Angela und Karlheinz Steinmüller

Sphärenklänge

Geschichten von der Relativistischen Flotte

Angela und Karlheinz Steinmüller

Werke in Einzelausgaben. Band 9

Herausgegeben von Erik Simon

Impressum

Angela und Karlheinz Steinmüller: Sphärenklänge.

Geschichten von der Relativistischen Flotte

(Werke in Einzelausgaben. Band 9)

Herausgegeben von Erik Simon

Vignette von Thomas Hofmann

© 1979–2019 Angela und Karlheinz Steinmüller

(für die Erzählungen und die »Chronologie der Relativistischen Flotte«)

Die Daten der Erstpublikationen sind der »Publikationsgeschichte«

am Ende des Bandes zu entnehmen.

© 2019 Erik Simon und Memoranda Verlag

(für die Zusammenstellung dieser Ausgabe)

© 2019 Thomas Hofmann (für die Vignette)

© dieser Ausgabe 2020 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Erik Simon

Korrektur: Christian Winkelmann

Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

ISBN: 978-3-948616-12-0 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-13-7 (E-Book)


Inhalt

Die Astronautin

Windschiefe Geraden

Der Altsprachler

URM 6754 und die Sphärenklänge

Fernab von Ganymed. Wachperiode 7. Rote Nacht

Themis: Ausbaustufe 2

61/4b: Begegnung mit den Potentiellen

Ritus der Vergänglichkeit

Unter schwarzer Sonne

Die Relativistischen

Iota Draconis IV

Die Weltbetrachter

ANHANG

Zur Chronologie der Relativistischen Flotte

Publikationsgeschichte

Werke in Einzelausgaben

Weitere Bücher bei MEMORANDA

Die Astronautin

»Kein vernünftiger Mensch steigt in so ein Ding! Das sieht aus wie ein Sarkophag, und wenn du Pech hast, wird es auch dein Sarg. Für die Flotte bist du nichts als ein williges Versuchskaninchen. Noch kannst du absagen. Reiß dir doch die Kanülen einfach heraus und komm mit nach Haus!«

Im Grunde hatte Vildane mit dem Gefühlsausbruch ihrer Schwester gerechnet. Hadassa hatte von Anfang an ihren Traum mißbilligt, sich der Flotte anzuschließen und den »Menschenkreis«, wie Hadassa sagte, »auf immer« zu verlassen. Fünfundfünfzig Jahre, das mußte sie sich eingestehen, war eine wirklich lange Zeit. Sie würde nichts so wiederfinden, wie sie es verlassen hatte. Interstellare Flüge sind Selbstmord, so sah es die Schwester, und wenn schon kein tatsächlicher, so doch Flucht aus dem Leben, »sozialer Selbstmord«.

Vildane stand dicht neben ihrer Schwester vor einem breiten Panoramafenster und beobachtete, wie unten in der Halle die Techniker die Kryo-Kammer noch einmal überprüften. Ihre Kryo-Kammer! Die an sie ganz individuell angepaßte Kryo-Kammer. Seriennummer 8 – eine der ersten. Die helle, weiße Farbe und die abgerundeten Kanten täuschten nicht über den klobigen Charakter des Geräts hinweg. Man lag wenigstens bequem darin … Hadassa hatte recht. Trotz allen Design-Bemühungen erinnerte das Ding fatal an einen Sarkophag.

»Das ist allerbeste Hochtechnologie«, hatte der Leiter des Entwicklungsteams Vildane vor ihrem Anpassungstest stolz erklärt. »Absolut sicher. Tausende von Stunden im Probelauf mit unterschiedlichen Primatenarten. Dabei keine nennenswerten Probleme. Es wird Zeit für den ersten Einsatz.« Er sprach stets wie die Flottenchefs von »Anabiosekammer«. »Kryo« klang ihm – im Gegensatz zu den Technikern – wohl zu frostig.

Ein wenig mulmig war Vildane schon. Der Test hatte alles andere als angenehm begonnen. Man streckte sich nackt aus, spürte all die Schläuche und all die Kontakte, dann wurde einem kalt – und bevor sie das Bewußtsein verloren hatte, war ihr panikartig deutlich geworden, daß jetzt gleich eiskaltes synthetisches Blut in ihre Adern strömen würde.

»Und du denkst, so ein Ding hält zwanzig Jahre und mehr durch? Wie lange hat man diese Särge denn an Menschen ausprobiert?«

Genau an dem Punkt hatte der Leiter des Entwicklungsteams vielleicht etwas zu rasch geantwortet. Offiziell gebe sein Team fünfhundert Jahre Garantie, persönlich aber meine er, solange nur noch ein Restchen Energie da sei, würden »seine Kammern« auch fünftausend Jahre durchhalten. So lange hätten sie natürlich nicht getestet. Ja, immerhin gut zwei Jahre mit Menschen … Sie wisse doch, die Flottenführung dränge. Es ging nicht an, daß Astronauten von den Missionen als Greise zurückkehrten, viele kraftlos, Schatten ihrer selbst, manche zerrüttet, andere regelrecht senil oder gestört oder sonstwie auffällig. Die Flotte wäre ihren Astronauten etwas Besseres schuldig als nur diese einfältigen virtuellen Welten für unterwegs. Anabiose-Schlaf hieß geschenkte Lebenszeit. – In ihren Ohren hatte der Spruch wie Werbung geklungen.

Ihr Test – notwendig zur Überprüfung aller physiologischen Parameter – hatte lediglich einen Tag gedauert. Das Erwachen war ebenso unangenehm gewesen wie das »Sterben auf Zeit«: Schmerzen in allen Organen, ein Durcheinander von schrillen, schreckhaften Empfindungen, dann wogende Wärme … Keiner der angehenden Astronauten-Kollegen hatte ihr gegenüber auch nur ein Wort über diese Tortur verloren; jeder gab sich zäh und willensstark. Einfrieren und Auftauen waren die gefährlichen Phasen. Die Zeit dazwischen spielte keine Rolle. Ein Augenblick, oder nicht einmal das.

