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LACHEN

 

Kurzgeschichten

 

 

Sechs poetische Stimmen

Nach einer Themenidee von Michael Köhlmeier

Herausgegeben von Rafik Schami

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage März 2020)

 

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © Mark Owen / Trevillion Images

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0156-5

 

Inhalt

Ein Wort zum Abschied

Michael Köhlmeier – Drei Geschichten

Nataša Dragnić – Die Reise nach Indien

Rafik Schami – Vier Geschichten

Monika Helfer – Es ist alles nicht so einfach

Franz Hohler – Das verlorene Lachen

Root Leeb – Rausch und Poesie des Lachens

Nachwort des Herausgebers

Anmerkungen

Die Autorinnen und Autoren

 

Ein Wort zum Abschied

Lachen ist der letzte Band der Reihe »Sechs Sterne«. Ein Gefühl der Freude umgarnt mein Herz. Am Anfang stand eine Idee: die Idee, die Kunst der Kurzgeschichte literarisch zu verteidigen. Ich habe nicht zu träumen gewagt, dass drei Kolleginnen und zwei Kollegen mit mir den Weg sechs Jahre lang gehen würden. Sie haben es aber getan! Darauf werde ich mein Leben lang stolz sein. Root Leeb, Monika Helfer, Nataša Dragnic´, Michael Köhlmeier und Franz Hohler schrieben mit mir an diesem Experiment.

So entstanden sechs wunderbare Themenbände aus sechs ganz verschiedenen Zugangsweisen und Klangfarben, die auf unseren Unterschieden in Alter, Geschlecht, geografischer Verbundenheit und Sprache beruhen.

Jeweils eine(r) von uns schlug ein Thema vor, und alle schrieben Kurzgeschichten darüber. Meine Aufgabe als Herausgeber war es, die eigens dazu verfassten Texte zu sammeln und zu jedem Thema ein Nachwort zu schreiben.
Wir wollten keine Anthologien produzieren. Anthologien gibt es mehr als genug. Wir wollten etwas literarisch Einzigartiges schaffen, wollten zu einem Thema alle möglichen Spielvarianten erzählend erkunden. Franz Hohler machte den Anfang mit
Reisen. Ihm folgte Nataša Dragnic´ mit Tiere. Dann kam ich an die Reihe mit Geburtstag. Der Vorschlag von Monika Helfer lautete Sehnsucht. Auf den Impuls von Root Leeb hin widmeten wir uns dem Geheimnis. Und nun schließt Michael Köhlmeier die Reihe mit Lachen ab.

Der Verlag ließ die Bücher durch die liebevolle Gestaltung und edle Ausstattung zu einer Augenweide werden.
Ich danke allen Beteiligten für ihre Unterstützung.

 

Rafik Schami, Frühjahr 2020

 

Michael Köhlmeier – Drei Geschichten

 

Das Kasmandl

Das Kasmandl ist klein und breit und hat eine Joppe an, die ist klein und breit und schwer, und hat eine Hose an, die ist klein und breit und schwer und grob, und hat Schuhe an, die sind klein und breit und schwer und grob und hart wie Buchenholz. Das Kasmandl braucht ein ganzes Jahr, um drei Wörter zu lernen, und nach drei Jahren vergisst es wieder ein Wort, dafür lernt es im nächsten Jahr vier Wörter dazu, und nach vier Jahren vergisst es ein halbes, und dann lernt es fünf Wörter, und nach fünf Jahren vergisst es das Viertel eines Wortes. Und so geht das weiter. Das Kasmandl ist mehr als hundert Jahre alt; jetzt kann man sich ausrechnen, wie viele Wörter es reden kann.

Manchmal kommt das Kasmandl ins Tal herunter und stellt sich am frühen Morgen vor die Tür eines Hauses und wartet, bis die Tür aufgemacht wird von innen und ein Mensch dasteht, der fragt, was es will. Dann sagt das Kasmandl:

 

Will ein Biss

Will Brot, weil Not

 

Wenn man ihm dann nur einen Ronken Brot gibt und sonst nichts dazu, dann sagt es:

 

Gut für Bauch

Will Milch auch

 

Wenn ein Mensch aber besonders freigebig ist und Brot, Milch, Butter, ein Rad Schinken und eine Banane rausrückt, dann neigt das Kasmandl seinen eisgrauen Kopf, sodass der Bart bis weit über das Bäuchlein hängt, und sagt:

 

Essen gut

Brauch noch Hut

 

