch für Phies Bett, das sie am Nachmittag vorsorglich neu überzogen hatte. Was gab es Schöneres, als sich in frisch gemachte Decken und Kissen zu kuscheln. Alles diente nur einem Zweck: Phie musste zurück auf ihre Insel. In den Tagen nach Roberts Tod hatte sie kaum und wenn nur sehr schlecht geschlafen, Träume waren ihr verwehrt geblieben. Und damit auch der Eintritt in die Traumdimension, die ihr sonst über jede schwere Stunde geholfen hatte. Sie vermisste Shirin, ihre Freundin aus Irland mit dem verschmitzten Lächeln und den wirren roten Locken. Und sie hatte Sehnsucht nach den Jungs, Amin und Jo. Mit allen dreien hatte sie zwar über die ComUnity Kontakt gehabt, aber über einen Computerbildschirm miteinander zu sprechen hatte einfach nicht dieselbe Qualität wie ein persönliches Treffen in der bunten Traumwelt.
Diese Nacht musste es einfach klappen. Phie hatte für alles gesorgt: für ein entspanntes Ambiente in ihrem Zimmer (es war auch aufgeräumt), ein leichtes Abendessen (das ihr nicht zu schwer im Magen lag) und für die persönliche Entspannung durch die Wellnesseinheit im Badezimmer. Man könnte meinen, sie wäre längst erwachsen. Jetzt kuschelte sie sich in die duftenden Laken und versuchte, sich zu entspannen, um möglichst bald einzuschlafen. Ein Widerspruch in sich: Wer unbedingt einschlafen will, bleibt garantiert munter. Erinnerungen an die letzten Tage tauchten vor ihrem inneren Auge auf, die vielen Menschen beim Begräbnis, der Abschied von Dad in der Klinik, sein fahles Gesicht … Panisch öffnete sie die Augen. Sie starrte auf den Schriftzug an der Decke: Life sucks. Wie recht sie doch gehabt hatte, als sie sich diesen Spruch an die Wand über ihrem Bett gesprüht hatte. Das Leben ist Scheiße. Zumindest in diesem Moment. Sie wollte diese Erinnerungen jetzt nicht, sie wollte eine Auszeit von ihrem Leben. Sie musste zurück auf ihre Insel. Wenn sie das jetzt nicht schaffte, was nützte ihr dann ihre Bestimmung als Traumgestalterin? Wenn Phie im schlimmsten Moment nicht vor der Realität in ihre Träume flüchten konnte? Das Gedankenkarussell in ihrem Kopf begann sich zu drehen, Wut stieg in ihr auf. Phie wusste, sie musste diesen Zustand beenden. Was hatte ihr Mira beigebracht? Konzentriere dich auf deinen Atem, lass die Luft wie goldenes Licht in deinen ganzen Körper strömen … Wie lächerlich das klang, dieses ganze Entspannungsgelaber der Erwachsenen. Aber einen Versuch war es allemal wert. Ihre Verzweiflung war längst groß genug, um auch Ratschläge ihrer Mutter anzunehmen. Naja, immerhin machte Mira das ja auch beruflich.
Als Phie durch den blaugrünen Nebel in die Traumdimension entschwebte, genoss sie es, als wäre es das erste Mal. Das kurze Schwindelgefühl, die unglaubliche Leichtigkeit des eigenen Körpers, der von unbekannten Kräften durch ein farbiges Wolkenmeer getragen wurde – alles wirkte so vertraut und wunderschön. Dagegen hatte die Landung auf ihrem kleinen Ruderboot, das in den Wellen des Sees hin und her schaukelte, fast etwas Ernüchterndes. Die hölzerne Bank, auf der Phie saß, war ungewohnt hart, und es bereitete ihr mehr Mühe als sonst, die Ruder durch das Wasser zu ziehen. Normalerweise ließ Phie jedes unangenehme Gefühl in der Realität zurück, wenn sie die Traumdimension betrat, doch heute war alles anders, zumindest ein bisschen.
Phie fand die kleine Bucht neben dem mächtigen Löwenfelsen sofort. Wie viele Nächte hatte sie als komplette Anfängerin gebraucht, wie oft hatte sie die Insel umsonst umrundet, bis sie endlich diese Anlegestelle gefunden hatte! Sie sprang aus dem Boot und zog es über den Sand ans Ufer. Hier, zwischen den hängenden Weiden und dem dichten, stacheligen Gebüsch, lag Sophies Portal. Jener Ort, der Teil ihrer Seele war, mit ihr atmete und lebte, all ihre Gedanken und Sehnsüchte kannte. Das Portal war das eigentliche Tor zur Traumdimension, und es öffnete sich nicht nur für Phie. Eines Nachts, nachdem sich Phie an dieser Stelle schon öfter beobachtet gefühlt hatte, war plötzlich ein rothaariges Mädchen vor ihr gestanden: Shirin. Dieser Moment hatte Phies Existenz in der Traumwelt völlig verändert: Hatte sie bis dahin alles intuitiv gemeistert – das Anlanden und die Erforschung der Insel –, begann sie durch Shirin und deren Großmutter Najuka zu verstehen. Najuka, die bereits mehrere Leben gelebt hatte und seit Menschengedenken zwischen den Dimensionen wechseln konnte, hatte ihre Enkelin in die Traumwelt eingeführt, so wie es in den meisten Familien üblich war. Es musste kein naher Verwandter sein, der einem Unerfahrenen den Umgang mit dieser zunächst unglaublich scheinenden Fähigkeit, seine Träume selbst gestalten zu können, erleichterte. Oft wurden Generationen übersprungen, oder die Vererbung erfolgte nicht in der direkten Linie. Wenn es denn überhaupt einen Vorfahren gab, der in die Traumdimension wechseln konnte.
Phie fühlte sich zunächst allein gelassen, denn sie kannte niemanden in ihrer Familie, der ein Traumgestalter war. Umso glücklicher war sie, als Shirin Najuka darum bat, auch Phie zu helfen. Phies Insel blühte auf, füllte sich mit Düften, Geräuschen und Leben – so wie das kleine Eichhörnchen, das schon sehnsüchtig auf sie gewartet hatte. Das kleine rostrote Tierchen hatte auf dem Löwenfelsen gesessen und Phies Ankunft beobachtet. Nun sprang es vom Stein auf einen benachbarten Baum, kletterte flink nach unten und begrüßte Phie, die wie immer ein paar Nüsse aus der Hosentasche zog, mit klickenden Geräuschen. Phie ging in die Knie, als das Tier über den Sandstrand gelaufen kam, und hielt ihm seine Leckerbissen entgegen. Das Eichhörnchen schnappte sich eine Nuss, kletterte auf Phies Schulter, hielt seinen Schatz geschickt mit beiden Vorderpfoten fest und begann genüsslich zu speisen.
Der Wind pfiff durch die hohen Weiden und ließ ihre elastischen Äste durch die Luft sausen. Phie fröstelte in diesem Moment. Es strahlte zwar wie fast immer die Sonne vom Himmel, denn bei schönem Wetter ging es Phie einfach besser, trotzdem hatte ein kalter Windhauch kurz für Irritation gesorgt. Phie hoffte auf den Besuch ihrer Freunde, doch noch war niemand da. Vielleicht sollte sie sich schon alleine auf den Weg zum Gipfel machen und den Spaziergang durch den Wald hinauf zum Bohnenfelsen einfach genießen.