Dem Andenken der 1945 bei den

„Massakern im Arnsberger Wald“

ermordeten Menschen aus der

Sowjetunion und aus Polen gewidmet

© 2016 (erweiterte Buchausgabe)

Peter Bürger / Jens Hahnwald

Georg D. Heidingsfelder:

Sühnekreuz Meschede.

Die Massenmorde an sowjetischen und

polnischen Zwangsarbeitern im Sauerland

während der Endphase des 2. Weltkrieges und

die Geschichte eines schwierigen Gedenkens

edition leutekirche sauerland 3

Satz & Gestaltung: www.friedensbilder.de

Herstellung & Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7431-7016-2

Inhalt

Vorab

„Der nationalsozialistische ‚Ausländer-Einsatz‘ zwischen 1939 und 1945 stellt den größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften in der Geschichte seit Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar. Im August 1944 waren auf dem Gebiet des ‚Großdeutschen Reiches‘ 7,8 Mio. ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene als im Arbeitseinsatz beschäftigt gemeldet; hinzu kamen etwa 500.000 überwiegend ausländische KZ-Häftlinge. Somit waren zu diesem Zeitpunkt knapp 30 % aller in der gesamten Wirtschaft des Reiches beschäftigten Arbeiter und Angestellten Ausländer, die man größtenteils zwangsweise zum Arbeitseinsatz ins Reich gebracht hatte.“

Ulrich Herbert: Arbeit, Volkstum, Weltanschauung.

Frankfurt a.M. 1995, S. 121.

Das zwischen 1939 und 1945 überall im deutschen Alltag gegenwärtige System der Zwangsarbeit gehörte zur massenmörderischen Apparatur des vom Deutschen Reich geführten Eroberungs- und Rassekrieges. Nach Kriegsende wollte niemand etwas von den Misshandlungen der zur Zwangsarbeit ins Land geholten Menschen wissen, auch nichts vom Widerstand der sogenannten ‚Ostarbeiter‘ (U. Herbert 1995, S. 137-155) und von Massenmorden an ausländischen Arbeitssklaven kurz vor Kriegsende. Indessen hielten viele weiterhin fest an den Bildern des vom deutschen Faschismus verkündeten „Untermenschentum der anderen“ und projizierten sie auf die noch nicht wieder in ihre Heimat zurückgekehrten einstigen Zwangsarbeiter. Diese galten nach ihrer Befreiung – wie es die Propaganda des 3. Reiches dem ‚Volk‘ ja immer schon bezogen auf die Menschen ‚im Osten‘ eingeimpft hatte – als ‚wilde Horden‘, ‚Bestien‘ (‚Tiere‘), ‚Banditen‘, ‚Terroristen‘ usw. (ebd., S. 154).

Im März 1945 wurden bei drei Massakern in Warstein, Suttrop und zwischen Eversberg und Meschede insgesamt 208 – überwiegend aus der Sowjetunion stammende – Menschen von deutschen Soldaten ermordet. Vorausgegangen waren willkürliche „Auswahlverfahren“ unter Zwangsarbeitern, Zwangsarbeiterinnen und Kindern in der Warsteiner Schützenhalle und einer Suttroper Schule. Jens Hahnwald rekonstruiert in seinem Beitrag für diese Dokumentation anhand des erst Ende 1957 eröffneten ersten Gerichtsverfahrens gegen beteiligte Täter die Ereignisse und beleuchtet die damaligen Reaktionen im öffentlichen Raum. Für die vorliegende Buchfassung unserer Publikation hat er seine Darstellung unter Heranziehung weiterer Archivalien noch einmal überarbeitet und erweitert.

Ein Lehrstück sondergleichen über ‚Erinnerungskultur‘ und ‚Geschichtspolitik‘ im Sauerland erschließt die Historie des „Mescheder Sühnekreuzes“, das 1947 aufgrund großer Feindseligkeit in Teilen der Bevölkerung nur kurz nach seiner kirchlichen Weihe für lange Zeit in ein Erdgrab versenkt werden musste. Das sichtbare religiöse Zeichen, das an die Massenmorde zwischen Eversberg und Meschede erinnern sollte, hatte keine Akzeptanz gefunden und sorgte dann noch auf Jahrzehnte hin für heftige Auseinandersetzungen. Meine Darstellung hierzu basiert auf eigener „Beteiligung“ in den 1980er Jahren sowie eingehender Quellenarbeit und wird durch einen sehr umfangreichen Dokumentationsteil ergänzt. Erstmalig machen wir hier auch die ungekürzte Schrift über das Sühnekreuz von Georg D. Heidingsfelder (1899-1967) in gedruckter Form zugänglich.

Dieses Werk ist im Rahmen des Projektes „Friedenslandschaft Sauerland“ entstanden. Die Erarbeitung einer Druckfassung hat Prof. Dr. Josef Wiesehöfer (Kiel) durch eine Zuwendung in Höhe von 250,-Euro gefördert, wofür ihm herzlich gedankt sei.

Das Buch ist dem Andenken der 1945 bei den „Massakern im Arnsberger Wald“ ermordeten Menschen aus der Sowjetunion und aus Polen gewidmet, aber es soll auch den katholischen Nonkonformisten Georg D. Heidingsfelder ehren, der aufgrund seines entschiedenen Christseins in einer sauerländischen Kleinstadt viel Anfeindung erdulden musste.

Düsseldorf, im Februar 2015 und November 2015

Peter Bürger

Statt eines prominenten Geleitwortes: Dokumentation der Berliner Rede Erhard Epplers vom 22. Juni 2016

Zum 75. Jahrestag des Krieges gegen die Sowjetunion.

„Wider die Spaltung Europas:

Für eine neue Verständigung mit Russland“

I. Was ich heute hier zu sagen habe, verantworte ich ganz allein. Ich rede für keine Partei, keinen Verein, keine Kirche. Ich rede als einer der Letzten der Flakhelfer-Generation, als einer, der das letzte Jahr des letzten Krieges noch als regulärer Soldat des Heeres überlebt hat.

