© 2016 Peter Bürger (Hg.)

Irmgard Rode (1911-1989).

Dokumentation über

eine Linkskatholikin und

Pazifistin des Sauerlandes

edition leutekirche sauerland 2

Satz & Gestaltung: www.sauerlandmundart.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7412-1188-1

Inhalt

  1. „Das Leben zum Guten wenden“
    1. Herkommen aus dem Münsterland
    2. „Gewitterwolken über der Republik“ – Zeit des Nationalsozialismus
    3. Nachkriegszeit in Meschede: Eine „Frau der ersten Stunde“
    4. Sorge für das Schulwesen und die Flüchtlinge
    5. Coventry und die „Freunde der Völkerbegegnung“ im Sauerland
    6. Eine offene Familie mit sehr vielen Kindern
    7. Internationales Kinderhaus: „Alle Kinder dieser Welt wollen Freunde sein“
    8. Christlicher Pazifismus: „Im Jenseits brauchen wir die Bergpredigt nicht mehr“
  2. Dokumentarisches zu Joseph Beckmann (1886-1959)
    1. Joseph Beckmanns Mundartgedicht „Dat olle Brüggsken“ (1944)
    2. Joseph Beckmann: „Das wüchsige Bäumchen“ (8.11.1945)
    3. Brief Josef Rüthers an Joseph Beckmann (12.11.1945)
    4. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (1.12.1945)
    5. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (15.12.1945)
    6. Gedicht zu „Matthäus 10/34 und 26/52“ von Joseph Beckmann (Gründonnerstag 1946)
    7. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (8.5.1946)
    8. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (9.5.1946)
    9. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (20.5.1946)
    10. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (22.5.1946)
    11. Brief von Walter Dirks an Joseph Beckmann (31.5.1946)
    12. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (11.9.1946)
    13. Karte von Dr. Th. Michaltscheff (IdK) an Joseph Beckmann (16.5.1947)
    14. Karte von Dr. Th. Michaltscheff (IdK) an Joseph Beckmann (3.6.1947)
    15. Brief von Egon Formann an Joseph Beckmann (3.8.1947)
    16. Brief von P. Franziskus Stratmann OP an Joseph Beckmann (19.3.1948)
    17. Brief von Pfarrer Karl Giesen an Joseph Beckmann (25.4.1948)
    18. Joseph Beckmann: „Für uns gefallen“ (Allerheiligen 1948)
    19. Brief von Joseph Beckmann an Familie Irmgard und Alfons Rode (18.12.1950)
    20. Brief von Nikolaus Ehlen an Joseph Beckmann (5.2.1951)
    21. Brief von Nikolaus Ehlen an Joseph Beckmann (17.9.1951)
    22. Brief von Reinhold Schneider an Joseph Beckmann (17.9.1951)
    23. Brief von Josef Rüther an Joseph Beckmann (14.12.1951)
    24. Die Gedichte „Stiäerwen“ – „Des alten Lehrers Tod“ von Joseph Beckmann (22./23.12.1955)
    25. Die Gedichte „Friedensglocke??“ – „De Friädens-Klock“ von Joseph Beckmann (Lichtmess 1956)
    26. Joseph Beckmanns pazifistisches Mundartgedicht „Sünte Märten“ (23.10.1956)
  3. Texte von Alfons und Irmgard Rode
    1. Dr. Alfons Rode: Erinnerungen an das Aufkommen des Nationalsozialismus (geschrieben 1947)
    2. Irmgard Rodes Gedicht „Der Mutter Ruf nach Frieden“ (1950)
    3. Irmgard Rode: Brief an eine katholische Publizistin (20.9.1956)
    4. Irmgard Rode: Kinderschicksale – Erlebnisberichte einer Pflegefamilie (1974)
    5. I. Rode: Internationales Kinderhaus – Das Zusammenleben der Kinder verschiedener Nationen (1981)
    6. Irmgard Rode: „Alle Kinder dieser Welt, alle wollen Freunde sein“. Freunde der Völkerbegegnung e.V., Meschede – Internationale Kinderhilfe (1982)
    7. Irmgard Rode: Jugendliche in einer Erwachsenenwelt (1982)
    8. Irmgard Rode: Eskalation der Gewalt (1982)
    9. Irmgard Rode: Jugendliche in Heimen (1982)
    10. Irmgard Rode: Die Mescheder Friedenswoche [im November 1981]
    11. Christa Schröter, Irmgard Rode, Christian Cordt: „Ausländerfeindlichkeit“ (1982)
    12. Irmgard Rode: Menschen jenseits der Grenzen (1984)
    13. „Die Integration der Vertriebenen in Meschede 1945-1955“. Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte 1984/85: Interview von Claudia Bartmann mit Irmgard Rode
    14. Irmgard Rode: Die Tamilen (1985)
    15. Irmgard Rode: So entstand unser Internationales Kinderhaus (1985)
    16. Irmgard Rode: Gedicht „Meschede im Sauerland“
  4. Texte über das Ehepaar Irmgard und Alfons Rode,
    1. Herzenswunsch: Wiedersehen mit der Heimatstadt (1981)
    2. I. Rode gründete das Friedenswerk (1981)
    3. Irmgard Rode 70 Jahre! (1981)
    4. Begegnung in der Bretagne (1982)
    5. Nachmittag machte auch den Eltern Spaß (1982)
    6. Stadthalle – international (1983)
    7. Mit 72 Jahren für den Frieden auf die Straße (1983)
    8. Geburtsstunde der Freunde der Völkerbegegnung (1983)
    9. Pax Christi-Meldung (1984)
    10. Der Name Irmgard Rode steht für die gute Tat (1986)
    11. Irmgard Rode wird 75 Jahre (1986)
    12. „Kleiner Gipfel“ am Ruderclub (1986)
    13. Am 29. Juni feierte „unsere“ Frau Rode ihren 75. Geburtstag (1986)
    14. Völkerverständigung ihr Herzensanliegen (1987)
    15. Dr. Alfons Rode starb im Alter von 86 Jahren (1987)
    16. Traueranzeige „Dr. Alfons Heinrich Rode“ (1987)
    17. Nachruf von pax christi auf Alfons Rode (1987)
    18. Traueranzeige „Irmgard Rode“ (1989)
    19. Traueranzeige des Kinderschutzbundes für Irmgard Rode (1989)
    20. Wo immer ihr Leid begegnete: Ihr Leben war die helfende Tat (1989)
    21. Irmgard Rode †. Ihre Arbeit tat sie im Stillen (1989)
    22. Nachruf der Stadt Meschede auf Irmgard Rode
    23. Nachruf der SPD auf Irmgard Rode
    24. Der Name Irmgard Rode steht für die gute Tat (1989)
    25. Todesmeldung zu I. Rode in der Kirchenzeitung (1989)
    26. Sigrid Blömeke: Josef Rüther & Irmgard Rode (1992)
    27. Die Frauengeschichtswerkstatt über Irmgard Rode (2000)
    28. Konrad Hengsbach: Lied „Alle Menschen sehnen sich nach Frieden“ (2000)
    29. Conny Hardie: Irmgard Rode – ein Engel aus Meschede (1987/2005)
    30. Maria Hüser: „Konrad, du bist unser Mann“ (2005)
    31. Doris Deitelhoff / Maria Hüser: Irmgard Rode – Völkerverständigung mit Herz und Hand (2006)
    32. Peter Liese: Grußwort zum 40-jährigen Bestehen der Freunde der Völkerbegegnung (2008)
    33. Konrad Hengsbach: Gründungsidee der Freunde der Völkerbegegnung (2008)
    34. Briefzeugnis von Prof. Dr. Irmgard Rode (2014)
    35. Mitteilungen von Angelika Rode zu den Eltern (2014)
    36. Mitteilungen von Angelika Rode zum Leben im Elternhaus (2014)
  5. Literatur & Quellen (mit Kurztiteln)

