Lieber unbekannter Sprayer,

ich hoffe du bist mir nicht böse, dass ich deinem Mädchen eine Stimme verliehen habe. Sie war Ausdruck meiner Verehrung. Es war schön mit der Stimme deines Mädchens zu sein. Ich bin glücklich. Ich hoffe, dass du in deiner Traurigkeit auch glücklich bist. Und falls du einsam bist dann denk an mich und sei einsam mit mir zusammen. Denn das ist es doch, was zählt im Leben. In der Einsamkeit nicht alleine zu sein.

CfFaust

Trauriges Mädchen

Streetart Stories

Sprayer: Unbekannt

Writer: CfFaust

Foto: CfFaust

Das traurige Mädchen 1

Hier steh ich nun. Alleine. Verlassen. Verlassen von dir. Nach fünf Jahren Zweisamkeit. Wir haben uns angeschrien, kurz bevor du dich umgedreht hast, und für immer verschwunden bist. Hier war es. Genau hier. Dabei wollten wir doch noch gemeinsam ins Theater gehen. Wir zwei. Zusammen. Ich hatte mir dafür extra mein neues Kleid angezogen. Ich hatte ja keine Ahnung, was in deinem Herzen schon so lange vor sich ging. Eine Trennung, von der ich nichts geahnt habe. Ich komme mir so blöd vor, wie ich nun hier stehe, so einsam, so allein, so bestellt und nicht abgeholt. Dabei hatte ich mich doch noch extra schick gemacht, zuvor, als ich von deinem Entschluss noch nichts wusste. Eine ganze Stunde hat es gedauert, meine Haare in Form zu bringen. In die Form, die du doch so gerne mochtest. Sie erinnert dich an Amy Winehouse. Das sagtest du einmal. Ehrlich gesagt, habe ich nie ganz verstanden, was du an ihr findest. Ich mochte sie nie wirklich leiden. Aber für dich war diese Frisur der Grund ihres Erfolges. So etwas Absurdes. Eine Frisur macht doch niemanden zu einem Popidol. Vielleicht mochtest du an ihr auch nur, dass sie früh gestorben ist. Und jetzt scheint es, als ob du dir wünschtest, dass auch ich früh gegangen wäre. Das wäre bequemer gewesen für dich. Dann hättest du mich nicht einfach hier stehen lassen müssen. Dann hätte sich alles einfach von allein erledigt. Ich fühle mich eingeengt hier. Ich fühle mich fehl am Platz. Und immer wenn die Leute an mir vorübergehen, schauen sie mich so intensiv an. So, als wollten sie mich mit ihren Blicken aufessen. Ich habe große Angst vor ihnen, vor ihren Blicken, darum presse ich mich ganz eng an diesen Pfosten, so, als ob ich gar nicht da wäre. Manchmal funktioniert es auch. Dann scheint es wirklich, als sei ich nicht da. Dann gehen die Leute einfach an mir vorbei. Das tut gut. Dann kann ich einfach nur hier sein. Einfach nur sein. Von hier blicke ich dir noch nach, wie du gehst, schaue dir auf den Rücken, deine Schultern, ein wenig gebäugt. Auch dich hat die Trennung wohl mitgenommen, komisch, ich hatte das gar nicht bemerkt. Ich sehe noch, wie du um die Ecke gehst, ich starre dir nach, wie du da hinter der Ecke verschwindest, wie du da aus meinem Leben verschwindest. Wie viel von mir selbst du da einfach so mitnimmst. Wie viel ich dir gegeben habe von mir, wie viel du mir genommen hast von mir. Es ist ein Geben und Nehmen. Immer wenn zwei Menschen zusammenleben, ist es wohl ein Geben und ein Nehmen. So wird es auch bei uns gewesen sein. Aber jetzt, wo du einfach so gehst, da bin ich nicht mehr ganz ich. Da fühle ich mich so durchsichtig, so eindimensional, so konturenlos. Du hast mir meine Tiefe genommen, du hast mich wie einen Schatten zurückgelassen. Und jetzt, da du hinter dieser Ecke verschwindest, hoffe ich darauf, dass du dich umdrehst, nach deinem Schatten siehst, dich vergewisserst, dass ich noch da bin. Und ich bin da. Noch immer. Und ich werde immer hier sein. Aber du, du bist weg, und so bin ich nur halb hier, denn nur ein Teil von mir ist hier, mein Ich scheint aufgelöst, aufgelöst in Konturen. Blau, ein wenig Lila, aber schau, wie schön meine Haare durch die Schattierungen glänzen. Schau, wie schön sie sind. Ach würdest du dich nur umdrehen, dann würdest du sehen, wie schön sie sind.

