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Seelisch deformierte Menschen bevölkern dieses Buch und werden unschuldig schuldig. Sind sie denn wirklich verantwortlich, wenn sie Kinder bedrängen, Frauen unterdrücken, Männern die Existenz rauben? Und was ist, wenn die Bedrängten, Unterdrückten und Beraubten sich befreien, den erstechen, der sie seelisch verstümmelt, den verraten, der sie verlassen hat und den ertränken, der im Weg ist? Ist es das Böse auf allen Seiten oder finden sich die, die hier auftreten, nur ganz einfach in dieser Welt nicht zurecht?

Inhaltsverzeichnis

Mann vom Mond

Tina braucht keine Angst zu haben

Schachmatt zwischen zwei Zügen

Phillip und die Stille

Hanna

Der Fahrstuhl

Maria

Eva

Der Kampf

Meiki

Chefsache

Das Weihnachtszimmer

Ich bin Hans Schneider

Das kleine Mädchen

Im Sandkasten

Mann vom Mond

Eigentlich hätte er es sich gut gehen lassen können. Schließlich war er bis fast zum Schluss immer gesund gewesen, konnte sogar die eigenen Zähne mit ins Grab nehmen, als er mit knapp 90 Jahren nach zweijährigem Siechtum starb. Er war ein gut aussehender Mann, hatte Charme und Humor, war der Schwarm der Frauen gewesen. Und er war intelligent, intelligenter als andere Menschen. Glück und Erfolg fielen ihm zu. Er hatte eine schöne Frau, eine nette Tochter und war schon mit 40 Jahren Professor für theoretische Physik, ein Mann mit gutem Gehalt und Pensionsanspruch. Es blieb allen immer unverständlich, warum er sich kein großes Haus gekauft, in zahllosen Urlauben die Welt kennen gelernt, Kind und Enkel verwöhnt und warum er sich nie den Luxus gegönnt hatte, der ihm zustand.

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Wann eigentlich hatte die Krankheit von ihm Besitz ergriffen? Wenn man seine Mutter dazu befragt hätte, was würde sie wohl gesagt haben? Schließlich liebte sie ihren Sohn, liebte ihn umso mehr, als er aus dem Feld zurückkam, während ihr anderer Sohn einen schrecklichen Tod gestorben war. Deshalb hätte sie vielleicht gesagt: „Krankheit? Welche Krankheit? Mein Sohn ist nicht krank.“ Doch seine Mutter war eine kluge Frau, klug und beileibe nicht blind. „Sein kleiner Bruder war ein richtiger Lausbub. Einmal hat er aus Lehm solche Würstchen geformt und in den Hausflur gelegt. Die sahen aus wie Hundehaufen und ich musste mich bei allen Nachbarn entschuldigen.“ Sie lachte bei der Erinnerung daran. „Der Große war ganz anders. Immer so achtsam und bescheiden, so in sich gekehrt. Der wollte nie etwas haben. Ostern waren noch Pfeffernüsse von Weihnachten in seinem Kästchen versteckt, während der Kleine sie schon Heiligabend alle aufgegessen hatte“, erzählte sie und fügte nach einer Weile nachdenklich hinzu … „Aus beiden zusammen wäre sicherlich eine gute Mischung geworden“ und nach einer weiteren Weile … „Ach, es trifft immer die Falschen.“ Erschreckt schlug sie sich mit der Hand auf den Mund. Sie vergötterte ihren Sohn, doch wenn man sie gefragt hätte, wann die Krankheit begonnen hatte, sich in seinem Körper auszubreiten, hätte sie vielleicht geantwortet: „Er ist schon immer anders gewesen – ein merkwürdiges Kind.“

