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Dunja Voos

Liebst du mich, auch wenn ich wütend bin? Was gefühlsstarke Kinder wirklich wollen





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Übersicht

 

Liebst du mich, auch wenn ich wütend bin?

 

Was gefühlsstarke Kinder wirklich wollen

 

 

Copyright © 2019 – Dunja Voos

 

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Die Rechte des hier verwendeten Textmaterials liegen ausdrücklich beim Verfasser. Eine Verbreitung oder Verwendung des Materials ist untersagt und bedarf in Ausnahmefällen der eindeutigen Zustimmung des Verfassers.

 

 

 

Vorwort: Wer seine eigenen Gefühle versteht, wird auch gefühlsstarke Kinder verstehen

 

Geschrieben von Vlad Kaufman

 

Im Jahr 2015, als mein Leben voller Angst, Wut und Depression bestand, begann ich mit einer psychoanalytischen Therapie. Während meiner Kindheit und auch während meiner gesamten Pubertät war ich jemand, den Eltern heute als „gefühlsstark“ oder auch „anstrengend“ bezeichnen würden: laut, impulsiv, aggressiv, aber auch verschlossen, isoliert und misstrauisch.

 

Während meiner 3-jährigen Therapie erfuhr ich, dass ich die Beziehung zu meinen Eltern verloren hatte, dass ich mich alleine, unverstanden und ignoriert fühlte. Schritt für Schritt erkannte ich, dass meine Wut und meine Gefühlsausbrüche keinesfalls unbegründet waren, sondern immer ihren Ursprung hatten: ihren Ursprung in Beziehungen, im Zusammenspiel mit der Familie und meinem Umfeld. In diesem Buch geht es darum, genau diese Ursprünge zu verstehen.

 

Zu Beginn meiner Therapie bin ich auf einen Blog gestoßen: www.medizin-im-text.de Dieser Blog wurde von Dunja Voos im Jahr 2006 gegründet. Seitdem hilft sie ihren Lesern dabei, wie sie mit ihren Gefühlen, ihren Kindern und ihrer inneren Welt besser umgehen zu können, um ein glücklicheres, authentischeres und entspannteres Leben zu führen. Mit ihrem Motto „Worte statt Pillen“ hat sie nicht nur mich berührt, sondern sie berührt jeden Tag ca. 3000-6000 Leser (das wären pro Jahr stolze 1.642.500 Leser).

 

Dr. med. Dunja Voos ist Ärztin, Medizinjournalistin, mehrfache Autorin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin in Ausbildung, aber auch Mutter einer gefühlsstarken Tochter. Seit 2016 bietet sie als psychologische Psychotherapeutin hilfesuchenden Patienten ein Zuhause, sowohl in einer Klinik, als auch in ihrer eigenen Praxis.

 

Vielleicht haben Sie nach diesem Buch gegriffen, um nun endlich die Lösung zu finden für Sie und Ihr Kind. Um gefühlsstarke Kinder, anstrengende Kinder, hochsensible Kinder oder ADHS Kinder besser zu verstehen. Die Lösung mit den „effektivsten Regeln“ oder den „ultimativen Tipps“, die sofortige Linderung im täglichen Auf und Ab mit Ihrem Kind bringen verspricht.

 

Dieses Buch möchte Ihnen etwas mitgeben, Sie jedoch nicht unterrichten und Ihnen keine „Formeln“ mitgeben, die Sie Ihren Kindern auferlegen sollen. In diesem Buch wird (bis auf das letzte Kapitel) auf konkrete „Praxistipps für zu Hause“ verzichtet, da jede Mutter-Kind-Beziehung so individuell ist, dass konkrete Tipps häufig zu Frustration und Fehlentscheidungen führen können.

 

Auf den ersten Blick ist es zwar verlockend, einen hilfreichen Satz an die Hand zu bekommen - doch wenn Sie dann ausprobieren, wozu Ihnen geraten wurde, merken Sie vielleicht schnell, dass eben genau das bei Ihnen überhaupt nicht funktioniert. Wir möchten Sie in diesem Buch ermutigen, frei zu denken und einen individuellen Weg zu suchen und zu gehen. Das ist der Grund, warum auf konkrete Ratschläge verzichtet wird, auch, wenn Sie zunächst beim Lesen das Gefühl haben, dass Ihnen etwas fehlt.