Sprayer: Unbekannt

Writer: CfFaust

Foto: CfFaust

Das traurige Mädchen 2

Das Problem war auch, dass du mich nur von der einen Seite sehen konntest. Als ich merkte, dass du dich nicht umdrehtest, als ich merkte, dass du hinter der Ecke verschwinden würdest, ohne zurückzukommen, hatte ich die Hoffnung, dass du einmal um den Block laufen würdest. Dann würdest du quasi von hinten wieder auf mich zukommen. Das wäre schön. Wenn du von hinten auf mich zukommen würdest. Dann würdest du auf meine Schulter klopfen und ich würde mich umdrehen, vielleicht würde ich auch erschrecken, aber ich würde mich auf jeden Fall umdrehen. Und dann wärst du wieder da, bei mir, dann wärst du von hinten wieder in mein Leben getreten, und vielleicht hätte dann wieder alles angefangen, so wie es damals mit uns angefangen hat. Wie hat es eigentlich angefangen? Für den Fall, dass du von hinten noch einmal auf mich zukommst, warte ich auch an dieser Ecke, ok? Ich ziehe speziell dafür mein buntes Kleid an. Das pinke mit den gelben Dreiecken. Es sind doch deine Lieblingsfarben. Nur die schreckliche Frisur lasse ich weg. Bitte sei mir darum nicht böse. Aber ich mochte sie nie, diese Frisur. Und ich mochte es auch nicht, dass sie dich an eine bekannte Sängerin erinnerte, eine, die doch längst gegangen war. Es war dann immer so, als ob ich für dich auch schon längst gegangen war. Und diese Frisur hat immer so viel Arbeit gemacht. Wenn ich hier an dieser Seite der Garage auf dich warte, dann lasse ich mein Pony so zackig ins Gesicht hängen. Das mag ich. Dann ist es so, als ob ich selbst bestimmte, wie ich aussehe. Es macht mich ein bisschen traurig, dass du bisher noch nicht gekommen bist, um von hinten auf mich zuzugehen. Denn von hier aus, hätte ich dich bestimmt gesehen. Von hier aus, wäre ich nicht erschreckt, wenn du mir von hinten auf die Schulter geklopft hättest. Aber ein bisschen Angst habe ich schon, wenn ich hier stehe. Da vorne, dort auf der Ecke, dort wo du mich einfach so hast stehen lassen, dort hatte ich ja irgendwie ein Recht zu stehen. Es gab einen Grund, weshalb ich dort stand, ich durfte dort stehen, ich hatte eine Stehgenehmigung, durch dich, oder? Aber hier, hier, wo ich dir geradezu auflauere, hier, wo du mich nicht von hinten erschrecken kannst, hier verteilen sich die Rollen, denn hier könnte ich dich erschrecken. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, dich erschrecken zu können. Ich fühle mich schlecht dabei, hier zu stehen. Ich bin froh, dass dieser Zaun vor mir ist. So kann ich mich ein wenig mehr verstecken. Ich verstecke mich ja nicht vor dir, du sollst mich ja sehen, deshalb ja das bunte Kleid, nein, ich verstecke mich vor mir selbst. Ja. So ist es. Ich verstecke mich vor mir selbst. Ich verstecke mich vor meinem Mut, dich erschrecken zu können. Ich verstecke mich vor meinem Gedanken, dass du auf die Idee kommen könntest, einmal um den Block zu laufen, nur um mich dann von hinten wieder einzuholen. Ich hoffe darauf, dass das Gebüsch ein wenig höher wächst. Denn ich verstecke mich ja vor der Vergangenheit, die mich da von hinten wieder einholen könnte. Stell dir vor, du würdest da mit deinem Klopfen auf meine Schulter alles wieder aufrollen. All die Jahre. Beendet durch ein Umdie-Ecke-Gehen, wieder aufgewühlt durch ein Umden-Block-Gehen. Bei dem Gedanken werd ich ganz blass. Ich kriege Angst und versuche meinen Körper weiter von der Straße wegzuziehen. Ich glaube, ich bin vor allem hier, um aufzupassen. Aufzupassen, dass du nicht wieder von hinten auf mich zukommst. Aufzupassen, dass nicht wieder alles von vorne anfängt. Ja, ich denke so ist es. Oder?

