Zum Buch

Eine Erzählung aus der Lappmark. In einem bunten Reigen wechseln sich eindringliche Tier- und Naturschilderung ab; zahlreiche Menschenschicksale nehmen Gestalt an. Ein Roman über Bären, Rentiere und vor allem über Wölfe und das beschwerliche Leben der Lappen in Frost und Eis. Neben vielen weiteren Figuren sind der Lappe und Rentiertreiber Isko Pilltu und ein alter erfahrener Altwolf und Leittier eines Rudels die Helden dieses Buches ... und erbitterte Gegner.

Korrektur gelesen und in neuer deutscher Rechtschreibung. Das E-Book entspricht der Ausgabe von 1942.


Artur Jost Pfleghar wurde 1907 geboren und starb 1941. Er schrieb die Romane «Die Islandreiter», «Nordleute» und «Tundra».


1. KAPITEL

Sven Hedin dem großen Asienforscher in Ehrerbietung


Der Herbst war bald zu Ende.

Er streute noch einmal glühende Farben über die Wälder und die Ufer des Flusses, dass es war, als begänne er jetzt das Leben auszuklammern in der Wildmark. Man konnte meinen, die Wogen des Flusses müssten wieder rascher zu strömen beginnen wie zur Zeit der Frühjahrswende, wenn tausend Wildbäche aus den Bergen zu ihm stießen und ihn schwellen ließen, dass er sich hochwölbte in seinem Bett und über die Ufer trat. Und die Wälder müssten wieder brausen von neuem Leben, das in den glühenden Farben der Wipfel aus ihnen leuchtete, unter Wolken, die in zerflatterten Ballen schnell vor der Sonne zogen.

Aber von den Zinnen der Berge herab wuchs über Nacht eine andere Farbe in die Täler nieder und löschte das Leuchten der Wälder mit einem matten Pinsel aus. Sie kroch tiefer und niedriger über die Schletten der Tundra in grauem stumpfem Weiß. Und es wurde Winter danach.

Die Köpfe der Pflanzen begannen zu dorren, neigten sich dem Boden zu, bis die Stängel plötzlich knickten in einem scharfen Windstoß, der durch die Schluchten trieb und die Stämme der Birken schüttern und beben ließ, dass ihre Blätter von den Zweigen wirbelten und im niedrigen Weidengestrüpp sich verfingen, das überall durch die Tundra kroch.

Nach vielen Tagen begann der Wald zu zittern, wie durch den Leib eines Sterbenden ein Schauer läuft und verkündet, dass die Arbeit des Todes nun im Ernst eingesetzt hat – das es zu Ende geht. Das Blut wich aus den Wipfeln und Ästen der Bäume zurück und drängte in den Stamm, sank tiefer in den Schaft, der noch von der Erde umkleidet war wie mit einem warmen Gewand.

Als der zweite Sturmlauf des nahenden Winters über die Wildmark brach, weckte er brausendes Echo über dem ganzen Land, denn er hatte die Haufen der abgefallenen Blätter mit sich gerafft und wirbelte sie in einer dunklen Wolke über die Wälder hinweg, dass sie schwirrend und tönend im Gesang des Windes mitfolgten.

Eilig fegten die grauweißen Wolken des Schnees in ihren Spuren und umhüllten Bäume und die großen Ebenen der Tundra für den langen Schlaf des Nordwinters.

Wie eine Melodie des Todes klang das Sausen des Windes um die einsamen Zelte der Lappen und sang in den großen Öffnungen des Firsts, dass die Feuer im Innern der Koten wild aufflammten, weil der Wind die warme Luft in Wirbeln aus den Zelten sog.