 

Probieren Sie stattdessen, dieses Buch als Kompass wahrzunehmen, der Ihnen wichtige Denkanstöße gibt, welche Dinge, Ansichten und Verhaltensweisen Sie verbessern könnten und an welcher Stelle es Ihnen oder Ihrem Kind mangeln könnte. Als Kompass, der Sie ein Stück Richtung Wahrheit mit sich selbst und Wahrheit mit Ihrem Kind navigieren kann.

 

 

 

 

Einleitung: Das gefühlsstarke Kind in uns

Wenn Sie zu diesem Buch gegriffen haben, dann wissen Sie wahrscheinlich sehr genau, was ein „gefühlsstarkes Kind“ ist. Gefühlsstarke Kinder können mit ihren überschäumenden Gefühlsäußerungen, im Guten wie im Schlechten, sehr viel Energie von uns Eltern einfordern. Doch bei genauerem Hinsehen wirft das Wort „gefühlsstark“ auch viele Fragen auf. Es kann sich dabei um eine angeborene Gefühlsstärke, um eine hohe Empfindsamkeit, um Kreativität und Phantasiereichtum handeln. Oder um „gezüchtete Wut“ durch zu viele „Neins“, um Unruhe, Aggression und Schlaflosigkeit. Es kann sich um diffuse Gefühle handeln, für die das Kind noch keinen Namen hat, es kann sich um stark nach außen gezeigte Gefühle handeln, aber auch um Gefühle, die die innere Welt Ihres Kindes im Stillen bereichern, sodass Ihr Kind eines Tages einen wunderschönen Roman schreibt.

 

Der Begriff „das gefühlsstarke Kind“ weckt vielleicht gleichermaßen positive, wie negative Vorstellungen in uns. „Er kann vor Freude oft nicht einschlafen“, „Sie ist schon wieder ausgerastet“, oder „Sie schäumt vor Gefühlen immer über“ sind typische Sätze von Eltern gefühlsstarker Kinder. Der Begriff „gefühlsstark“ wird häufig im Sinne von „überschießenden Gefühlen“ verwendet.

 

Dabei ist es ziemlich unerheblich, wie alt Ihr Kind gerade ist: „Einmal gefühlsstark, immer gefühlsstark“, könnte man vielleicht sagen. Heute weiß man, dass Schreibabys oftmals bis ins Kindergartenalter hinein besonders unruhig sind (Santos, 2014). Man spricht auch von „frühen Regulationsstörungen“, weil es den Kindern schon als Baby schwergefallen ist, sich selbst zu regulieren, wobei dies nie getrennt von der Mutter und der familiären Situation gesehen werden darf, denn ein Baby reguliert sich schließlich mithilfe der Mutter.

 

Die Mütter merkten schon früh, dass sie nicht so an ihr Kind herankamen, wie sie es bei anderen Mutter-Kind-Paaren beobachten konnten. Nicht selten litten ihre Babys besonders stark an Dreimonatskoliken. Kaum eingeschult, erhielten die betroffenen Kinder vielleicht die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) (Hemmi, 2011).

 

Neben der Bezeichnung „gefühlsstark“ hören Sie vielleicht auch weitere Begriffe: Ihr Kind ist vielleicht nicht nur gefühlsstark, sondern damit einhergehend auch hochsensibel und vielleicht hochbegabt. Aufatmen ist nicht, denn schon bald steht die Pubertät mit ihren eigenen Problemen vor der Tür.