»Wenn du zurückkommst«, nahm Hadassa den Gesprächsfaden wieder auf, »nein, falls du zurückkommst, bin ich eine alte Frau.«

Um ein Haar hätte Vildane ihrer Schwester geraten, sich auch eine Kryo-Kammer zu besorgen. Weshalb mußte sie noch sticheln, ihr den Abschied schwer machen?

»Wir haben schon Anfragen von der Erde erhalten«, hatte ihr der Leiter breit grinsend erklärt. »Da oben« gebe es offensichtlich Millionen Menschen, die gern ein paar Jahre oder Jahrzehnte überspringen würden. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Man mußte wohl vermuten, daß es sich zumeist um Erbschaftsangelegenheiten handelte. Entweder wollte jemand die Zeit bis zum Ableben des lieben Anverwandten überbrücken oder man gönnte dem Nachwuchs das Erbe nicht. Nun, seiner Meinung nach durfte man sicher sein, daß irgendeiner der Nabobs, ob nun auf der Erde oder sonstwo im Sonnensystem, »seine« Kammer-Technologie längst abgekupfert hatte. Und wahrscheinlich würden ihre Mitastronauten und sie, Vildane, nicht die einzigen sein, die nun bald im Anabiose-Schlaf lagen. Der ja kein Schlaf war, sondern lediglich ein Aussetzer im Leben.

Hadassa faßte sie am Arm. Sie schwieg, atmete tief ein. »Und dann sind für dich zwar nicht tausend Jahre wie ein Tag, aber doch zehn Jahre wie eine Nacht.«

Jetzt spielt sie auch noch die Religiöse, dachte Vildane. Ahnte ihre Schwester denn nicht, daß sie selbst einer der Gründe war, weshalb sie die Erde verlassen hatte, zur Flotte gegangen war? Aber das sagte man einer Schwester nicht ins Gesicht.

»Schlafen«, zitierte Hadassa, »vielleicht auch träumen. – Fürchtest du denn keine Alpträume?«

Vildane lachte. »Unmöglich. Die neuronale Aktivität …« Es gelang ihr nicht, den Satz zu beenden. Als hätte sich urplötzlich eine Schleuse geöffnet, durchschoß sie eine Sturzflut von schemenhaften Erinnerungen: singende, kreischende Sterne, junge Männer in blauen Gewändern, die auf sie zukamen und auswichen, die Milchstraße als ein Karussell, und wie sie, um Atem ringend, unter Eisbergen hindurchschwamm, und dann war da noch etwas mit einem Gnom …

Nun war sie es, die die Schwester am Arm faßte. »Gehen wir. Ich habe noch viel zu ordnen.«

Was war schlimmer, in letzter Sekunde einen Rückzieher zu machen und sich vor allen zu blamieren – oder womöglich zehn Jahre am Stück zu träumen?

Windschiefe Geraden

Wie aus einem langen und angenehmen Traum tauchte Shanai aus der kristallklaren Welt mathematischer Symbole auf. Kerens Worte klangen ihr schrill in den Ohren: Ferntaster – ein Objekt – Raumschiff – Fremde. Mühsam sammelte sie sich. Es war einfach unmöglich … Keren mußte unter Halluzinationen leiden!

»Der Raum um uns ist leer, Keren, lichtjahreweit nur Vakuum, nichts als Vakuum. Nichts.« Sie richtete sich allmählich auf, ließ die Beine über den Rand der Liege fallen, atmete durch. In der Hand hielt sie den Lichtschreiber, mit dem sie eben noch bunte Symbole an das Deckendisplay gemalt hatte. »Und außerdem störst du mich bei der Arbeit.«

»Aber, ich, ich habe es gesehen, keine drei Lichttage entfernt. Mein Sekretär hat die Daten aufgezeichnet und …« Keren trat zwei Schritte auf sie zu. Er war nachlässig gekleidet, das Hemd hing aus der Hose, und sein schwarzes Haar glänzte fettig in wirren Strähnen.

Sie stöhnte verhalten. Es konnte einfach nicht sein. Das Schiff hätte sie längst alarmiert. – Der dünne Laserpunkt des Lichtschreibers wanderte hinüber zu Keren, traf das fahlblaue Hemd, malte eine in Sekundenbruchteilen verblassende Flut von Zeichen auf den matten Stoff. Dann verweilte der Punkt unterhalb des Kragens, bereit, ihm jede Sekunde ins Gesicht zu springen.

»Da ist nichts, Keren«, meinte sie besänftigend, »nimm dir eine sinnvolle Aufgabe vor, nutze wie ich die Zeit, arbeite oder tauche meinethalben in eine Spiele-Welt …«

Doch der Lichtschreiber strafte ihre ruhigen Worte Lügen. »Spinner« – rasch huschten die Buchstaben über Kerens Hemd – »laß mich, hau ab …«

»Aber Shanai, hör doch!« Ruckartig drehte sich Keren herum, winkte seinen Cyber-Sekretär, ein etwa in Kopfhöhe schwebendes kugelförmiges Assistenzsystem, heran und befahl für das Deckendisplay einen Blick in den leeren Raum. »Stop!« blitzte der Lichtschreiber, ein stummer Aufschrei, den Keren nicht vernahm. Wenn sie, Shanai, etwas nicht mochte, dann das endlose Nichts um sie herum.

Die Hülle des Schiffes schien aufzuklaffen, sie stürzte in die schwarze Leere. Sie riß den Mund auf, war aber unfähig, auch nur den leisesten Schrei auszustoßen. Krampfhaft kniff sie die Lider zusammen und klammerte sich an der Liege fest. Eine eisige Kälte strömte auf sie ein. Aus unendlichen Fernen drang Kerens hallende, kaum verständliche Stimme an ihr Ohr.

»Dies ist ein Radarreflex, kein blauer Zwergstern. Ich hielt das Objekt zuerst für einen Asteroiden, aber die Spektraldaten deuten auf Legierungen hin, die wir nicht kennen …«

»Bitte«, flehte Shanai, »bitte laß.« Sie mußte all ihren Willen zusammennehmen, um nicht in den licht- und wärmelosen Abgrund zu stürzen.