Die Mehrheit der Deutschen hat sich nach dem 2. Weltkrieg nicht darum gedrückt, die Verbrechen des NS-Regimes zu benennen, notfalls in ihrer ganzen Scheußlichkeit zu schildern, damit sie sich nie wiederholen. Am besten ist uns dies gelungen, wo es um den Judenmord ging. Wir wissen Bescheid und stellten sogar ein Leugnen dieses Völkermords unter Strafe.

Dass wir über den Feldzug, der heute vor 75 Jahren begann, sehr viel weniger wissen, hat einen einfachen Grund: Es ist der Kalte Krieg. Auch im Kalten Krieg gab es Freund und Feind, und für uns in Westdeutschland war der neue Feind der alte. Und die Propaganda gegen den neuen Feind knüpfte manchmal da an, wo die gegen den alten aufgehört hatte. Es war einfach nicht opportun, zu berichten oder auch nur zu forschen über das, was zwischen 1941 und 1945 geschehen war.

So blieb das Bild des Ostfeldzugs unscharf. Es blieb bei dem, was die Älteren noch wussten aus den Wehrmachtsberichten, aus Feldpostbriefen, aus dem, was die wenigen gesprächigen Soldaten erzählt hatten. Sicher, die Zahl der sowjetischen Menschenopfer, die sich immer deutlich oberhalb der 20-Millionengrenze bewegte, blieb nicht geheim. Aber es blieb bei einer abstrakten Zahl. Wer kann sich schon 27 Millionen Tote vorstellen?

Dass man in Russland anders Krieg geführt hatte als noch in Frankreich, wurde nicht geleugnet, aber das kam eben daher, dass zwei harte Diktaturen zusammenprallten. Was wirklich in einem der blutigsten Kriege der Weltgeschichte vor sich ging, wozu deutsche Soldaten der Waffen-SS, aber eben auch des Heeres, fähig waren, ist nie voll ins Bewusstsein der Nation eingedrungen.

Wir Deutsche wissen von Oradour in Frankreich, von Lidice in Tschechien, von Dörfern, die mitsamt ihrer Bevölkerung ausgelöscht wurden. Wir wissen aber nicht, wie viele Dutzend Oradours es in der Sowjetunion gegeben hat, allein als Folge der verbrannten Erde beim Rückzug der Wehrmacht. Wer von uns weiß schon, dass es deutsche Generäle gab, die offen aussprachen, dass man die nicht mehr arbeitsfähigen sowjetischen Gefangenen verhungern lassen müsse. Vielleicht haben wir erfahren, dass es deutsche Offiziere gab, die den Kommissarbefehl einfach nicht ausführten, aber wir wissen nicht genau, in wieviel tausend Fällen Kommissare sofort exekutiert wurden, ebenso wie Soldaten, die das Pech hatten, Juden zu sein. Ja, es gab einen Rest preußischer Korrektheit, sogar von Ritterlichkeit, aber die Regel war es nicht.

II. Vor 75 Jahren war ich 14 Jahre alt. Meinen 17. Geburtstag habe ich in einer Flakstellung bei Karlsruhe, meinen 18ten an der Westfront in Holland erlebt. Dort war ich der Jüngste in einer Kompanie aus lauter Obergefreiten, die fast alle Osterfahrung hatten. Was sie gelegentlich abends vor dem Einschlafen erzählten, treibt mich heute noch um. Es war ein stämmiger Alemanne, der die „Goldfasanen“, also die Nazis hasste, der seelenruhig erzählte, wie sie im Winter 41/42 eine Gruppe russischer Infanteristen gefangen nahmen, die wunderbare Filzstiefel anhatten, während sie selbst immer eiskalte Füße hatten. Was blieb den Landsern anderes übrig, als „die Kerle“ „umzulegen“, um an ihre Stiefel zu kommen?

Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden.

Dass Menschen, die keineswegs abartig böse waren, so handeln konnten, war nur möglich, weil die Führung der Wehrmacht ihre Soldaten hat wissen lassen, dass ein Russenleben nicht annähernd so wertvoll sei wie das eines Deutschen.

Daher erst ein paar Fakten, die das Besondere dieses Feldzugs erkennbar machen:

  1. Was heute vor 75 Jahren begann, war zuerst einmal der Bruch eines Nichtangriffspaktes, der noch keine zwei Jahre alt war.
  2. Die kriegsrechtswidrigen Befehle an die Wehrmacht, der Kommissarbefehl oder der Befehl, dass Kriegsgerichte sich nicht mit Verfehlungen an der Zivilbevölkerung zu beschäftigen hätten, waren keine Reaktionen auf Handlungen der roten Armee, sie wurden lange vor Beginn des Feldzugs, oft schon im März 1941, erlassen.
  3. Da es zu Beginn kaum deutsche Kriegsgefangene gab, war das Sterbenlassen, Verhungernlassen von Millionen russischer Kriegsgefangenen eine von niemandem provozierte Entscheidung allein der deutschen Führung.
  4. Ziel des Überfalls war nicht nur das Ende des Stalinismus, sondern das Ende jeder selbständigen Staatlichkeit auf dem Gebiet der Sowjetunion. Slaven galten als nicht staatsfähig, sie sollten Sklavendienste leisten.
  5. Der Überfall vor 75 Jahren war die erste militärische Operation in der europäischen Geschichte, der eine Rassenlehre zugrunde lag. Danach gab es Völker, die zur Herrschaft, andere, die zur Sklaverei geboren waren. Erst auf diesem Hintergrund verstehen wir, was die Russen als den „Großen Vaterländischen Krieg“ feiern.

