1971 (2)


 

Ein Jahr im Leben eines aus politischen Gründen verurteilten ostdeutschen Menschen in einer Welt, in der wir letzten Endes alle Gefangene sind, unter dem Aspekt der Allgegenwart der Vergangenheit, die in jedem Punkt gleichzeitig unsere Zukunft ist.

Bernd Kaczmarek



Ein kleiner Junge läuft über eine Brücke. In seiner rechten Hand hält er eine Deutschlandfahne,
die über seinem Kopf hin und her schwingt. 1989. Wiedervereinigung. Ich weiß noch immer nicht, ob
uns das geholfen hat, uns Deutschen. Die Welt hat sich gewaltig verändert. Wo ist der Geist der

"Aufklärung" geblieben? Wo sind reale zukunftsweisende Visionen? Im Zuge dieser
Wiedervereinigung ist die "Sowjetunion" zerfallen. Der "Warschauer Pakt" hat sich aufgelöst.
Russland ist als alleinige große Militärmacht davon übrig geblieben. Das Kräfteverhältnis in der Welt
hat sich verändert. Einige Staaten des einst östlichen Militärbündnisses sind der "NATO" beigetreten.
China als neuer "Global Player" liegt weit weg von uns entfernt. Ich glaube, niemand von uns
Europäern kann ernsthaft behaupten, den chinesischen Geist deuten zu können. Würde es zu einem
neuen globalen militärischen Konflikt kommen, müsste sich meines Erachtens nach Europa ernsthaft
überlegen, mit den Russen zusammen zu gehen, denn das Amerika des Herrn "Trump" weiß oft nicht
was es will. Mal ist die "NATO" überflüssig, mal nicht. Ob sich Russland in einem solchen Fall
überhaupt der Europäer annehmen würde, oder sie nicht doch zu Gegnern erklärte, sei dahingestellt. Eigentlich auch gar nicht mein Thema, aber so meine ungefilterten Gedanken. Das ostdeutsche
"1971" kriecht durch die Zeit mit seinen Hunden und Häftlingen in dunklen Gemäuern und Zellen und
seinem Gebaren um Ewigkeit, in unauslöschlichem Glauben an den immer währenden "Sozialismus",
dessen schwarz-rot-goldene Farben im Mittelpunkt von "Hammer und Sichel" getragen werden. Wo
gehen wir hin? Wo kommen wir her? Niemand kann das beantworten. Sind wir Kinder der Sonne,
oder einfach des Lichts? Ist da draußen in den unendlichen Weiten des Alls jemand, der uns kennt?
Ein guter Freund sagte einmal zu mir: “Guck nicht nach draußen, sieh nach innen! Dort findest Du die Antworten auf Deine Fragen!" ( Zit. H.F.Müller )


WIR STAPFEN wie in einer Endlos-Schleife gefangen durch den Schnee zur Arbeitsbaracke, dann
durch einen schmalen Treppengang hinauf an die Holzbänke, wo schon die Aluminiumgehäuse auf uns warten und dann zurück zum Haupthaus.

"Was machen wir hier?"

"Du siehst doch, entgraten!"

"Ist wohl unsere Bestimmung."

"Erst mal, ja. Sonst gibt es für uns keinen Einkauf!"

"Keinen Tabak!"

"Keinen Tabak!"

"Und was machen die mit unseren entgrateten Gehäusen?"

"Verkaufen!"

"Wohin verkaufen?"

"Devisen!"

"Für den Kram?"

"Handarbeit!"

"Kann doch keiner sehen im Fotoapparat!"

"Schreiben sie drauf. "Hand made"!"

"Ruhe! Hier wird nicht geredet!"

leise:"Hand made!"

"...der doch nicht!"


Die Nacht sinkt hernieder.

Weiß ist sie unter einem im Sternenglanz strahlenden Firmament. Weit
weg sind wir hier von all den Dingen des früheren Alltags. Keine Briefe. Kein Einkaufsnetz. Nicht dasSummen der Motoren im Kopf, die wie aus weiter Ferne am Fenster vorbeifahren. Nicht den Lärm
der Stille nach überstandenen Streitigkeiten mit der Liebsten. Nicht das Gezeter der Nachbarn um
Bratwurstgerüche aus dem Hinterhof. Nicht das Knistern der Zeitung auf dem morgendlichen Tisch.
Nicht die Barackenkämpfe um Rohre im Haus. Nicht die Segmente einer zerlegten Zukunft. Nicht das
Wedeln mit den Schwänzen dahertrottender Hunde. Nicht das Gebell der alten Jungfer von
gegenüber. Nicht das Flüstern der Bäume im angrenzenden Park meines einstigen Zuhauses. Nicht
das Wispern der Blätter, im Himmel geparkt, als ewiges Rauschen göttlicher Sinne, erhoben zum
Zepter einer sich vor ihnen verneigenden "Krone". Nicht das blaue Licht dunkel schimmernder
Zikaden. Nicht die Augen der Nacht in grüner Seligkeit. Nicht das Raubtier auf der Suche nach Beute.
Nicht das Wimmern der Stadtbahnen in den Gleiskurven. Nicht das Glas zerborstener Flaschen auf
dem Gehweg. Nicht die Sucht nach Erfolg gebrochenen Willens. Nicht der Ton ohne Wiederkehr, als
in Unendlichkeit versunken und entstanden unter all der Kraft eines sich niemals bezwingen
lassenden Geistes, als dem Weg der Maßlosigkeit folgend und dem enormen Werk nie erfahrener,
nie geschriebener Gedanken, nie gedachten Zieles und des einen Glückes,... zu gefallen.


Das Stapelbett knarrt, wenn ich mich in ihm bewege. Die dünnen Decken wärmen nicht. Aber es
ist nicht nur die Kälte der Nacht, die mich durchdringt, es ist vielmehr der Kampf ums Überleben, der
kalt durch jede Sekunde zieht und jeden Schritt als befohlen immer in dieselbe falsche Richtung
lenkt. Der Körper ist in der Unruhe des Geistes gefangen und kann sich nicht in Entspannung
auflösen. Der Weg durch die Nacht wird oft von Traumlosigkeit geführt und bringt im Erwachen den
Schrecken des Gegenwärtigen zum Vorschein. Erinnerungen an alte Madonnenbilder werden wach,
deren gefaltete Hände vor einem niedergeknieten Körper Treue und Demut verkünden. Der schnelle
Gedanke als Blitz in der Welt, wandelt in jedem Augenblick das Unvermeidliche zu einer machbaren
Vergangenheit. Noch bevor ich den Schritt setze, hat sich dieser zu Virtualität verändert und zeigt im
Spiegel des Vergessens eine Landschaft aus Gras und Zweigen, kleine Büsche zwischen
ausgetretenen Pfaden, dessen Spuren nie eine Richtung haben und dennoch immer ein "Weiter so!"
apostrophieren. Gegen-Läufer sind nicht angezeigt. Keine Begegnung der "3. Art". Keine
Wellenschwimmer auf dem Trockenen. Einfach nur Spuren, die ins Vergessen führen und aus
selbigem entstanden sind.


Das Licht geht an.