Sprayer: Unbekannt

Writer: CfFaust

Foto: CfFaust

Das traurige Mädchen 3

Weißt du, ich möchte dieses Bild hier von mir, dir widmen. Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich dir sehr ähnlich bin. Ich kann es nicht genau erklären, aber ich habe einfach so ein Gefühl, dass es so ist. Ich habe dich nicht gekannt. Ich habe dich nie wirklich gekannt. Nur so, wie man sich eben kennt in Mainz. So wie sich die Leute eben kennen, die hier aufwachsen. So in etwa kannten wir uns. Man sieht sich. Aber man redet nicht viel. Vielleicht waren wir einmal wie Arbeitskollegen. Das mag sein. Oft habe ich dich beim Sport-Machen gesehen. Wenn ich auch Sport machte. Du warst ein sehr hübsches Mädchen. Du warst eine sehr attraktive Frau. Und du warst sehr sympathisch. Ich denke, wir haben einige Male miteinander gesprochen. Und trotzdem weiß ich nicht viel über dich. Aber ich weiß, dass du viele Brüder hattest. Und ich weiß, dass du eine gute Schwester warst. Du hast deiner Mutter sehr geholfen, mit den vielen Brüdern. Ich habe dich sehr bewundert, weil du eine so gute Schwester warst. Deine Mutter war sicher sehr stolz auf dich. Das kann ich mir vorstellen. Das war sie mit Sicherheit. Das weiß ich. Und dein Vater. Für ihn warst du die einzige Tochter. Du warst sehr wichtig für ihn. Ich weiß nicht, woher es kommt, dieses Gefühl, dass ich dir ähnlich sein könnte. Sicherlich bist du viel hübscher als ich. Oder ganz anders hübsch. Vielleicht siehst du auch ganz anders aus als ich. Ich nehme mich selbst nicht so richtig wahr. Deshalb will ich versuchen, dir das Gefühl zu beschreiben. Es ist, als ob ich mich dir ein wenig verbunden fühlte. Denn ich glaube, du hast dich auch sehr einsam gefühlt. So wie ich mich manchmal einsam fühle. Aber es ist diese Art von Einsamkeit, für die niemand etwas kann. Es ist niemand schuld daran, dass man sich einsam fühlt. Es ist einfach manchmal so in einem drin. Die Einsamkeit. Ich glaube, wir sind uns auch so ähnlich, weil wir beide vom Typ her so blass sind. Ich glaube, das ist so eine Art von Melancholie, die einen so blass macht, manchmal. Ich glaube, du hast deine Melancholie gerne überschminkt. Wie du es auch machtest mit deiner Melancholie, du warst immer bildhübsch. Ich war so traurig, als ich hörte, dass du gestorben bist. Du warst so jung. Und manchmal, da begreife ich nicht ganz, wie das sein kann, dass du so viele Brüder zurückgelassen hast, manchmal begreife ich nicht, warum du gehen musstest. Dann suche ich nach einem Grund. Einem Grund dafür, dass du nicht mehr bist. Und dann versuche ich mich an das zu erinnern, was ich über dich weiß. Es ist so wenig. Das macht mich so wütend. Ja, wütend. Denn sicherlich, hätte es so viel gegeben, dass über dich zu wissen ist. Und nun suche ich nach einem Grund für deinen Tod, dabei gibt es dafür gar keinen Grund. Vielleicht hattest du einfach nur ein schwaches Herz. Ich glaube das nicht. So wie ich dich immer gesehen habe, hattest du immer ein sehr starkes Herz. Du warst sehr stark. Und ich glaube, wenn du jemanden geliebt hast, dann hast du es sehr stark getan. Denn du konntest sehr stark lieben. So wie du deine Familie sehr stark geliebt hast. Ich glaube, du warst nicht in einer festen Beziehung. Aber das weiß ich nicht genau. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass du gerne geheiratet hättest. Und das hättest du auch getan. Wenn du länger am Leben geblieben wärest. Aber dann kam der Tod. Ganz überraschend. Du hattest noch so viele Pläne. Ich finde es unfair, dass du gehen musstest. Es ist grausam und unfair. Und manchmal zweifle ich deswegen an Gott. Aber ich glaube, dass er dich zu sich geholt hat, weil es dir dort, wo du jetzt bist, besser geht. Mir ist es ein wenig unangenehm, so offen zu dir zu reden. Aber ich weiß, dass du den Glauben an Gott mit mir gemeinsam hattest. Ich weiß das. Obwohl wir uns nie richtig gekannt haben. Ich wünschte, ich hätte dich kennenlernen können. