Über den Autor

Ali Mahan, geboren 1949 in Nadjaf/Irak, wo er auch aufgewachsen ist und seine Schulzeit bis zum Abitur verbracht hat. Seine Eltern waren Iraker iranischer Abstammung. Sein Vater war Besitzer eines kleinen Restaurants in Nadjaf und wurde mit seinen Kindern zu Beginn des iranisch-irakischen Krieges in die Heimat seiner Vorfahren, den Iran, deportiert. Seit 1970 hält sich der Autor in der BRD auf. Er studierte in Köln Mineralogie und promovierte Ende 1984 in Chemie. Von 1980 bis 1984 assistierte er an einem Lehrstuhl für Chemie in Köln, wobei er auch einige wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichte. Seit 1985 arbeitete er als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule München und lehrte anorganische und physikalische Chemie. Anschließend arbeitete er als Chemiker in der Industrieforschung. Seit den neunziger Jahren ist er schriftstellerisch tätig.

Weitere Buchveröffentlichungen:

Zwischen zwei Welten - Autobiographische Schriften eines Irakers

Euch klagt die Seele des Rindes - Aus dem mythologischen und religiösen Geist Altirans Webseite: www.poesie-ostwest.de

Impressum

Copyright: © 2017 Ali Mahan

Herstellung und Verlag: © 2017 BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7448-7896-8

Printed in Germany

Inhalt:

Franz der Fabrikarbeiter

<Wir erfüllen die traurige Pflicht, bekannt zu geben, dass am 07.03.74 Herr Franz Kotulinski verschied>

Ein Zettel mit dieser dürftigen Nachricht war seit geraumer Zeit am schwarzen Brett in dem Gebäudeeingang einer Chemiefabrik, da, wo ich, „der Erzähler dieser Kurzgeschichte“, als Werkstudent zum zweiten Mal tätig war, ausgehängt, von der auch einige wenige vorbeigehende Arbeiter Notiz nahmen. Ich aber verweilte einige Sekunden lang davor und las sie gründlich. Dann ließ ich den Blick entlang der Silhouette des Fabrikgebäudes schweifen und erinnerte mich an die Zeit als ich zum ersten Mal hier war. Damals gingen fast doppelt so viele Arbeiter wie heute durch dieses Tor.

Es stimmt nicht ganz. Es ist keine Geschichte. Ich hätte gern mehr über Franz Kotulinski gewusst. Für mich ist jeder Verlauf eines Lebens eine interessante Geschichte. Es gibt Abermilliarden von Geschichten. Dies ist eigentlich eine Sichtweise von mir über jemanden, den ich flüchtig kannte und dachte, dass er so wäre. Wenn ich mit jemandem, mit einem Freund zum Beispiel rede, der gerade vor mir steht, so rede ich nicht mit ihm an sich, sondern ich rede mit dem Bild, das ich von ihm in mir trage und dabei vermute, dass er so ist wie dieses Bild. Diese Bilder, die in uns sind und die ständigen Veränderungen unterliegen, lassen sich mit einem Pinsel malen, der abhängig ist nicht nur von den Personen selbst oder Objekten sondern auch von unseren Gefühlen, von unseren früheren Erlebnissen, von unseren unterschiedlichen Maßstäben und von vielen anderen Faktoren.

Ich erinnerte mich an damals als ich zum ersten Mal in dieser Fabrik meinen Job angefangen habe:

Der von mürrischen Gesichtern früh aufstehender Arbeiter fast überfüllte Schienenbus fuhr ratternd durch bereifte Wintergerstenfelder und an einigen abgeschriebenen Bauernhöfen vorbei. Er kam aus einer großen Stadt und hielt in jeder kleinen Ortschaft an. Im zweiten, dem letzten Waggon saß auf zwei Sitzen vor mir ein Mann, der am Herbstanfang seines Lebens war. Er saß dort in Photopose und hielt die Arbeitstasche auf dem Schoß fest, in der sich vermutlich ein Romanheft mit Kreuzworträtseln, ein paar Schnapsfläschchen und sauber in Alufolie gewickelte, mit Schinken und Blutwurst belegte Brotschnitten befanden. Abrupt und reflexartig gab einer der Insassen eine Garbe von Niesattacken von sich ab. Die Räder des Bahnbusses kreischten kurz bevor er an der Endstation hielt.

