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Sophienlust Bestseller
– 1 –

Geborgen in der Familie

Ein vergeblicher Traum vom Glück?

Marietta Brem

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-023-0

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»Mir tut es auch leid, Peterle. Aber du bist doch schon ein großer, verständiger Junge und kannst einsehen, daß es so das Beste für uns beide ist.« Volker Eckstein, der hochgewachsene sechsunddreißigjährige Vater des fast weißblonden Jungen runzelte die Stirn.

Ihm war der Entschluß nicht leicht gefallen, aber er wußte, es mußte sein. Marga, seine Frau, hatte ihre Familie wegen eines anderen Mannes verlassen, und nun mußte er eben sehen, wie er alleine zurechtkam.

Am meisten litt natürlich der zehnjährige Peter unter der Trennung von der Mutter, die im Überschwang der Gefühle sogar auf ihren Sohn verzichtet hatte.

Volker war natürlich auch nicht bereit gewesen, Peter, den er sehr liebte, herzugeben. Trotzdem konnte er sich nicht so um den Jungen kümmern, wie er es gern getan hätte, denn er mußte ja Geld verdienen. Nachdem seine Frau so einfach ohne Streit und ohne Vorwarnung gegangen war, hatte er es in Rothenburg nicht mehr ausgehalten. Zum Glück hatte er in der Tageszeitung das Inserat einer Maibacher Baufirma gelesen, die einen qualifizierten Prokuristen suchte.

Sofort hatte er sich beworben, und nach einem Vorstellungsgespräch, das seiner Meinung nach sehr gut verlaufen war, hatte man ihm den Vertrag vorgelegt.

Bei seiner Fahrt durch Maibach war er dann auch auf ein Hinweisschild gestoßen, das ihn von der Existenz eines privaten Kinderheims unterrichtete, das ihm wie gerufen kam.

Heute nun wollten sich Vater und Sohn, die inzwischen nach Maibach übersiedelt waren, dieses Kinderheim ansehen, denn die Zeit drängte. In einer Woche mußte Volker Eckstein bei der Firma Braun und Sohn anfangen. Bis dahin mußte geregelt sein, was während seiner Arbeitszeit mit seinem Sohn Peter geschah.

»Ich will aber nicht in ein Kinderheim«, begehrte der Junge auf und stampfte mit dem Fuß: »Das sieht ja aus, als ob ich noch ein Baby wäre. Ich kann gut allein zu Hause bleiben, bis du am Abend kommst.«

»Das glaube ich dir sogar, mein Sohn. Trotzdem hätte ich in meinem Büro keine Ruhe, wenn ich dich allein in der Wohnung wüßte. Nein, Peterle, es hilft nichts. Wir werden es uns wenigstens ansehen. Vielleicht gefällt es dir dort besser als du denkst. Und jetzt beeile dich, sonst kommen wir zu spät.«

Peter rührte sich nicht. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schaute seinem Vater bitterböse beim Auspacken ihrer restlichen Habseligkeiten zu. »Wo ist nur mein gutes Hemd hingekommen«, ärgerte sich Volker und legte die Kleidungsstücke fein säuberlich auf den Wohnzimmertisch. »Ich habe es doch selber in die Tasche hineingetan.«

Peter grinste zufrieden. Er hätte seinem Vater ja helfen können, denn er wußte, wo das Hemd versteckt war. Aber damit hätte er nur sich selbst geschadet, denn er wollte um keinen Preis in dieses Heim.

»Peterle, warum lachst du?« fragte der Mann erstaunt. Schon eine ganze Weile hatte er seinen Sohn beobachtet, und der zufriedene Gesichtsausdruck des Jungen hatte ihn stutzig gemacht.

»Peter! Rück sofort mein Hemd heraus. Du weißt genau, daß wir nach Sophienlust fahren müssen. Ich habe mit der Heimleiterin, einer gewissen Frau Rennert, bereits einen Termin fest vereinbart. Die Frau war übrigens sehr nett. Und jetzt gib das Hemd her.«

Volker Eckstein verstand sonst jeden Spaß, aber seit Marga ihn verlassen hatte, fühlte er sich so leer und ausgelaugt, daß er sich am liebsten ins Bett gelegt hätte, um nichts mehr hören und sehen zu müssen.

Das aber ging natürlich nicht, denn er mußte ja für sich und seinen Sohn sorgen. Marga konnte für sich selbst aufkommen, denn sie hatte von ihren Eltern ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt, das ihr zumindest für die nächsten Jahre ein sorgenfreies Leben garantierte.