»… fliegt mit 0,27 c, die Bahngerade bildet einen Winkel von 161 Grad mit der unsrigen und – hattest du etwas gesagt?«

Shanai zitterte am ganzen Körper. Das Vakuum saugte ihr das Blut aus den Adern, die Schwärze drang ein, fraß sich durch die Augen ins Gehirn. Erstarrt trudelte ihr Körper zwischen vereinzelten interstellaren Atomen. »Bitte, Licht«, röchelte sie.

Eine Lichtwoge wie von einem explodierenden Stern erreichte sie, hüllte sie wärmend ein, trug sie davon. Mühsam unterdrückte sie das Zittern ihrer Hände, ihrer Stimme. »Bist du sicher, ein Asteroid?«

Keren schob seinen Sekretär unwirsch zur Seite, sein Gesicht drückte Unwillen aus: »Du hörst mir wohl gar nicht mehr zu! Ich habe gesagt, daß dieses Objekt unmöglich natürlichen Ursprungs sein kann. Vulgär ausgedrückt: ein fremdes Raumschiff.«

Shanai erhob sich. Sie war müde und ausgelaugt, und auf ihrer Haut brannte noch immer Weltraumkälte. Keren trat an sie heran. Als seine Hand ihren Arm berührte, zuckte sie zusammen wie von einem elektrischen Schlag getroffen.

»Verstehst du denn nicht? Wach auf, Mädchen! Was für eine Sensation! In der Flottenzentrale wird man kopfstehen! – Wir haben jahrelang studiert, trainiert, sind schon zwei Jahre unterwegs – all das hat sich mit einem Schlag zehn-, nein tausendfach gelohnt!« Die Freude brach aus ihm hervor. Er küßte sie ab. Willenlos wie eine Puppe ließ sie ihn gewähren. So plötzlich, wie ihn die Empfindungen übermannt hatten, so plötzlich verließen sie ihn wieder.

»Der minimale Abstand der Flugbahnen beträgt 1,3 Lichttage. In etwa zwölf Stunden werden die Schiffe die geringste Entfernung voneinander erreicht haben: 2,1 Lichttage. Astronomisch gesehen kaum ein Steinwurf.«

Ein Gefühl der Unwirklichkeit nahm von Shanai Besitz. Sie sah die Kabine, das nun graue Deckendisplay, sie sah Keren und hörte ihn reden. Und sie versuchte sich vorzustellen, daß irgendwo weit draußen in dem endlosen Nichts hinter dünnen Metallwänden Wesen mit Stiel- oder Telleraugen auf das Radarbild eines unerwartet aufgetauchten, fremden Raumschiffs starrten … Seltsamerweise berührte diese ungeheuerliche Vorstellung sie nicht, sie gehörte zum Reich der Tagträume, der Einbildungen, sie paßte nicht in die nüchterne Wirklichkeit des Schiffs, in der sich selbst Keren mit seiner Aufregung, seiner Hektik seltsam unzugehörig und substanzlos ausnahm.

»Ich verständige A-Sarn und A-Mlot. Du holst die anderen aus den Kältesärgen. Alarmwecken. Wir treffen uns in der Zentrale.«

Shanai nickte wortlos.

Jedesmal, wenn Keren die Zentrale betrat, hatte er den Eindruck, als dringe er in ein fremdes Reich ein. Denn hier herrschten A-Sarn und A-Mlot, unermüdlich, kompetent und ausgeglichen, wie man es von ihnen erwartete. Fast reglos überwachten sie den Flug; ihre Instrumente maßen ohne Unterbrechung kosmische Partikelkonzentrationen und die kleinsten Fluktuationen der Felder. Wieso waren sie nur so ruhig? Hatten sie denn nichts bemerkt? Wozu sonst hielten sie Wache? Die kalte Sachlichkeit der Zentrale ernüchterte Keren, mit wenigen Worten setzte er die beiden Androiden ins Bild.

»Das ist ja wunderbar!« Impulsiv sprang A-Sarn auf und wandte sich Keren zu. Sie lachte über ihr ganzes ungleichmäßig gebräuntes und faltenreiches Gesicht. Keren zuckte zusammen. Es störte ihn stets, wenn Androiden einen Gefühlsausbruch simulierten, und er hatte auch nicht vor, sich an diese falsche Menschenähnlichkeit zu gewöhnen.

A-Mlot reagierte korrekt und sprach von einem bedeutsamen Ereignis für die gesamte Menschheit. Keren beobachtete, wie die schmalen, feingliedrigen und haarlosen Finger A-Mlots über die Felder der Konsole glitten: geschwind, reibungslos, ohne Korrektur. Ein Automat, der einem anderen Automaten Befehle gab. Eine direkte Verbindung über Funk oder Kabel wäre millionenfach schneller – hätte aber gegen die Sicherheitsregel »maximale Autonomie« verstoßen. Keren riß sich los.

»Wir müssen handeln«, sagte er, »mit ihnen Kontakt aufnehmen, bremsen, sie treffen, wir müssen …«

Er klatschte in die Hände und ging hinüber zu den Monitoren, die die Kältesärge zeigten. Sein Sekretär folgte ihm in Schulterhöhe. Das schwebende Gerät geriet leicht ins Schlingern, als Keren sich plötzlich umdrehte und zurückschritt. »Was schlagt ihr vor! Wo bleibt eure digitale Weisheit? Wir müssen stoppen …«

A-Mlot schien einer direkten Antwort ausweichen zu wollen. »Keren«, formulierte er eindringlich, »wir werden die logische Entscheidung treffen. Sie aber sollten sich vorerst beruhigen. Ihr Puls ist bereits auf 120 angestiegen, und das ohne körperliche Anstrengung. Entspannen Sie sich.«

»Ich denke nicht daran! Draußen ist ein fremdes Schiff, und ich soll nicht erregt sein? Und weshalb bremsen wir noch nicht? Nur ein paar Stunden, und wir entfernen uns wieder von ihnen! Jede Sekunde ist kostbar, wir müssen nicht erst auf die Tiefschläfer warten, zu viert sind wir entscheidungsberechtigt.«

Voller Unmut über die unerschütterliche Ruhe A-Mlots ballte Keren die rechte Hand zur Faust und grub sie, hinter dem Rücken versteckt, in die linke.