 

Wenn Sie mehrere gefühlsstarke Kinder haben, verdoppelt und verdreifacht sich die Anstrengung häufig. Doch das ist nicht immer der Fall: „Ich habe drei Kinder, aber zehn Jahre lang war unsere erste Tochter Einzelkind. Sie war sehr gefühlsstark und ich fand kaum Zeit für mich selbst. Keine Zeit war anstrengender als diese Zeit mit nur einem, gefühlsstarken Kind, obwohl auch meine Zweite gefühlsstark ist“, sagt sie. Dieses eine Kind erforderte extrem viel Aufmerksamkeit und weder im Haus, noch in der Nachbarschaft gab es damals andere Kinder. Es ist also oft, aber bei weitem nicht immer so, dass mehrere gefühlsstarke Kinder anstrengender sind.

 

Sie werden sehen, dass es in diesem Buch erstaunlich viel um Sie als Eltern geht, sodass Sie sich manchmal fragen werden, ob es hier eigentlich auch um Ihr Kind geht. Doch gefühlsstarke Kinder sind oft auch „schwankende“, beunruhigte Kinder. Obwohl die Eltern ihnen Schutz geben, wirken sie manchmal aufgrund ihres empfindlichen Nervensystems wie „ungeschützt der Welt ausgesetzt“. Die Eltern können an dieser Stelle viel tun, um ihren Kindern sozusagen einen zusätzlichen Schutzmantel mitzugeben. Dieser Weg geht meistens über die eigene Beruhigung – wir werden uns also fragen, was uns als Mutter oder Vater selbst emotional beschäftigt, wie wir unsere eigenen Gefühle einsortieren und wieder zu unserer Mitte finden können, damit unsere Kinder sozusagen unter unserem Dach selbst wieder ausgeglichener werden. Dadurch kann eine tiefere Freude in der Beziehung zu unseren Kindern entstehen.

 

Ich werde in diesem Buch vorrangig von „der Mutter“ und „dem Kind“ sprechen, damit das Lesen einfach bleibt. Auch schreibe ich meistens von Ihnen und dem „einen“ gefühlsstarken Kind, um die Situationen besser zu veranschaulichen. Mit „Mutter“ meine ich die Bezugsperson, die dem Kind am nächsten steht – an diese Stelle kann gedanklich auch der Vater, die Oma, der Opa oder die Tagesmutter treten. Auch habe ich aus diesem Grund auf das „Gendern“ verzichtet und meine mit „Erzieherin“, „Arzt“, „Therapeut“ oder „Lehrer“ immer gleichzeitig auch das andere Geschlecht.

 

Als Psychotherapeutin führe ich viele Gespräche mit Müttern und Vätern von gefühlsstarken Kindern. Die psychotherapeutischen Gespräche, die in diesem Buch der Veranschaulichung dienen, sind an echte Gespräche angelehnt, aber zum Schutz der Ratsuchenden angepasst worden. Die Kernbotschaft der Gespräche ist jedoch erhalten geblieben.

 

Als Psychoanalytikerin in Ausbildung erkläre ich in diesem Buch die Baby- und Kleinkindzeit besonders ausführlich, denn die Probleme der Großen lassen sich umso besser verstehen, je mehr man über die frühe Entwicklungszeit und die frühe Mutter-Kind-Kommunikation weiß. Das bedeutet nicht, dass das gefühlsstarke Kind nach einer schwierigen Anfangszeit in den Brunnen gefallen ist. Ganz im Gegenteil: Mit den Bildern aus der frühen Kindheit lässt sich später sehr gut und heilsam arbeiten. In uns Erwachsenen steckt eben auch ein „inneres Kind“. Wenn wir verstehen, was in der frühen Zeit wichtig ist, dann verstehen wir auch, was jetzt für uns und unsere Kinder zählt. Vielleicht können Sie sich im Nachhinein sogar selbst ein bisschen besser verstehen, sodass Sie auch weicher auf sich selbst blicken können.

 

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und hoffe, dass Sie sich und Ihr Kind durch das ein- oder andere Kapitel besser verstehen und Lösungen finden werden.

 

 

Kapitel 1: „Mein Kind ist so gefühlsstark!“

 

Was heißt das überhaupt?