Und wenn der Mensch dann empört ist und dem Kasmandl vorwirft, dass man nicht immer nur fordern soll, dass man auch einmal dankbar sein muss, dann wirft das Kasmandl alles von sich, was es geschenkt bekommen hat, und ruft aus:

 

Böse, du

Nimmer Ruh

 

Und läuft davon. Der Mensch aber hat von da an keine Ruh mehr in seinem Leben, keine Nacht schläft er mehr durch, und wenn er sitzt, denkt er ans Gehen, und wenn er geht, denkt er ans Liegen, und wenn er liegt, denkt er ans Stehen. Bis er sich zuletzt an einem Baum womöglich aufhängt.

 

Da war einmal ein Jäger, der schoss zur Winterszeit hoch oben in den Bergen eine Gams, eine junge dazu, und weil er schon so lange auf den Beinen war, ohne dass er etwas zwischen die Zähne gekriegt hatte, dachte er bei sich: Wenn ich diese herrliche junge Gams ins Tal hinunterschleppe, was sicher fünf Stunden dauert, dann kommt womöglich von hinten ein Fuchs angeschlichen und beißt mir Stück für Stück von der zarten jungen Beute herunter, ohne dass ich es merke, und wenn ich unten ankomme, sind nur noch die Kutteln und die Flachsen übrig. Wenn aber, angenommen, der Fuchs nicht kommt und auch sonst niemand und ich die Beute heil ins Tal bringe, dann tut mir erstens der Buckel weh, zweitens bin ich so müde, dass ich mich hinlegen muss, was die Kollegen ausnutzen werden, um mir die zartesten Brocken vor der Nase wegzuessen.

Deshalb beschloss der Jäger, in einer verlassenen Almhütte Rast zu machen und sich einen Festbraten zu gönnen. Sicher, so dachte er, hat der Senn, als er im November die Hütte verließ, ein paar Zwiebeln zurückgelassen und auch einen Laib Brot und ein paar Kartoffeln.

Und so war’s auch.

Das war eine schöne Hütte, eine gemütliche Hütte! Da lag auch Brennholz, und gar nicht wenig. Draußen fiel der Schnee in handtellergroßen Flocken vom Himmel, bis zum Gürtel war der Jäger eingesunken, seine Beinkleider waren durchnässt und seine Hände klamm, und ihm war kalt bis hinein in die Knochen. Da machte er sich im Herd ein Feuer an und rieb darüber die Hände. Er griff in seinen Hosensack und holte ein Schnapsfläschchen heraus und trank und war glücklich.

Dann brach er mit seinem Messer die Gams auf, nahm die Leber heraus, freilich waren da Zwiebeln, freilich auch Brot und Kartoffeln, sogar Salz, und warf alles miteinander in die Pfanne, und die stellte er auf den Herd, und bald begann es zu prasseln und zu duften.

»Ich bin glücklich!«, rief der Jäger in die Hütte hinein, die inzwischen so bullig warm war, dass kein Lebewesen der Welt lieber im Schloss des Königs gewesen wäre als hier. »Ich bin glücklich!«

Da hörte er hinter dem Ofen ein Rascheln. Da war nämlich eine Kiste, in der lag Stroh, wie man es braucht, wenn man den Boden sauber halten will.

»Was raschelt da?«, fragte der Jäger. Aber er griff nicht zu seiner Flinte. So gut gelaunt war er, dass er in niemandem einen Feind sah, wär’s auch der Teufel selber gewesen.

Aus dem Stroh krabbelte das Kasmandl. Es hatte hier Unterschlupf gefunden im Winter. Es sah den Jäger an mit seinen eisgrauen Augen und schnupperte und sagte:

 

Gut schmeck

Will leck

 

»Bist herzlich eingeladen!«, sagte der Jäger, und weil er einen Spaß machen wollte, fügte er hinzu: »Und wenn du noch einen Wein und einen Käs hast, dann haben wir’s besser als der König.«

Das Kasmandl verschwand kurz unter dem Stroh, gleich war es wieder da. In der einen Hand hielt es eine Weinflasche, in der anderen einen Teller mit Käse, und es lachte und tanzte und sang dazu:

 

Käs ist räß

Wein ist fein

Zwiebel scharf

Essen darf

 

Das Kasmandl übernahm Kochlöffel, Töpfe und Pfannen und hantierte, der Jäger legte sich zu einem kleinen Schläfchen aufs Ohr und genoss die Gerüche und ließ sie in seine Träume hineinwehen.