Irmgard Rode, geb. Beckmann, als junge Frau (Aufnahme in Münster-Kinderhaus)

Vorab

Die Mescheder Linkskatholikin Irmgard Rode (1911-1989) hat mit ihrer gelebten Menschlichkeit nach dem Ende des zweiten Weltkrieges Kreise gezogen und erstaunlich viel bewirkt. Zur Seite stand ihr als pazifistischer Weggefährte Dr. Alfons Rode (1901-1987). Seit meiner Zeit als Zivildienstleistender in Meschede und dann auch während des Theologiestudiums war Irmgard Rode für mich eine prägende Persönlichkeit, zugleich Vermittlerin bezogen auf die leider viel zu wenig bekannte Geschichte des Linkskatholizismus im Sauerland. Somit ist diese Veröffentlichung auch ein wenig „Geschichtsschreibung in eigener Sache“. Um nicht selbst dem Trugbild einer „Heiligenlegende“ zu unterliegen und um dem Leser mehrere Sichtweisen zu eröffnen, bin ich anhand der mir zugänglichen und in dieser Veröffentlichung großzügig dokumentierten Quellen dem verinnerlichten „Ideal“ noch einmal auf ganz neue Weise nachgegangen – aus einem Zeitabstand von einem Vierteljahrhundert heraus.

Die Töchter Angelika Rode, Prof. Irmgard Antonia Rode und Roswitha Büttner haben meine bescheidene Archivsammlung aus den 1980er Jahren durch zahlreiche neue „Dokumente“ ergänzt. Sie sind außerdem geduldig und mit menschlicher Offenheit auf meine penetranten, zum Teil sehr persönlichen Rückfragen eingegangen. Ohne diesen Beistand wäre das Unternehmen sehr früh steckengeblieben. Liebenswürdige Hilfe kam auch von Maria Hüser (Freunde der Völkerbegegnung), Andreas Evers und Wolfgang Regeniter (pax christi).

Am Ende weiß man immer, dass man eigentlich erst am Anfang steht, und muss doch – wegen menschlicher Begrenztheit – einen Schlusspunkt setzen. Das vorgelegte Ergebnis steht in einem Zusammenhang mit insgesamt vier „Werkstattforschungen“, die einen Zugang zur Geschichte des katholischen Pazifismus im Sauerland ermöglichen sollen.1 Die gedruckte Buchfassung dieser Dokumentation ist weitgehend identisch mit der Internetausgabe. Alle Literaturangaben erfolgen über Kurztitel, die im Anhang schnell entschlüsselt werden können. Die Fotos stammen aus den Sammlungen der Geschwister Rode, von Andreas Evers und meinem eigenen Fundus.

Düsseldorf, im Advent 2014 und Mai 2016

Peter Bürger


1 daunlots nr. 61*; daunlots nr. 75*; daunlots nr. 76*; daunlots nr. 77*; daunlots nr. 78*; Bürger 2016.

I. „Politik heißt, das Leben zum Guten wenden“

Eine biographische Skizze über die Mescheder Linkskatholikin und Pazifistin Irmgard Rode (1911-1989)

Von Peter Bürger

„Natürlich müssen wir um den Frieden,

um mehr Gerechtigkeit in der Welt beten,

aber wir müssen auch etwas tun.“

Irmgard Rode (1911-1989)2

Irmgard Rode war in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts vermutlich die bekannteste Frau von Meschede. Viele sahen in ihr die Verkörperung einer Legende der Menschlichkeit.3 Schaut man sich im Rückblick die Zeugnisse genauer an, so kommt an einigen Stellen auch die Kehrseite des legendären Rufes zum Vorschein.4 Die entschiedene Parteinahme dieser Frau zugunsten der Schwachen, Benachteiligten und Opfer von Gewalt ist in der sauerländischen Kleinstadt keineswegs immer nur auf Zustimmung gestoßen. Vor dreißig Jahren wollte eine Mescheder Schülerin im Interview von Irmgard Rode wissen, ob das vielfältige soziale Engagement in ihrem Lebensweg etwas Politisches gewesen sei. Die Antwort von damals enthält in knapper Form das Programm eines öffentlichen Wirkens, das in die üblichen Schablonen von Erfolg und Lagerdenken einfach nicht hineinpasst: „Ja, ja, ich fühlte mich immer getrieben, politisch aktiv zu sein, nicht parteipolitisch, sondern in dem Sinne, das heißt, Politik ist eine Verpflichtung, das Leben zum Guten zu wenden und in diesem Sinne etwas zu tun.“ (Rode/ Bartmann 1988)