Schon als er noch klein war, liebte er es, den Dingen wissenschaftlich auf den Grund zu gehen. Aus Gras wollte er Milch herstellen – ohne den Umweg über die Kuh. Wochenlang mussten seine Eltern Marmeladengläser mit Wasser und Grünzeug auf der Fensterbank erdulden, bis er schließlich bereit war, das Experiment abzubrechen. In der Schule waren es vor allem die naturwissenschaftlichen Fächer, die ihn in ihren Bann zogen. Da der Junge ohne Zweifel begabt war, ließen die Lehrer ihm die schlechteren Noten in den Geisteswissenschaften durchgehen. Er selber bemerkte ihre Toleranz nicht, bemerkte diese merkwürdigen Figuren, die da glaubten, ihm Vorschriften machen zu können, sowieso kaum. Das Wichtigste an seiner Schulzeit waren für ihn die langen Hin- und Rückwege zum weit entlegenen Schulgebäude. Die beiden Brüder besaßen gemeinsam nur ein Fahrrad und teilten sich die Strecke. Der eine fuhr vor, ließ das Rad auf halbem Weg stehen und ging zu Fuß weiter. Der andere stieg nach halbstündigem Marsch auf und radelte den Rest zum Schulhaus. Er hätte nicht sagen können, welcher Teil der täglichen Reise ihm besser gefiel. Zu Fuß konnte er diese Ruhe, diese Stille, diese Zeit nur für sich allein ohne störende Menschen um sich herum besser genießen als in rollender Schnelle. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, um der Geselligkeit willen auf dieses Arrangement zu verzichten, vielleicht gar mit dem Bruder auf dem Gepäckträger gemeinsam vergnügt das Schulhaus zu entern oder in jugendliche Gespräche vertieft das Rad neben dem Bruder her zu schieben.

Erst spät entdeckte er die Welt der Frauen. Grundsätzlich empfand er Menschen in seiner Umgebung als eher lästig. Ständig bedrängten sie ihn mit unsinnigen Anliegen oder erwarteten irgendetwas von ihm und er wusste nicht, was. Er verstand ja nicht einmal seinen eigenen Körper, der so eigentlich gar nicht zu ihm gehörte. Diese Mischung aus Fleisch und Knochen war erschreckend in ihrer Unzulänglichkeit, kam aus der Puste, wenn er weiterlaufen wollte, versagte vor Müdigkeit den Dienst, wenn er wach bleiben musste, war hungrig, wenn er keine Zeit zum Essen hatte. Und gerade dieser mangelhafte Körper drängte ihn nun zu den anderen Menschen hin.

Seinem Körper und dessen verstörender Sehnsucht zuliebe verließ er die erregend spannende Vielfalt in seinem eigenen Kopf und wandte sich der Gemeinschaft der Menschen zu. Er beobachtete sie. Sie kommunizierten nicht nur über ihre Stimmen miteinander, sie verständigten sich mit Gebärden, verstanden sich in einer Sprache, die ihm fremd war. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit studierte er ihre Mimik und Gestik, belauschte ihre seltsamen Gespräche über Dinge, die unwissenschaftlich, laienhaft und langweilig waren, beobachte ihr Lachen, das ihn kalt ließ. Er belauerte sie, diese merkwürdigen Wesen, übte die Interpretation ihrer Gesichtszüge, lernte die Bedeutung ihrer Gesten. Er ahmte sie nach und beobachtete befremdet die Wirkung. Jetzt, da er ihre Gesichtsausdrücke imitierte, nahmen sie ihn in ihrer Mitte auf und ließen ihn mitspielen in ihrem Spiel. Ihm schien, als betrachteten sie ihn als einen der ihren.

Als er sicher war auf diesem neuen Parkett, wählte er die Frau, die sein Körper ihm aussuchte, bedrängte sie, um seinen Körper zufrieden zu stellen, der ihm schon so oft seine Macht über ihn gezeigt hatte. Sein Körper wollte sie. Die Frau verzog ihren Mund zu etwas, das er als Lächeln erkannte. Ja, auch sie wollte, aber nur mit Ring am Finger.

Deshalb heiratete er sie.