Und dann gab’s ein Festessen: Gamsleber, mit Zwiebeln angebraten, dazu Rösti und in Fett geröstete Brotbröcklein, mit Käse überbacken, und Wein, erst eine Flasche, dann eine zweite, das Kasmandl verschwand und kam zurück und hatte eine dritte.

Und als sie gegessen und getrunken hatten und am Boden lagen, weil ihre Bäuche es so verlangten, da sagte der Jäger: »Jetzt fehlt mir eigentlich nur noch ein Pfeifchen Tabak.«

Und schon verschwand das Kasmandl, und schon war es wieder da, und in jeder Hand hielt es eine Tabakspfeife, eine für den Jäger, eine für sich selber.

Einen schöneren Abend, das musste sich der Jäger eingestehen, hatte er noch nie erlebt.

»Was kann ich Gutes für dich tun?«, fragte er das Kasmandl. »Dir verdanke ich den schönsten Abend meines Lebens, die Gams hat besser geschmeckt, als sie im feinsten Restaurant der feinsten Stadt schmecken würde, die Rösti waren auf dem Punkt, die Brotbröcklein mit dem geschmolzenen Käse ein Gedicht, und der Wein stellt den besten Italiener in den Schatten. Und zuletzt der Tabak, edelster Virginia! Was kann ich Gutes für dich tun?«

Das Kasmandl lachte unter seinem eisgrauen Bart über sein ganzes eisgraues Gesicht, und leise begann es zu singen:

 

Hässlich klein

Freund will sein

Im Herzen drin

Bei dir ich bin

Bin hässlich klein

Doch Freund will sein

 

»Ich verspreche dir«, sagte der Jäger, »ich werde jedes Jahr um diese Zeit hierherkommen und eine Gams mitbringen, eine junge, zarte, und wir beide werden uns einen schönen Abend machen, und ich werde alles mit dir teilen. Das schwör ich!«

 

Ach, könnt ihr euch denken, wie es ausging? Warum kann nicht einmal etwas gut ausgehen? Oder überhaupt nicht ausgehen? Einfach so weitergehen?

Eine Zeit ging es auch so weiter. Jedes Jahr kam der Jäger mit einer Gams, und das Kasmandl kochte und briet und zauberte Wein herbei, so gut, wie er nicht einmal im Keller des Königs gelagert wurde, und sie verbrachten ihren schönen Abend und schmauchten zuletzt ihr Pfeifchen. Aber dann verliebte sich der Jäger und verlobte sich. Sie war eine Jägerin, was das Verlieben und Verloben natürlich erleichterte, weil ein Riesenhaufen gleicher Interessen da war, gute Schützen waren sie beide, er nicht besser als sie, sie nicht besser als er, sodass kein Streit zwischen ihnen aufkam. Er mochte an ihr, dass sie so weich war. Sie mochte an ihm, dass er ein warmes Herz hatte.

Und dann, eines Tages im Winter, sagte der Jäger zu seiner geliebten Verlobten: »Du, ich habe eine Überraschung für dich.« Und damit meinte er: die Almhütte und das Kasmandl und ein unübertreffliches Menü und einen Spitzenwein und hinterher ein Pfeifchen.

Die Jägerin – das braucht nicht erwähnt zu werden, ich tu’s trotzdem, der Form halber – war natürlich sehr schön. Und das Kasmandl hat sich in sie verschaut. Das war abzusehen. Daran hat der Jäger aber vor lauter Verliebtheit nicht gedacht. Das Kasmandl sagte:

 

Frau so viel schön

Soll mit mir gehn

 

Da lachten der Jäger und die Jägerin. Sie lachten und konnten nicht mehr damit aufhören, sie lachten und lachten aus, sie lachten das Kasmandl aus.

Das Kasmandl sagte:

 

Hast geschworen

Sonst Freund verloren

 

Da lachte der Jäger noch lauter: »Ich kann dir doch nicht meine Verlobte geben! Sie ist eine schöne Frau, du bist ein hässlicher Zwerg!«

Das Kasmandl aber sagte:

 

Hast versprochen

Hast gebrochen

 

Und sie lachten das Kasmandl aus, der Jäger und die Jägerin, und das Kasmandl merkte sehr wohl, dass es ausgelacht wurde, und es rief:

 

Wer mich lacht

Zu Stein gemacht

 

Da waren der Jäger und die Jägerin zu Stein gemacht, und der Stein war hart und kalt. Und der Stein sah aus, als hätte er zwei Gesichter, und in den Gesichtern die Münder, die standen offen, weit offen, wie Münder eben offen stehen, wenn gelacht wird. Nur dass ein Stein nicht lachen kann.