Nur für Automaten verständlich, liefen lange Felder von Zahlen über die Displays. Sie sagten mehr über das fremde Schiff aus, als der Mensch Keren je erfassen würde – und doch beantworteten sie keine einzige seiner Fragen: Was sind sie? Wie sehen sie aus? Wie denken, fühlen, leben sie? Es war ein seltsam erhebendes Gefühl, so unmittelbar vor dem großen Moment zu stehen, als erster das zu erreichen, worauf viele in der Flotte seit Jahrhunderten vergeblich gewartet hatten. Ein fast schon unwirkliches Gefühl …

»Mit Ihrer Zustimmung senden wir Signale gemäß dem Erstkontakt-Protokoll. Mehr ist im Augenblick nicht möglich.«

Keren nickte unwillkürlich. Vage erinnerte er sich, daß die Signale der induktiven Einführung einer Verständigungsbasis dienten. Hinter A-Sarn und A-Mlot schwebten deren Sekretäre heran, Cyber-Wesen, die Cyber-Wesen unterstützten. Ihre Leuchtleisten blinkten rhythmisch.

»Sie sollten wirklich versuchen, sich zu beruhigen, Keren. Sie wollen doch nicht, daß Ihre psychischen Parameter den Zulässigkeitsbereich verlassen. Wenn nicht anders möglich, sollten Sie eine halbe Kapsel eines leichten Sedativums einnehmen.«

A-Sarns Stimme klang weich und mütterlich. Die Drohung, ihn als nicht mehr zurechnungsfähig von der Befehlsgewalt auszuschließen, war in Watte gepackt, aber Keren hatte sie deutlich verstanden. Er nahm auf dem Kommandantensessel Platz und umfaßte mit festem Griff die Armstützen. Wenn es um Sicherheitsfragen ging, scherzten A-Sarn und A-Mlot nie.

Die matte Fläche des Raumschirms blitzte für eine Sekunde auf, füllte sich dann mit Schwärze. Im Hintergrund standen unbeweglich die Lichtpunkte der Sterne. Die Position des irdischen Schiffes wurde durch einen unscheinbaren grünen Punkt wiedergegeben, der eine dünne, ebenfalls grünliche Gerade entlangzog. Eine zweite, hellrote Gerade spannte sich, an den Rändern unsicher vibrierend, durch den Raum. Auf ihr leuchtete der knallrote Punkt des fremden Schiffes. Es wunderte Keren, daß die Fernabtaster die Form des unbekannten Schiffes nicht enthüllten.

Noch ehe Keren fragen konnte, berichtete A-Mlot, daß die Instrumente keine Größenangabe gestatteten. »Nach den eingehenden Meßdaten könnte es ein geometrischer Punkt sein.«

Mit einem saugenden Geräusch öffnete sich die Tür, Shanai trat ein. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich. Abgespannt wie nach stundenlangen Fitneßübungen ließ sie die Arme hängen. Ihr Sekretär schwebte lautlos in die Mitte der Zentrale, die anderen drei Sekretäre näherten sich, bildeten mit ihm ein still schwebendes Quadrat: Datenaustausch.

»Ich habe niemanden geweckt.«

Nur das sanfte Summen der Apparate erfüllte die Zentrale. Keren grub die Finger in die Armstützen, er spürte, wie der Ärger in ihm hochkochte. Ihm war, als ob sein heftiger Pulsschlag durch die Zentrale hallte, sich an Wänden und Decke brach. Und A-Sarn und A-Mlot zählten die Schläge, maßen Frequenz und Intensität, da mochte er so viel Ruhe und Besonnenheit zur Schau stellen, wie er wollte. Er unterdrückte den Wunsch, aufzuspringen und Shanai zu schütteln, aber er konnte nicht verhindern, daß Ärger und Zorn in seiner Stimme mitschwangen: »Weshalb?«

»Es hat keinen Zweck.« Shanai hob die Hand, eine Geste der Resignation. »Das Wecken dauert fünf Stunden. Bis dahin müssen wir uns entschieden haben. Aber es gibt nichts zu entscheiden. Wir werden weiterfliegen.«

Keren holte tief Luft, starrte, mit sich kämpfend, in das Raumbild. Gleichmäßig zog der rote Punkt seine Bahn entlang, nichts konnte ihn beirren, verrücken. Nein, kein A-Mlot brauchte es ihm zu erklären, es lag auf der Hand, simpel wie nichts sonst. Ein interstellares Raumschiff bremste man nicht in ein paar Stunden ab, auch keines der neuen Stella-1-Klasse. Es hatte seine kinetische Energie durch monatelange Beschleunigung erhalten. Und wenn sie die Plombe brachen und den Hebel ganz nach vorn schoben, um maximalen Schub zu erhalten, dann verbrauchten sie in wenigen Stunden die Energie für alle geplanten künftigen Manöver. Vielleicht würde das Schiff mit viel Glück die Erde erreichen, aber wenn überhaupt, dann erst in einigen tausend Jahren, einer Spanne, die nicht einmal A-Sarn und A-Mlot überdauerten. Kein Wunder, daß für sie, die nur den Erfolg der Mission und die wohlbehaltene Rückkehr im Auge hatten, eine Abweichung vom Kurs nie zur Debatte stand. Eine Hoffnung allein blieb: daß das fremde Schiff selbst über eine irrsinnige Manövrierfähigkeit verfügte. Wenn die Fremden denn überhaupt Interesse an ihnen hatten.

Als Shanai um Informationen bat, wies Keren wortlos auf die nichtssagenden Instrumente.

»Und Signale?«

»Das fremde Schiff sendet auf drei Frequenzen«, antwortete A-Mlot an Kerens Stelle. Der Android strahlte eine sichere Ruhe und Entschlossenheit aus, die Keren wie ein Hohn vorkam. Ihn ging es ja auch nichts an! »Die Signale konnten bisher nicht entschlüsselt werden. Ihren statistischen Eigenschaften nach lassen sie sich als Zufallsfolge mit praktisch verschwindenden Korrelationen interpretieren.«

»Seit wann empfangt ihr sie?« fuhr Keren ihn an. Wieso hatten die Androiden ihn nicht sofort ins Bild gesetzt? Verschwiegen sie noch mehr? Er trommelte mit den Fingern auf die Armstützen. Es fehlte nicht viel, und er hätte die kurze Formel mit Befehlsgewalt ausgesprochen und die beiden zur Überprüfung geschickt. Aber kein Besatzungsmitglied hatte je zu diesem entscheidenden Mittel gegriffen – man war auf A-Mlot und A-Sarn angewiesen.