 

Das Kind bebt vor Wut. „Nicht schon wieder“, denkt die Mutter. Sie ist müde von den ganzen Gefühlsausbrüchen, die ihr Kind ständig hat. Eben noch überschwängliche Freude, jetzt schon wieder Tränen über Tränen. Erst kürzlich las sie davon, dass es so etwas wie „gefühlsstarke Kinder“ gibt und sie fragt sich, ob ihres dazu gehört.

 

Gefühlsstarke Kinder, so heißt es, haben eine besonders empfindliche „Amygdala“, eine Struktur im Gehirn, die unsere Gefühle mitreguliert. Außerdem sei der Vagusnerv, ein Nerv, der für Ruhe sorgt, sehr schwach. Mit dieser Erklärung ließen sich die vielen Gefühlsausbrüche wenigstens verstehen. Doch auch die Amygdala und der Vagusnerv eines Kindes schweben nicht im luftleeren Raum, sondern reagieren auf Beziehungen. Obwohl das Erklärungsmodell der „Überempfindlichkeit“ zunächst etwas Erleichterndes hat, wird unser Leben dadurch nicht unbedingt leichter. Immer wieder kommt der Gedanke auf: „Mein Gott, ist mein Kind heute wieder anstrengend! Ich bin froh, wenn es demnächst in die Kita (in die Schule, in die Ausbildung ...) geht!“ Unser Kind, das nicht in der Kita bleiben, vor Freude nicht schlafen will, das manchmal durch seine Aggressivität auffällt, führt uns häufig in die Ratlosigkeit. Doch gefühlsstarke Kinder haben ein enormes Potenzial: Sie sind kreativ und wissen, was sie wollen, sodass sie später viele Vorteile daraus schöpfen können.

 

Jedes Kind hat sein eigenes Temperament. Schon als Ihr Kind zur Welt kam, bekamen Sie vielleicht rasch ein Gefühl dafür, was für ein Mensch es ist und welcher Charakter da sichtbar wird. Vielleicht würden Sie sagen, es war ein eigenwilliges und sensibles Kind, ein zufriedenes oder unzufriedenes, ein sanftes oder aggressives, ein anschmiegsames oder eher ein nicht allzu kuschelbedürftiges Kind. Sie konnten Ihr Kind wahrscheinlich schon früh charakterisieren. Und auch Sie sind ein Mensch mit eigenen Schwächen und Stärken, Sie sind ein Morgenmensch oder eine Nachteule, Sie hatten eine glückliche Kindheit oder eine belastende, Sie haben eine zufriedenstellende Partnerschaft oder immer nur Streit oder Sie sind vielleicht alleinerziehend.

 

Ob wir ein Kind als gefühlsstark erleben, ist immer eine Mischung von dem, wie ein Kind wirklich ist und dem, was wir in ihm sehen.

 

Dem Kind gegenüber stehen also wir, die Eltern. Sie kannten sich selbst schon lange, doch mit der Geburt Ihres Kindes sind Sie „von der Frau zur Mutter“, „vom Mann zum Vater“ geworden. Auch Sie haben sich mit der Geburt Ihres Kindes verändert. Wie haben Sie sich in den ersten Tagen nach der Geburt gefühlt? War es eher eine schwierige oder eine sogenannte „leichte“ Geburt? Hatten Sie ausreichend Unterstützung in den ersten Lebenswochen Ihres Kindes? Sind Sie eher ein ausgeglichener oder ein reizbarer Mensch? Werden Sie häufig krank? Und nicht zuletzt: Wie müde oder ausgeschlafen sind Sie im Alltag?

 

Je schwächer Sie sich fühlen, je weniger Unterstützung Sie erhalten, desto eher kann es sein, dass Sie Ihr Kind als gefühlsstark empfinden.

 

Und je weniger Kraft Sie für Ihr Kind haben, desto mehr fordert es ein. Je weniger Kraft Sie haben, desto weniger können Sie sich um die emotionale Regulation Ihres Kindes kümmern und desto weniger können Sie selbst ihm ein „nervliches Schutzschild“ sein.