Das Klagen der Wälder summte um die Wohnungen der Lappmark. Und sie klagten, weil der Sturm ihnen die Ruhe nahm, die der Winter ihnen versprochen hatte, die Ruhe, und oft das Leben, wenn er einen aus ihrer Mitte riss und ihn krachend gegen die Stämme der andern warf, dass seine Wurzeln knirschend und brechend die Erde durchrissen im taumelnden Fall des Stammes. Dunkel umhüllte sie und nahm ihnen den Atem. Aber es waren nun die Menschen, die diese Klage führten, weil der Sturm seine eisigen Arme nach jedem Hauch reckte, der aus dem Mund eines Lebenden kam, und ihn wegzerrte von seinen Lippen, dass eine weiße Bahn vom warmen Atemdampf hinter ihm blieb.

Die Menschen stimmten ein in die Klage der Wälder.

Die große Nacht kam darüber. Die Nordnacht.

***

Der Lappe Pilltu lief auf knatternden Skiern hinter seiner Renherde, die sich wie ein brauner scharrender Strom von Läufen und hochgerissenen Geweihen über die Bergebene schob. Neben seinen langen Lappskiern trabte mit schnellen Schritten ein zottiger Hirtenhund, der bisweilen in ein paar raschen Sprüngen von ihm wegrannte, um mit heiserem Jaulen einen Nachzügler in die Herde zurückzutreiben.

Am Himmel stand der Mond in einer gelben Scheibe und ließ die Berge in der Runde in blassem Licht aufleuchten. Silbern glänzten die weiten Schneefelder, und selbst die Wolke von Dampf und Atem war zu sehen, die über den schnell ziehenden Tieren lag, über dem Stoßen und Klappern ihrer gereckten Geweihe.

Isko Pilltu hatte seine Augen im Norden, wo sich dunkle Wolken wie eine Wand über die Bergketten hereinschoben und mit jeder Stunde höher kletterten am Nachthimmel. Er wusste, dass es bald vorbei sein würde mit der Stille, die jetzt noch die Berge in ihrem Schweigen hielt. Härter trieb er auf die Herde ein und sandte seinen Hund mit hohen langgezogenen Rufen zwischen die Tiere, dass sie sich angstvoll zusammendrängten und einander in schnellerem Gang als bisher vorwärts stießen – dem Osten entgegen, wo die Berge einmal zu Ende sein mussten und die Wälder der Lappmark über sanften Hügeln und Ebenen sich dehnten.

Droben am Nachthimmel hatten sich die Wolken jetzt über den Zenit geschoben. Fetzen wuchsen aus ihrer dunklen Wand heraus und griffen wie mit krallenden Fingern nach dem verblassenden Mondball. Und mit einem Mal war das Leuchten erstorben, das vorher das Land aus der Nacht herausgehoben hatte. Grau lag die Öde und wurde zum schwarzen undurchsichtigen Dunkel, in dem nur noch das Kratzen und Schürfen der ziehenden Tiere zu hören war. Ein Windstoß stieß über die Ebene hin, sang brausend weiter in den Berghalden – der Schnee begann zu stäuben und zu wandern. Sturm stand auf.

***

Der Lappe schickte seinen Hund um die Herde, um die Tiere zum Halten zu bringen und in einem Haufen zu sammeln. Er hörte sein heiseres Läuten durch die unsichtige Nacht und blieb auf seinen Skiern stehen, müde auf seinen Stab gelehnt, während seine Lider unter den starken Stößen des Firnwindes zusammenzuckten. Aber er wartete umsonst, dass der Strom der Tiere zum Halten käme, und schwer atmend machte er sich endlich wieder auf den Weg, während das wütende Bellen seines Hundes aus der Ferne herüberdrang, der sich vergeblich abmühte, die Spitze des Zuges zurückzutreiben. Mit einem Fluch rannte er dann seitwärts, um die Herde zu umgehen und dem Hund in seiner Arbeit zu helfen. Aber es gelang ihm nicht mehr, die Tiere, die nun stürmend über die Ebene zogen, zu überholen, und er lief missmutig auf seinen früheren Platz zurück, nachdem er mit einem scharfen gellenden Pfiff den Hund zu sich gerufen hatte. Keuchend lag er mit seinen Skiern von da ab am Ende des Zuges und hatte Mühe, den Tieren zu folgen, deren dunkle Rücken vor ihm in den Schleiern des ziehenden Schnees auf und nieder wogten.