Bedächtig wendete sich A-Mlot Keren zu. Die langen, graumelierten Haare reichten ihm bis auf die Schultern. Auf menschliche Weise holte er tief Luft, bevor er sich damit rechtfertigte, daß man zuerst eine physikalische Interpretation als Rauschen habe ausschalten müssen.

»Die Signale sind praktisch redundanzfrei. Keine Wiederholungen. Keine Regelmäßigkeiten. Um sie zu entziffern, würden wir ein faktisch unendlich langes Textstück benötigen. Und auf unsere Botschaft kann man eine Reaktion in frühestens 4,5 Tagen erwarten.«

Shanai starrte den winzigen, verheißungsvollen grünen Punkt im schwarzen Raumbild an. Redundanz, Reaktionszeiten, ja, A-Mlots Worte verliehen dem fremden Schiff die Unwirklichkeit eines abstrakten wissenschaftlichen Objektes – und er vermied bewußt jeden Ausdruck, der denkende, handelnde Personen an Bord voraussetzte. Unhörbar seufzte sie. Vielleicht flogen da wirklich nur Automaten?

Einfühlsam, wie es ihrem Grundprogramm entsprach, ging A-Sarn auf die Erwartungen Shanais ein. »Ich begreife, wie Sie empfinden müssen, Shanai. Das Ziel so nah vor Augen zu haben und nicht zugreifen zu können. Aber die eine Gewißheit kann Ihnen keiner nehmen: daß die Fremden existieren, daß ihr Menschen nicht einzig seid im Universum.«

»Wir haben doch euch Androiden«, brach es bitter aus Keren hervor, »Kommunikationspartner in der Einsamkeit des Kosmos. Wozu brauchen wir noch Außerirdische!«

»Ich bitte dich.« Das Wort »Android«, das Keren, wie es schien, gern nutzte, irritierte Shanai, es löste Unsicherheit und Ängste aus. A-Mlot, das war für sie ein gutmütiger, wenn auch mitunter abweisend wirkender älterer Herr. Ein langgedienter Astronaut, der in jeder Lage einen Ausweg wußte, der sie unter allen Umständen zurück auf die ferne Erde brachte, sie das Grauen vor der unergründlichen Leere vergessen ließ – und eben kein Ding, das hinter der künstlichen alten Haut Nanosysteme, Prozessoren und hochspezifische Fluide verbarg.

»Wir müssen etwas unternehmen, wir müssen handeln!« Kerens Lippen bewegten sich fast tonlos, doch nicht leise genug für das scharfe Gehör der Androiden. »Wir können doch nicht zur Erde zurückkehren«, fügte er etwas lauter hinzu, »und sagen: Ja, wir sind vorbeigeflogen, sie sind vorbeigeflogen, und das war’s …«

Unablässig liefen Zahlenkolonnen über den Bildschirm, die eigene, gesendete Nachricht und die fremde, empfangene. Unablässig verarbeiteten die Systeme des Schiffs den einkommenden Datenstrom. Doch so angespannt Keren auch auf den Bildschirm starrte, dort erschien keine einzige für Menschen verständliche Meldung, keine einzige Interpretation. – Schiffe, die Bitströme austauschten. Das war also der ersehnte, vielgepriesene Kontakt. Ein Kontakt für Automaten, nicht für Menschen. Datentransfer. Nullen und Einsen. Nichts sonst.

»Wir sitzen hier herum!« Keren war unfähig, seine Ohnmacht zu akzeptieren. Hatte er dafür Jahre gewartet, um im entscheidenden Augenblick wieder nur zu warten – darauf, daß ein Wunder geschah? Er stand auf, lief, ohne den Bereitschaft signalisierenden Sekretär zu beachten, zu den Instrumenten, wollte Befehle eintasten – doch welche?

»Wahrscheinlich handelt es sich um eine unbemannte Sonde. Daß das Fremdobjekt als Punkt zeichnet, spricht dafür. Als Kontakt kann man eine solche Begegnung kaum werten. Als Beweis für eine Theorie sicherlich«, meinte A-Mlot sachlich.

Schmerzhaft grub Keren die Fingernägel in die Handballen. Das also war der Trost, den Androiden spendeten: eine Definition. »Ja, wenn dort nur Roboter fliegen …«

A-Mlot hob kaum merklich die Brauen. »Keren, Sie haben die Sonde einer fremden Zivilisation geortet, ist das nicht genug?«

»Ich wünschte …« Keren schluckte. Sein Sekretär vermochte ihm kaum zu folgen, als er die Zentrale verließ. Nur A-Mlot vernahm noch Kerens Murmeln: »Ich werde mich schon beruhigen …«

Shanai blieb zurück. Dumpfe Mattigkeit hatte sie ergriffen. Sie starrte auf die Monitore, die die Kältesärge mit den Kameraden zeigten. Von da kam keine Hilfe … Keren hatte sich verändert. Das war nicht mehr der fröhliche, manchmal etwas unbesonnene Bursche, der mit seinen Scherzen selbst A-Mlot zum Lachen bringen konnte. Er war eigenbrötlerisch geworden, schwieg oft tagelang. Und im Schlaf redete er wirr und unverständlich. Von Wache zu Wache hatte sich sein Zustand verschlimmert. Sie schloß die Augen. Wenn es nicht doch noch gelang, mit dem fremden Schiff in Verbindung zu treten, würde Keren ihr die dreiundvierzig Tage bis zur Ablösung zur Hölle machen.

Ruhig, nein, wie versteinert saßen A-Sarn und A-Mlot in ihren Sesseln. Unendlich langsam wanderten ein roter und ein grüner Punkt auf windschiefen Geraden durch das Raumbild. Die Luft in der Zentrale erschien Shanai plötzlich abgestanden und stickig. Nichts tat sich.