Der unscheinbare Mann, den ich vom Werk her kannte, ließ die Menge erst aussteigen, hob dabei seine Hand und wischte in einem Strich über das Fensterglas, das von Reif beschlagen war, um die genauere Zeit an der Bahnhofsuhr zu sehen. Es war Freitag. Die Uhr zeigte auf viertel vor Sieben.

In seinem Äußeren ragte er nicht wesentlich aus der Menge hervor und seine Erscheinung machte keinen besonderen Eindruck: Ein fahles Gesicht, ausdruckslos, ein leicht kantiger breiter Schädel mit aschblondem, spärlichem, fettigem Haar mit kurzem Einheitsschnitt, saß auf dem in einen rauen Wintermantel eingezwängten gedunsenen Körper. Von der linken Geheimratsecke aus führte ein gelichteter Scheitel bis zu einer brillenglasgroßen Hinterkopfglatze. Zwischen den kurzen Nackenhaaren blühten zwei erbsengroße Furunkel. Schuppen waren von seinem Kopf auf die Schultern gefallen.

Ich verließ den Waggon als letzter. Er stieg vor mir aus, ging wie die meisten seiner Kollegen aus dem Bahnhof und stampfte vorsichtig und etwas breitbeinig den halbkilometerlangen glitschigen Pfad entlang, der zu einer alten grauen und rissigen Mauer führte. Nachdem er verlassene und verrostete Eisenbahnschienen übersprungen hatte, nahm er aus seiner Arbeitstasche ein Schnapsfläschchen, trank es aus und warf es in eine Mülltonne, dann beschleunigte er seine Schritte und lief mit vorgebeugtem Körper zielstrebig dem Fabrikeingang zu. Den Weg, den er seit fast fünfundzwanzig Jahren jeden Arbeitstag zwei Mal zurücklegte, auf dem er jeden Stein und jedes Grashälmchen kannte, hatte er dieses Mal mit mehr Mühe überwunden. Sein abgeschwächter Gang und das schnelle Herzklopfen gaben ihm zu spüren, dass er nicht mehr so jung und stark war wie früher. Von weitem sah ich, wie immer schneller kleine Dampfwölkchen aus seiner Nase stießen.

Am Eingangstor grüßte er wie gewöhnlich mit einem Kopfnicken den Pförtner und ging hinein, wo eine schwere Arbeit auf ihn wartete. Er ging zur Umkleidekabine und kam mit einem blauen Kittel heraus, nahm seine alltägliche Arbeitsverpflichtung auf und verrichtete sie auch korrekt, sorgsam und mit übermäßigem Fleiß. Ich arbeitete in der Lagerhalle ihm gegenüber und konnte ihn gut sehen, wie er an einer Maschine arbeitete, die hochgiftige, übelriechende Farben zusammenmischte. Die Arbeit war schweißtreibend und unangenehm. In dem Raum, wo er mit noch zwei Deutschen, einem Türken und einem Jugoslawen arbeitete, stank es bestialisch nach Lösungsmitteln. Arbeiter, Fässer und Boden waren von verschiedenen Lackfarben und ihren Mischungen beschmiert.

Ich musste damals die frisch eingepackten Produkte etikettieren, sortiert lagern und hätte seine Arbeitsstelle nie mit meiner tauschen oder in seiner Haut stecken wollen. Er war ein seltsamer und einsamer Mensch, der seinen Pflichten gewissenhaft nachkam und sich gegenüber seinen Vorgesetzten vorbildlich benahm. Seinem Verhalten nach schien er ein ernster, ehrlicher, treuer und pflichtbewusster aber auch humorloser, phantasiearmer Mensch zu sein, der einen Verdacht gegen alles, was fremd ist hatte und daher eine Antipathie, die nach und nach zur Aversion anwuchs. Er war in Dresden geboren. In seiner Kindheit hatte er von seiner verwitweten Stiefmutter keine Liebe und weder Zuwendung noch Geborgenheit bekommen. Im Zweiten Weltkrieg hatte er als treuer Soldat gedient. Sein Leben hatte er fast ausschließlich in Heimen, Kasernen und in dieser Fabrik verbracht, wie mir ein Kollege von ihm damals erzählte. Bei den Frauen hatte er kein Glück gehabt, ihnen gegenüber verhielt er sich sehr scheu und uncharmant und fühlte sich zu dieser freien modernen Welt nicht zugehörig, weil vieles nicht mehr seiner Vorstellung entsprach.