Der Krieg ließ ihn teilhaben an seinem großartigen Wettkampf, an seinem Widerstand gegen alles Menschliche. Er fand sich gut zu Recht in dieser Welt, die war, wie er sie sich wünschte. Sie weckte seinen Ehrgeiz. Sie war nicht so sauber und glatt wie das gesellschaftliche Parkett, nein, sie entsprach so ganz seinen wahren Fähigkeiten. Das Können stand im Vordergrund, die Kunst des Denkens war gefragt, die Entschlüsselung und Deutung von Mienen und Gesichtern spielten keine Rolle, der menschliche Körper war der zu bezwingende Feind in diesem Kampf. Als Navigator saß er hinter dem Piloten, musste ihm nicht in die Augen sehen, die mit einem Wimpernschlag ganze Geschichten erzählten, die er nicht verstand und die ihn nicht interessierten. Die Maschinen dröhnten. Da war kein Platz für Gerede. Nur der Auftrag zählte, nur die richtige Position für den Abwurf der Bomben war wichtig. Er wurde ein findiger Navigator. Ohne Angst führte er den Piloten immer mitten hinein. „Dreimal abgeschossen“, flüsterten die Leute hinter ihm. Wenn er den Fliegermantel auszog und sie sein EK1 sehen konnten, wurde es still im Raum.

Als er seiner Mutter einmal erzählte, wie er trotz dichtem Bodennebel die Brücke fand, weil die Flakschützen so dumm waren, in den Himmel zu schießen und sich durch die aus dem Nebel aufsteigenden Rauchwölkchen verrieten, da wollte er ihr damit etwas über seinen scharfen, analytischen Verstand berichten, erwartete ihr Lob und ihre Bewunderung. Doch sie sah die Menschen, die seinem Verstand zum Opfer gefallen waren, und schwieg. Da wusste er, dass es für ihn nie etwas zu erzählen geben würde, dass man ihn nicht verstand. Er zog sich in seinen Körper zurück und versteinerte.

„Warum seid ihr nicht mehr zusammen“, fragte seine Mutter die Frau. „Ich weiß nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir lieben uns nicht mehr“, sagte sie. „Er ist so schön“, flüsterte sie der Schwiegermutter ins Ohr, „er ist so klug – er ist so stumm.“

Als der Krieg zu Ende ging, endete auch die Zeit der Körperlosigkeit. Sein Körper, der im Krieg die Macht über ihn zeitweise verloren hatte, weil die geistigen Aufgaben wichtiger waren als der triviale Hunger nach Essen oder Schlaf, gewann wieder die Oberhand. Und auch die anderen Körper um ihn herum nahmen sich wieder wichtig und forderten von ihm Zustimmung, Anerkennung, Respekt.

Er wusste, dass es Körper in den verschiedensten Formen gab. Sie waren klein oder groß, schön oder hässlich, manchmal waren sie jung, manchmal alt, die meiste Zeit waren sie einfach nur normal. Es gab sie als Mann und als Frau. Er selber hatte einen männlichen Körper, der sich für ihn unmerklich stetig veränderte. Wenn er daran dachte, wie klein und anders er früher gewesen war, so wusste er nicht, ob es nicht besser war, sich in diesen Zustand zurück zu wünschen. Denn jetzt, wo er groß und normal geworden war, verzehrte sich dieser Körper in seltsamer Weise nach seinem weiblichen Gegenstück.

Wieder wählte er die Frau, die sein Körper ihm aussuchte, bedrängte sie, um seinen Körper zufrieden zu stellen. Sein Körper wollte sie und er bekam sie. Dann sagte sie ihm, sie bekomme ein Kind von ihm und er müsse nun für immer bei ihr bleiben.

Deshalb heiratete er sie.