Das Kasmandl aber war sehr betrübt, und es sang:

 

Nix mehr han

Selber tan

Nix mehr han

Selber tan

 

Dann ging es fort, das Kasmandl, das kleine und breite mit der Joppe, der kleinen und breiten und schweren, und der Hose, der kleinen und breiten und schweren und groben, und den Schuhen, den kleinen und breiten und schweren und groben, die hart waren wie Buchenholz.

 

Der Joker

Es war einmal ein Vater, der war ein Trinker und ein Unhold, er war Jacks Vater, und er war ein böser Mann. Alle Männer in Jacks Familie waren böse, so weit zurück man sich auch erinnern mochte. Die Frauen aber waren still und hatten Angst und verwandelten sich eine nach der anderen in Vögel, in Käfer, in Libellen und Mückenschwärme.

Als Jack vier Jahre alt war, hat der Vater die Mutter mit einem Messer getötet, und sie verwandelte sich nicht. Jack hat zugesehen und hat gewartet, dass seine Mutter sich verwandle und ihn mit sich nehme. Er wollte nicht allein sein mit dem Vater, nein, das wollte er nicht.

Der Vater ging, nachdem er gemordet hatte, in die Stadt, weil er noch dies und das zu erledigen hatte, und kam nach einer Stunde oder zwei Stunden wieder, und als er den kleinen Jack sah, der immer noch neben seiner toten Mutter hockte und wartete, dass sie sich verwandle und ihn mitnehme, und weinte und auf die Augen seiner Mutter spuckte, damit sie sich wieder öffnen sollten, da sagte der Vater:

»Was spuckst du auf die toten Augen deiner Mami, Jacky? Davon wird sie nicht lebendig.«

»Ich will es wenigstens versuchen«, sagte Jack.

»Man soll nicht etwas versuchen wollen, das nicht funktioniert, Jack. Das nimm dir als Lehre mit in dein Leben. Und jetzt lächle, Jacky!«

»Papa, ich kann doch nicht lächeln«, schluchzte Jack.

»Versuch es, Jacky, versuch es!«

»Man soll nicht etwas versuchen, das nicht funktionieren kann, Papa. Das hast du doch gesagt«, sagte Jack und weinte.

»Warum denn so ernst, Jacky?«, spottete der Vater. »Lächle mich an, ich bin dein Vater.«

»Aber, Papa, die Mama ist tot, da kann ich nicht lächeln.«

»Aber ich, ich lebe, lächle, Jacky, lächle!«

Das konnte Jack aber nicht. Es ging einfach nicht. Seine Backen waren nicht auseinanderzubringen. Und der Mund war nicht auseinanderzubringen. Und wenn das nicht geht, dann geht Lächeln nicht. Und Lachen schon gar nicht. Nur spucken, das geht. Auf die Augen der Mama spucken geht.

Der Vater sagte wieder, und nun schrie er, so laut schrie er, dass alle Vögel ringsum aufflogen: »Du sollst nicht spucken, Jack! Dein Lächeln zeigen sollst du mir! Das würde ich so gern sehen.«

Aber genau das konnte Jack nicht.

Und weiter schrie der Vater und begann nun gar zu singen und zu tanzen: »Dein Lächeln will ich seh’n, Jacky! Will ich seh’n, will ich seh’n, will ich seh’n, seh’n, seh’n!«

Aber Jacky konnte nicht lächeln, zu traurig war er. Da zog der Vater abermals das Messer aus dem Gürtel und sagte: »Zaubern wir ein Lächeln auf dieses Gesicht!«, und schnitt seinem Söhnchen ein Lächeln ins Gesicht, weil er sich ein Lächeln in diesem Gesicht doch so sehr wünschte. Er schnitt tief in beide Backen hinein bis unter die Ohren hinauf. Nun war es kein Lächeln, nun war es ein Lachen.

Jetzt lachte Jack, auch wenn er weinte, und er würde lachen, bis zu seinem Tod.

