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© 2018 Annegret Achner

3. Auflage

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783748134039

Inhaltsverzeichnis

Reisefieber

Von hier oben ist der Blick auf Madrid grandios. Doch die Luft ist stickig, auch wenn die schräge Dachluke einen Spalt geöffnet ist. Weiter kann man sie nicht aufmachen, sonst fliegen die Tauben herein, und in Windeseile ist der Dachboden vollgeschmiert mit einer ekligen Schicht weißlicher Taubenscheiße. Nicht dass es hier wertvolle Dinge gibt: eine ausrangierte Truhe mit angeschlagenem Geschirr, Pappkartons mit muffig riechenden Mänteln und Jacken. Ein alter Kinderwagen steht in der Ecke, mit geflochtenen elfenbeinfarbenen Seitenwänden und winzig kleinen Rädern. Von einem grünen Kaufmannsladen blättert die Farbe ab und die Türen klemmen. Unter der Schräge gammeln auf einem primitiv zusammengezimmerten Regal diverse Plastiktüten mit abgetragenen Schuhen und Stapel von sorgfältig gebündelten Zeitungen vor sich hin. Zwischen all diesen ausrangierten Dingen, den Zeugen besserer Zeiten, hat man auch mich vergessen.

Dabei bin ich eigentlich gut in Schuss. Ich bin nicht eine dieser modisch-bunten Daypacks, die zwar gut aussehen, aber in die nichts hineinpasst. Nein, ich bin ein robuster, großer Reiserucksack, mit dem man unbesorgt auf Reisen gehen kann. Mein voluminöser Bauch schluckt Hemden und Hosen, Unterwäsche und Regenzeug, und in den großen Reißverschlusstaschen an den Seiten steckten einst Sandalen, Waschzeug und der Reiseführer. Jan hat mich zum Abitur bekommen, von seinen Großeltern, die sein Fernweh verstanden haben. Jan hat mir die Welt gezeigt. Wir waren am Great Barrier Reef, haben in Sulawesi bei den Torajas gelebt, wir sind durch den brasilianischen Dschungel gekrochen, haben frierend auf dem Machu Picchu übernachtet und die Pinguine in Patagonien bewundert. Erst als Jan in Santiago de Chile hängenblieb, weil er sich verliebt hatte, wurde ich für zwei Jahre unters Bett geschoben. Bis, ja, bis den armen Jan das Heimweh überkam und er meinte, er müsse seine Ma und seinen Dad über Weihnachten in good old Germany besuchen. Er buchte einen Platz auf der Air Madrid Maschine von Santiago nach Frankfurt mit einem Zwischenstopp in Madrid. Mich stopfte er voll mit Weihnachtsgeschenken, so dass es kaum Platz gab für dicke Wintersachen. Ein dünner Pullover, ein Paar Jeans, ein bisschen Unterwäsche musste reichen. Natürlich vertraute er darauf, dass seine liebe Ma ihn schon wieder ausstaffieren würde, wenn er Weihnachten in Sommerbekleidung zitternd und bebend vor ihr stehen würde, ihr armer Junge.

So lag ich bald ganz unten im Laderaum einer Boeing 737 zusammen mit all den Koffern und Taschen und Rucksäcken der anderen Passagiere. Es war ziemlich eng hier unten, kalt und dunkel, und ich versuchte, die endlosen 14 Stunden von Santiago bis Madrid vor mich hin zu dösen. Endlich ging die Klappe auf, schlecht gelaunte frierende Männer zogen Gepäckstücke heraus, warfen sie auf einen Elektrokarren und rollten davon. Es war dunkel, ein paar trübe Sterne funkelten am Himmel, und es war bitterkalt. Der Wind pfiff, und eigentlich war ich froh, als die Ladeluke zugeknallt wurde und ich wieder in meinen Dämmerschlaf versinken konnte. Wir hatten jetzt Platz und konnten uns ausbreiten. Es lagen keine schweren Koffer auf mir drauf und ich musste mir keine Sorgen mehr machen, dass die schönen Geschenke zerdrückt würden.

Ein paar Touristen stiegen zu. Ich hörte, wie die hohe Treppe herangerollt und wieder weggerollt wurde. Die Turbinen starteten, die Boeing 737 ruckelte an und dann...

Ich sah durch das kleine Bullauge, wie von allen Seiten blaue Lichter auf das Flugzeug zurasten. Mit quietschenden Reifen hielten mehrere Polizeiautos vor dem Flugzeug und blockierten die Startbahn. Männer in Uniformen mit Maschinenpistolen über der Schulter schwenkten rotleuchtende Stoppschilder. Ein Megafon brüllte Sätze in unverständlichem Spanisch.

Ein Überfall? Mitten auf dem internationalen Flughafen von Madrid? Bahnte sich ein Horrorszenario an wie am 11. September in New York? Schlugen Al Kaida-Terroristen zu, getarnt als Polizisten? Aber man hörte keine Schüsse, alles blieb ruhig. Der Motorenlärm erstarb wieder, Türen wurden geöffnet, Treppen herangerollt. Und dann sagte eine Stimme mit stark spanischem Akzent auf Englisch: «Dear passengers. This is the Captain speaking. We have got a small problem. Don’t worry, but you have to leave the plane. Our staff will help you to find a connection flight to Frankfurt.»