1. HERKOMMEN AUS DEM MÜNSTERLAND

Geboren wurde Irmgard Anna Paula Rode am 29.6.1911 in Marl-Hüls als ältestes von fünf Kindern des katholischen Lehrers Joseph Beckmann (1886-1959) und seiner Frau Theresia geb. Knaden5. Ihr Vater wirkte nach dem 1. Weltkrieg als Dorfschulrektor in Kinderhaus bei Münster. Beide Eltern, seit dem 8.9.1910 verheiratet, waren erklärte Pazifisten und gehörten somit einer Minderheit an, der schon während der Weimarer Republik viel Standvermögen abverlangt wurde. Der Vater schrieb hochdeutsche und plattdeutsche6 Gedichte gegen den Krieg und trug diese im kleinen Kreis auch vor. Allerdings wurde er von seiner Umgebung nicht unbedingt als sanfter oder antiautoritärer Mann wahrgenommen. Nach Auskunft einer Enkelin soll er in der Familie – besonders gegenüber seinen vier Söhnen – vielmehr ein strenges Regiment geführt haben und ebenfalls von vielen Schülern gefürchtet worden sein (Rode-Angelika 2014a). Joseph Beckmann, aus dessen Schreibwerkstatt u.a. auch eine Veröffentlichung plattdeutscher Liedübertragungen7 hervorgegangen ist, war am Ort wegen seiner Verdienste um das schulische, kulturelle und kirchenmusikalische Leben sehr geachtet.8 Heute trägt eine Straße in Kinderhaus seinen Namen. Zwei seiner Söhne, Ivo († Silvester 1943) und Egon († 25.6.1944), haben im zweiten Weltkrieg als Soldaten ihr Leben lassen müssen. In der Enkelgeneration weiß man noch, dass die Themen Krieg und Frieden im Familienkreis immer gegenwärtig waren (Rode 2014). In Internetbeiträgen über den Schulleiter findet man jedoch keinen Hinweis auf dessen pazifistische Gesinnung und Tätigkeit. Anhand eines dokumentarischen Kapitels zu Joseph Beckmann in dieser Veröffentlichung kann jeder nachvollziehen, dass auf diese Weise geradezu das Zentrum des öffentlichen Wirkens von Irmgard Rodes Vater unterschlagen wird (→II.1-23). Wir werden auf die – politisch sehr bedeutsame und nachhaltige – pazifistische Tradition der Herkunftsfamilie später noch zu sprechen kommen.

Als ältestes Kind hilft Irmgard in der Familie bei der Beaufsichtigung und Versorgung ihrer jüngeren Brüder mit. Nach dem Abitur arbeitet sie – bis zur eigenen Familiengründung – als „Kindermädchen“ für die Familie eines Druckereibesitzers mit acht Kindern in Telgte. Der besondere Blick auf Kinder und deren Bedürfnisse wird ihre gesamte Biographie durchziehen.

Im Verlag des Druckereibesitzers (Joseph Hansen) erscheinen drei Büchlein mit Gedichten und Scherenschnitten von Irmgard Beckmann. Die Reihe beginnt 1934 mit der Sammlung „Ich bin ein kleines Stümpchen – Glückwunschgedichte für Kinder von 3 bis 6 Jahren“ (dritte Auflage: Rode 1937). Ein kleines Mäuschen gratuliert so: „Du bist die liebste Mutter mir, / Machst mir eine warmes Mausenest, / Hältst mich geborgen, treu und fest.“ Für die Altersstufe 6 – 14 folgt im gleichen Jahr ein Bändchen „Am Rosenstrauch“ (Rode 1934). Die Geschwister gratulieren sich auch gegenseitig: „Liebe Schwester, glaube mir, / Von Herzen gratulier ich dir’ / Und schiel’ dabei zum Kuchen hin, / Sind wohl auch Rosinen drin? / Lebe hoch, mein Schwesterlein, / Immer sollst du glücklich sein!“ Oder: „Bin ich auch ein kleiner Mann, / Hör’ mal, wie ich rufen kann: / Lieber Bruder, du sollst leben, / Daß der Erdball tut erbeben. / Viel Glück hab’ ich für dich bestellt, / Bis daß die Welt in Stücke fällt.“ Auf Seite → stutzt man bei den Zeilen: „Du unser Führer, nimm entgegen / Den warmen Dank den wir dir weih’n ...“ Dies ist eine kindliche Gratulation für den katholischen Priester! Der Lehrer wird in einem anderen Gedicht plattdeutsch und auch mit „Du“ angeredet; bei diesem herrlichen Text drängt sich eine ironische Lesart geradezu auf (Engel sollen den Lehrer auf dem Lebensweg begleiten, und dereinst soll der Magister selbst ein Engel werden):

Nu sin ick aower dran!

Wu pack ick blos de Sake an?

Ick will et maken kuort un gutt. –

De Düwel hal den leigen Daut,

Wenn he, leiwe Lähr, Di will wat dohn

De Engelkes söllt met Di gohn

Äs bishär,

Aover in Tokunft noch ennige mähr,

Söllt met Di gohn spazeeren öwer alle Straoten,

Auk dör de Himmelspaoten.

Un buowen in’n Himmel drin

Sös Du wärn sölwst ’n Cherubin.