Er hatte nicht gewusst, was es bedeutete, verheiratet zu sein. Sein Körper wollte eine Frau, aber er selbst wollte seine Ruhe, damit er klar denken konnte. Doch um ihn herum tobte ein Chaos, wie er es nie gekannt hatte. Das kleine Kind machte laute Geräusche und grabschte an ihm herum. Die Frau schimpfte mit ihm, wenn er sie aufforderte, das Kind still zu machen. Ein ständiges Gewusel und geschäftiges Treiben war rings um ihn her und lenkte ihn davon ab, in die Stille seines Kopfes hinabzutauchen. Selbst wenn seine Frau für Ruhe gesorgt hatte, flitzten die Körper vor seinen Augen störend hin und her. In all dem Trubel suchte er eine Insel, einen ruhenden Pol, der ihn vor dem Aufruhr schützte, der rings um ihn tobte. Es konnte und durfte nicht sein, dass sein Körper litt und ihn mit seinem Leiden derart bedrängte, dass für ihn selbst darin kein Raum mehr war. Panisch suchte er nach einem Rettungsballon, der ihm half, dem Tosen zu entfliehen. Endlich gelang es ihm, durch das Beobachten eines Fähnchens aus altem Zeitungspapier, das er sachte vor seinen Augen auf- und abwippen ließ, alles um sich herum aus Augen und Ohren zu verdrängen und endlich wieder er selber zu sein. So eroberte er sich ein wenig der ersehnten Stille zurück.

Doch da war noch die ältere Tochter seiner Frau. Dieses junge Mädchen hatte ein undurchdringliches Geflecht aus Fäden um seine Frau gesponnen – Fäden, die noch durch die Wände hindurch bis herüber in sein Schlafzimmer reichten. Es war ein Wesen der ganz eigenen Art. Nicht mehr Kind, denn sie beherrschte schon diese seltsame Sprache der erwachsenen Menschen, verstand schon die Kunst, Fäden zu spinnen. Doch auch noch nicht Frau, das sah er deutlich. Manchmal des Nachts, wenn alles schlief, schlich er herüber zu ihr, wollte den Körper erforschen, der sich in diesem merkwürdigen Interimszustand befand. Er musste oft zu ihr gehen, denn immer wieder wurde er bei seiner Forschungsarbeit gestört, mal durch das Mädchen selbst, weil es erwachte, mal durch das Kind, weil es nach der Mutter rief, mal durch seine Frau selbst, die die Wichtigkeit seiner Untersuchungen nicht verstand, mit ihm schimpfte und ihn zuletzt sogar aus dem Schlafzimmer und aus ihrem Leben verbannte. Wenn er später darüber nachdachte, schien es ihm, dass es dieses seltsame Zwischenwesen war, das ihn letztendlich aus der Hölle befreite.

In der Ehe mit seiner Frau wäre ihm beinahe alles genommen worden, was ihn ausmachte. In dieser Gesellschaft viel zu naher Menschen griffen alle Hände nach seinem Körper, um ihn zu zerstören. Mit ihrem Treiben vor seinen Augen versuchten sie, seine Überlegungen zu behindern, und mit ihrem endlosen Gerede, mit ihren dauernden Geräuschen rissen sie ihn aus seinen Gedanken.

Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Mit den Jahren war er vorsichtiger geworden, gab seinem Körper zwar weiterhin, was er brauchte, doch er achtete darauf, dass er selbst die Macht in den Händen behielt. Durch einen Arzt ließ er trennen, was seinen unseligen Samen verströmte, damit nie wieder irgendjemand sich sein Kind nennen konnte und das Recht beanspruchte, ihn aus seiner Stille zu reißen.

Er tauchte ein in die Welt der Physik, die ihm als Einziges wirkliche Befriedigung brachte. Hier war ihm nichts mehr fremd, hier lernte er Menschen kennen, die sich nicht in ein unsichtbares Netz aus Mimik und Gestik wickelten, die eine klare Sprache sprachen, die ihn verstanden und die er verstand. Endlich hatte er seine Heimat gefunden. In der Welt der Wissenschaft fand er Menschen, die so waren wie er. Er war zuhause angekommen.

Doch sein Zuhause hatte auch beschwerliche Seiten. Das Klein-Klein des Alltags war unendlich lästig, schier nicht zu bewältigen für jemanden wie ihn, der Wichtigeres zu tun hatte, als sich um die Banalitäten des täglichen Einerleis zu kümmern. Er brauchte jemanden, der ihm diese Mühen vom Leibe hielt. Aber er wollte nicht noch einmal blind in eine der Fallen stolpern, die das dingliche Leben bereithielt. Diesmal suchten er und sein Körper gemeinsam nach einem Wesen, das zu ihnen passte.