Man konnte die slawischen Völker nicht, wie die Juden, einfach ausrotten, aber man konnte sie dezimieren. So war der Hungertod von mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Wehrmacht in den ersten Monaten mit der Zahl der Gefangenen überfordert war, er war die Folge von Entscheidungen, die diesen schauerlichen Hungertod als Mittel der Dezimierung rechtfertigten. Die kriminellen Ziele erzwangen die kriminellen Mittel.

Ich will an dieser Stelle nicht ausklammern, was Deutsche, vor allem Frauen, zu leiden hatten, als die Rote Armee das Land erreicht hatte, von dem der Schrecken ausging. Jedes menschliche Leiden hat seine eigene Würde, verlangt nach Mitleiden. Friedrich Schiller hätte dazu gesagt: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“ Wir, die wir heute hier zusammengekommen sind, lehnen uns auf gegen dieses schauerliche Muss, indem wir die böse Tat benennen, sie als Teil unserer Geschichte annehmen, damit sie nicht auch für unsere Kinder und Enkel Böses gebären muss.

III. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die deutschen Soldaten, die diesen Krieg führten, eine Horde von Kriminellen gewesen wären. Die meisten waren keine Rassisten. Sie taten, was sie für ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit hielten. Viele hielten sich an die Anstandsregeln, die sie zuhause gelernt hatten. Aber sie hatten oft nicht den Mut, rechtswidrige Befehle zu verweigern. So waren es meist die Offiziere, die Chefs der Kompanien oder Bataillone, die den Ausschlag gaben. Später, nach Stalingrad, als die Rote Armee in die Offensive ging, fühlten deutsche Soldaten sich als Verteidiger ihres Landes, oft in dem Wissen, dass sie diesen Krieg gegen zwei Weltmächte nicht gewinnen konnten, dass ihr Widerstand sinnlos war.

Was das für den einzelnen bedeutete, will ich am Beispiel meines älteren Bruders zeigen. Der 23-jährige Leutnant der Funker im Mittelabschnitt der Ostfront malte in einem Feldpostbrief vom 4. April 1944, also vom 4.4.44 alle Vierer so, dass sie wie Kreuze aussahen. Er ahnte offenbar, dass seine Front dem nächsten Großangriff nicht mehr gewachsen war. Tatsächlich kam er zwei Monate später darin um. Ich weiß heute noch nicht, wo er verscharrt wurde. Er, der deutsche Offizier, der sich Arm in Arm mit zwei russischen Hilfswilligen fotografieren ließ und von dem ich nie ein böses oder verächtliches Wort über Russen gehört habe, war, wie viele andere, kein Krimineller, sondern Instrument und Opfer einer kriminellen Unternehmung.

Dankbar verwundert habe ich mir in den Siebzigerjahren sagen lassen, dass die Mehrheit der Russen, die den Sieg über die Invasoren feiern, den Deutschen vergeben haben, dass sie erleichtert waren, als Willy Brandt die Versöhnung einleitete. Wenn es stimmt, dass seit der Ukrainekrise die Stimmung in den russischen Familien wieder umgeschlagen ist, muss uns das zu denken geben. Gelten wir jetzt als undankbar? Gorbatschow hat uns die Einheit geschenkt – und was tun wir?

Hier ist nicht der Ort, an dem zu entscheiden ist, was der deutschen Außenpolitik möglich ist. Aber der Ort, wo gesagt werden muss, was nicht mehr sein darf: Wer als Deutscher über Russland und seine Menschen redet, auch über seine Politiker, seinen Präsidenten, muss im Gedächtnis haben, was heute vor 75 Jahren begann. Dann wird jede verletzende Arroganz verfliegen und sich das Bedürfnis regen, wenigstens einen Bruchteil des Horrors wieder gutzumachen.

IV. Wir Deutsche haben Michail Gorbatschow zugejubelt, als er vom gemeinsamen Haus Europa sprach. Wir haben doch gewusst, dass dieses Haus eine Wohnung für das Volk der Russen haben muss, und, das wäre heute hinzuzufügen, auch eines für die Ukrainer. Wir können heute allerdings keinem Nationalgefühl mehr trauen, das untrennbar mit dem Hass auf ein anderes Volk verbunden ist. Es mag ja sein, dass in Kiew nur der ein guter Ukrainer ist, der die Russen hasst. Ein guter Europäer ist für uns, wer weiß, dass die Russen ein europäisches Volk sind. Und dass das jammervoll heruntergewirtschaftete Land der Ukraine nur eine Chance bekommt, wenn die Europäische Union und Russland dies gemeinsam wollen.

Es gibt inzwischen auch einen russischen Nationalismus. Er ist vor allem durch die Ukrainekrise gewachsen. Es ist ein Nationalismus der Enttäuschung, der Verletzung, des Trotzes, ja der Demütigung, wie er im Deutschland der Zwanzigerjahre aufkam. Deshalb kann ich ihn verstehen, muss ihn aber auch fürchten. Reichlich naiv finde ich die Stimmen im Westen, die uns belehren, die Russen hätten doch gar keinen Anlass, kein Recht, sich gedemütigt zu fühlen. Noch nie hat ein großes Volk andere um die Erlaubnis gebeten, sich gedemütigt zu fühlen. Gerade das Nichtverstehen wird als zusätzliche Demütigung empfunden. Wir sollten uns eher fragen, was wir Deutschen dazu beigetragen haben und was wir tun können, diesem Nationalismus den Nährboden zu entziehen. Zu diesem Nährboden gehören auch Sanktionen. Sie trennen konkurrierende Nationen in Richter und Delinquenten. Damit kein Missverständnis aufkommt, lassen Sie mich konkret werden: Der russische Präsident Wladimir Putin bedient sich vielleicht manchmal dieses Nationalismus, aber er ist viel zu rational, viel zu klug, um sich davon mitreißen zu lassen. Ich fürchte nicht ihn. Ich fürchte den seiner Nachfolger, die sich von einem Nationalismus der Gedemütigten tragen und bestimmen ließen. Er könnte wirklich so sein, wie viele im Westen heute Putin malen. Ich rede von diesem Nationalismus, weil wir ihn anheizen und weil wir ihm den Boden entziehen können, etwa dadurch, dass die Bundesrepublik des Vereinigten Deutschland darauf besteht, dass das leidgeprüfte Volk der Russen ein europäisches Volk ist und dass ihm ein Platz in einem europäischen Haus zusteht.