Die kindlichen Gratulationsgedichte waren ein überaus glücklicher Wurf. Der Verlag musste beide Bändchen in kurzen Abständen neu auflegen. Sie sollen – nach Ausweis der mir vorliegenden Exemplare – jeweils eine Auflagenhöhe von mehr als 20.000 Exemplaren erreicht haben! – Eine 1935 erschienene, von Irmgard Beckmann zusammengestellte Anthologie „Für Dich – Reime für frohe und glückliche Tage“ richtet sich dann nicht mehr ausschließlich an Kinder und enthält neben eigenen Versen auch Gedichte anderer Verfasser (Rode 1935). In diesem Druck gibt es ebenfalls einen „Dank dem Führer“9 (Autorin: Anna Ruff), und wieder ist es eine Gratulation für den Lehrer oder Geistlichen. Alle drei Sammlungen, besonders aber die letzte, sind ausgesprochen katholisch und enthalten – was leider nicht als selbstverständlich gelten kann – keinerlei weltanschauliche Konzessionen an die sogenannte „Neue Zeit“ der 1930er Jahre.

1937 heiratet Irmgard Beckmann den zehn Jahre älteren Juristen Dr. Alfons Rode (1901-1987). Sie kennt ihn eigentlich „schon immer“. Alfons Rodes Vater, der passionierte Imker August Rode, ist nämlich seit 1911 ebenfalls Lehrer an der von Irmgards Vater geleiteten Schule in Kinderhaus. Seine Gattin Antonia geb. Kreilos stammt von einem Bauernhof im Weserbergland. [Im Dorf wurde die Familie „Fenstermachers“ genannt; sie betrieb eine Schreinerei.10] Die jüngste Tochter von Dr. Alfons Rode schreibt zu den familiären Prägungen: „Mein Vater hat zeitlebens die Natur und die Einfachheit des Landlebens geliebt. Er hat (wohl hauptsächlich von seiner Mutter) eine schlichte, innige Frömmigkeit übernommen.“ (Rode-Angelika 2014a)

Joseph und Theresia Beckmann, die Eltern von Irmgard Rode

2. „GEWITTERWOLKEN ÜBER DER REPUBLIK“ – ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS

Nach dem Abitur studiert Alfons Rode, der ebenfalls aus einem katholisch-pazifistischen Elternhaus kommt (Rode 2014), in Münster Rechts- und Staatswissenschaft. Einem Nachruf zufolge ist er bereits als Student dem Friedensbund deutscher Katholiken (FdK) beigetreten (Westfälische Rundschau 1987), was vielleicht auch auf einen Einfluss des zukünftigen Schwiegervaters Joseph Beckmann zurückgeht. Ab etwa 1930 dringen die Nazis auch aufs Land vor und stören auf gewaltsame Weise die Veranstaltungen ihrer Gegner. Mitglieder des katholischen Kaufmännischen Vereins, der Arbeitervereine und anderer Gruppen gründen eine „katholische Liga“, für die sich Alfons Rode in Kinderhaus als Leiter engagiert: „Die Gruppe war stark religiös ausgerichtet und hat zusammen mit der Gruppe Münster und anderer Ortschaften um Münster in vielen Wahlveranstaltungen besonders in Münster Saalschutz gestellt und Schlägereien mit randalierenden Nazis in Zusammenhang mit diesen Veranstaltungen gehabt. In Veranstaltungen, die der Machtübernahme vorausgingen, sah die Polizei solchen Störungen und Schlägereien bereits untätig zu. Durch meine Position in der ‚Liga‘ und mein Auftreten als Gegner der Nazis in deren Veranstaltungen in unserem Dorf war ich diesen, besonders dem Ortsgruppenleiter, besonders verhasst.“ (Rode 1947) Beim Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 hat Rode mehrere Stationen als Referendar und sogar seine juristische Doktorarbeit schon abgeschlossen. Die neuen Herren legen ihm jedoch beim anstehenden Assessor-Examen große Steine in den Weg. Die Prüflinge kommen wochenlang in Lager zur Wehrertüchtigung und weltanschaulichen Schulung. Hier will der NS-Justizapparat einen ihm genehmen Nachwuchs formen. Rode weist gute wissenschaftliche Leistungen vor, fällt aber wegen seiner bekannten weltanschaulichen Unzuverlässigkeit wiederholt durch das Examen.

Auf „besonderes Verwenden des Landgerichtspräsidenten in Münster“ gelangt er dennoch in den gehobenen Justizdienst und kann im Sommer 1936 schließlich in Hamm mit bestem Zeugnis die Inspektoren-Prüfung ablegen. Eine Bescheinigung über die sehr erfolgreiche Leitung der Kinderhaus-Gruppe des NS-Reichs-Luftschutzbundes wird ihm – als „Ersatz“ für die fehlende Parteizugehörigkeit – „zugute“ gehalten.

Nach kurzen Stationen in Rietberg und Lippstadt kommt es 1937 zur Niederlassung in Meschede. Dies ist das Jahr, in dem Irmgard und Alfons Rode geheiratet haben. – Die Eheleute werden vier eigene Kinder bekommen: Roswitha (geb. 1938), Irmgard (geb. 1940), Ivo (geb. 1944) und Angelika (geb. 1952). – Im November 1938 erlebt Dr. Rode, wie in Meschede die Fensterscheiben der jüdischen Kaufleute eingeschlagen werden und Nazis den Rechtsanwalt Aloys Entrup11 als „Judenknecht“ durch die Straße treiben. In seinem engeren Bekanntenkreis ballt man „oft die Faust in der Tasche“ zusammen, sieht jedoch – zumal ab Kriegsbeginn – keine Möglichkeit des öffentlichen Protestes mehr. Rode muss das Sauerland verlassen: „Im Winter 1940/41 wurde ich an die Deutsche Justizverwaltung in Litzmannstadt12 (Lodz) abgeordnet und dort im Frühsommer 1944 zur Wehrmacht eingezogen. Im Frühjahr 1945 geriet ich im Schwarzwald in französische Gefangenschaft und kam von dort nach 2 Jahren Kriegsgefangenschaft nach Meschede zurück. Nach einigen Monaten konnte ich meinen Dienst beim Amtsgericht Meschede antreten.“ (Rode 1947)