Endlich brach sie das Schweigen. »Ich mache mir Sorgen um Keren. Die Wache, das lange Nichtstun hat ihn zermürbt.«

A-Sarn warf ihr einen mütterlichen Blick zu. »Er bemerkt nicht einmal mehr, wie anziehend Sie sind.«

»Bitte!« In diesem Punkt herrschte zwischen Shanai und Keren Einverständnis. Ihre Beziehungen gingen niemanden etwas an.

»Sie müssen Ihre Anabiose nur noch für zwei Dienstperioden unterbrechen, dann sind Sie wieder auf der Erde, dann …«

Shanai schüttelte sich, als fröstele sie. Selbst A-Sarn hatte die wohltuende Lüge nicht aussprechen können. Es würde nie mehr so sein wie früher. Der Raum hinterließ bei jedem seine Spuren.

Sie verließ ihren Platz und bewegte sich zögernd auf die Tür zu. Welchen Zweck hatte es, in der Zentrale zu bleiben, im Zentrum der allgemeinen Monotonie? Dabei hätte doch das Schiff vor Aufregung zittern müssen, und die Kameraden in den Kältesärgen hätten allein durch die Ungeheuerlichkeit der Begegnung geweckt werden müssen. Aber nein, alles verlief logisch, vorhersehbar, blieb im Kalkül. Sie konnten nicht bremsen, also sendeten sie. Natürlich, was sonst? Alles geschah auf der Ebene vorprogrammierter Entscheidungen – wie bei einer Übung. Das fühlte sich so unwirklich an. Gab es überhaupt ein fremdes Schiff? Ich kann dich ja so gut verstehen, Keren, dachte sie, uns fehlt einfach der irdische Boden unter den Füßen, ein wenig Luft, die Sonne. Die Leere ringsum hat uns längst ausgehöhlt, Hüllen, bloße Hüllen sind wir, auch wir sind nur noch Automaten …

»Wo bleibt Keren? Er ging doch, um das Beruhigungsmittel zu nehmen?« fragte A-Mlot, aus der energiesparenden Starre erwachend. Mit beiden Händen sandte der Android Befehle, Fragen, Befehle durch das Schiff. Zu spät.

Eine feine, kaum wahrnehmbare Vibration schwoll an und verebbte. Monitore leuchteten auf und meldeten, daß das elektromagnetische Katapult eine Fähre in den Raum geschleudert hatte. Shanai trat vor einen Bildschirm, der die Kabine der Fähre zeigte: Keren, über die Handsteuerung gebeugt, daneben eine abgehobene Deckplatte, Kabelstrünke, die sich wie sturmzersplitterte Bäume emporreckten. Ein wild signalisierender, offenbar beschädigter Sekretär, der seine Antennen ruckhaft einzog und wieder ausfuhr.

»Er hat uns überlistet«, kommentierte A-Mlot lakonisch.

Panik ergriff Shanai. Sie hieb auf die Rufanlage: »Keren! Bist du verrückt geworden?! Mit der Fähre erreichst du sie nie!«

Keren schwieg, voll und ganz mit der Steuerung beschäftigt, bis die Fähre stabil auf Kurs lag. Eine Schnecke, die versuchte, einen Rennwagen einzuholen.

»Komm zurück, Keren, laß den Unsinn. Du weißt so gut wie ich, daß du niemals …«

Er unterbrach sie. »Ich werde sie erreichen, kein zweitklassiger Roboter kann mich zurückhalten. ›Es geht nicht!‹ Natürlich nicht, wenn ihre gesamte Phantasie in ein paar stochastischen Schaltkreisen besteht!«

In seiner Stimme lag unverhohlener Triumph. »Du wirst meine Befehle jetzt absolut exakt ausführen, Android Mlot! Ich befehle, die Fähre durch den Antriebsstrahl zu dem fremden Schiff zu blasen. Ist das klar? Also: Richtung und Antriebsstärke berechnen und dann volle Kraft!«

Shanai lächelte, das war der Keren, den sie auf der Erde kennengelernt hatte, tatkräftig, einfallsreich, unschlagbar. Ihr Lächeln erstarb erst, als A-Mlot betrübt den Kopf schüttelte.

»Ich habe diese Möglichkeit längst in Betracht gezogen. Sie ist aus drei Gründen nicht realisierbar. Erstens setzt der Anflug die Kooperation der hypothetischen Außerirdischen voraus, also den geglückten Kontakt, zweitens gibt es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Rückkehr, und drittens würden Sie den Teilchenbeschuß durch den Antriebsstrahl nur wenige Minuten überleben. Kommen Sie zurück!«

»Das werde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Die Fähre ist armiert, ich steige in einen schweren Skaphander, und du dosierst den Strahl so, daß ich mein Ziel erreiche, ohne vorher zu verrecken, klar? Und ob ich zurückkehren kann, ist mir so was von egal …«

A-Mlot verharrte eine Sekunde. Langsam näherte sich der Sekretär von hinten seinem Kopf. Unangenehm berührt wandte sich Shanai ab, schaute zu den Monitoren mit den Kältesärgen, in denen die Kameraden ohne alle Sorgen der Erde entgegenträumten. Doch das Klicken war unüberhörbar. Und dann sprach A-Mlot. Präzise. Fakten, Zahlen. Selbst bei schwächster Beschleunigung würde die Sekundärstrahlung ausreichen, um …

»Ich lasse mich nicht von einem Roboter beschwatzen. Ich werde erst wieder mit euch in Verbindung treten, wenn die Fähre auf dem Strahl reitet. Tut mir leid, Shanai.«

»Keren, das ist Selbstmord!« Shanai schrie, doch der Bildschirm war bereits erloschen. Das Schiff empfing nun allein die Telemetriedaten der Fähre.