Langsam schritt sie die Treppe herunter, bestand nur aus langen, geraden Beinen, denen erst allmählich die vollkommene Figur folgte. „Die ist es!“, meldete sich sein Körper. Doch er selber beäugte sie argwöhnisch. Er ließ sich wieder auf dieses lästige Theater des Mienenspiels ein, das er so mühsam gelernt hatte und nun so perfekt beherrschte. Nur so konnte er sie erreichen, um ihren Körper und ihren Verstand zu erkunden. Erst nach eingehender Prüfung war er sich sicher, dass sie die richtige war und von ihr keine Gefahr für ihn ausging. Ihr Körper hielt ihren Verstand sicher im Griff.

Deshalb heiratete er sie.

Dieses Mal hatte er sich richtig entschieden. Sie hielt mit sicherer und williger Hand die häuslichen Unannehmlichkeiten von ihm fern. Sie entlastete ihn auf dem rutschigen Parkett des seichten Gesprächs, indem sie mit endlosem Geplapper die Menschen von ihm ablenkte. Und sie verstand sich perfekt auf die Kunst des Fäden-Spinnens. Er war zutiefst davon überzeugt, dass seine Geistesleistung allein nicht ausgereicht hätte, sich einen Universitätsposten zu erobern, wie er ihm zustand. Nur ihrer Schönheit und dem Zauber ihrer Webkunst verdankte er es letzten Endes, dass das Genie seines Verstandes in der wirklichen Welt wahrgenommen wurde.

Ja, für all seine Belange war sie die vollkommene Wahl.

Doch sie wollte mehr, wollte ihn ganz besitzen, versuchte, ihn in einen Kokon aus weiblicher Hexerei einzuspinnen. Er war klug genug, die Fäden immer wieder rechtzeitig zu zerreißen, damit sie nicht die Macht über ihn bekam, die sie sich wünschte. So wurde sie allmählich einsam an seiner Seite. Als sie merkte, dass es keine Kinder für sie geben würde, flüchtete sie sich in die Liebe zu einem Hund, gab dem alles, was an unerfüllter Liebe in ihr war, verhätschelte ihn mit ihrer unerträglichen Zuneigung. Er ließ es zu, denn es lockerte ihre erdrückende Hingabe an ihn. Doch als sie anfing, auch das Tier zu umgarnen und mit ihm in der Sprache zu sprechen, die ihn aus der Gemeinschaft ausschloss, war er gezwungen, sich diesen anfangs so erfreulichen, doch letzten Endes unzweckmäßigen Eindringling vom Halse zu schaffen.

Da wandten sich ihre Worte wieder ihm zu. „Sprich leise“, bat er sie dann, damit sie mit ihrem Gerede, das er sich nicht getraute, ihr zu verbieten, nicht seine Gedanken durchbrechen konnte. Sie sprach von Dingen, die ihn nicht interessierten, sagte, was die Nachbarn gesagt hatten, sprach von seiner und von ihrer Mutter, erzählte von einer Frau, die sie seine Tochter nannte. Auch wenn ihm das lästig war, so konnte er doch alles in allem zufrieden sein. Es ging ihm gut. Beinahe war ihm, als ob sein Gehirn sich ausdehnte. Immer mehr Raum beanspruchte sein Verstand, quoll förmlich aus ihm heraus. Ihm war es recht, doch ihr nahm es die Luft zum Atmen.