"He, Du da! Nix da lassen! Du verstehen?" rief er aus dem Lager mir zu, und wie einen Faustschlag ins Gesicht spürte ich seinen Schrei.

"Was ist das für ein Deutsch?" gab ich ihm laut zur Antwort.

Ratlos runzelte er die Stirn und sagte: "Was!"

"Schon gut, ich trage sie zurück", sagte ich und meinte damit die etikettierten Kisten.

"Noch ein Kümmeltürke", murmelte er vor sich hin.

"Nein, ich bin kein Türke, sondern ein Perser. Aber warum diese Vorurteile? Sind Sie etwa intelligenter als ein Türke oder was bilden Sie sich ein? Das was Sie tun, tut auch ein Türke, ihr Arbeitskollege. Nur weil er in Deutschland und nicht in seiner Heimat arbeitet, ist er ein Kümmel-Mensch", sagte ich etwas empört.

"Entschuldige bitte, Mustafa."

"Ich heiße nicht `Mustafa', verdammt noch mal", erwiderte ich verärgert.

"Na ja, ihr heißt alle so, oder?"

"Also wirklich", sagte ich verbittert.

"Dann ist es ja gut", sagte er in aller Gelassenheit.

"Hören Sie bitte auf mit ihren Vorurteilen", bat ich ihn etwas beruhigt und fügte hinzu: "Ich heiße `Firuz'. Und ich studiere Chemie!"

"Ich bin der Franz und du darfst mich duzen", stellte er sich mir vor und fragte mich "Seit wann bist du bei uns, Firuz?"

"Ja, das gleiche gilt für dich", gab ich ihm mein Einverständnis und antwortete: "Ich arbeite eigentlich seit vorgestern hier."

„Schön“, sagte er und seine Pflicht zwang ihn für weitere Arbeitsstunden zu schweigen.

Der Geschäftsführer, ein hochwürdiger imposanter Mann, begleitet von seinen gut gekleideten Paladinen, schritt an uns vorbei ohne von dem überfreundlichen Gruß von Franz Notiz zu nehmen.

"Der da vorbeiging ist nämlich Herr Knecht, der Geschäftsführer mit den Betriebsleitern", flüsterte er mir leise ins Ohr.

"Ich weiß."

"Woher weißt du es?" fragte er mich.

"Seit gestern von einem Landsmann, der hier tätig ist", sagte ich.

„So, so! Es ist jetzt Pause. Hier, nimm!" Er griff nach einer Bierflasche und wollte sie mir reichen.

"Nein, danke, ich trinke kein Bier", lehnte ich ab.

"Ach so, Du bist Mohammedaner! Du trinkst keinen Alkohol und isst kein Schweinefleisch, das hätte ich eigentlich wissen müssen."

"Na ja, ich bin kein Mohammedaner, sondern Moslem", überraschte ich ihn.

"Aber wieso denn? Sag mal, wo ist denn da der Unterschied? Das ist doch das gleiche, oder!" fragte er und wollte dabei gern besser informiert sein. Sein Anblick zeugte von höchstem Interesse zuzuhören. "Eben nicht! Mohammed war ein Mensch wie wir und der Islam ist eine göttliche Religion, die von ihm proklamiert und verbreitet wurde", erklärte ich ihm.

"Es ist ja hoch interessant", warf er erstaunt ein und fragte in seiner polternden Art: "Warum esst ihr kein Schweinefleisch?"

"Würdest du Affenfleisch essen, wenn deine Religion es absolut verbietet, oder Rattenfleisch?" sagte ich ihm.

"Was weißt du, was ich alles schon gegessen habe, im Zweiten Weltkrieg. Auch Ratten, mein lieber. Auch Ratten. Damals war jeder glücklich, der eine Ratte gefangen hatte. Würdest du nicht dasselbe tun, wenn du in so eine Not kämest?"