***

In der Lehne eines Hügels standen fünf graue Schatten, nur wenige Meilen von dem Ort, zu dem Pilltu mit seinen Renen zog.

An ihren mageren Leibern mit den hohlen Weichen zerrte der Sturm und zerkämmte ihre struppigen Decken. Aber reglos verharrten sie gleichwohl, hatten sichernd die langen schmalen Köpfe in den Wind gerichtet, der ihnen den Duft von warmem lebendem Fleisch in die zitternden Nasen trieb.

Graue Wölfe!

Vor ihren Mäulern mit den hochgeschobenen Lefzen stand der Dampf ihres heißen Atems, quoll aus den tropfenden Zungen und schlug sich nieder auf die Masken, dass sie weiß vereist waren bis zu den gereckten Lauschern hinauf.

Jetzt rührte einer der Schatten sich und tat schnell einen Schritt gegen den Wind – doch verhielt er seine Bewegung jäh wieder – unentschlossen, zögernd. Aber wie auf einen Befehl hatten sich die andern in seine Nähe gesellt, mit matt glimmenden Lichtern, erhitzt von Erwartung und Lust, ihre Fänge in zuckendes Fleisch zu reißen.

Ein Jungwolf trabte plötzlich an dem Leittier des Rudels vorbei, dem lockenden Geruch entgegen. Doch hatte er kaum Raum gewonnen, als die Zähne des Leitwolfs wie eine glühende Zange sich in seine Lefzen bohrten und krachend gegen sein Gebiss hieben, dass er winselnd zur Seite flüchtete, um sich schleichend wieder zu den andern zu gesellen.

Unversehens fuhr eine Wolke stürmenden Schnees über das Rudel, und als der Rücken des Berges sich danach in schwachen Umrissen wieder aus der Nacht hob, war die Stelle leer, an der die Wölfe zuvor gestanden hatten.

Leblos lag der Berg.

Aber aus geringer Entfernung hob sich ein Heulen in das Brausen des Sturmes, flog zerhackt und verweht gegen die Felswände. Langgezogen schallte es von Neuem herüber, klarer, weil das Toben des Windes für einen Augenblick schwieg. Und es wurde ihm Antwort von einem benachbarten Hügel. Jene Antwort, die die Geschöpfe der Wildmark schneller atmen lässt und ihren Herzschlag hämmern. Gurgelndes, schwappendes Heulen, hochkletternd bis in schrille Misstöne, wieder abfallend, sich selbst verzehrend im Hunger nach Blut. Eine Kehle, die dürstet – dürstet.

Nur das Ziehen des Schnees war noch zu hören, als die Antwort geendet. Aber im Schatten der Berge arbeiteten sich die Wölfe voran. Geräuschlos trabten sie durch den Schnee, eine Kette hochgelegener Berge zu.

Ihre Fesseln waren blutig von den scharfen splitternden Graten des Harschs, der sich unter der weißen Oberfläche verbarg, seit der Frost durch Wochen hindurch über der Tundra gelegen hatte. Und die Läufe schmerzten, weil der feuchte Neuschnee die kaum verklebten Schnitte in ihren Sohlen und Zehen erweichte, dass es wie Feuer in den Zwischenhäuten der Pfoten fraß. Aber die leeren Mägen brannten noch teuflischer hinter den gebogenen Rippen, da sie seit Tagen nichts anderes in sich aufgenommen hatten als die harten Krusten des Harsches, den sie in ihrem quälenden Hunger kauten. In einer Reihe trabten sie hintereinander, mit schnellen ausgreifenden Schritten.