Als Jack groß war, wurde er ein böser Mann. Wie alle Männer in seiner Familie wurde auch er ein böser Mann. Er machte Purzelbäume und übte Flanken über parkende Autos, er färbte sich die Haare grün und schminkte sich das Gesicht weiß und malte sich den Mund rot. Der Mund reichte von einem Ohr zum anderen. Und die Menschen dachten: Wie kann einer so böse sein, der doch so breit lacht? Geht das?, fragten sie sich. Und sie sagten: Es geht, es geht, es geht, geht, geht.

Die Haut und die Haare und das Fleisch seiner toten Mutter waren verdorrt und zerfallen zu kleinen Krümeln, die der Wind über die Stadt verteilte. Die Tauben hatten die Krümel aufgepickt, und sie flatterten über Jacks Kopf, und sie riefen auf ihn hinunter:

 

Gru-gru, gru-gru,

der Himmel macht zu,

der Joker lacht

in Kälte und Nacht,

sein Mund ist rot

bis hin zum Tod,

die Haare sind grün,

die Augen glüh’n,

die Hölle bist du,

gru-gru, gru-gru.

 

Jack sang gern ein Lied, wenn er Böses tat. Sein liebstes Lied war Cold, Cold Heart von dem amerikanischen Countrysänger Hank Williams, das sang er auch, als er einmal einen Revolver vom Boden auflas und auf den Mann zuging, der sein Feind war und der unbewaffnet war und an einen Laternenpfahl gefesselt. Er presste seine Stirn gegen die Stirn seines Feindes, und die Zuseher meinten, gleich wird er ihn erschießen. Er drückte die Mündung an die Schläfe des Feindes, aber dann drückte er sie an seine eigene Schläfe, und es machte nur Klick. Dabei sang er Cold, Cold Heart und lachte zwischen den Strophen, einmal auf »Hi-hi«, einmal auf »Ho-ho«, einmal auf »Ha-ha«, einmal auf »He-he«, aber er lachte auch, während er sang, weil er ja immer lachte, bis hinauf zu den Ohren.

Einmal sagte er: »Ich bin ein Hund, der Autos nachjagt. Ich wüsste gar nicht, was ich machen sollte, wenn ich eines erwische.«

Einmal hat ihn der Feind hochgehoben, er wollte ihn gegen eine Wand werfen, es war in einer Kirche, da hat Jack alle viere von sich gestreckt wie eine Marionette, wenn an den Fäden gezogen wird, und er hat sich vorgebeugt und dem Feind die Nase abgebissen und sie ihm in den Mund gespuckt, als er den Mund vor Schmerz aufriss.

Einmal saß Jack Gangstern gegenüber, und einer wollte ihm den Kopf abschlagen, und ein anderer sagte: »Nenn mir einen Grund, warum ich ihm verbieten sollte, dir den Kopf abzuschlagen!« Da sagte Jack: »Wie wäre es mit einem Zaubertrick?« Und er stellte einen Bleistift auf den Tisch, sodass er wie ein kleiner Obelisk war, und sagte: »Ich lasse diesen Bleistift verschwinden.« Da sprang einer der Gangster auf und wollte ihm etwas tun. Aber Jack war schneller, er packte den Mann am Genick und schlug seinen Kopf auf den Tisch, sodass der Bleistift in seinem Gesicht verschwand. »Der Bleistift ist verschwunden«, sagte er.

Einmal sagte er: »Alles, was einen nicht umbringt, macht einen komischer.«

Einmal sagte einer: »Du bist verrückt.« Da antwortete Jack: »Nein, bin ich nicht. Bin ich nicht.«

Einmal sagte er: »Das Chaos ist fair.«

Einmal sagte er: »Also!« Das sagte er von nun an immer, bevor er sich anschickte, Böses zu tun.

Die Tauben schissen die Krümel aus und flatterten über Jacks Kopf, und sie riefen:

 

Gru-gru, gru-gru,

die Hölle bist du,

der Joker lacht,

hat Elend gebracht,

die Schuld ist bezahlt,

sein Herz ist kalt,

der Himmel macht zu,

gru-gru, gru-gru.

 

Die Legende von Levi und dem Bettler

Levi war kein Mann von gutem Charakter, er war böse, unbarmherzig, grausam, plump. Levi war es, der dafür plädiert hatte, Josef, den Bruder, zu töten. Aus Eifersucht. Weil Josef der Liebling Jakobs war, des Vaters. Weil Josef seine Brüder immer wieder mit seiner Klugheit demütigte. Ruben dagegen war es, der die Brüder vom Mord abhielt und sie überredete, ihn in einen Brunnen zu werfen. Warum stammte Moses, der Erlöser Israels, nicht aus dem Stamme Ruben, sondern aus dem Stamme Levi? – Die Pläne Gottes sind unergründlich, wir können nicht wissen, was seine Motive sind. Was aber nicht heißt, dass man nicht suchen und forschen darf. Und so hat man gesucht und geforscht und eine Geschichte gefunden.