"Schon möglich. Aber wir haben im Moment keinen Krieg. Warum sollte ich Schweinefleisch essen? Schweinefleisch ist ein unreines, minderwertiges Fleisch und bringt viele Krankheiten, besonders in den heißen Ländern. Früher haben es eure Adligen den Armen oder ihren Hunden zum Fraß vorgeworfen", versuchte ich ihm zu begründen.

"Und Alkohol? Ist der etwa auch unrein?" wollte er gern wissen.

"Weißt du Franz, wenn einer nachts total betrunken nach Hause kommt, kann er nicht mehr unterscheiden zwischen seiner Frau und seiner Tochter. Das kann er am nächsten Morgen, erst wenn er nüchtern wird, eben deshalb. Alkohol ist bei uns nicht unrein, sondern bloß ein Reinigungsmittel. Alles wurde bei uns gut geheißen, was diente, die Moral aufrechtzuerhalten", sagte ich.

"Es könnte sein, dass du recht hast", gestand er halbherzig und bestätigte: "Ich gebe es zu, es klingt vernünftig und überzeugend. Aber mir bekommt er einfach."

"Das kann ich mir denken. Es ist eine Sache, die auch mit der Erziehung zu tun hat. Ich kenne einige junge Atheisten von muslimischen Eltern, die trotzdem keinen Alkohol trinken, und Schweinfleisch ekelt sie an", sagte ich.

"Vielleicht!" schloss er achselzuckend. Er hielt die Flasche nach wie vor in der Hand und ging seinen Proviant vom Umkleideraum holen. Dann gingen wir in die Kantine und unterhielten uns dort weiter.

„Glaubst du an Gott oder an ein Leben nach dem Tod?“ fragte ich ihn neugierig. Er zögerte und sagte plötzlich lakonisch:

„Ach Unsinn!“ und schien darüber nicht reden zu wollen.

Dann drängte ich ihn deutlicher zu werden:

„Wieso Unsinn!“

Er inspizierte mein Gesicht gründlich und sagte: „Wer so viele Grausamkeiten, so viel Elend und so viele Tote gesehen hat wie ich, dem wird ein Geheimnis verraten, nämlich: der Mensch ist nicht wofür er sich hält. Sein wahrer Wert gleicht dem Wert einer toten Fliege. Milliarden und Abermilliarden von Fliegen werden tagtäglich geboren und sterben. Im Zustand der Anarchie erkennt man erst das wahre Gesicht des Menschen. Ein kalter Schauer überläuft mich, wenn ich daran denke, wozu in aller Welt Menschen fähig sind. Glaube mir Firuz, in jedem Menschen wohnt eine blutige Bestie, gleichgültig ob er gottesfürchtig ist oder nicht.“

Er sprach wie ein erfahrener Mann und überzeugte mich.

Dieser Tag war der Beginn einer guten Bekanntschaft. An den danach folgenden Tagen, in den Pausen, gesellte ich mich fast ausschließlich zu Franz. Er hat mir auch viel von sich erzählt, vor allem von den schweren Zeiten im Zweiten Weltkrieg. Ich hörte auch gespannt zu. Einmal sagte er, dass in ihm die Wut koche und er wäre lieber in dieser Welt nicht geboren. Aber er konnte mir nicht erklären gegen was er eine Wut hatte und warum er sich auflehnte. Er schien mir unglücklich und unzufrieden mit sich selbst zu sein, ein Rebell gegen sich selbst, gegen sein Sein.

Das neue Studiensemester fing wieder an und meine Arbeit als Werkstudent in der Chemiefabrik war dann beendet. Ich konnte mich in Franz Kotulinski gut hinein fühlen und ihn bestens verstehen. Er hat mir leid getan und ich sah in ihm ein armes einsames Geschöpf. Dann vergingen mehrere Monate, ja sogar mehrere Jahre, und ich stürzte mich in mein Studium und vergaß ihn.

An einem Wintertag, nachmittags, nach einer schweren Prüfung beschloss ich, auswärts zu essen, um mich zu belohnen für die Strapazen der Prüfungsvorbereitungen, und ich wollte mir eine teure Mahlzeit genehmigen.