 

Der Begriff „gefühlsstarkes Kind“ mit seinen neurologischen Erklärungen deutet an, dass das Kind eben mit einer bestimmten Emotionsregulation auf die Welt gekommen ist und dass wir nur wenig dafür können, dass es ist, wie es ist. Das kann sehr erleichternd sein – wir können uns durch solche Erklärungen sehr entlastet fühlen. Doch wenn wir uns auf diese rein neurologische Erklärung einlassen, dann könnten wir daraus auch lesen, dass wir eben so gut wie keinen Einfluss auf unser gefühlsstarkes Kind hätten. Und das stimmt nicht, denn wir haben nicht einfach nur ein Nervensystem, sondern wir sind ständig mit anderen in Kontakt, die unser Nervensystem mitregulieren.

 

Früher dachte man, dass viele Menschen eine Depression haben, einfach weil sie mit der Neigung zur Depression auf die Welt gekommen sind. Heute weiß man, dass sich bei fast allen depressiven Menschen wirklich schwere Lebensumstände, vor allen Dingen in der Kindheit, nachweisen lassen. Wenn Sie heute im Lotto gewinnen und erleichtert über den Geldsegen sind, dann wird sich Ihr Nervensystem über die Zeit hin zu einem entspannteren System entwickeln. Wenn Sie viel Grund zur Freude haben, funktionieren Ihre Nerven anders, als wenn Sie ein Schicksalsschlag trifft, an dem Sie lange zu knabbern haben. Das Nervensystem stellt sich also darauf ein, was es in seiner Umgebung vorfindet.

 

Gefühlsstarke Kinder kommen vielleicht mit einem besonders sensiblen Nervensystem zur Welt, doch gleichzeitig haben wir als Eltern weiterhin einen Einfluss auf dieses Nervensystem. Mütter, die bereits in der Schwangerschaft sehr belastet und ängstlich sind, die selbst eine ungeschützte Kindheit hatten oder viele Konflikte mit ihrem Partner austragen mussten, bringen häufig ein empfindlicheres Kind zur Welt als Mütter, die in der Schwangerschaft ausgeglichen sein durften (Mennes, 2008; Plagemann, 2012).

 

Das muss nicht immer so sein, aber es ist häufig so, sodass wir sehen können, dass die Emotionsregulation und die Stimmung der Mutter in der Schwangerschaft schon einen Einfluss auf die Empfindlichkeit des Nervensystems des Kindes haben können. Beispielsweise weiß man heute, dass eine traumatische frühe Kindheit zu einem oft lebenslang stressanfälligen Nervensystem führen kann. Die sogenannte „HPA-Achse“, ein Nervensystem zwischen Gehirn und Nebennierenrinde, ist bei diesen Menschen hochreguliert und springt bei leichtesten Stressoren an. Wenn diese Menschen jedoch eine Psychoanalyse oder täglich Yoga machen, dann lässt sich die Empfindlichkeit der HPA-Achse wieder herunterregulieren. Wer täglich Yoga macht, der kann sein Nervensystem sogar dauerhaft beruhigen, auch wenn der Betreffende vielleicht immer empfindsamer sein wird als andere Menschen. Wir haben einen gewissen Grad an Einfluss auf unser gefühlsstarkes Kind, auch dann, wenn es von Grund auf empfindsamer ist als andere Kinder.

 

In diesem Buch soll es um das enge emotionale Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind gehen. Dabei wird das Bild einer Schutzhülle immer wieder auftauchen, denn Mutter und Vater wirken wie eine weitere Umhüllung für das Nervensystem ihres Kindes, wenn sie selbst ausgeglichen sind. Deshalb ist Ihr eigener, innerer Ausgleich, ein wichtiger Teil dieses Buches.

 

Man könnte sagen: Ihr Kind liegt auch nach der Geburt noch lange in Ihrer Schutzhülle. Wenn Sie als Schutzhülle geschmeidig, wärmend, aber auch atmend sein können, so wird Ihr Kind sich wohlfühlen. Sie beide können dann das Zusammensein genießen.