Plötzlich wurde der Duft stärker, der vor ihnen lag, und jenes Lauern trat in ihre Lichter, das erst dann verschwindet, wenn sich im Sprung an das Wild die Augen weit öffnen, damit keine Bewegung des Opfers ihre letzte Anstrengung vereiteln könnte. Zitternd stand der Altwolf still. Die langen Haare seiner Rückenmähne erhoben sich, als striche sie eine unsichtbare Hand gegen Kopf und Lauscher. Und als wollte er seine Spannkraft proben, so wog er seinen langen Leib auf den Läufen. Mit halb geschlossenen Sehern hatte er seine Nase gegen den Wind angehoben und ließ sie langsam in der Luft kreisen. Dann trabte er mit einem Ruck weiter und wandte seine Aufmerksamkeit nun auch der näheren Umgebung zu. Leicht und behänd glitt er plötzlich seitab, grub mit seinen Läufen im Schnee, dass er stäubend zur Seite flog.

Die Losung eines Rens!

Ungeordnet und locker lag sie im Schnee verstreut, und begierig ließ der Altwolf seine Nase über sie hinwegstreichen. Er nahm hastig eines der Klümpchen auf mit den spitzen Fängen und schlang es hinab. Begann dann zu scharren und zu wühlen und konnte sich nicht genug tun, den frischen Geschmack auf seiner Zunge zu kosten, bis er unvermittelt seinen Kopf über die Rücken der Jungtiere erhob und aufmerksam in die Nacht hinaussah. Steil trat der Rist aus seiner dürren Schulter heraus, als er nun seinen Rücken krümmte und tief den Leib auf die Fesseln niederdrückte. Die Rute lag buschig zwischen den geknickten Hinterläufen und achtlos wetzten die Krallen seiner Landläufe über die Losung hin –

Duft von warmem Blut zitterte in der Nachtluft. Eine Welle von Schweiß und Blut hatte seine Nüstern getroffen. Erregt vertrat er sich die Läufe und knetete den Schnee, bis er mit einem schnellen Satz davonjagte, indessen die Jungtiere ihm mit hechelnden Zungen folgten. Er strebte höher in den Hängen, dort hinauf, wo der Rücken des Berges sich abzurunden begann und überlief zu einer weitgedehnten Hochebene.

***

Die Wölfe rückten zu in ihrem Hunger, als sie die Hunderte von Geweihen und Stangen sahen, die klappernd und stoßend über diese Ebene wanderten und dunkel sich aus dem mattgrauen Schnee hoben. Braune Leiber zogen, zu einem Haufen gedrängt, vor ihren funkelnden Lichtern polternd über den Harsch nach Osten. Dumpf klapperten die Schalen ihrer Läufe. Ein Strom von warmen Blut floss dort in dickfelligen schwitzenden Leibern, ein glühender Strom von Blut, der seinen Schein in die Augen der Wölfe zurückwarf und sie gierig aufglimmen ließ, lichtern – im Fieber –

Wieder waren die Wölfe verschwunden, als hätte der Berg sich aufgetan und sie verschlungen.

***

Die Herde Pilltus trabte schnell über die Hochebene dahin. Der alte Stier an ihrer Spitze schnaubte mitunter geräuschvoll und blies die kalte Luft von seinen gedehnten Nasenlöchern – hinter sich hörte er das heisere Kläffen des Hundes und strebte danach nur noch schneller den Lehnen der östlichen Gebirgsausläufer zu, wo die Moose zahlreicher und fetter wuchsen als auf der offenen stürmischen Ebene. Aber nur ein kleinerer Flock der Tiere schloss sich seinem schärferen Gang an und folgte ihm mit weit ausgeworfenen Beinen. Unschlüssig sahen die anderen voraus und zu den Seiten, denn die Tiere waren müde geworden von der schnellen Hatz im blasenden Sturm. Einige von ihnen hatten die Köpfe hochgebracht und schienen den Wind zu prüfen. Keuchend und hustend lief eine Kuh abseits und versuchte, ihr jähriges Kalb in die Herde zurückzutreiben. Es hatte sich mit verwunderten dummen Augen an den Steilhang einer Schlucht gedrängt und sah in die abgründige Tiefe hinab, die sich vor seinen ungelenken Läufen auftat.