Es ist gut so, dass die Bundesregierung und in ihr vor allem der Außenminister darauf besteht, dass der Gesprächsfaden nach Moskau nicht abreißt. Aber es kommt auch darauf an, worüber man mit der russischen Regierung reden will. Was läge da näher – neben den Sanktionen -, als der Versuch, ein neues Wettrüsten zwischen Ost und West zu verhindern, das im 21. Jahrhundert mit politischem Weitblick nichts, mit Fixiertheit auf die Vergangenheit viel zu tun hat.

V. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts werden sich die zivilisierten Völker Europas des islamistischen Terrors zu erwehren haben. Der „war on terrorism“, den der jüngere Bush vor 15 Jahren proklamierte, hat, vor allem durch Fehlentscheidungen in Washington, nur dazu geführt, dass es heute, anders als 2001, einen islamistischen Terrorstaat gibt, der immer neue Ableger bildet, sogar in Afrika. Auch Deutschland liegt im Visier dieses Terrors. Kurz: im Kampf gegen den Terror hat sich der Westen nicht mit Ruhm bedeckt. Er kann Verbündete brauchen. Russland ist zur Kooperation bereit.

Ein neues Wettrüsten mit Russland erinnert in diesem Zusammenhang an einen schlechten Scherz. Und wenn wir mit Moskau reden wollen, dann lautet das wichtigste Thema: Wie lässt sich dieser vermeidbare Unsinn vermeiden?

Ich sehe auf beiden Seiten kein Interesse an einem neuen – geschichtlich gesehen gänzlich obsoleten – Krieg. Die NATO ist nicht so verrückt, Hitler kopieren zu wollen. Und Wladimir Putin hütet sich, die NATO direkt herauszufordern. Als der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk fast täglich erklärte, sein Land befinde sich im Kriegszustand mit Russland, hat Putin dies einfach überhört. Er hätte dies auch als Kriegserklärung werten und seine Divisionen marschieren lassen können. Dass Putin – und zwar nach der Sezession der Krim – diese annektiert und damit das Völkerrecht verletzt hat, ist kein Beweis dafür, dass er halb Europa erobern will. Immerhin liegt in Sewastopol die russische Schwarzmeerflotte. Sollte der russische Präsident zitternd abwarten, ob eine leidenschaftlich antirussische Regierung in Kiew nicht doch Gründe finden würde, den Pachtvertrag zu kündigen? Michail Gorbatschows Aussage, er hätte in Sachen Krim nicht anders gehandelt als Putin, sollte uns zu denken geben. Russen, ob sie Putin oder Gorbatschow heißen, fühlen sich in der Defensive.

Wenn man sinnvoll miteinander reden will, dann darüber, wie sich ein Wettrüsten durch Rüstungsbegrenzung und Entmilitarisierung auf beiden Seiten verhindern lässt. Und wenn man dann bei der sehr praktischen Aufgabe der friedlichen Grenzsicherung vorankommt, dann kann man sich auch einmal darüber austauschen, wo und wie der Grundstein zum gemeinsamen europäischen Haus zu legen wäre.

VI. Ich habe zu Beginn gesagt, ich rede für niemanden. Das stimmt nicht ganz. Ich rede für meine sechs Urenkel, die nun, vital und charmant, herankrabbeln. Ich möchte nicht, dass sie einst in einem Europa leben, das nur noch ein amerikanischer Brückenkopf in einem chinesischrussischen Eurasien ist. Ich möchte nicht, dass alter Hass und neuer Unverstand Russland in eine Allianz treibt, die es nicht will und die Europa extrem verletzbar und abhängig machen müsste.

Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen, opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte erinnert werden, auch zu einem politischen Willen führt: die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern.

Der 22. Juni 1941 ist ein europäisches Datum. Wenn jemand die Pflicht und dann eben auch das Recht hat, daraus Schlüsse abzuleiten, dann sind es wir Deutschen. Einer davon muss lauten: Wir werden nicht einfach zusehen, wie die legitimen Teile Europas gegeneinander aufgerüstet werden. Und wir werden keine Ruhe geben, bis aus Gorbatschows Traum vom Europäischen Haus Wirklichkeit wird.

Dieser Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Erhard Eppler (9.11.2016).

Eppler, Erhard: Berliner Rede vom 22. Juni 2016. [Zum 75. Jahrestag des Krieges gegen die Sowjetunion. „Wider die Spaltung Europas: Für eine neue Verständigung mit Russland“.] Als Internet-Ressource: http://www.hanns-eisler-chor-berlin.de/konzerte_projekte.php

I.

Der Arnsberger Kriegsverbrecherprozess von 1957/58

Von Jens Hahnwald

„Siehste, wenn du einen umbringst, dann bist du ein Mörder und gehst für dein weiteres Leben ins Zuchthaus. Bringst du drei um, dann wirst du für geisteskrank erklärt und wanderst in eine Heilanstalt. Wenn du aber 150 Menschen umbringst, da kommt da höchstens eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren heraus.“1

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges kam es an verschiedenen Tatorten im Arnsberger Wald an drei aufeinanderfolgenden Tagen zur Ermordung von insgesamt 208 Zwangsarbeitern durch Angehörige einer deutschen Militäreinheit. Morde an Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern waren zu dieser Zeit gerade im Westen Deutschlands, wo Millionen Ausländer in Industrie und Landwirtschaft meist gegen ihren Willen tätig waren, eine weit verbreitete Erscheinung. Auch in Südwestfalen, wo ebenfalls zahlreiche Firmen Zwangsarbeiter beschäftigten, sind zahlreiche Tatorte dokumentiert. Die Dunkelziffer dürfte beträchtlich sein.2