 

Doch das Leben spielt oft so, dass Regen, Wind und Hagel eine Schutzhülle angreifen. Wenn Sie selbst es im Leben sehr schwer hatten oder haben, wenn Sie selbst die ganze Härte abbekommen haben, dann kann es sein, dass Sie sozusagen rissig und dünnhäutig geworden sind. Vielleicht kennen Sie den Ausdruck vom „Inneren Kind“, der besagt, dass jeder Mensch in sich auch noch das Kind trägt, das er selbst einmal war. Die Erfahrungen, die wir als Kinder gemacht haben, die tragen wir auch als Erwachsene noch mit uns herum. Und wir gehen mit uns selbst so um, wie mit uns umgegangen wurde, als wir klein waren.

 

Nicht wenigen von Ihnen ging es vielleicht so schlecht, dass Sie als Erwachsener eine Psychotherapie benötigen. In der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient läuft etwas Ähnliches ab wie zwischen Mutter und Kind: Der Therapeut „hält“ sozusagen den Kummer des Patienten und blickt ihn verstehend an, sodass es dem Patienten möglich wird, auf eine sanftere und verstehende Weise mit sich selbst umzugehen. Mit der Zeit kann das Verhältnis, das man zu sich selbst hat, liebevoller und verständnisvoller werden – gleichzeitig verbessert sich so auch die Beziehung zu anderen Menschen.

 

Als Psychotherapeutin kann ich täglich die Veränderungen sehen, die eine Therapie für den jeweiligen Menschen bringt. Und das Schöne daran ist: Auch den Kindern der Patienten ist damit enorm geholfen. Als ich damals überlegte, ob ich Kinder- oder Erwachsenentherapeutin werden wollte, entschied ich mich für den Beruf der Erwachsenen-Therapeutin, weil ich das Gefühl hatte, so auch den Kindern an der entscheidenden Stelle viel besser helfen zu können.

 

Was vielen Eltern hilft, ist selbst ein größeres Verständnis für die Psychologie von Kindern und Erwachsenen zu bekommen. Die Psyche entwickelt sich besonders in den ersten drei Jahren des Lebens – wenn man diese ersten drei Jahre versteht, lassen sich viele belastende Symptome, wie z.B. Stressanfälligkeit, Ängste und Depressionen auch noch im hohen Lebensalter beeinflussen. Darum wird es hier in diesem Buch sehr viel um die „Babyzeit“ gehen, denn wenn man ihre Entwicklung versteht, lässt sich auch vieles aus dem eigenen Seelenleben besser verstehen.

 

Jede Nacht, wenn wir uns schlafen legen, schalten wir unser Bewusstsein aus und machen dem Unbewussten Platz. Die Körperhaltung, die wir einnehmen, gleicht der Haltung eines Embryos – Psychoanalytiker sagen: Wir „regredieren“, wenn wir uns schlafen legen. Das heißt: Wir gehen zurück in die Kinderwelt, wir werden wieder schutzlos, hilflos und sehen in unseren Träumen die verrücktesten Sachen.

 

In unseren Träumen und in einer Psychotherapie oder Psychoanalyse merken wir schnell auch eines: Wir sind nicht nur gut. Wir haben geheime, „böse“ Wünsche. Wir sind zornig, wollen uns rächen, sind psychisch verletzt. Doch diese Seite in uns wollen wir so gut wie möglich verstecken. Unsere Kinder fordern uns heraus: Wenn wir mit unseren Kindern zusammen sind, werden unsere unerwünschten Seiten wieder wach. Wir hören uns genauso reden wie die eigenen Eltern mit uns redeten.

 

Unsere Kinder sagen uns Dinge, die uns zutiefst verletzen.

 

Kaum eine andere Bindung ist so ehrlich, direkt, verletzend, aber auch heilend, wie die Beziehung zum eigenen Kind. Wir müssen uns dabei mit unseren unerwünschten Seiten auseinandersetzen, wenn wir unser gefühlsstarkes Kind verstehen wollen. Und auch unsere Kinder sind alles andere als nur gut und süß.