Die Herde war zerfallen. Man hörte das Läuten des Hundes bald in dieser und bald in einer anderen Ecke der Nacht, als er versuchte, die Tiere wieder zu einem Haufen zusammenzuschweißen.

«Hoooooh – – – – – Hoooooh – – – – – Huuuuuh – – –», trieb Pilltu mit langen singenden Rufen auf die Rene ein und hetzte den Hund auf die Gruppen der haltenden Tiere, welche mit ihren scharfen Klauen den Harsch zertrümmerten, um zu den kargen Flechten zu kommen, die er verdeckte. Der Leitstier trabte schon weit vorne und zockelte seine Kühe mit sich durch die Nacht – – – «Hol ihn zurück, Skalvi!», schrie der Lappe zu seinem Hund hinüber und sah, wie dieser als ein schwarzer dunkler Strich durch den Schnee fegte, um seinen Befehl auszuführen.

Viele der Tiere wollten ihren bisherigen Führer nicht mehr anerkennen, seit ihn am Tag vorher ein kräftiger Jungstier fast zu Fall gebracht hatte. Der Leitstier hatte sich nur mit Mühe auf den Beinen gehalten nach diesem Kampf. Kampf, der vielleicht sein letzter Sieg gewesen war. Eine seiner mächtigen ausladenden Schaufeln hatte die obere Hälfte der gekrümmten Sprossen durch den übermütigen Stoß des Jungstiers verloren, der seine dünnen Stangen furchtlos in das mächtige Gewirr von Zacken gerannt hatte, das er zu Häupten trug. Noch zur selben Stunde war das Gefolge des Jungen, der vorher nur wenige Kühe führte, um nahezu das Zehnfache gewachsen und würde weiter wachsen um Hunderte von Tieren – vielleicht morgen schon, wenn er unterliegen würde und irgendwo im Haufen der Tiere mitziehen musste, falls er noch die Kraft dazu besaß. Schnaubend nahm er den Hund an, als der versuchte, seinen Weg zu verstellen. Wie ein Fels stand er und stieß die Luft durch die Nüstern, als wollte er seinen Mut beweisen, der weder vor dem Hund noch vor dem Jungstier oder vor dem Teufel selbst Halt machen wollte. Während Skalvi ihn rasend umjaulte, sah er mit einem stummen stolzen Blick nach hinten, wo der Jungstier stand mit seinem Haufen. Er forkelte seine Stangen in den Harsch, als wollte er ihn herausfordern, vor dem er doch bangte.

Da kam plötzlich Bewegung in die zerstreuten Gruppen der Herde. Ungestüm drängten die braunen Leiber zusammen und warfen die Köpfe hoch, dass die Stangen sich klirrend aneinander wetzten. Der Leitstier wandte sich. Mit wütenden Schlägen seiner Läufe riss er lange furchende Streifen in den rauen Harsch, während der Sturm flatternd seine weiße Mähne auseinandertrieb, dass sie wie eine Fahne vor ihm stand. Mit rot unterlaufenen Augen richtete er sich dem Haufen entgegen, der von hinten sich ihm näherte und auf ihn einstürmen wollte. Aus seiner Mitte musste er kommen, der Junge! Der letzte Kampf begann –

Aber plötzlich hatte er ein hetzendes wildes Knurren vom Rand der Herde vernommen, ein Stöhnen von Tieren unter malmenden Fängen. Er stieß in zitternder Angst in den nahenden Haufen hinein, fliehend, fallend stürmte er weiter, war wieder hoch und rannte blindlings nach Westen, den Weg zurück, den die Herde eben gekommen war.