3. NACHKRIEGSZEIT IN MESCHEDE: EINE „FRAU DER ERSTEN STUNDE

Ab Ende 1940 und auch noch nach Niederwerfung des Nationalsozialismus muss Irmgard Rode als Mutter von drei Kindern in Meschede ohne ihren Mann die Familie durch den Alltag bringen.13 Umso mehr erstaunen die Nachrichten über ihre öffentliche Wirksamkeit in jener Zeit.14 (Hierzu zählt auch der Hinweis auf eine Mitarbeit bei der Versorgung von verwundeten Soldaten in einem Lazarett, das man gegen Kriegsende in den Gebäuden der Benediktiner eingerichtet hatte.) Im Nachruf der Stadt Meschede wird später nachzulesen sein: „Als Frau der ersten Stunde besaß sie bereits unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg das Vertrauen der damaligen britischen Besatzung. Noch bevor die Besatzer im Jahre 1948 erste freie Kommunalwahlen zuließen, beriefen sie die Verstorbene in die damalige Stadt- und Amtsvertretung Meschede. Beiden Vertretungen gehörte sie vom Zusammenbruch im Jahre 1945 bis zum Jahre 1948 an. In unermüdlichem Einsatz setzte sie sich Zeit ihres Lebens für die sozial Schwachen und die internationale Völkerverständigung ein.“ (Stadt Meschede 1989)

Dass Irmgard Rode nach dem Krieg direkt mit dem Briloner Linkskatholiken Josef Rüther in Verbindung stand, hat zuerst Sigrid Blömeke nach Auswertung von dessen Nachlaß mitgeteilt: „Einen demokratischen Wiederaufbau hielt Josef Rüther nur für möglich, wenn die wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Schaltstellen nicht mehr von Nazis besetzt sein würden. Mit der Meschederin Irmgard Rode, der späteren Initiatorin des Mescheder Sühnekreuzes15, entwickelte er ein Konzept für die Militärregierung, wie sie sich – basierend auf einer Analyse der Ursachen des Nationalsozialismus – einen Neuanfang vorstellten. Dieser sollte getragen sein von ‚democratic, antimilitaristic and international thinking people who are carefully examined‘ [...]. Rode und Rüther zeigen mit ihrem Konzept, daß es 1945 Personenkreise innerhalb des Katholizismus gab, die an einer intensiven Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Interesse hatten und alternative Vorstellungen zum später erfolgten ‚restaurativen‘ Wiederaufbau entwickelten. – In Bezug auf die Entnazifizierungspläne Rodes und Rüthers sollen zwei Punkte hervorgehoben werden: Zum einen legten sie Wert darauf, eine Kategorie für Personen zu schaffen, die nicht Mitglied der NSDAP gewesen waren, aber dennoch grundlegende NS-Ideen geteilt bzw. den Aufstieg der NS-Bewegung begünstigt hatten [...]. Rode und Rüther zielten hier offensichtlich auf den Kreis der Deutschnationalen, der rechten Zentrumsanhänger, der Schwerindustrie und des ostelbischen Großgrundbesitzes. Diese waren häufig nicht Mitglied der NSDAP geworden, weil ihnen die Partei eines ‚Anstreichers‘ mit ihren pöbelnden SA-Horden nicht standesgemäß erschien, hatten den Nationalsozialismus aber finanziell oder politisch gefördert und das Regime nach der Machtübergabe mitgetragen. Rode und Rüther wiesen damit auf einen Punkt hin, der für die Geschichte der Bundesrepublik zu einer schweren Belastung werden sollte, da gerade dieser Personenkreis – ohne den Makel der Parteimitgliedschaft – schnell an die entscheidenden Machthebel gelangte. – Zum anderen wollten Rode und Rüther genau differenziert wissen zwischen Nazi-Gegnern aus innerer Überzeugung und Nazi-Gegnern aus persönlichem Konkurrenzdenken [...]. Auch damit erwiesen sie sich als vorausschauend.“ (Blömeke 1992, S. 114)

Josef Rüther und Irmgard Rode mussten erleben, mit welchen Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten die sogenannte „Entnazifizierung“ einherging: „Vor allem für die NS-Gegner war es quälend, mitansehen zu müssen, wie ehemalige Nachbarn und Kollegen, deren Parteikarriere man hatte verfolgen können, nun wieder in sichere Positionen kamen, während man selber oder bekannte Oppositionelle wiederum außen vor blieben. Für den Raum Meschede stellte die ‚Pax Christi‘-Anhängerin Irmgard Rode gegenüber Josef Rüther fest: ‚Ich war in letzter Zeit hier sehr angespannt. Ich würde mich ja aus der Politik zurückziehen, aber hier kam es auf jeden an, – denn der Nazismus bemüht sich immer wieder, die Oberhand zu bekommen. Man ist immer in Angst und Mißtrauen und kommt nicht zur Ruhe, es geht hier bisweilen aufregend her.‘ “ (Blömeke 1992, S. 117)

4. SORGE FÜR DAS SCHULWESEN UND DIE FLÜCHTLINGE

Schon vor der – gegen viele Widerstände erfolgten – Verankerung der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz tritt Irmgard Rode in Meschede als selbstbewusste Politikerin in Erscheinung. Im Frühjahr 1946 steht in Meschede die Entscheidung an, ob die Benediktiner ihre ehemalige Oberschule wieder übernehmen und eröffnen können. Irmgard Rode ist als Mitglied des Schulausschusses und einer städtischen Abordnung zu einer Konferenz in Münster an den erzielten Verhandlungsergebnissen maßgeblich beteiligt (Meier 1997). Sie soll den Orden sogar zur Aufnahme des Schulbetriebes ermutigt haben, als von den Militärbehörden noch gar keine endgültige Genehmigung vorlag (Plöger 1983). Zeitweilig, so heißt es in einigen Quellen, erteilt Irmgard Rode an dem neu eröffneten Benediktiner-Gymnasium auch Englisch-Unterricht (Westfalenpost 1986a; Evers 1989).