Ich sah mich in einer gutbürgerlichen Gaststätte mit Gabel und Messer den Rumpf einer halben Gans mühsam zerkleinern. Es kam mir vor, als machte ich mich an das Wrack eines abgestürzten Flugzeugs. Die Gaststätte war ziemlich gefüllt. Mir gegenüber, mit dem Kopf in meiner Ellbogenhöhe hockte ganz in sich zusammengesunken ein zierlicher, sehr alter, buckliger Mann und aß ein Hirschragout. Er senkte seinen kaum beharrten Kopf nah an den Teller. Aus dem runden Rahmen seiner Brille schielten seine geronnenen Augen auf mich. Sein kleines Gesicht war von Tränensäcken und Gramfalten gezeichnet, und es mutete einen an, als ob die Säure des Lebens seine Haut wie die einer Schildkröte gemacht und in sie Furchen gegraben hätte. Er aß sehr langsam und schmatzte ein bisschen dabei. An einem benachbarten Tisch unterhielten sich zwei über die Verdrängung der einheimischen Gaststätten durch Fastfood-Ketten und Pizzerien und wohin das Ganze führen sollte. Ein Dritter verfolgte das Gespräch mit geneigtem Ohr und offenem Munde, schlug ab und zu die Beine abwechselnd mehrmals übereinander, um von sich Zeichen zu geben, sich ins Gespräch einzumischen. Es gelang ihm aber nicht, weil das zufällige Auftreten seines Freundes ihn ablenkte. Einer der beiden Gesprächspartner hatte eine verschleierte, angenehme Stimme und redete manchmal schmatzend und schlürfend. Mir diagonal gegenüber in der Ecke saß einer allein und vor ihm stand eine Bierflasche. Nur seine untere Gesichtshälfte war von der tief hängenden Lampe beleuchtet. An seiner Geheimratsecke klebte ein Stück Pflaster. Mir fiel auf, dass er oft und länger als drei Sekunden seinen Blick auf mich richtete. Plötzlich kam er mir irgendwie bekannt vor und ich erkannte sofort Franz. Ich lächelte ihn an und winkte ihm zu. Er aber hatte mich schon längst erkannt. Da ich mit dem Essen bereits fertig war, bezahlte ich und ging zu ihm um ihn zu grüßen: “Hallo du bist doch der Franz!”

“Ja! Und du bist der...“, versucht er sich an meinen Namen zu erinnern, rieb seine Stirn mit der Hand und sagte “Lass mich raten!”

Eine Denkpause folgte, und ich erinnerte ihn: “Ich bin Firuz der Student.”

“Ja, ja, Firuz der Werkstudent” sagte er und es schien mir, dass er schon mehrere Glas Bier getrunken haben musste.

“Wie geht es dir Firuz?” fragte er.

“Mir geht es gut und wie geht es dir?” sagte ich.

“Na ja, es geht!“ antwortete er mit einer Mine der Unzufriedenheit.

„Hast du dich verletzt da!“ sagte ich und deutete dabei mit einem Blick auf das Pflaster und bei näherem Ansehen entdeckte ich noch zwei Schrammen an seinem Hals.

„Das meinst du!“ sagte er und zeigte auf das Pflaster.

Ich nickte bejahend mit dem Kopf und er fügte noch hinzu „Na ja, vorgestern Nacht als ich aus einer Kneipe raus ging und auf dem Weg nach Hause war, haben mich zwei Jugendliche überfallen. Die zwei Lümmel hatten es auf meine Geldbörse abgesehen. Ich wehrte mich tapfer und als ich laut `Hilfe!' schrie, machten die beiden sich aus dem Staub.“

„Ach du meine Güte, man ist heutzutage nirgendwo sicher“, sagte ich.

„Ja, so ist es leider“, sagte er und lenkte von dem unangenehmen Thema ab: „Warum arbeitest du nicht mehr bei uns in den Ferien? Bist du jetzt fertig mit dem Studium?” fragte er mich.

“Nein”, sagte ich “Ich bin noch nicht fertig mit meinem Studium. Aber ich habe mich in den danach folgenden Ferien bei euch beworben, und sie haben mich nicht genommen. Dennoch werde ich irgendwann das Glück haben, mit dir arbeiten zu dürfen.”

“Es gibt nicht mehr soviel Arbeit bei uns wie früher. Nach dir folgte eine Arbeiterentlassungswelle. Ich gehörte glücklicherweise zu den Arbeitern, die ihre Stellen behalten durften”, erzählte er mir mit einer berauschten Stimme. “Aber ich lebe allein und bin einsam”, fügte er hinzu.