Diese Taten werden den sogenannten Endphaseverbrechen zugerechnet. Die Monate vor Kriegsende waren von einem letzten Anstieg der Gewalt des Regimes gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner begleitet. Auf Todesmärschen kamen noch einmal tausende KZ-Häftlinge ums Leben. Getötet wurden politische Gegner, Deserteure und Bürger, die ihre Gemeinden den vorrückenden Alliierten kampflos übergeben wollten. Nicht zuletzt gehörten zu den Opfern eben auch ausländische Zwangsarbeiter. Gekennzeichnet waren die Verbrechen von einer großen Heterogenität, hinsichtlich Tathergang, Opfer und Täter. Die Morde fanden zu einer Zeit statt, in der sich die staatliche Ordnung auflöste. Entscheidungen wurden häufig vor Ort oder auf einer mittleren Ebene getroffen. Die Täter handelten häufig weitgehend autonom, spontan und affektiv. Auch die Morde im Arnsberger Wald wurden von den Tätern weitgehend unabhängig von übergeordneten Stellen geplant und ausgeführt.3

Die Mordaktionen im Arnsberger Wald gelten als eines der schwersten Kriegsendverbrechen in Westdeutschland. Die Opferzahlen bei den Tötungsaktionen in der Dortmunder Bittermark und im Rombergpark sind ähnlich hoch. Eine mit diesen Mordschauplätzen vergleichbare Gedenkkultur ist freilich im Sauerland nur in Ansätzen vorhanden. Dies steht im Gegensatz zum Gedenken etwa an die Opfer der durch alliierte Flieger verursachten Möhnekatastrophe. Bereits seit den 1960er Jahren entwickelte sich dazu in Neheim ein regelmäßiges Gedenken. Die Dortmunder Tradition des Gedenkens ist freilich eher eine Ausnahme. Die Leiden der meist osteuropäischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen und die Denkmäler für die sowjetischen Kriegstoten sind oder waren zumindest in der deutschen Erinnerungskultur kaum gegenwärtig. In dieser Hinsicht scheinen sich die Dinge allerdings allmählich zu verändern. In Neheim wird heute auch der ums Leben gekommenen Zwangsarbeiterinnen gedacht.4

Gerade das vorliegende Buch zeigt, wie schwierig und konfliktträchtig der Umgang mit der Vergangenheit sein kann. An dieser Stelle müssen kurze Hinweise genügen. Anfänglich von den Alliierten dazu gezwungen, musste sich die Bevölkerung in der Nähe der Tatorte in der Nachkriegszeit mit den Morden auseinandersetzen. Über den lokalen Streit und die langjährige Spaltung der Mescheder Gesellschaft berichten die weiteren Beiträge. Nicht nur in der engeren Region, sondern bundesweit Aufmerksamkeit erregte 1957/58 der Prozess gegen einige Täter. Fast alle wichtigen Zeitschriften und Zeitungen sowie Rundfunksender berichteten teilweise ausführlich. An diesen Berichten lässt sich der Umgang der bundesdeutschen Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in dieser Zeit exemplarisch untersuchen.

Es verhält sich keineswegs so, dass die Taten und der spätere Umgang mit ihnen noch nicht behandelt worden wären. Von der historischen Forschung wurden die Taten, aber auch der spätere Umgang damit mehrfach rezipiert. In der Regel handelt es dabei um Fallbeispiele im Rahmen einer größeren Untersuchung. Auch in der großen Ausstellung zur 200jährigen Geschichte der Provinz Westfalen dienten die Verbrechen und der spätere Umgang mit ihnen jetzt als exemplarisches Beispiel für Kriegsendverbrechen in Westfalen.5 Dagegen sind Beiträge, die sich ausschließlich mit dem Thema beschäftigen, meist recht knappe Skizzen oder es handelt sich um subjektiv gefärbte Erinnerungen von Zeitzeugen.6

Es erscheint daher sinnvoll, die Vorgänge ausführlicher zu betrachten. Der zentrale Bezugspunkt im vorliegenden Beitrag ist der Prozess von 1957/58. In diesem Rahmen wird auch das eigentliche Geschehen von 1945 rekonstruiert. Die Wahl des hier gewählten Blickwinkels hat auch mit der Quellenbasis zu tun.

Die Kriegsendverbrechen gelten hinsichtlich der Quellenlage im Allgemeinen wegen oft unzureichender oder fehlender archivalischer Überlieferung als sehr problematisches Forschungsfeld. Einen gewissen Ersatz bieten die Urteile der entsprechenden Prozesse.7 Hier wurden daher die veröffentlichten Urteile des Arnsberger Prozesses und der Nachfolgeverfahren benutzt. Hinzu kommt die Teilauswertung der im Staatsarchiv in Münster aufbewahrten sehr umfangreichen Akten der Staatsanwaltschaft Arnsberg.8 Ergänzt wird dies durch die Auswertung der breiten zeitgenössischen Presseberichterstattung. Diese lässt neben der Rekonstruktion der Taten und des Prozessverlaufs zumindest ansatzweise auch die zeitgenössische Wahrnehmung erkennen. Insofern ist die Quellen- und Literaturlage im Vergleich mit anderen Kriegsendverbrechen durchaus günstig.

Der Text ist erstmals 2015 in kürzerer Form in den daunlots Nr. 76 des Christine-Koch-Mundartarchivs am Museum Eslohe erschienen. Für die vorliegende Buchausgabe wurde der Beitrag deutlich erweitert.9

1. Nach der Tat und Strafverfolgung

Zwischen dem 20. und 23. März 1945 kam es an Schauplätzen bei Warstein, Suttrop und Eversberg zur Tötung von über 200 männlichen und weiblichen Zwangsarbeitern. Auch zwei Kinder wurden dabei ermordet. Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt. Dieses Endphaseverbrechen wurde von Tätern aus einer gemischten Einheit aus Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der Waffen-SS begangen. Es handelte sich um Soldaten der Division z.V., die für den Einsatz der V 2 Waffen zuständig war und deren Stab zu dieser Zeit in Suttrop lag.