Was war denn nun los? War das Flugzeug kaputt? Unwillig verließen die Passagiere die Maschine. Kein Zubringerbus weit und breit. Zu Fuß stapften sie zum Flughafengebäude, und das bei Schneeregen und Temperaturen unter Null. Männer brüllten herum, hysterische Frauen versuchten, quengelige Kinder zu beruhigen.

Und dann wurde der Laderaum der Boeing wieder aufgerissen. Kalte Luft strömte herein und gierige Hände rissen Koffer und Taschen, Kisten und Pakete aus dem dunklen Bauch der Maschine. «Rapido, rapido», flüsterten heisere Männerstimmen. Endlich dämmerte es mir. Man hatte schon länger davon gemunkelt, dass Air Madrid vor der Pleite stand. Die Airline war pleite und das Flugzeug sollte an die Kette gelegt werden. Die Gläubiger wollten Geld sehen, verständlicherweise, und ließen die Flugzeuge beschlagnahmen. Aufgebrachte Arbeiter und Angestellte der Airline, die wahrscheinlich seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen hatten, rissen erst einmal alles an sich, was nicht niet- und nagelfest war. Sie würden sowieso keinen Pfennig sehen, wenn die Firma insolvent war.

Und so bin ich am Heiligen Abend in einer Altbauwohnung im Zentrum von Madrid gelandet. Gierige Hände wühlten in meinen Eingeweiden. Über Jans alten Pullover und die löchrigen Jeans war die Familie enttäuscht. Aber die bunten Pakete ließen die Gesichter leuchten. Sie brauchten nicht bis zum 6. Januar zu warten, denn diesmal waren es nicht Los Tres Reyes Magos, die Heiligen Drei Könige, die die Geschenke brachten. Nein, der Weihnachtsmann selbst war vom Himmel herabgestiegen mit seinem Sack voller Gaben.

Vater und Großvater tranken den chilenischen Rotwein und rauchten die dicken Zigarren. Mama drehte sich vor dem Spiegel und betrachtete den neuen Schal und die langen Ohrringe. Die Großmutter strich liebevoll über die Tischdecke und der kleine Juan spielte den ganzen Abend mit dem roten Bagger. Da hat Jan ja mal ein wirklich gutes Werk getan, dachte ich. Schade, dass er nichts davon weiß und irgendwo frierend und hungrig im Flughafengebäude herumsitzt.

Mich hat man dann leider am nächsten Tag auf den Dachboden geschleppt. Geld zum Verreisen hat die Familie Santos nicht. Aber ich bin ganz optimistisch. Wenn ich nur einige Jährchen warte, bis Juan groß ist, dann wird auch ihn das Fernweh packen. Er wird mich herunterholen, mir den Staub abklopfen, seine Hosen, T-Shirts und Socken in mich hineinstopfen, und dann werden wir gemeinsam um die Welt fahren. Ich brauche nur noch ein bisschen Geduld. Paciencia.

Flugangst

Seit ihrer Kindheit hasste Susanne Fahrstühle. Sie wusste noch genau, wie sie sich fühlte, wenn der schlecht gewartete Lift in dem Hochhaus, in dem sie damals wohnten, irgendwo zwischen der 12. und 13. Etage steckenblieb und das Licht ausging. Der kleine Bruder fing sofort an zu schreien, Mutter nahm ihn auf den Arm, versuchte die Stimme ruhig zu halten und sagte: »Wir drücken einfach den Notknopf. Keine Angst. Da kommt schon jemand.« In der Tat, es kam immer jemand. Nach einer Weile – manchmal erst nach einer Viertelstunde, nie später – ging das Licht wieder an und der Lift setzte sich in Bewegung. »Siehst du«, sagte die Mutter und strich der Tochter übers Haar, »nicht so schlimm. Da kann nichts passieren.«

Susanne glaubte ihr nicht. Je älter sie wurde, desto mehr fürchtete sie Tunnel, vollgerammelte Stadien, Massenaufläufe. Auch die Angst vor dem Fliegen wurde ein Problem. Eigentlich lachhaft, denn ausgerechnet der kleine Bruder war Pilot geworden und erklärte ihr immer wieder, wie gering die Gefahr eines Flugzeugabsturzes war, dass das Risiko eher in der Fahrt zum Flughafen lag. Das wusste sie. Über den Kopf.

»Wir müssen da therapeutisch eingreifen«, sagte die Psychologin, die sie um Rat fragte. «Verhaltenstherapie gegen Platzangst. Nichts Psychoanalytisches. Einfache Verhaltenstherapie.«

Zur Übung ging Susanne – inzwischen hatte sie ihren Freund Hendrik geheiratet und selbst zwei Kinder – in den Zirkus, später mit Mann und den Söhnen ins Fußballstadion, obwohl sie Fußball wirklich nicht interessierte.