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an deine Familie denke. Diese Trauer. Die Trauer um das eigene Kind. Ein Kind zu verlieren. Es ist schrecklich. Und ich wünschte, ich könnte diese Trauer mittragen, damit sie für deine Eltern nicht so schwer ist. Weißt du, ich denke, ich fühle mich dir so verbunden, weil ich auch hier bin, ohne wirklich da zu sein, so wie du. Du bist hier überall in dieser Stadt. Überall ist dein Bild, und es erinnert an dich. So wie ich hier stehe, so standest auch du hier. Du gingst durch die Straßen wie alle anderen Menschen, die hier leben und arbeiten. Doch nun, doch nun hat diese Stadt einen so lieben Menschen wie dich verloren. Es macht mich so traurig. Aber ich möchte dir ein Trost sein. Ich möchte deiner Familie ein Trost sein, deiner Familie, die dich verloren hat. Deshalb möchte ich dir sagen, dass ich hier bin, wegen dir. Weil du mich an mich erinnerst, bin ich hier für dich, an deiner Stelle. Und ich will, dass es die ganze Welt weiß, dass hier an dieser Stelle, hier, wo ich bin, eigentlich du bist. Ich bin nur ein Bild, das an dich erinnert. Denn ich bin hier für dich, um an dich zu erinnern. Denn du warst einmal hier, du bist durch diese Straßen gelaufen, hast hier gelacht, hast hier geweint, hast hier gelebt. Deshalb soll mein Bild an dich erinnern. Damit Mainz dich nicht vergisst, bin ich hier, um an dich zu erinnern. Ich wünsche mir, dass deine Familie wieder glücklich sein kann. Obwohl du gestorben bist. Vielleicht hat deine Familie Angst, dass sie nun nicht mehr glücklich sein darf, jetzt wo du weg bist. Deshalb bin ich hier. Das traurige Mädchen, das bin ich. Ich trage die Traurigkeit deiner Familie mit. Damit deine Familie wieder Kraft finden kann, glücklich zu sein. Sie sollen sie bei mir ablegen, ihre Traurigkeit. Sie sollen mein Bild anschauen und sagen können, ja, du bist für uns traurig, damit wir wieder Lebensmut fassen können. Denn deine Familie muss Lebensmut finden. Deine Brüder sollen wieder fröhlich sein können. Und das werden sie auch. Denn ich bin hier für ihre Traurigkeit. Ich trage sie. Ich erinnere sie. Ich will aber auch an die Freude erinnern, die du für alle warst. Denn du warst eine Freude. Du warst sehr humorvoll. Du warst schön, wenn du gelacht hast. Und wenn man mein Bild erblickt, dann wird man sich an dieses schöne Mädchen erinnern, wie du es warst, und dann wird man sich erinnern, dass du hier gelebt hast, und dass dein Gehen viele Menschen traurig gemacht hat. Dann wird man mein Bild anschauen und sagen, sie ist aber nicht ganz und gar weg. Denn ihre Erinnerung ist immer noch da. Hier in dieser Stadt ist sie da. Und wenn sich auch die Menschen nicht mehr erinnern sollten, diese Stadt wird sich erinnern. Denn diese Stadt hat ein Gedächtnis. Und vielleicht bin ich dieses Gedächtnis, denn ich werde alle, die an mir vorbeilaufen, immer an dich erinnern. Auch wenn es mich an dieser Stelle hier nicht mehr geben sollte. Wenn ich längst übermalt worden bin oder wenn ich ganz grau geworden bin, von dem Schmutz der Stadt, das macht nichts. Dafür gibt es ja dieses Foto von mir. Es wird mich immer geben. Auf den Straßen, an den Wänden, auf den Bildern in digitalen Räumen, auf den Bildern im eigenen Album. Überall dort wird es mich geben. Weil es dich dort auch gibt. Vor allem aber bin ich im Herzen dieser Stadt. So wie du es immer sein wirst. Denn die Augen dieser Stadt haben mich gesehen. So wie ich dich gesehen habe, obwohl wir uns nicht kannten. Diese Stadt wird dich nie vergessen. Denn es gab dich. Es gab dich und du warst wertgeschätzt. Doch dort, wo du jetzt bist, geht es dir besser.

Sprayer: Unbekannt

Writer: CfFaust

Foto: CfFaust

Das traurige Mädchen 4