In anderer Sache greift sie zusammen mit weiteren Betroffenen zur Selbsthilfe. In der zumeist leer stehenden Schützenhalle wird von ihr ein Kindergarten eingerichtet (Rode 1975). Die Kindergärtnerinnen können nur von dem bezahlt werden, was die Eltern an bescheidenen Mitteln beisteuern. Erst Jahre später wird es am Ort konfessionelle, öffentlich geförderte Einrichtungen geben.

Ab 1946 kommen über Meschede viele tausend Flüchtlinge aus dem Osten ins Hochsauerland. Nach ihrer Ankunft am Bahnhof erfolgt zunächst die Unterbringung in einem denkbar primitiven Barracken-Lager auf den Ruhrwiesen. Irmgard Rode erlebt, wie bei Dunkelheit eine große Gruppe Schlesier aus dem Zug aussteigt: „Ich fühlte mich da angetrieben, etwas zu tun. Irgendwie erschütterte mich das Schicksal dieser Menschen, und ich war sozusagen eine freiwillige Helferin, die sich bemühte, ihnen zu helfen, ihre Situation zu bewältigen. [...] Dann hat man versucht, den Leuten etwas an Hausrat zu besorgen, die wichtigsten Dinge. Ein Bett vielleicht, aber ich glaube, im Anfang waren es nur Matratzen, und der Raum war leer [...]. Ich fühlte mich so hilflos, aber ich wollte doch etwas tun. Und ich ging dann hin und half wenigstens beim Essenverteilen und kam mit den Leuten ins Gespräch und wollte ihnen so menschlich etwas näher kommen. Ich ging dann öfter dahin und besuchte diese Menschen.“ (Rode/Bartmann 1988) Hier begegnet uns schon der Blick einer frühen Pionierin der Caritas-Konferenz16 am Ort, doch am Anfang steht das Mitgefühl, das sich von den Leiden der anderen unmittelbar berühren und dann zur tätigen Solidarität antreiben lässt. In vielen Einzelfällen kann Irmgard Rode durchaus ganz praktisch helfen. Zwei junge Schlesierinnen kommen als Kindergärtnerinnen unter in der von ihr initiierten Einrichtung. Ein elternloser Junge aus Schlesien wird von ihr angetrieben, allen Widrigkeiten zum Trotz das Gymnasium zu besuchen (und kann später Studienrat werden).

Sehr bedeutsam ist für Irmgard Rode, dass inmitten des Flüchtlingselends eine heimatliche Kultur gelebt werden kann und dies den Kontakt zu anderen ermöglicht. Sie selbst fühlt sich sehr angesprochen von den Gaben der Schlesier: „Die hatten ihre guten, schönen Lieder; sie hatten ihre besondere Mundart; sie waren musikalisch, die Leute; sie hatten ihre Erzählungen, ihre Gedichte, ihre Poesie, und sie waren begabt in dieser Hinsicht.“ (Rode/Bartmann 1988) Die gemeinschaftlichen Heimatabende werden nicht einfach nur aus Nächstenliebe für die Flüchtlinge organisiert, sondern I. Rode sieht sich selbst durch Begegnung und Austausch mit Freude beschenkt. Es geht ihr um menschliche Beziehungen, nicht um versteckte Machtausübung durch Fürsorge. – Das kulturelle Engagement in der frühen Nachkriegszeit ist bezeugt: „Seit 1946/47 bestand in Meschede eine Volkstanzgruppe für Jugendliche, junge Frauen und Männer. Gründerin und Leiterin war Irmgard Rode, die über mehrere Jahre von Paula Wiesneth und Erich Mittag in der Leitung unterstützt wurde. [...] Das reichte Frau Rode aber noch nicht in ihrem Engagement für die Jugend und für Frieden und Völkerverständigung. 1950 gründete sie mit Horst Esser eine Laienspielgruppe, der ca. 15 Mädchen und Jungen angehörten. [...] 1951 rief Frau Rode mit Hans Wiesneth einen gemischten Chor ins Leben.“ (Deitelhoff/Hüser 2005) Möglicherweise aufgrund der Prägungen im Elternhaus zeigt Irmgard Rode eine – durchaus konservative – Vorliebe für „volkstümliche Kultur“. Dies dient jedoch gerade nicht – wie in rechten „Heimatszenen“ – der Ausgrenzung. Die leutenahe Folklore wird von ihr vielmehr als ein Medium zum Brückenbau zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft begriffen. (Später zeigt sich dann auch in der internationalen Begegnungsarbeit der Meschederin, dass das jeweils „Regionale“ für die Bewohner von Landschaften überall auf dem Globus bedeutsam ist und dann für Menschen, die in ganz anderen Kulturen geprägt worden sind, das Kennenlernen auf schöne Weise beflügeln kann. Heute sagen wir für ein solches Konzept: „global-lokal“.)

Im Rückblick erscheint die Integration von Vertriebenen im Sauerland als ein Erfolgskapitel. Doch direkt nach 1945 sind Anteilnahme und praktische Solidarität keineswegs immer eine Selbstverständlichkeit: Die Stadt Meschede ist zum Großteil ausgebombt, und die Einwohner leiden selbst unter Nahrungsmittelknappheit. Irmgard Rode stößt bei ihrer Suche nach Verbündeten im Einzelfall sogar auf rassistische Vorbehalte. Darüber hat sie später Folgendes mitgeteilt: „Natürlich lebte [...] manches von dem Nazi-Gut noch auf in unserer Umgebung. Ich war einmal ganz erschüttert [...], als mir ein einflussreicher Mensch sagte, den ich bat, mir doch zu helfen, den Leuten Arbeit zu verschaffen, er sagte: ‚Hier müssen wir ganz vorsichtig sein, wenn Menschen aus anderer Umgebung zu uns kommen. Wir müssen so aufpassen, ob sie auch arisch sind. Passen Sie gut auf. Sehen Sie mal, da sind auch einige, die dunkelhaarig sind, und da müssen wir vorsichtig sein. Das geht nicht. Die arische Herkunft ist uns äußerst wichtig.‘ “ (Rode/Bartmann 1988) Nur wenige nahmen so sensibel wie Irmgard Rode wahr, dass der Faschismus mit seinem Gift im Alltag noch lange wirksam war.