Seine Augen sahen ihre Lippen sich bewegen, wenn Worte in endlosem Redeschwall aus ihrem Mund fielen. Seine Ohren hörten die Geräusche ihres rasselnden Hustens und sein Körper spürte die Umklammerung ihrer festen Arme, wenn sie bei Asthmaanfällen panikartig nach ihm griffen. Das war zuviel, war mehr, als er ertragen konnte. Wenn er sie behalten wollte, musste er sie aus seinem Gesichtskreis entfernen. Er setzte sein Vögelchen auf einen einsamen Berg am Ende der Welt. Er selber aber blieb, war endlich in seiner Welt allein und konnte unangetastet seinen Gedanken nachhängen, seine Studien vervollkommnen, seine Berechnungen veröffentlichen. Zwischendurch sah er nach seinem bunten Vogel, erholte sich auf dem einsamen Berg von der Stadt der Menschen und sah manchmal mit Beklemmung der Zeit entgegen, wenn er alt sein würde, wenn die Forschung ihn nicht mehr brauchte und er Tag und Nacht seiner Frau ausgeliefert war.

Die Zeit kam. Er ging ganz hinüber zu seinem Vögelchen ans Ende der Welt und richtete sich ein. Vor ihm lag das allmähliche Verschwinden aus einer fremden Welt. In endlosen Spaziergängen durch die einsamen Wälder begegnete er noch einmal all seinen Gedanken, die er früher gedacht hatte, und das Rauschen der Bäume übertönte das Gezwitscher seiner Frau. Doch er wurde älter und schwächer. Jetzt endlich kam ihre Zeit. Zielstrebig und beharrlich nahm sie ihm Stück für Stück die Macht aus der Hand, vergriff sich an seinem Körper und nahm ihm am Ende auch das letzte, das ihm an Kraft geblieben war: sein Geld.

Schon früh hatte er die Bedeutung des Geldes erkannt. Im Grunde war Geld banal und unwichtig, doch es übte eine seltsam magische Anziehungskraft auf die Menschen aus. Wer Geld hatte, hatte Macht über andere und deshalb wurde es wichtig für ihn, es zu besitzen. Mit seinem Geist konnte er die Menschen nicht bezwingen, denn sie verstanden ihn nicht, und ihre Körper waren dem seinen überlegen. Einzeln vielleicht nicht, aber in Gemeinschaft woben sie untereinander ein Netz gemeinschaftlicher Vertrautheit, das ihn ausschloss. Außer dem Gewirr wahllos versponnener Fäden der Gemeinschaft gab es nur das Geld, das sie wirklich anerkannten, das sogar ihr Netz der Gemeinschaft zerstören konnte. Dafür musste er es ihnen nicht einmal geben, es reichte, wenn er es hatte. Es war wie damals mit den weihnachtlichen Pfeffernüssen, die seinem Körper nicht gefielen, weil er sie zu süß und insgesamt fad fand. Allein schon dafür, dass er sie behielt, erntete er die Bewunderung der Eltern und die Aufmerksamkeit des Bruders. Selbst als sie hart und vertrocknet waren, taten sie noch ihre erstaunliche Wirkung. Und mit dem Geld war es genauso. Deshalb hatte er es gehortet, wann immer er es bekam.

Doch zuletzt verließ ihn die Kraft, diesen Schatz zu bewachen. Im Alter gewann sein Körper endgültig die Oberhand über ihn. Nach langem, erbittertem Kampf zwischen beiden würde am Ende sein Körper über ihn siegen. Doch ein letztes Mal wollte er ihm ein Schnippchen schlagen. Sein Körper sollte nicht aus eigener Kraft langsam sterben. Er selbst wollte bestimmen, wann es soweit war und er wehrte sich in letzter Anstrengung gegen alle Bemühungen der Ärzte, seinen Körper vor einer inneren Vergiftung zu retten. Es war seine Frau, die seinem Körper half und den Ärzten Zugang zu ihm gewährte. Ohnmächtig musste er zusehen, wie sie seinen Körper versorgte und am Leben erhielt.