Die gellenden Rufe des Lappen schnitten durch die Nacht. Der Hund bellte rasend los und versuchte die Tiere zu halten, rannte zwischen sie und tauchte unter zwischen den krachenden Schalen der vielen hundert Läufe. In stoßenden Fahnen peitschte der Schnee über die Ebene –

Der Leitwolf hatte die Herde umgangen. Gleich einem grauen Pfeil war er um die östlichen Hänge geglitten, hatte den Leitstier und die Herde hinter sich gelassen, um von der Flanke wieder auf sie zu treffen. Er schlich sich geduckt an einige Tiere heran, die sich weit von der Hauptherde entfernt hatten, führte tief den Kopf im Schnee und achtete darauf, aus dem Wind zu bleiben, dass die Tiere ihn nicht vorzeitig witterten. Einen Augenblick lang lauschte er auf die knackenden Geräusche, mit denen die Hufe der Rene den Schnee zerbrachen, hörte mit klopfendem Herzen auf das eigentümliche zitternde Schauben, das sie beim Äsen aus ihren Mäulern stießen. Er versuchte zu sehen, ob die Tiere auf der andern Seite drüben noch ruhig waren oder ob die Jungwölfe vielleicht sich verraten hatten. Aber er bemerkte kein Zeichen von Erregung oder Misstrauen. Der Leitstier trabte seines Weges – jetzt stand er an, aber es war nur der Hund, der ihn gestellt hatte. Doch war eine seltsame Spannung in die Herde gekommen, die Tiere sahen auf, liefen unruhig durcheinander –

Da stieß er mit einem Sprung aus der Nacht hervor, die Handläufe weit nach vorne geworfen, dass sie sich einkrallten in die dichtbehaarten Keulen eines Rindes und durchgriffen auf die Haut. Die Fänge taten ihre Arbeit, rissen und fetzten, bis sein Opfer niederschlug in den Schnee – zuckend lag, gelähmt im Entsetzen des Todes. Blut sprang in hellem Fluss aus seinem Hals, schlug in roten Strahlen über die angstvoll geweiteten Augen und färbte die weiße Mähne mit ihren flatternden Strähnen. Über ihm lag der Altwolf und zerrte Fetzen warmen Fleisches aus dem Loch, das er in den Hals des Tieres gerissen hatte. Er hatte die Herde vergessen während er schlang und würgte und von Neuem seine Fänge in den Hals des Rens bohrte, um noch mehr von dem lebenden rinnenden Saft zu finden. Aber als er einmal aufsah, gewahrte er die fliehende Herde und sein Rudel in der Ferne. Mit einem Sprung war er hoch und jagte ihnen nach. Wie ein abgeschleuderter Speer schoss er über die Fläche dahin, verbiss sich in Weichen und Heulen und fraß sich in warme Hälse – schlug ein drittes und fünftes Tier, das sich in jagender Flucht überschlug und mit krummen Läufen in den Schnee polterte. Über ein weiteres Tier fiel er her, flengte seinen Hals in Fetzen und schlürfte winselnd das warme, stoßende Blut. Aber er blieb nur für Sekunden bei seinem neuen Opfer, wandte sich wieder ab und hieb seinen Fang in den weichen Äser eines jungen Kalbes, dass es schreckend in sich zusammenbrach. Dann hetzte er weiter und jagte hinter den Tieren, die springend und blutend und stöhnend das Weite suchten. Entsetzt trug der Jungstier als grausigen Reiter einen Wolf auf seinem Rücken, der ihm das Genick brach mit blitzenden Reißern.

Still wie der Tod jagten die grauen Schatten hinter den Fliehenden, rückten vor, winselnd vor Freude und Genuss und verrückt im Rausch des roten Blutes – graue Wölfe – über der weiten Tundra.

Wo der Berg steil abfiel im Westen auf den breiten Rücken eines Gletschers, flog plötzlich eine stürmende Wolke von Leibern und Stangen am Himmel. Sie senkte sich und flog hinaus nach West. Schnee begann vom Fels zu stäuben und zu rollen. Fegte um zuckendes Fleisch und wirbelnde Läufe, die haltlos durch die Luft schlugen – in die Tiefe. Hinab auf den Gletscher, der mit seinen Spalten und verwehten Brüchen drunten auf sie wartete. Donnernd schlug die Wolke auf! Tierleiber bäumten sich und raupten schreiend zwischen Schründen und Eisklötzen. Dumpf rollte es vom Gletscher, murrte über die Berghalden hin. Dann schwieg auch der Donner, und nur noch mattes Schürfen und schmerzvolles Keuchen kam von den gebrochenen Körpern der Rene, die in würgender Angst vor den grauen Schatten über den Steilfall des Berges hinausgesetzt waren.