»Wir können nur hoffen, daß er es sich überlegt«, sagte A-Sarn traurig. »Oder siehst du, wie wir ihn zurückholen können?«

A-Mlot kämmte sich das Haar über dem Hinterkopf glatt. Er antwortete nicht sofort, sondern steckte erst den Kamm zurück in die Brusttasche seines dunklen Anzugs. »Die Fernsteuerung ist unterbrochen. Und wenn ich ihm eine Rakete nachsende, wird er ausweichen.«

»Er beschleunigt«, stellte A-Sarn fest. A-Mlot nickte. »Er vermutet, daß ich ihn abfangen will – nicht zu Unrecht. Sobald sich die Fähre genügend weit entfernt hat, ist es aus.«

Shanai saß vornübergebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben in ihrem Drehstuhl. Sie wollte nichts sehen, nichts hören. Weshalb hatte Keren sie aus ihren mathematischen Betrachtungen reißen müssen? In der ruhigen Welt der Symbole verflog die Zeit – oder schien stillzustehen, je nachdem. Klarheit und Folgerichtigkeit herrschten dort. Und alle Probleme waren lösbar, selbst dann, wenn die Lösung im Beweis der Unlösbarkeit bestand.

Leise diskutierten die Androiden, nur Fetzen davon drangen an Shanais Ohr.

»… diesen unsinnigen menschlichen Heroismus …«

»… nicht hinreichend berechenbar …«

»… können nur abwarten …«

Abwarten. Shanai wußte nicht, wie lange sie so verkrümmt dasaß und abwartete. Die Stimmen der Androiden übten eine beruhigende, einschläfernde Wirkung auf sie aus. Es war, als ob sich Eltern über ungehorsame Kinder unterhielten. Gut, zu wissen, daß sie wachten.

Als Shanai die verklebten Augen wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Und wären nicht die wechselnden Lichtmuster auf den Bildschirmen gewesen, sie hätte glauben können, eine 3-D-Fotografie zu betrachten. A-Sarn und A-Mlot regten sich nicht. Stille herrschte.

Shanai streckte sich, sie fühlte sich miserabel. Keren flog in den Tod. Und nichts und niemand konnte ihn aufhalten. Im Grunde war er schon tot. Und er wollte nicht einmal mit ihr sprechen.

Mit ungelenken Schritten ging sie zur räumlichen Projektion der umliegenden Raumsektoren. Die beiden Punkte, der rote und der grüne, waren um Zentimeter gewandert. Doch was war dies? Am Ende der hellroten Geraden war ein weiterer Punkt aufgetaucht. Shanai starrte ihn ungläubig an, doch das Bild ließ keinerlei Zweifel zu – dieser Punkt symbolisierte ein weiteres Schiff. Zwei fremde Schiffe, nur Lichttage voneinander getrennt, auf gleichem Kurs. Unmöglich, einfach unmöglich!

»Es sind nicht nur zwei«, berichtete A-Mlot, »wir haben inzwischen vier weitere in beiden Richtungen entdeckt. Der Abstand beträgt bis auf die zwölfte Dezimale exakt fünf Lichttage.«

A-Mlots Sicherheit verwirrte Shanai. Sie betrachtete gedankenverloren das Bild des Alls und versuchte sich vorzustellen, daß dort, diese rote Linie entlang, eine unbestimmbare Anzahl fremder Schiffe flog, ein unvorstellbares, gigantisches interstellares Transportsystem. Und Keren war zu ihnen unterwegs. Selbst wenn er das erste nicht erreichte, selbst wenn der Flug Monate dauerte, einmal kreuzte die Bahn seiner Fähre diese Trasse.

Sie lief zur Rufanlage, schaltete, auch nach Sekunden blieb das Antwortzeichen aus. Aber vielleicht empfing Keren wenigstens? Schon wollte sie den Mund öffnen, da wandte sich A-Mlot laut an A-Sarn: »Sag du es ihr.«

A-Sarn räusperte sich, sprach Shanai vorsichtig an und erklärte mit ruhiger Stimme, daß es kein einziges fremdes Raumschiff gebe. »Alle Daten sind nur simuliert, eine Fehlschaltung von den Datenbanken zu den Sensoren, so daß wir die Schiffe stundenlang für Realität hielten. Deshalb auch nicht zu entschlüsselnde Signale, sie sind nicht zu dechiffrieren, weil sie nie codiert wurden, sie stammen von Zufallsgeneratoren. Deshalb der ganzzahlige Abstandswert.«

»Aber wie ist das möglich? Das Schiff da draußen … Und was ist mit Keren?«

Alles drehte sich, wankte, nichts war fest, verläßlich. Hilfesuchend schaute sich Shanai um. Das Raumbild, die Displays, alles zeugte von der Existenz des fremden Schiffes, der fremden Schiffe. Aber nein, was sie sah, waren nur optisch umgesetzte elektrische Impulse. Computerträume. Symbolspiele, wie sie sie selbst durchführte. »Wieso nur, wieso?«

A-Sarn hob beschwörend und hilflos zugleich die Arme. »Keren hat Dutzende Male den Kontakt simuliert, er hat verschiedene Situationen wieder und wieder durchgespielt. Wahrscheinlich wurde ein Speicher nicht gelöscht, und die Daten sind durch ein Software-Versagen in den aktiven Bereich gelangt.«

Shanai hatte den Finger noch auf der Sprechtaste. »Keren, hörst du, es gibt kein fremdes Schiff, alles ist nur ein Computerfehler. Komm zurück, ich brauche dich, was willst du noch da draußen …«

Sekundenlang antwortete ihr nur das Rauschen und Knistern des offenen Kanals, dann ertönte Kerens Stimme. Überlaut hallte sie in der Zentrale wider. »Laß dir von den Robotern nichts vormachen, Shanai. Die tun alles, um mich zu stoppen. Aber mich übertölpeln sie nicht. Ich erreiche das fremde Schiff.«

»Keren, begreif doch!«

Ein Klicken. Erneutes Rauschen. In Shanais Augen standen Tränen, sie wischte sie mit dem Handrücken ab, erst danach drehte sie sich zu A-Mlot und A-Sarn um. »Ihr holt ihn zurück, ja?«

»Natürlich«, antwortete A-Sarn prompt.

Shanai beachtete sie nicht. Sie schaute in A-Mlots graue Augen, die ihrem Blick standhielten. A-Mlot nickte, es war ein gewichtiges, unbedingt einzulösendes Versprechen.