»Hier hast du dein Hemd, Vati. Aber gern gebe ich es dir nicht, das kannst du mir glauben.« Zerknirscht und offensichtlich mit größtem Widerwillen hielt Peter seinem Vater das Gewünschte hin. Die dunklen Augen des Zehnjährigen waren zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt, und um seinen Mund zuckte es.

»Schau, Peterle«, versuchte es Volker Eckstein noch einmal und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der sich bis jetzt in seinem Schlafzimmer befand. »Wir zwei Männer müssen doch zusammenhalten, wenn wir beieinander bleiben wollen. Siehst du das ein?«

»Ja, Vati«, kam die leise Antwort. Der Junge mit dem wirren blonden Haar schaute hartnäckig auf den Boden. Nichts sah er ein, und verstehen konnte er es schon gar nicht, warum auf einmal alles so anders war. Noch an Weihnachten war die Mami bei ihnen gewesen, und sie hatten zusammen gelacht, gesungen und Geschenke ausgepackt. Und jetzt?

»Und weil wir zusammenhalten, darum mußt du jetzt auch in das Kinderheim, vorausgesetzt natürlich, daß es einigermaßen passabel ist«, schränkte Volker ein, um seinen Sohn wenigstens ein bißchen zu trösten.

»Aber wenn es mir nicht gefällt, dann darf ich wieder mit dir zurückfahren, einverstanden?«

»Du sollst nicht mit mir handeln, mein Sohn«, grollte der Mann, obwohl er insgeheim schmunzeln mußte. Was würde er nur anfangen, wenn Marga den Jungen mitgenommen hätte? Für wen würde er dann noch arbeiten gehen? Sein ganzes Leben hätte dann seinen Sinn verloren.

Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, daß sie sich beeilen mußten, wenn sie den Termin noch einhalten wollten. Rasch schlüpfte er aus dem bequemen Pullover und zog das weiße Hemd an. Die Krawatte saß ein bißchen schief, aber das beachtete er in der Eile gar nicht mehr.

»Los jetzt, Peter, zieh deine Schuhe an, damit wir endlich gehen können.« Volker Eckstein holte die Tasche, in die er die nötigsten Dinge seines Sohnes gepackt hatte, denn er hoffte inständig, daß das mit dem Kinderheim klappen würde.

Murrend band sich Peter die Schuhe zu und stand dann auf. »Ich weiß jetzt schon, daß es mir dort nicht gefällt.«

Volker hatte bereits die Eingangstür der vor kurzem gemieteten Wohnung geöffnet und war im Begriff zu gehen. Ihm war dieser Gang mindestens ebenso unangenehm wie seinem Sohn, und darum wollte er ihn auch so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Schweigend marschierten Vater und Sohn die Stufen hinunter und stiegen in das Auto ein. »Du wirst sehen, Peterle...«, versuchte es Volker noch einmal, aber der Junge winkte nur ab.

»Gib dir keine Mühe, Vati. Du mußt genauso erst abwarten wie ich«, antwortete er altklug.

Volker lächelte. »Du hast recht, Peter. Wir werden erst alles ganz genau prüfen, bevor wir uns entschließen. Übrigens habe ich gehört, daß zu diesem Kinderheim auch noch ein Tierheim gehören soll. Das wäre doch was für dich, oder nicht?«

Peter zuckte die Schultern. »Schon«, gab er dann zu, aber seine Miene blieb unbeweglich. »Aber das bringt mir ja nichts, wenn ich viel lieber zu Hause bei dir wäre.«

Volker Eckstein beschloß, daraufhin nichts mehr zu sagen. Es fiel ihm auch beim besten Willen nichts ein, was er noch als Pluspunkt hätte anführen können.

»Und wie soll das mit der Schule weitergehen?« fragte der Junge nach einer Weile aggressiv. Er hatte bereits die Wegweiser entdeckt, die das Kinderheim Sophienlust ankündigten.