Als er mir das gesagt hatte, stimmte mich dies traurig. Ich hatte Mitleid mit ihm. “Warum heiratest du nicht?” fragte ich ihn.

“Na ja”, sagte er “Es ist nicht einfach und ich bin nicht mehr so jung, wie du siehst.”

“Aber du bist ein gut aussehender Mann und du findest bestimmt eine passende Frau”, wollte ich ihm etwas Mut und Hoffnung machen.

“Na ja, es ist nicht so einfach”, sagte er. “Nicht so einfach”, betonte er zum Schluss.

Eine Weile dachte ich: `Wenn er bloß aufhört zu trinken und sich etwas pflegt, würde er bestimmt eine nette Frau in seinem Alter finden'.

Dann verabschiedete ich mich von ihm und ging fort. Ich habe nicht mehr weiter an ihn gedacht. Mein Interesse galt an diesem Tag einer attraktiven Frau, die ich neulich kennengelernt hatte und mit der ich mich unbedingt treffen wollte.

Eines Tages, vermutlich eines Samstags war ich in der Küche und spülte gerade das schmutzige Geschirr von den Tagen davor, und ich setzte mich auf einen Stuhl. Plötzlich öffnete jemand das Fenster seiner Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes, und ein Gesang drang nach außen. Dieser Jemand war ein Landsmann von mir, der neulich eingezogen war und den ich persönlich noch nicht kannte. Die zarte Stimme der Sängerin, die ich von der Heimat kannte und seit meinem Verlassen der Heimat nicht mehr gehört habe, rührte mich so sehr. Ihre Melodie erfasste mich anheimelnd. Ich fühlte eine Leere in der Brust, es kitzelte in den Atemwegen, Tränen wollten hervorquellen. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Die Melodie rieselte langsam durch meinen Körper, ließ die feinen Adern an meiner Schläfe schneller pochen, und ich begann in meinem Stuhl zu schaukeln, und erst leise, dann inbrünstig laut mitzusingen. Dann richtete ich mich auf, machte einen Schritt in Richtung Wohnzimmer, und ging tanzend mit ausgebreiteten Armen voran. Ich sang und tanzte bis es mir fast schwindlig wurde. Dann wollte ich Pause machen, nahm ein Fachbuch, setzte mich auf das Sofa und blätterte weiter singend im Buch. Als die Melodie in mir verklang, wollte ich die Blumen gießen. Ich hörte gerade wie die Straßenbahn quietschend um die Kurve bog. Aus dem Wohnzimmerfenster, das unmittelbar auf einen belebten Platz herabblickte, sah ich im Lichtkegel der Straßenbeleuchtung, wie ein schlampig gekleideter pummeliger Mann mit verfilzten Haaren aus einer Spelunke mit einem Fußtritt in den Rücken hinausgestoßen wurde. Es war schon Abend. Der Betrunkene torkelte kopfüber und hinter ihm flog ein zerknitterter Hut. Er bückte sich, griff nach einer zerdrückten Dose und warf sie schimpfend auf die Kneipe. Weiter taumelte er indifferent mit ungeregelten Schritten in die leere Straßenmitte, mit ausgestrecktem Zeigefinger und von Schluckauf geschüttelt, sein abwesendes Volk lallend vor dem kommenden Weltuntergang warnend. Aus den wulstigen Lefzen drangen fast nur unverständliche Wortfragmente, die mit mehr Luft als Akustik beladen waren. Er hielt inne wegen eines unwiderstehlichen Brechreizes, schloss die Augen, beugte sich nieder zum Bürgersteig und erbrach sich. Ich schenkte dieser Straßenszene erst keine Beachtung, begoss die zwei Blumentöpfe auf dem Fensterbrett, drehte mich wieder um, nachdem ich die Fensterläden zugemacht hatte, und ging in meinem dürftig möblierten Zimmer herum, dann glotzte ich weiter auf den Bildschirm. Von der Ferne näherte sich das dröhnende Geratter eines Lasters, begleitet von heiserem Hupen. Der Laster musste dann wohl abrupt halten - ich hörte die Bremsen quietschen und das eiserne Gestell, auf dem der Fernsehapparat stand, rüttelte leicht und mit ihm klirrten leise die zwei aufgestellten Bilder meiner Eltern, die Blumentöpfe sowie die Blumenvase, der einzige Zierrat in diesem Zimmer. Zuerst wollte ich mich aus dem Sessel hochreißen, in dem ich zusammengesunken kauerte, um zu sehen, was los war, aber ich blieb doch weiter sitzen, kratzte mich nachdenklich am Hinterkopf. Eine Weile verging und dann hörte man immer lauter die Sirenen der Polizeiwagen und dann folgte das Sirenengeheul eines Ambulanzwagens. Ich beschloss doch nachzuschauen, was los ist, wie eine dunkle Ahnung es verlangte.