Familie Rode mit weiteren Kindern und Jugendlichen auf einer SGV-Fahrt nach Scharfenberg (1952)

5. COVENTRY UND DIE „FREUNDE DER VÖLKERBEGEGNUNGIM SAUERLAND

In einer 2000 erschienenen Darstellung der Frauengeschichtswerkstatt Meschede wird das Beispiel der frühen Stadträtin Irmgard Rode, die sich zunächst wohl der neugegründeten CDU verbunden fühlte, als seltene Ausnahme gewürdigt: „Ihr ungewöhnliches Engagement bewirkte auch, dass sie als einzige Frau im Frühjahr 1949 für eine Delegation des Landes Nordrhein-Westfalen ausgewählt wurde, die in der für ihre intensive Selbstverwaltung bekannten Stadt Coventry die dortigen Formen der kommunalen Selbstverwaltung kennenlernen sollte. Die übrigen vier Mitglieder der Delegation waren Männer aus den verschiedensten Landesteilen Nordrhein-Westfalens, die alle mit der Demokratie in England vertraut gemacht werden sollten.“17

Irmgard Rode 1949 als einzige Frau unter nordrhein-westfälischen Kommunalpolitikern, die Coventry besuchen: in der zerstörten Kathedrale von Coventry [Coventry Evening Telegraph 1949].

Bei der Reise nach Coventry ging es um weitaus mehr als nur um den Erwerb von Selbstverwaltungskompetenzen. Im Rahmen der deutschen Bomben-Operation „Mondscheinsonate“ vom 14.11.1940 waren in der Stadt u.a. 40.000 Wohnungen, drei Viertel der Industrieanlagen und ungezählte Kulturdenkmäler, darunter die Kathedrale, zerstört worden. Trotz dieses unvorstellbaren Terrorangriffs mit fast 600 Toten und tausend Verwundeten hatte der damalige Domdekan Richard Howard in einer Weihnachtsmesse zur Versöhnung – fernab von Hass- und Rachegedanken aufgerufen (berühmt ist die Aufschrift am Kreuz in den Ruinen der Kathedrale: „Vater, vergib“). Weitere deutsche Luftangriffe mit Hunderten Toten in der Stadt erfolgten im April 1941 und August 1942. – Nach ihrer Rückkehr von der Reise hat Irmgard Rode „am 12. März 1949 einen Artikel über die Erfahrungen des Besuchs in England veröffentlicht und die herzliche Gastfreundschaft der Stadt, die von den deutschen Luftangriffen im 2. Weltkrieg stark betroffen war, hervorgehoben. Sie schloß Freundschaft mit einer Vertreterin der Stadt Coventry. Daraus entwickelte sich eine langjährig gepflegte Schülerpartnerschaft zwischen Coventry und Meschede, die schließlich auch zu der Namensgebung für die heutige Coventry-Brücke führte.“ (Frauengeschichtswerkstatt 2000, S. 133) Das Schlüsselerlebnis von 1949, so Irmgard Rode: „Die Engländer haben uns, ihre alten Feinde, als Freunde behandelt.“ (Westfalenpost 1986a) Unter diesem Vorzeichen „lernte sie Miss Barnes und Dr. William Rose aus Coventry kennen, die zu den Gründern des ‚Comitee for International Understanding‘ gehörten. Es folgten viele freundschaftliche Begegnungen in Coventry und Meschede“ (Westfälische Rundschau 1981b).

Aus Sicht einer Engländerin beschreibt Conny Hardie den Beginn der Kontakte zwischen Coventry und Meschede in einem ca. 1987 entstandenen Text so: „Die Wurzeln reichen viel weiter zurück in die späten 1940er, als eine kleine nette Frau, ärmlich im Äußeren als Folge des Krieges, uns besuchen kam. Wir haben damals noch nicht begriffen, dass wir in Frau Irmgard Rode unerwartet einen Engel zu Gast hatten. Eine Frau mit unerschütterlichem Geist und dem brennenden Wunsch, die Vergangenheit auszulöschen und eine neue Zukunft zu bauen. Ihr Werk dauert fort trotz zunehmenden Alters und schwacher Gesundheit, und wir danken Gott für das, was sie vollendet [vollbracht] hat.“ (Hardie 2005)

Eine zuverlässige Chronologie der frühen Besuche und Gegenbesuche konnte ich anhand der mir vorliegenden Quellen nicht ermitteln. Doris Deitelhoff schreibt: „1956 kam eine Jugendgruppe aus Coventry nach Meschede. Frau Rode brachte 27 englische Mädchen und Jungen in Gastfamilien unter und erstellte mit ihren Helferinnen und Helfern ein Programm für diese Besuchswoche. Nun gab es in unregelmäßigen Abständen Begegnungen zwischen Jugendlichen aus Meschede und Coventry, aber auch Fahrten nach Frankreich, Polen und Amerika [...]“ (Deitelhoff/Hüser 2005). Bezeichnender Weise enthält der schon genannte Bericht von Conny Hardie wieder einen Hinweis auf die Bedeutung von folkloristischen Darbietungen für die Völkerbegegnung: „Wir hatten Frau Rode und ihre Jugendgruppe 1960 zu Gast, und von dieser Zeit an begannen wir, einen Gegenbesuch zu planen. Mary Barnes, Dorothy Higgs und ich trafen uns zu Beginn des Jahres 1961 um zu überlegen, ob eine Fahrt nach Meschede möglich wäre. Wir [...] begannen mit ungefähr 27 Personen Sonntagnachmittags im Hause von Dr. und Frau Cabon mehrstimmige Lieder einzuüben. Mittwochabends trafen sich junge Mädchen in einer Aula in Kenilworth, um Volkstänze einzustudieren. [...] der Empfang war überwältigend. Es folgten zehn phantastische Tage, die wir niemals vergessen werden. Man könnte es sogar als Sensation bezeichnen, denn der Aufenthalt war der Beginn einer neuen Freundschaft [...]. Die Mescheder öffneten uns ihre Häuser, organisierten einen Empfang beim Bürgermeister der Stadt Meschede und boten Bankett, Tanz und Diashow im lutherischen Jugendzentrum. Wir unterhielten sie mit den vorbereiteten Gesang- und Tanzdarbietungen, wozu die Mädchen blaue Röcke, weiße Blusen und rot-weiß-blaue Schärpen trugen.“ (Hardie 2005)