»Jetzt warte doch erst mal ab. Das müssen wir alles mit Frau von Schoenecker besprechen. Soviel ich mitbekommen habe, ist sie für alles verantwortlich. Dann wird sie uns auch sagen können, wie du in die Schule kommst.«

»Du weißt aber, daß ich nächstes Schuljahr ins Gymnasium will. So etwas gibt es in diesem Maibach bestimmt nicht.«

»Jetzt hör aber auf mit deiner Unkerei, Peter. So langsam reißt mir nämlich der Geduldsfaden, das kann ich dir sagen. Wenn dieses Kinderheim nichts ist, dann nehme ich dich selbstverständlich wieder mit. Aber wenigstens ansehen können wir es uns doch.« Volker wurde nun wirklich ärgerlich. Ihm fiel es ja auch nicht leicht, seinen Sohn bei fremden Leuten unterzubringen. Aber in diesem Fall ging es eben nicht anders. Peter war noch zu jung, um für sich selbst zu sorgen, während er selbst bei der Arbeit war.

»Da vorne das hohe, schmiedeeiserne Tor, da werden wir hinmüssen«, überlegte Volker laut, während er auf den zweiten Gang herunterschaltete.

»Schon möglich«, gab Peter mürrisch zu und fuhr sich noch rasch mit den Fingern durch seine lockigen Haare.

Volker beobachtete es aus den Augenwinkeln, und mit schmerzhafter Deutlichkeit wurde er wieder an Marga erinnert. Auch sie hatte sich ihre blonden Locken immer so zurückgestrichen, wenn sie erregt oder wütend gewesen war.

Entschlossen zog Volker Eckstein die Handbremse an, nachdem er den Wagen vor dem Tor geparkt hatte. Er war gespannt, was sie in dem großen Haus, von dem er noch kaum etwas erkennen konnte, erwartete.

Kindergeschrei schallte zu ihnen herüber, und Peter horchte erstaunt auf. Das hatte er nicht erwartet, daß Kinder in einem Kinderheim auch lustig sein konnten.

»Komm, mein Sohn, dann stürzen wir uns mal in die Höhle des Löwen. Fressen werden die uns bestimmt nicht gleich, und wenn es gefährlich werden sollte, dann flüchten wir einfach.«

Peter verzog den Mund, aber es wurde kein rechtes Grinsen daraus. Irgendwie war ihm unbehaglich zumute, obwohl ihm die ganze Umgebung eigentlich gut gefiel. Die hohen alten Bäume rauschten bedächtig im Frühlingswind, und der weiße Kies knirschte unter den Schritten von Vater und Sohn.

Es hätte alles so schön und interessant sein können, wenn dieses prächtige Gebäude, das an das alte Herrenhaus, das es einmal war, erinnerte, nicht gerade ein Kinderheim gewesen wäre.

Und dann sah er sie. Ein kleines Stück vom Haus entfernt war eine ganze Schar Kinder aller Altersklassen. Unbeschwert spielten sie, turnten und bauten Burgen in dem großen Sandkasten. Unbändige Lust, mit ihnen zu spielen, überkam den Jungen, der noch nie besonders kontaktfreudig gewesen war.

Sofort merkte Volker, was seinen Sohn bewegte, denn er hatte dessen sehnsüchtigen Blick wohl gemerkt. Fast hatte er den Eindruck, daß dieses Sophienlust genau das Richtige war für Peter, der für sein Alter viel zu ernst und verschlossen war. Vielleicht würde er hier aus sich herausgehen und Anschluß an andere Kinder finden.

»Willst du nicht zu ihnen hinübergehen, während ich das Büro der Heimleiterin suche? Vielleicht kannst du dich schon mal mit ihnen anfreunden.«

Zögernd schaute Peter zu seinem Vater auf. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß, aber das kam von der inneren Zerstreutheit. Volker kannte das von seinem Sohn.

»Wenn du meinst, Vati, dann geh ich halt. Aber… aber du läßt mich nicht allein hier, versprich mir das.«

»Keine Angst, Peterle. Wenn ich mit dieser Frau von Schoenecker gesprochen habe, dann komme ich sofort zu dir und erzähle dir alles. Dann können wir uns immer noch überlegen, was zu tun ist.«

Volker winkte seinem Sohn zu, der langsam auf die Kinderschar zuging, dann machte er sich zielstrebig auf den Weg zu der breiten Freitreppe, die er immer wieder bewundernd anschauen mußte. So ein herrliches, herrschaftliches Haus und dieser wunderbare Park, dessen Ende gar nicht abzusehen war, das beeindruckte ihn. Wie wurde aus so einem pompösen Besitz ein Kinderheim?