Meine Vermutung wurde bestätigt. Eine Schar von Gaffern hatte sich um den unbewegt daliegenden Körper des Betrunkenen gebildet.

Am Unfallort angekommen sprangen Arzt und Polizisten aus ihren Wagen und schoben die neugierigen Zuschauer beiseite, bis sich ein großer Kreis um das Geschehen bildete. Der Lastwagenfahrer hockte fassungslos da mit dem Gesicht zur Wand. Ich konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen. Auf die Gedanken Tod und Sterben war ich fixiert, doch ich entschloss mich, die Treppe des alten Hauses hinunterzustürzen, um mich genauer zu informieren.

Mittlerweile erweckte das Geschehen die Neugier einiger Passanten, die gleich anhielten, sich dem Opfer zudrehten und die anderen zum Teil am Weitergehen hinderten. Eine Blutlache hatte sich schon um ihn gebildet. Durch seine Ausweichmanöver schien der Lastwagen auf einen dicken Betonpflock aufgeprallt zu sein. Der Betonpflock wurde durch den heftigen Aufprall aus dem Boden gerissen, geknickt und wies starke Risse auf. Die Zahl der Gaffer war inzwischen um ein Vielfaches gewachsen und sie waren gefesselt von ihrer Neugier. Der Kreis wurde von den Polizisten noch mehr erweitert. Ein kleiner stupsnasiger Junge zwängte sein Kopf durch das Gedränge heraus, starrte den ausgestreckten Körper an und rief: „Er hat gezuckt. Er lebt noch.“ Die dicke Frau mit der Einkaufstüte in der Hand neben ihm: „Pst! Sei still“ Der dürre Mann neben mir plapperte erstaunt vor sich hin: „Der Arme wird bestimmt sterben.“

Der zitternde Lastwagenfahrer sprach verwirrt und mit ausgebreiteten Armen auf einen Polizisten ein, während der Arzt niedergebeugt den Verunglückten inspizierte, der unartikulierte Laute stammelte und in seinen letzten Lebensregungen zuckte. Aber der Bemitleidenswerte starb.

"Jedenfalls", sagte der Polizist zum Fahrer "Sie kommen mit uns aufs Revier und dort schildern sie ausführlich den ganzen Hergang des Unfalls, wenn Sie sich beruhigt haben."

Als einer der Sanitäter, der die Bahre auf den Boden legte, das blutverschmierte Gesicht des Toten drehte, erfasste mich eine starke Neugier, und ich glaubte, dass ich dieses Gesicht schon irgendwoher kannte. Ach so, jetzt wusste ich es: Ja sicher. Das war doch Franz, der Fabrikarbeiter, der damals die Farben zusammengemischt hatte.

Der bemitleidenswerte Franz erlag also den Folgen seines Suffs und das kam schneller als der Untergang, den er vorher seinem Volk prophezeit hatte. Ausgerechnet diesem armen Schlucker musste so etwas passieren. Es ergriff mich ein Mitleid und bald danach ein unsagbares Entsetzen.

So drehte ich mich mit einem letzten Blick zur Bahre um und kehrte sehr traurig in die Wohnung zurück. Ich konnte für den Rest des Tages an nichts anderes denken, als an ihn und beschloss, seiner Bestattung beizuwohnen und demgemäß erkundigte ich mich danach.

Einige Tage lag sein Leichnam nun schon im Sarg, und heute wollten seine Bekannten ihm die letzte Ehre erweisen.

`Es ist soweit' sagte einer der Sargträger mit dem grauen Anzug zu seinen Kameraden. Sie packten den Sarg und trugen ihn in Schulterhöhe und die Angehörigen gingen im Geleit hinter ihnen her.