Wenn man seine Mutter, als sie alt war, gefragt hätte, was ihr Sohn für ein Mensch sei, so hätte sie vielleicht gesagt: „Er ist ein berühmter Professor.“ Oder sie hätte angstvoll die Schultern hochgezogen und geflüstert: „Ich habe einem Monstrum das Leben geschenkt“. Doch vielleicht hätte sie, altershellsichtig wie sie war, auch sagen können: „Er kam von einem anderen Stern und war gefangen in einem irdischen Körper. Ich habe einen Fremden in eine fremde Welt geboren.“

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Am Ende ist er arm und einsam in seinem Gefängnis gestorben. „Er hat mich unendlich geliebt“, sagte seine Frau am Grab und weinte. „So ein herzlicher, liebenswürdiger Mann, ihr Herr Vater“, sagten die Leute auf der Beerdigung zu seiner Tochter und sie begriff, dass alle Menschen um ihn herum ihn bis zuletzt nicht erkannt hatten.

Tina braucht keine Angst zu haben

Manchmal kommt nachts der Schwarze Mann. Wenn Mutti Tina ins Bett gebracht hat, wird im Zimmer, wo ihr Gitterbettchen steht und auch ihre Schwester Thea schläft, das Licht ausgemacht. Das Licht im Flur bleibt an und die Tür steht ein wenig auf. So fällt die ganze Nacht ein Lichtstrahl ins Zimmer und Tina braucht keine Angst zu haben.

Und dann kommt der Schwarze Mann. Zuerst wird das Kinderzimmer dunkel, weil der Lichtstrahl von dem Schwarzen Mann verdeckt wird und dann geht die Tür langsam auf. Das Licht bescheint die Umrisse des Schwarzen Mannes. Er ist ganz groß. Dann wird es dunkel, denn der Schwarze Mann schließt die Tür. Er kommt näher und näher an Tinas Gitterbett. Ganz leise und vorsichtig geht er. Man hört nur seinen Atem. Wenn die Gardinen nicht ganz zugezogen sind, so dass ein wenig Licht vom Fenster her herein kommt, sieht sie das Weiß in seinen Augen. Ihr Herz donnert unter der Bettdecke und sie presst ihren Kuschelhasen ganz fest an sich. Der Schwarze Mann kommt immer näher und näher, aber im letzten Moment biegt er ab und geht an ihrem Gitterbett vorbei zu Theas Bett. Tina atmet ganz vorsichtig, damit er sie nicht bemerkt und es sich nicht anders überlegt und wieder zurückkommt. Es ist erstaunlich, dass er sie nicht bemerkt hat, denn ihr Herz klopft so laut, dass es in der ganzen Wohnung zu hören sein müsste. Wegen ihres eigenen Donnerns in der Brust hört sie den Schwarzen Mann nicht mehr atmen und weil sie sich nicht getraut, den Kopf zu drehen, sieht sie ihn nicht. Aber sie weiß, dass er immer noch im Zimmer ist. Dann schreit Thea: „Tina, hilf mir!" Sie schreit ganz merkwürdig. Eigentlich ist es ein Flüstern. Sie schreit flüsternd. Es hört sich so grauenvoll an, dass Tinas Herz aufhört zu schlagen. Es hört einfach auf zu schlagen – von einem Moment zum anderen. „Tina, hilf mir doch!" schreit Thea wieder. Doch wie soll Tina das denn machen? Sie hat doch selber so grauenvolle Angst. Sie ist doch auch viel kleiner als Thea. Wenn die sich selber nicht helfen kann, wie soll Tina das denn machen? „Tina, hilf mir", schreit sie wieder mit diesem schrecklichen Flüstern. Aber Tina kann ihr nicht helfen, denn Tina stirbt gerade. Ihr Herz schlägt nicht mehr, sie bekommt keine Luft, ihr ganzer Körper ist gelähmt. Sie kann sich nicht mehr bewegen und gleich ist sie tot. Vor Angst hält sie den Kuschelhasen so fest, dass sie auch ihm die Luft abdrückt. Sie fühlt sein Herz schlagen, er wird noch sie beide verraten mit seinem lauten Herzklopfen. Er zappelt und macht plötzlich einen ganz komischen Hasenschrei, einen richtig angstvollen, piepsigen und doch gellenden Hasenschrei.