Irmgard Rode war ab 1949 entscheidende Impulsgeberin für Mescheder Initiativen und Aktivitäten im Dienste internationaler Verständigung: „Es begann mit dem Jugendaustausch nach Coventry / England; in den 60er Jahren kamen die Kontakte nach Le Puy und Vannes / Bretagne hinzu.“ (Westfalenpost 1987) Einen freundschaftlichen Kontakt gibt es mit dem französischen Behindertenheim Montebourg (Manche) an der Nordküste Frankreichs (Rode 1981). Seit dem 30. Oktober 1965 besteht eine offizielle Städtepartnerschaft zwischen Meschede und Le Puy.

Am 1. Dezember 1968 gründet Irmgard Rode dann gemeinsam mit dem Velmeder Konrad Hengsbach18 (1914-2010), einem Bruder des konservativen Ruhrbischofs Kardinal Franz Hengsbach, das bis heute bestehende Friedenswerk „Freunde der Völkerbegegnung“ (FdV); es zählt ein gutes Jahrzehnt später über 500 Mitglieder (Westfälische Rundschau 1981b). Vorausgegangen waren viele Gespräche mit mutmaßlich Gleichgesinnten und ein Presseaufruf (Hengsbach 2008).

Irmgard Rode mit jungen Menschen in London – 1960er Jahre

Zur Vereinsvorgeschichte gehören die schon genannten Aktivitäten eines Arbeitskreises (Rode 1981):

Der Verein wurde kurz nach dem Krieg ins Leben gerufen, zunächst als „Internationaler Arbeitskreis“, der Austausch- und Kontaktfahrten in die Nachbarländer unternahm. Zunächst stand die Bevölkerung diesen Fahrten zögernd und misstrauisch gegenüber. Aber nach und nach wuchs das Interesse und das Vertrauen, und so gab es ab 1950 regelmäßige Austausch- und Jugendfahrten in andere Länder. Durch die ehrenamtliche Organisationstätigkeit hielten sich die Preise in Grenzen und waren auch für Minderbemittelte erschwinglich.

Konfessionelle und politische Unabhängigkeit gehören von Anfang an zu den Vereinsprinzipien. Als weitere Orte der Völkerbegegnung werden in der Chronik neben dem englischen Coventry u.a. auch das US-amerikanische Coventry (Rhode Island), die polnische Hauptstadt Warschau und Petrosawodsk in Karelien (Russland) genannt (Westfälische Rundschau 1982a; Rode 1984; Hüser 2005).

Die FdV-Arbeit ist getragen von einem wachen Bewusstsein für eine dunkle Vergangenheit. 1981 veröffentlichen die Freunde der Völkerbegegnung z.B. einen Spendenaufruf, damit die aus Meschede wegen der Judenverfolgung nach Palästina geflüchtete Lore Hesse nach vier Jahrzehnten ihre Heimatstadt im Sauerland wiedersehen kann (Westfälische Rundschau 1981a).

Zur Geschichte und Wirkungsgeschichte der Mescheder FdV-Arbeit seien hier noch zwei Beispiele angeführt: Als 16-Jähriger nimmt der Olsberger Peter Liese (Jg. 1965) an einer Englandreise der FdV teil und wird in der Folgezeit Mitglied des Vereins: „Das Angebot der Internationalen Jugendbegegnung konnte er [...] vor allem dank der Initiative von Irmgard Rode, der Vereinsgründerin der Freunde der Völkerbegegnung, wahrnehmen.“ (Der Westen 2013) Als Europa-Abgeordneter betont CDU-Politiker Liese drei Jahrzehnte später auf dem 45-jährigen FdV-Jubiläum: „Es ist nicht selbstverständlich, dass wir in Frieden leben!“ (zit. Der Westen 2013; vgl. Liese 2008)

1986 berichtet die Mescheder Lokalpresse von einem „Kleinen Gipfel“ am Ruderclub (Westfalenpost 1986b): Zu den Gästen der „Freunde der Völkerbegegnung“ gehören fünf US-Amerikaner aus Rhode Island und „der sowjetische Professor Michail Firow aus Petrosawodsk (Karelien), der bereits zum dritten Mal in Meschede zu Besuch“ weilt. Mit einer Bildunterschrift beweist der Lokalredakteur, dass er die Symbolik des sauerländischen „Gipfels“ verstanden hat: „Wie Völkerverständigung – die ihren Staatschefs so schwer fällt – zustande kommen kann, demonstrierten der russische Professor Michail Firow und die [US-]Amerikanerin Betty Jimmo beim Begegnungsfest.“ – Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits weitreichende Abrüstungsangebote von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow vor, doch ein Vertrag zum Abbau der nuklearen Mittelstreckensysteme in Europa wurde erst am 8. Dezember des Folgejahres unterzeichnet.

Irmgard Rodes „Mitgliedskarte Internationale der Kriegsgegner“, ausgestellt am 1.1.1949. [Richtiges Geburtsdatum: 29.6.1911]

6. EINE OFFENE FAMILIE MIT SEHR VIELEN KINDERN