Deutsche Zivilisten (vermutlich vorrangig örtliche NSDAP-Mitglieder) graben nach Weisung der US-Amerikaner die nahe Suttrop am 3.5.1945 gefundenen 57 ermordeten „Russen“ aus. (U.S. Signal Corps - Yad vashem Photo Archive)

Die Täter versuchten zwar, ihr Handeln zu verschleiern, aber schon ein paar Tage später gab es in Warstein Gerüchte, dass im Wald Zwangsarbeiter erschossen worden waren. Entsprechende Hinweise kamen von Waldarbeitern, Förstern oder anderen Personen. Arbeiter, die für die örtliche Hudegenossenschaft tätig waren, stießen auf Habseligkeiten und fanden sogar erste Leichen. Von den Funden wurden die örtlichen Behörden und Stellen der NSDAP informiert. Die Partei wandte sich an die Kreis- und Gauleitung. Dabei wurde auf die Gefährdung Warsteins verwiesen, sollten die überlebenden Zwangsarbeiter von den Taten erfahren. Es wurde um Hilfe gebeten, damit „Warstein kein zweites Katyn“ würde. Zunächst wurden die noch verbliebenen Zwangsarbeiter weitergeleitet. Aber einige Zeit später kamen erneut Zwangsarbeiter nach Warstein. Diese wurden Anfang April, kurz vor der Besetzung der Stadt durch die Amerikaner, mit sechs Güterwagen der Front entgegen gefahren und dort freigelassen. Die Amerikaner haben sie zeitweise in einer Kaserne in Lippstadt interniert. Kurz nach der Besetzung Warsteins am 7. April 1945 erfuhr der amerikanische Kommandant von der Mordaktion im Langenbachtal. Zeitweise plante dieser, die Stadt für 24 Stunden zur Plünderung freizugeben. Dazu kam es nicht, weil die Einwohner glaubhaft machen konnten, dass die Warsteiner nichts mit den Taten zu tun hatten. Zur Exhumierung der Leichen wurden ehemalige Mitglieder der NSDAP verpflichtet. Die Warsteiner Bevölkerung hatte an den Toten vorbeizuziehen. Anschließend wurden die Opfer würdig beigesetzt. Ganz ähnlich verliefen die Ereignisse in Suttrop. Auch dort hatten frühere Parteigenossen das Massengrab zu öffnen, und die Bevölkerung des Ortes und umliegender kleiner Dörfer musste an den Leichen vorbeidefilieren, ehe diese in Einzelgräber beigesetzt wurden. Von dem gesamten Vorgang wurden Fotos und Filmaufnahmen zur Aufklärung der Bevölkerung gemacht. Das Vorgehen entsprach der Reeducation-Politik der Amerikaner zu diesem Zeitpunkt. Um die deutsche Bevölkerung zum Umdenken zu bewegen, wurde sie etwa durch Filmvorführungen oder eben durch die Besichtigung der Tatorte mit den Verbrechen und der Grausamkeit des NS-Regimes konfrontiert. So mussten die Einwohner von Weimar die Leichenberge im KZ Buchenwald in Augenschein nehmen. Dem entsprach das Vorgehen in Warstein und Suttrop. Das Geschehen ist bei vielen Teilnehmern viele Jahrzehnte in der Erinnerung präsent geblieben. Ob diese Maßnahmen tatsächlich das gewünschte Ergebnis gehabt haben, ist allerdings zweifelhaft. Erinnerungen legen nahe, dass auch im Raum Warstein die Leugnung der deutschen Verbrechen weit verbreitet war. Auch über die Taten vor der eigenen Haustür wurde geschwiegen.10 Später wurde auf russische Initiative ein Denkmal errichtet. Dies trug in englischer, russischer und deutscher Sprache die Inschrift: „Hier ruhen russische [?] Bürger bestialisch hingemordet in faschistischer Gefangenschaft. Ewiger Ruhm den gefallenen Helden des grossen vaterländischen Krieges 1941-1945.“11

Auch die Morde bei Eversberg waren nicht unbemerkt geblieben. Der Grundstückeigentümer hat die Gräber aus Angst vor der Rache von noch herumziehenden Zwangsarbeitern nach Kriegsende aber nicht den Behörden gemeldet. Die Leichen wurden daher erst 1947 exhumiert. Im entsprechenden ärztlichen Bericht wurden die Ergebnisse der pathologischen Untersuchung im Detail dargestellt. Da einige Leichen bereits stark verwest waren, konnte die Todesursache nicht in allen Fällen geklärt werden. Wo dies möglich war, trat der Tod durch Kopfschüsse oder durch Verletzungen in Folge „stumpfer Gewalt“ ein. Bei den Toten wurden einige Papiere gefunden, die den anwesenden alliierten Offizieren übergeben wurden. Da einem Teil der Leichen noch die Weisheitszähne fehlten, schloss der zuständige Kreismedizinalrat, dass diese Opfer noch keine achtzehn Jahre alt gewesen sein können. Die Toten waren meist in Monteuranzüge gekleidet, die die Aufschrift „Ost“ (für die aus der Sowjetunion stammenden Menschen) oder „P“ (bei den polnischen Opfern) trugen.12

‚Sowjetische Stele‘, heute auf dem Waldfriedhof Fulmecke in Meschede. (Aufnahme: Stefan Didam, Schmallenberg; Quelle: Wikimedia.org)