 

Als die große Hungersnot war, schickte Jakob seine Söhne nach Ägypten, um bei dem sagenhaften Vizekönig des Pharao Korn zu kaufen. Die Brüder wussten nicht, dass dieser Vizekönig ihr verschollener Bruder Josef war. Josef gab ihnen Getreide, aber er behielt einen von ihnen als Geisel, Schimeon, den steckte er ins Gefängnis, Levis Lieblingsbruder.

Als die Brüder wieder nach Hause kamen, quälte Levi die Sehnsucht nach Schimeon so sehr, dass er sein ganzes Hab und Gut, seine Kamele, Rinder, Ziegen, Schafe, seine Diener, seine Mägde, alles, was er besaß, verkaufte und eintauschte – gegen eine Perle, eine einzige Perle.

Es war jene Perle, die der Urvater Abraham ein Leben lang an einer Kette um den Hals getragen hatte. Als ihm Gott die Welt zeigte und den Himmel, als er mit ihm zwischen die Sterne geflogen war, da habe Abraham, im Vorbeiflug sozusagen, diese Perle mit der Hand aus dem Mond gebrochen. Wer in einer klaren Vollmondnacht genau hinschaut, der kann die Stelle sehen. Unvorstellbar wertvoll war diese Perle. Und sicher hat Levi den Besitzer übers Ohr gehauen, denn sie war hundertmal mehr wert als all seine Herden und sein ganzes Gesinde. Diese Perle wollte Levi nach Ägypten bringen und sie dem sagenhaften Vizekönig vor die Füße legen, damit er Schimeon ziehen lasse.

Levi machte sich allein auf den Weg, hatte nichts weiter bei sich als ein paar Brotfladen, ein Bündel Zwiebeln und einen Schlauch mit Wasser. Er ging zu Fuß, besaß kein Reittier mehr, hatte ja alles gegeben für die Perle. Die hatte er in seiner Tasche versorgt, eingeschlagen in ein Tuch. Als er in der Hauptstadt Ägyptens ankam, so heißt es, sei seine Seele bereits ein wenig geläutert gewesen, da sei er schon nicht mehr durch und durch der hartherzige, böse Levi gewesen. Die Wüste ist dem Einsamen eine Zuchtmeisterin.

Levi hatte gerade das Stadttor durchschritten, da sprach ihn ein Bettler an. Solche Bettler saßen zu Hunderten in der Stadt und streckten ihre Hände nach den Fremden aus, und nur wer noch nie in der Stadt gewesen war und ihre Bräuche nicht kannte, gab etwas, die anderen sagten sich: Freilich bin ich ein gütiger Mann, freilich gebe ich einem Bedürftigen, aber es sind so viele, ich müsste, um gerecht zu sein, allen etwas geben, aber das kann ich nicht, dafür bin ich nicht reich genug, aber bevor ich ungerecht bin, will ich lieber keinem etwas geben. Levi setzte sich neben den Bettler an die Mauer und teilte mit ihm sein Brot. Daraus schließen jene, die sich über das Leben des Stammvaters Levi ihre Gedanken machen, dass sein Herz sich bereits ein wenig erwärmt hatte.

Die beiden aßen und tranken, verzehrten Levis letztes Brot, verzehrten Levis letzte Zwiebeln.

Schließlich fragte der Bettler: »Was willst du hier in der Hauptstadt Ägyptens?«

»Ich will etwas Gutes tun«, antwortete Levi.

»Dein Blick ist nicht der eines Mannes, der schon viel Gutes in seinem Leben getan hat«, sagte der Bettler. »Deine Augenbrauen sind zusammengezogen, deine Stirn ist gefurcht, deine Mundwinkel deuten nach unten, du hast noch nicht ein Mal gelacht, und wir sitzen immerhin schon fast eine Stunde hier zusammen.«

Und weil es so angenehm war, im Schatten einer Hauswand zu sitzen und auf den Abend zu warten, und weil dieser Bettler einen so vertraulichen Ton in der Stimme hatte, dass man meinen konnte, er kenne einen schon lange und wundere sich über nichts und sehe einem alles nach, darum begann Levi zu erzählen.