Leise quietschte die Tür, als er sie öffnete. Verwundert blieb der Mann in der Halle stehen, die sofort einen behaglichen Eindruck auf ihn machte. Vor dem offenen Kamin lag ein großes Bärenfell, und rechts davon stand ein Tisch, ein bequemes hochlehniges Sofa und mehrere passende Sessel, die mit braunem Leder bezogen waren. Es war angenehm kühl in diesem Raum, der der Mittelpunkt des Kinderheims war.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Überrascht schaute Volker Eckstein, der ganz in die Betrachtung der Bilder an den Wänden vertieft war, auf und entdeckte die hübsche junge Frau, die die teppichbespannte Treppe herunterkam. Der Kleidung nach mußte sie eine Krankenschwester oder sonst irgendeine Aufsichtsperson sein, stellte er für sich fest.

»Mein Name ist Eckstein«, antwortete Volker zögernd. »Ich bin angemeldet.«

»Ach ja, Herr Eckstein, guten Tag. Frau Rennert hat mir von Ihrem Anruf erzählt. Ich bin Schwester Regine. Kommen Sie bitte mit. Frau von Schoenecker erwartet Sie.«

Regine Nielsen, eine blonde, aparte Frau von achtundzwanzig Jahren, führte Volker Eckstein zum Biedermeierzimmer, in dem Denise von Schoenecker gewöhnlich ihre Gäste empfing. Die Kinderschwester klopfte kurz an und ließ dann den Mann eintreten.

»Herr Eckstein«, stellte sie ihn noch vor und zog sich dann aber zurück.

Die Frau, die sich bei seinem Eintreten erhoben hatte, war groß und schlank, und ihr schwarzes Haar, das in weichen Wellen bis auf die Schultern fiel, verlieh ihr ein apartes, temperamentvolles Aussehen.

»Guten Tag, Herr Eckstein. Ich bin Denise von Schoenecker. Bitte, kommen Sie doch näher.« Freundlich reichte ihm die Frau ihre Hand und deutete auf den zierlichen weißen Biedermeierstuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand.

»Haben Sie Ihren Sohn mitgebracht?« fragte die Verwalterin, als der Besucher immer noch schwieg.

Volker nickte. »Ja, Peter ist im Park bei den anderen Kindern. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Aber natürlich nicht.« Denise lächelte verbindlich. Ihr gefiel dieser etwas ernste Mann zwar gut, aber sie wurde nicht so recht schlau aus seinem Verhalten.

»Peter ist...« Der Mann brach ab und kratzte sich verlegen am Kinn. »Er wollte eigentlich nicht so recht hierher«, gestand er dann.

»Das ist verständlich. Welches Kind geht schon gern in ein Kinderheim«, antwortete Denise. »Aber ich bin sicher, daß sich Peter schnell bei uns eingewöhnen wird. Bis jetzt haben sich noch alle Kinder eingelebt, auch wenn sie sich am Anfang gegen einen Aufenthalt bei uns gesträubt haben. Unser Heim ist auch nicht mit anderen zu vergleichen«, fuhr Denise nicht ohne Stolz fort. »Wir leben mehr wie eine große Familie zusammen. Das merken die Kinder bald.«

»Als meine Frau uns vor gut zwei Monaten verließ, da wußte ich nicht, was ich anfangen sollte. Zuerst gab ich die Wohnung auf, denn dort erinnerte uns alles an Marga. Das Angebot der Firma Braun und Sohn erschien mir wie ein Geschenk des Himmels und ab übernächster Woche arbeite ich dort als ein Prokurist.«

»Das ist ein sehr guter Betrieb«, stimmte Denise zu und machte sich ein paar Notizen. »Wie hat Peter eigentlich die Trennung von seiner Mutter verkraftet?«

»Ach, eigentlich ganz gut, soweit ich das beurteilen kann. Nur manchmal fällt mir auf, daß sein Blick ganz leer und ausdruckslos wird. Und wenn ich ihn darauf anspreche, dann stottert er, daß ich ihn kaum verstehen kann.«

»Armer Junge«, murmelte die Verwalterin mitfühlend. »Peter leidet wahrscheinlich mehr als Sie ahnen. Er kann es nur nicht zeigen, daher die Sprachstörungen und der abwesende Blick. Hoffentlich können wir ihm helfen.« Denise von Schoenecker legte Volker Eckstein den Aufnahmebogen hin, den er noch unterschreiben mußte.

Einen Augenblick lang zögerte der Mann noch. Das schlechtes Gewissen plagte ihn, weil er Peter versprochen hatte, erst noch mit ihm darüber zu sprechen, ehe er sich entschied.