Wahrscheinlich auf Anordnung der alliierten Militärverwaltung fand unmittelbar nach der Exhumierung eine Sondersitzung der Mescheder Stadtvertretung im Beisein der Kreistagsmitglieder aus dem nördlichen Kreisteil und anderer Personen statt. Wie sich Pfarrer Grumpe Jahrzehnte später erinnerte, fand die Information der deutschen Seite in einer eisigen Atmosphäre statt. Die Sitzung begann mit einer bemerkenswerten Rede des britischen Oberst Hoar. Für diesen war nicht glaubhaft, dass die Einheimischen von der Tat nichts mitbekommen hätten. Dass dem nicht der Fall war, würde der Umstand zeigen, dass die Militärbehörden einen anonymen Hinweis erhalten hatten. „Es ist unglaublich, dass während einer Periode von 2 Jahren nicht ein einziger Bürger hier den Mut gehabt hat, von dem Geschehen der Militärregierung Kenntnis zu geben.“ (…) „Sie sind die gewählten Repräsentanten der Einwohner und ich habe die Meinung, dass es Ihre Pflicht ist, sich selbst das Massengrab anzusehen und zwar heute, und sich selbst davon zu überzeugen, dass hier ein Verbrechen vorgefallen ist und zwar ein solches, wegen dessen mehrere Deutsche vor Kurzem in Nürnberg angeklagt und verurteilt worden sind. Wenn sie das Grab gesehen haben, dann erzählen Sie das was Sie dort sahen, den Einwohnern, die sie vertreten. Es ist dann weiter noch von Ihnen zu erwägen, was für eine Wiedergutmachung anzuwenden ist.“ Nach Abgabe dieser Erklärung verließ der Offizier die Sitzung. Landrat Goebel bat um Wortmeldungen. Der Eversberger Bürgermeister Adam berichtete, dass der frühere Stadtvorsteher Dröge unmittelbar nach der amerikanischen Besetzung die Amerikaner über Gerüchte über ein Massengrab informiert hätte. Auch der Eversberger Pfarrer sprach von Vermutungen in der Bevölkerung über ein Massengrab. Er habe daher seinerzeit den vermuteten Platz eingesegnet. Im weiteren Verlauf der Sitzung wurde vorgeschlagen, dass die Ermordeten auf dem früheren Friedhof des ehemaligen Mescheder Kriegsgefangenlagers an der Waldstraße beigesetzt werden sollten, weil auf dem kommunalen Friedhof nicht so viel Platz für Einzelgräber sei. Auch eine würdige Beisetzungsfeier und das Anbringen von Gedenktafeln wurden besprochen.13 Pfarrer Grumpe berichtete über die Besichtigung des Tatortes durch die deutschen Kommunalpolitiker und andere Honoratioren. Nach der Erinnerung des für die Exhumierung zuständigen Medizinalrates Dr. Petrasch hätte sogar die Bevölkerung an den Leichen vorbeimarschieren müssen. Dies würde dem Vorgehen der Amerikaner im Jahr 1945 in Warstein entsprechen. Dafür gibt es allerdings keine weiteren Belege und ein solcher Vorgang ist eher unwahrscheinlich.14 Die Trauerfeier fand jedenfalls mit einer eher begrenzten Teilnehmerzahl statt. Nach dem Bericht des Stadtdirektors hatten die Gräber die äußere Form eines Massengrabes. Bei diesem stand ein Kreuz aus Birkenstämmen, und am Kopfende waren lebende Fichten gepflanzt worden. Anwesend waren Vertreter des Kreises Meschede, der Ämter Meschede und Eversberg, der Stadt Meschede, Geistliche beider Konfessionen, Mönche der Abtei Königsmünster, Abgesandte staatlicher Behörden und der Militärverwaltung sowie andere Honoratioren. Die Feier fand in strömenden Regen statt. Bürgermeister Dicke berichtete in seiner Ansprache kurz über die Auffindung der Getöteten und „geißelte mit scharfen Worten“ das offenbar an den Fremdarbeitern begangene Verbrechen. Danach wurde das Grab von einem katholischen und einem evangelischen Geistlichen eingesegnet.15

In der lokalen Öffentlichkeit der nahen Kreisstadt Meschede haben die Exhumierung und die Erinnerungen an das Kriegsende offenbar gerade in Teilen der katholischen Gemeinde eine große Betroffenheit ausgelöst. Georg D. Heidingsfelder, langjähriger Gegner des NS-Regimes, und andere sorgten für die Errichtung eines Sühnekreuzes. Die Folgen und lokalen Konflikte um dieses Kreuz werden in den folgenden Beiträgen dieses Bandes geschildert.

Bereits unmittelbar nach Kriegsende haben amerikanische Ermittler vergeblich versucht, die Täter dingfest zu machen. Auch die Arnsberger Staatsanwaltschaft ist dabei 1950 nicht weiter gekommen. Gegen Ende des Jahres 1955 und Anfang 1956 erhielten mehrere deutsche Staatsanwaltschaften dann anonyme Hinweise auf die Täter. Die Arnsberger Behörde nahm daraufhin die Ermittlungen wieder auf. Die eigentliche Suche nach den Tätern übernahm das Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen. Es gelang den Ermittlern, einen Soldaten ausfindig zu machen, der zum Tatzeitpunkt in Warstein gewesen war. Durch dessen Angaben konnten weitere Personen identifiziert werden. Das LKA ermittelte ein Jahr lang. Es folgten weitere zehn Monate Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft. Schließlich wurden drei Hauptbeschuldigte festgenommen. Der mutmaßliche Hauptverantwortliche, Hans Kammler, konnte nicht mehr belangt werden, da er vermutlich bei Kriegsende Selbstmord begangen hatte. Vor dem Arnsberger Landgericht verantworten mussten sich schließlich sechs Angeklagte. Von diesen befanden sich zwei zu Prozessbeginn noch in Untersuchungshaft.16