In der Aussegnungshalle setzte man den Sarg in der Mitte ab und eine traurige Musik von einem Tonband begann zu spielen. Dann erschien ein Pfarrer mit einem schwarzen Talar, umgürtet mit einer rotvioletten Schärpe, hielt eine kurze Rede und las einen Psalm aus der Bibel. Vor ihm saßen die Trauernden in vier Reihen und hörten entspannt seiner Rede zu. Ich konnte einige von seinen Arbeitskollegen wiedererkennen. Manche saßen gebeugt, die Hand vor der Stirn oder den Kopf in den Händen. Zwischendurch hörte man ein Husten oder leises Schluchzen. Ich sah ihre Gesichter, die vielleicht traurige Mienen vortäuschten, vielleicht auch etwas verheimlichten. Die Ehrfurcht vor der Majestät des Todes zwang sie, bedächtig zu sein und sich schwarz zu kleiden. Gesichter von Menschen, die sich vermutlich zuflüsterten:

`Es traf ihn, Gott sei Dank nicht mich'.

Als dann die Rede zu Ende und die traurige Musik verklungen war, standen die Versammelten auf und gingen in einem Zug hinter dem von vier kräftigen Männern getragenen Sarg her.

Der Sarg ging erst an romanischen, vergitterten Fenstern vorbei, wo rechts und links amphorenförmige Blumentöpfe postiert waren, dann setzte sich der Trauerzug ins Freie durch den Friedhof weiter fort, bis zu einer ausgehobenen Grube, und schließlich wurde der Sarg vorsichtig und langsam in sie gesenkt. Und auch hier hielt der Pfarrer in einer gebeugten Haltung inbrünstig eine feierliche Ansprache. Er war groß und mager und spärlich behaart. Sein Anblick erinnerte an einen Raben, seine adrigen und langfingrigen Hände hielten das heilige Buch und blätterten zwischendurch darin. Durch seine runden Brillengläser schaute er gelegentlich aus dem Augenwinkel auf eine Stelle irgendwo in den Thujenhecken. Die blässliche Ader an seiner Schläfe trat beim Lesen stark hervor. Als er fertig war, warf er als erster eine Schaufel Erde ins Grab und sprengte Weihwasser mit einer Quaste, die in einem Behälter war. Die anderen folgten ihm einzeln nach, und sprachen der Frau, die vermutlich eine Halbschwester von Franz war, ihr herzliches Beileid aus und verabschiedeten sich. Nach und nach verließen Ehepaare untergehackt den Friedhof und die einzelnen zerstreuten sich stumm, und der Strom des Lebens nahm sie alle wieder auf.

Hätte Franz jetzt wieder die Möglichkeit zu reden, so würde er sagen: „Habe ich denn je gelebt!“

Nun ruht er unter der Erde und ein Drosselgesang möge seine ewige Ruhe begleiten.

München, Jan. 1998

Möge die Liebe nicht verschollen bleiben

Hildegard Freifrau von Schacky gewidmet

In den letzten Wochen hat Kathrin durch die täglich vielen zerknüllten Blätter in ihrem Papierkorb, und auch durch ihre Zerstreutheit und geistige Abwesenheit die Blicke ihres Vorgesetzten auf sich gelenkt.

`Sie wirkte normalerweise eher offen als schüchtern, beredsam als nüchtern und mehr engagiert als gleichgültig. Was könnte bei ihr diese Veränderungen hervorgerufen haben?', fragte sich ihr Vorgesetzter.

Sie war eine junge deutsche Frau, immer adrett gekleidet, mittelgroß, herb, blond und von einer Schönheit, die unter dem Durchschnittlichen lag.

„Was halten Sie von einem einwöchigen Urlaub? Ich veranlasse ihn, dass er auf Kosten des Hauses geht“, gab der Geschäftsführer ihr unvermittelt den Rat, ohne dass ihre Kolleginnen davon Notiz nahmen. Verwundert und verlegen schaute sie ihn an. Ihr Gesicht errötete etwas, denn sie erkannte sofort, dass er sie durchschaut hatte, dennoch fragte sie ihn: „Warum denn?“

Während sie redete, spielte sie mit den Perlen ihrer Halskette.