»Das tut Ihnen gut«, sagte die Therapeutin. «Weiter so.« Fliegen allerdings, das wollte sie immer noch nicht. Keine Diskussion. Lufthansa bot Trainingskurse gegen Flugangst an. Dabei hatte sie keine Angst abzustürzen, bildete sich sogar ein, das sei eine schnelle und humane Todesart, auf jeden Fall besser als Krebs. Aber musste man überhaupt fliegen? Fernflüge? Umweltschädlich. Bloß um ein paar Tempel zu sehen? Um unter Palmen am weißen Strand zu baden? Europa bot so viel, da konnte man überall mit dem Auto hinkommen.

Ein kurzer Flug nach Mallorca, schlug Hendrik vor. Das halte sie durch, nur zweieinhalb Stunden. Lächerlich. Sie willigte ein und stand schon zwei Wochen später in der Abflughalle mit Hunderten von reiselustigen Touristen, die redeten und lachten und mit den Füßen ihr Gepäck weiterschubsten. Ist ja gar nicht so schlimm, versuchte sie sich einzureden. Die Halle war groß und hell, die Leute gut gelaunt, niemand drängelte, noch nicht einmal, als sie in der Schlange darauf warteten, dass das Boarding begann. Den kurzen Weg übers Flugfeld zum Flieger überwand sie mit leichten, schnellen Schritten, stieg energisch die Treppen zum Eingang hoch. Zwei nette Stewardessen grüßten freundlich, ließen sich die Boardingcard zeigen und wiesen den Weg zu ihren Sitzen. Dann das Gefühl, Hilfe, ist es hier eng, eine geschlossene Metallröhre, ein blecherner Sarg. Sie ließ sich in den Sitz fallen, Fensterplatz, und blickte angestrengt aufs Flugfeld. Ruhig atmen, befahl sie sich. Ganz ruhig atmen, das hatte sie trainiert. Ein und aus. Der Flieger rollte zur Startbahn, die Motoren wurden laut, lauter, das Flugzeug zog an, die Menschen wurden in ihre Sitze gepresst. Jedes Gespräch verstummte. Hendrik tastete nach ihrer Hand, sie versuchte zu lächeln, krampfte sich an seinem Arm fest. Der Flieger beschleunigte, unter ihnen raste das graue Betonband vorbei. Sie hoben ab, gewannen langsam an Höhe. Ein erleichtertes Aufatmen im Flieger. Sieh mal an, dachte sie, die anderen Menschen waren wohl auch angespannt. Nun redeten sie wieder, lachten, standen auf, öffneten die Klappen über den Sitzen, versorgten sich mit Zeitschriften und Getränken. Der Urlaub hatte begonnen. Auch Susanne nahm das eBook, das ihr Mann ihr fürsorglich reichte, versuchte, sich in den Mallorca-Krimi zu vertiefen, was erstaunlicherweise gelang. Sie entspannte sich, schloss sogar zwischendurch die Augen, riskierte ein Nickerchen. Nein, danke, Kaffee brauchte sie nicht, auch kein Glas Wein. Sie schaffte es auch so. Warum hatte sie nur so ein Theater gemacht? Ihr Mann lächelte sie an, strich ihr mit dem Handrücken über die Wange.

»Alles klar?«

Ja, es war alles klar und sie war erstaunt, nach so kurzer Zeit die Stimme des Kapitäns zu hören, der den Landeanflug über Palma de Mallorca ankündigte. Die Anschnall-Lichter blinkten auf, die Leute legten die Gurte an. Einige schoben noch schnell einen Kaugummi in den Mund. Druckausgleich. Susanne lehnte sich zurück, spähte aus dem Fenster, sah den Flughafen näher und näher kommen, die Landebahn.

Doch kurz vor dem Aufsetzen, sie wartete schon auf das erlösende rumpelnde Geräusch, heulten die Motoren auf und die Maschine wurde nach oben gezogen. Susanne erstarrte. Im Flugzeug wurde es gespenstisch still. Die Stimme des Copiloten kam übers Mikrofon, es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, sie hätten ein kleines Problem mit dem Fahrwerk. Es schien zu klemmen. Sie würden in ein paar Minuten den Landeanflug noch einmal probieren.

Warum passiert das, wenn ich an Bord bin, dachte Susanne, warum bei meinem ersten Flug? Hinter ihnen fing eine Frau an, haltlos zu schluchzen. Eine Männerstimme sprach beruhigend auf sie ein. Hinten schrie ein Kind. Susanne merkte, wie ihre Hände schweißnass wurden. Nein, sie würde nicht schreien. Und wenn sie erstickte. Der nächste Anflug würde gelingen. Das Flugzeug gewann an Höhe, flog eine große Schleife um den Flughafen, ging in den Sinkflug.

»Gleich haben wir`s«, sagte Hendrik. »Kein Problem. Das kann mal passieren.«

Susanne antwortete nicht, konzentrierte sich auf ihre Atmung. Und wenn wir abstürzen, dachte sie. Und wenn wir jetzt abstürzen? Wäre es wirklich so schlimm? Ich hatte ein schönes Leben, einen fürsorglichen Mann, wohlgeratene Kinder …