***

Isko war schreiend zwischen seine Tiere gerannt, die wie im Sturm nach allen Seiten zerstäubten und in der Nacht verschwanden. Wie ein Teufel brüllte er los und versuchte, die Herde um sich zu sammeln. Aber er stand im nächsten Augenblick allein auf dem weiten Schneefeld des Berges, während rings um ihn die Nacht dröhnte von jagenden Hufen und klirrenden Stangen und die Harschdecke krachend einbrach unter dem Gewicht der stürmenden Leiber. Während er noch keuchend lief und sprang, wälzte sich plötzlich aus dem Dunkel eine breite Front von abgesprengten Renen auf ihn zu und brauste dicht an ihm vorbei, ohne auf seine heiseren Rufe zu achten. Belfernd rannte der Hund hart an ihren Läufen und trieb sie in sausender Fahrt dem Osten zu, weg von den gierigen Fängen der Wölfe. Einige dreihundert Tiere mochten es sein!

Isko sah, dass der Hund der Klügere von ihnen beiden war, weil er das rettete, was zu retten war, während er selber noch immer der Hauptherde nachrannte, die er doch nicht erreichen konnte. Er lief danach in einem großen Bogen über die Ebene und sammelte einige der versprengten Gruppen auf, die da und dort mit hohen Köpfen im Schnee standen und selbst vor ihm flüchten wollten, bis sie seinen Wind in die Nase bekommen und seine Stimme erkannt hatten. Dann trotteten sie, schreckend vor seinem geschwungenen Stab, durch die Nacht nach Osten.

Erst als er die Tiere in Sicherheit wusste, machte er sich auf die breite Spur der Großherde im Westen. Er lief mit keuchenden Lungen dahin. Der Nachtfrost stach ihm wie mit Messern in Hals und Brust und seine Beine zitterten, dass er kaum mehr die langen Skier durch den rauen zerstampften Schnee zu steuern vermochte. Gleichwohl! Einmal lief er an einem niedergerissenen Kalb vorbei – etwas weiter lag abseits ein starker Ochse im Harsch und schlug noch mit den Läufen.

Isko fluchte und lief weiter und stand plötzlich starr vor Schrecken und Verzweiflung, denn er sah, wie die Spuren der Rene unversehens scharf vor ihm abwinkelten und hinüberführten zu dem Steilfall im Berg. Zum Steilfall! Atemlos lief er weiter, es hatte jetzt aufgehört zu schneien. Die Nacht war klarer als vorher. Weit voraus sah er einen großen dunklen Fleck im stumpfen Weiß der Hochfläche. Wenn das die Tiere waren! Wenn sie dort –

Doch es war nur eine große Felswand, die dort über die Ebene hereinwuchs, und die, freigefegt vom Toben des harten Sturmes, dunkel in der Nacht stand. Nach den nächsten Schritten wusste es der Lappe und er wusste auch, dass er nun die Tiere nicht wiederfinden konnte, denn die Spur hatte die ganze Zeit über ihre Richtung nicht verändert und würde sie auch weiter nicht ändern. Zum Steilhang führte sie –

Isko stand an in seinem Rennen und horchte. Aber die Nacht war still. Nur von den Bergen und aus den Tälern summte noch das Brausen des Windes. Der Wind war weiter gezogen, wanderte weiter nach Nord und Nordost.