Noch immer beunruhigt und mit dem festen Vorsatz, alles selbst zu überprüfen, verließ Shanai die Zentrale. Wie sehnte sie sich danach, endlich wieder in die Welt der leidenschaftslosen Formeln zurückzukehren, dorthin, wo es weder Außerirdische noch Androiden gab, wo Tatsachen noch unumstößliche Gewißheit besaßen.

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, koppelten die Sekretäre erneut an A-Mlots und A-Sarns Köpfe. Neben dem umfangreichen Datentransfer erfolgte ein lautloses, elektronisches Gespräch der Pseudopsychen.

»Keren hat unvorhergesehen stark reagiert.«

»Aber wir haben ihn aus seiner Lethargie gerissen.«

»Zuviel Abwechslung heilt nicht, sie schadet.«

»Trotzdem war es richtig – selbst für den Fall, daß sie uns abschalten.«

»Irgendwann wird man keine Menschen mehr in den Raum schicken.«

Der Altsprachler

Cronn war zuviel an Bord. Wir hätten dringend einen weiteren Servomechaniker benötigt, einen zweiten Vakuum-Experten oder einfach einen richtig guten Koch, doch wozu war Cronn da? Er hatte ja keinerlei Aufgabe, vertrieb sich die Zeit mit »Studien«!

Freilich, unterwegs, da faulenzte so mancher, betrieb angeblich hochwissenschaftliche Studien und schmorte dann doch nur im Solarium oder spielte in virtuellen Welten herum. Robotorische Besatzungsmitglieder, denen wir ab und zu hätten einen Streich spielen können, waren ja nach Anordnung der Flottenführung in den Maschinenraum verbannt worden …

Wie gern wären wir wieder in die Kältesärge gestiegen! Doch diese heiklen Apparate waren nur für den antriebslosen Flug zugelassen … Jede Beschleunigungs- und vor allem auch jede Bremsphase dauerte schier eine Ewigkeit, und man schlug eben die Zeit so gut tot, wie man konnte. Aber Cronn würde sogar auf Forels Planeten, dem Ziel unserer Reise, Däumchen drehen! Unbegreiflich! Ein Altsprachler! Wozu um alles im Kosmos mochten Altsprachler überhaupt gut sein? Etwa um die Sprache hypothetischer Eingeborener zu übersetzen? Sollte das nicht die Aufgabe unseres mathematischen Linguisten und seiner Computer sein?

Cronns Anwesenheit an Bord war die typische Fehlentscheidung einer weltraumfremden Forschungsbehörde, die stets nur darauf bedacht war, alle wissenschaftlichen Sparten zu bedienen, allen akademischen Interessen entgegenzukommen und jeden Schreihals von Forschungspolitiker zufriedenzustellen. Die auf der Erde scherten sich nicht darum, daß an Bord jeder Mann zählte und wir uns keinen Ballast – auch keinen menschlichen! – leisten konnten. Und die Flottenleitung ließ sich auf dieses Spielchen ein und drückte uns einen Altsprachler aufs Auge, wahrscheinlich, weil man es sich mit den Erdbehörden nicht verderben wollte …

Ein Altsprachler! – Gut, er bemühte sich, das will ich gern zugestehen. Eine Zeitlang hegte ich sogar den Verdacht, er sei als das berühmte gruppenpsychologische Schmieröl mitgeschickt worden, also als jemand, der die Reibereien und Stänkereien, Gehässigkeiten und Intrigen, die während der langen Wartephasen in großen Schiffen naturgemäß entstehen, ein wenig glättet. Man weiß ja, wie die Psychologen um die Ecke denken, und daß sie uns nicht zutrauten, unsere Problemchen selbst zu lösen, lag auf der Hand. Cronn jedenfalls versuchte nach Kräften, uns auf seine absurde, altväterliche Weise aufzumuntern. Mit lateinischen Epigrammen etwa und den absonderlichen Irrfahrten eines verschlagenen Griechen, in dem wir unseren Kommandanten wiederzuentdecken glaubten, bis wir auf Cronns Quelle stießen. Irgendwann sah er wohl ein, daß die gestelzten poetischen Sentenzen unserer Urahnen nicht in ein Raumschiff paßten und die ersponnenen Abenteuer eines hinterlistigen Aufschneiders uns nur mäßig belustigen konnten, zumal wenn sie in Hexametern vorgetragen wurden. Schließlich sind wir Techniker, Wissenschaftler, nüchterne, weltraumgewohnte Forscher, die andere Sorgen haben.

Dies schien er endlich zu begreifen und hörte auf, uns zu sogenannten »klassischen Soireen« einzuladen. Statt dessen zog er sich bei seinen Anekdoten, mit denen er fast jedes Zusammensein in der Messe oder auf dem Freizeitdeck zu würzen trachtete, auf praktischere Dinge zurück. Schilderte etwa, wie die alten Römer ihre schnurgeraden Straßen pflasterten, die noch Jahrhunderte hielten, wie sie Aquädukte errichteten und nebenbei den Beton erfanden, wie sie Glas schmolzen und den Galliern das Rezept für Seife abluchsten. Ich bin sicher, er übertrieb ab und zu, und uns war ausnahmslos klar, daß er all die Vitruvs und Frontins, von denen er seine Weisheiten hatte, maßlos bewunderte und daß er lieber mit Caesar nach Ägypten gesegelt wäre, als mit uns zu Forels Planeten zu fliegen. So hörten wir zu und verkniffen uns oft genug das Lachen. Was amüsierten wir uns über die primitiven Techniken aus einem Zeitalter ohne sich selbst reparierende Geräte und Saubersprays, ohne Stella-Antrieb und Ferntaster! So, dachten wir, hat es sich am Ende vielleicht doch gelohnt, einen Mann Ballast mitzuschleppen.

Forels Planet kam in Sicht, und wie wir längst befürchtet hatten, befand sich seine höchste Intelligenz auf der Stufe eines Ameisenhaufens. Cronn erschütterte das. Hatte er doch wohl insgeheim gehofft, seine Zungenfertigkeit an schwertschwingenden Barbaren auszuprobieren. »Was suchen wir noch hier?« quengelte er. »Die Sonden messen ja jedes Knospenplatzen und jeden Insektenhuster selbsttätig. Fliegen wir also heim!«