2. Juristische Vergangenheitspolitik

Gegen die Täter von NS-Verbrechen gingen alliierte und deutsche Gerichte seit Kriegsende vor. Die Mehrzahl der Verfahren fiel in die Zeit der Besatzungsherrschaft. Insbesondere nach Mitte der 1950er Jahre nahm die Zahl der Prozesse deutlich ab. Betrug 1948 die Gesamtzahl der Strafverfahren 4160, so lag die Zahl der Verfahren 1954 nur noch bei 162. Danach stieg die Zahl langsam wieder an und erreichte 1960 mit 1326 einen Hochpunkt. Die Zahl der tatsächlichen Anklagen nahm sogar noch stärker ab. Sie fiel von über 5300 im Jahr 1948 auf nur noch 27 im Jahr 1955 ab. In den uns hier interessierenden Jahren 1957 und 1958 waren die Zahlen der Anklagen mit 35 und 28 kaum höher. Diese Entwicklung hat viel mit der gesellschaftlichen Haltung gegenüber der Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen in der Nachkriegszeit zu tun. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Tiefpunkt der Verfolgung mit dem zweiten bundesdeutschen Amnestiegesetz zusammenfällt. Umgekehrt hatte der erneute Anstieg mit der drohenden Verjährung bei Totschlagsdelikten zu tun.17

Zur Vorgeschichte des Prozesses gehört auch, dass unmittelbar mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland interessierte Kreise im Rahmen der „Vergangenheitspolitik“ darauf drängten, die Entnazifizierungspolitik zu beenden, Täter und Mitläufer zu rehabilitieren und vor der Strafverfolgung zu bewahren. Dabei spielte die Amnestiegesetzgebung eine Rolle. Bereits 1949 hat es ein erstes Amnestiegesetz gegeben. Es zielte von der Intention her nicht so sehr auf die Straffreiheit von NS-Tätern ab, sondern hatte vielmehr vor allem typische Nachkriegsdelikte wie Schwarzmarkthandel oder Eigentumsdelikte im Blick. Aber es fielen darunter auch schwere Delikte bis hin zu Totschlag. Davon konnten auch NS-Täter profitieren. Ihre Zahl dürfte im fünfstelligen Bereich gelegen haben. Nachweisbar sind 2547 Einstellungen von Verfahren. Hinzu kamen weitere 1000-1500 Personen, denen bereits verhängte Strafen ganz oder teilweise erlassen wurden.

Aus unterschiedlichen Gründen und vorgetragen von ganz unterschiedlichen Protagonisten, gab es in den folgenden Jahren Bestrebungen zu weiteren Amnestiegesetzen. Darunter waren Vertreter mit ehrenwerten Absichten, denen es z.B. um die Integration jüdischer Displaced Persons aus Osteuropa ging. Aber es gab auch weniger ehrenwerte Gründe, so im Zusammenhang mit dem Bestechungsskandal in Bonner Ministerien durch den Wirtschafts-Informationsdienst Patowbrief.18 Insbesondere aber die Fürsprecher von Kriegsverbrechern und NS-Tätern nutzten die Gelegenheit, um Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. So haben etwa Ernst Achenbach oder Werner Best, selbst tief in die Verbrechen der NS-Zeit verstrickt, die Forderungen nach einem Amnestiegesetz aufgegriffen. Aus dieser Umgebung wurde 1952 auch ein „Ausschuss zur Vorbereitung einer Generalamnestie“ gegründet. Werner Best schlug in einer Denkschrift vor, Amnestie für alle „Straftaten der Vergangenheit“ zu gewähren, die „nicht aus persönlichen Motiven begangen worden sind“19.

Diese Vorschläge sind zwar in dieser Form nicht in die Erarbeitung des Gesetzentwurfs eingegangen, aber auch so kamen durch Ministerialbeamte und Vertreter der Justiz, die teilweise selbst belastet waren, Elemente in den Entwurf, die auf eine Begünstigung von NS-Tätern abzielten. Von dieser Seite wurde etwa mit dem Begriff des Befehlsnotstandes gerade in der Endphase des Dritten Reiches argumentiert. Das Gesetz zielte auf die „Bereinigung“ der durch „Kriegs- und Nachkriegsereignisse geschaffenen außergewöhnlichen Verhältnisse“ (§ 1) ab. Der Geltungsbeginn war nicht definiert, während als Endpunkt der darunter fallenden Fälle der 1. Dezember 1953 festgelegt wurde. Ein Großteil der Bestimmungen zielte, wie schon beim Gesetz von 1949, auf „unpolitische“ Vergehen, etwa im § 3 „Vergehen aus Not“. Aber in das Gesetz aufgenommen wurde eben auch ein später so genannter „Zusammenbruchs-Paragraph“ (§ 6): „Straftaten, die unter dem Einfluss der außergewöhnlichen Verhältnisse des Zusammenbruchs in der Zeit zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 in der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere eines Befehls, begangen worden sind,“ sollten straffrei bleiben, sofern es um Taten ging, die mit Haftstrafen von weniger als drei Jahren bedroht waren. Darunter konnten auch Totschlagdelikte fallen. Auch andere Teile des Gesetzes begünstigten NS-Täter. So wurden (§ 20 Abs. 1 Nr. 2) Strafregistereinträge in Folge von Spruchkammerentscheiden in Entnazifizierungsverfahren, die vor Gründung der Bundesrepublik ergangen waren, gelöscht. Untergetauchte NS-Täter konnten vom sogenannten „Illegalen-Paragraphen“ (§ 7), der auch schon im Gesetz von 1949 vorhanden war, profitieren.

Zwar stieß insbesondere der „Zusammenbruchs-Paragraph“ im Gesetzgebungsverfahren auf Widerspruch von Seiten der SPD sowie einiger Vertreter der Union und der FDP, und es musste auch der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat angerufen werden, aber die verbreitete „Schlussstrichmentalität“ auch in der Opposition führte dazu, dass das später so genannte Straffreiheitsgesetz von 1954 mit großer Mehrheit angenommen wurde.20