Plötzlich hörte er leichtes Knirken im Schnee und wandte sich um. Es war sein Hund, der leise angetappt kam wie ein Wildtier und zu seinen Füßen stehenblieb, den Kopf schräg zu ihm heraufhob, dass er das Weiß seiner Augen erkennen konnte. Er drängte sich an seine Beine und begann zu winseln, lief einige Schritt voraus, kam wieder zurück. Einmal zuckte er zusammen und richtete die spitzen Ohren in die Höhe. Ein zerrissenes Heulen wehte über die nächtlichen Berge herüber zu ihnen und schrie unheilvoll und wild durch das einsame Land. Der Hund sperrte die Zähne und bleckte knurrend in die Richtung, aus der das Heulen kam. Aber Isko fühlte, wie er seinen schmalen zottigen Körper zitternd an seine Waden drückte vor Schrecken und Angst, als die Grauen drüben ihre Stimmen erhoben.

Der Lappe überlegte, ob er nicht wieder zu den zurückgelassenen Tieren gehen sollte, denn es war noch weit bis zu dem Platz, wo der Berg sich in die Tiefe hinausneigte und wo er endgültig sehen würde – he, dass die Spur nicht Halt machte – nicht Halt machte! Dass sie über den Berg hinausführte und hinab!

Aber am Ende stapfte er müde los, und müde trottete auch der Hund neben seinen Skiern. Es war ja nun alles gleich. Sie hatten gute Arbeit gemacht mit Iskos Tieren, die grauen Teufel.

***

Aber hoch über dem Abhang lagen die Wölfe und hatten den Durst gestillt, der sie mit hohlen Weichen über die Schneefelder getrieben hatte.

Eines der Jungtiere schnüffelte spielerisch an einem gefallenen Tier, riss mit drolligen Sprüngen ein Maul voll Haare aus seiner Decke und ließ sie wieder fahren. Doch im nächsten Augenblick jagte es schon wieder hinter dem Büschel her, das der Wind von ihm wegwehte, und suchte es mit weichen tändelnden Pfoten zu erhaschen. Der junge Wolf ließ schließlich ab von seinem Spiel und trabte zu dem Körper des Tieres zurück, riss sich einen Fleischfetzen aus seiner Keule. Nur im Spiel. Er trug ihn etwas zur Seite und wandte sich wieder und wieder um mit seinen Läufen. Aber das Fleisch hatte nicht mehr jenen sinnverwirrenden Duft wie zu Beginn der Jagd, als es galt, die Herde zu sprengen. Kälte hatte sich in die roten Fasern gesetzt und ihnen den Geruch genommen. Unschlüssig suchte er noch eine Zeitlang an dem Fleischstück herum, bis er seines Anblicks müde zu sein schien, denn er schaufelte mit den Handläufen Schnee darüber, um es zu bedecken. Aber gleichwohl lief er danach wieder zu dem toten Ren hinüber und wühlte von Neuem in seinem Hals. Er hieb die Zähne ein und zog mit aller Kraft schnerrend nach hinten, als wollte er den ganzen Kadaver mit sich fortschleppen.

Der Altwolf lag über seinem drückenden Magen, den er sich gefüllt hatte bis zuletzt. Schläfrig blinzelte er über die Tierleichen hin und über die weitgedehnte Bergebene, auf der da und dort gefallene Tiere im Schnee lagen und ihre steifen Läufe zum Himmel streckten. Dann wandte er die Lichter wieder auf seine Jungtiere und steckte die Nase zwischen die Weichen, um zu ruhen.

Aber plötzlich sah er scharf auf, hell und wach. Prüfte ringsum das Land. Gereckt folgten die Lauscher seinem Spüren. Doch am Ende heftete er seinen Blick auf den Jungwolf, der sich bei dem Kadaver zu schaffen machte. Von dort mochte der Laut gekommen sein. Er senkte wieder den Kopf auf die Pfoten.

Aber die Lider schlossen sich nur zur Hälfte über den feuchten, schimmernden Sehern. Seine Ohren warteten darauf, den Laut ein zweites Mal zu hören, um ihn zu prüfen.

Er sah auf den Jungwolf.

Aber alles blieb still.

Für lange Zeit.

Bis es plötzlich im Osthang knackte. Steine klirrten – Klingen wie von Stahl!