Hinter jedem wissenschaftlichen Geistesblitz steckt ein Hauch Genie – aber auch eigentümliche Marotten und Launen. Ernst Peter Fischer zeigt anhand zahlreicher Anekdoten die allzu menschliche Seite von Physikern, Biologen und anderen berühmten Forschern. Dabei verliert er bei allem Schmunzeln nie die enorme Tragweite der Wissenschaft aus den Augen.
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Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.
Die im Text angesprochenen Wissenschaftler werden am Ende des Buches vorgestellt (Seite 231).
Mehr Geschichten dazu findet man in meiner Delbrück-Biographie Licht und Leben, die es auch als Taschenbuch mit dem Titel Das Atom der Biologen gibt.
Paulis Leben habe ich in meinem Buch An den Grenzen des Denkens beschrieben; eine überarbeitete Version der Biographie liegt unter dem Titel Brücken zum Kosmos vor.
Ausführlich nachzulesen in meiner Biographie Niels Bohr – Physiker und Philosoph des Atomzeitalters, in dem einige der folgenden Geschichten ebenfalls zu finden sind.
Ausführlich nachzulesen in der von mir verfassten Biographie Werner Heisenberg – Ein Wanderer zwischen zwei Welten.
Interessierte können sich in dem Buch Dr. Riemann’s Zero des britischen Journalisten Karl Sabbagh informieren, in dem auch zu erfahren ist, dass ein Mäzen eine Million US-Dollar demjenigen bietet, der endlich das Problem löst, das Hilbert nach 500 Jahren Schlaf als Erstes interessierte.
Wissenschaftler sind auch nur Menschen – und das zeigt sich vor allem daran, dass sie dann und wann auf die Toilette müssen. Als ich einmal die Toilette im Haus des in Kalifornien lebenden Genetikers und Nobelpreisträgers Max Delbrück aufsuchte, fand ich dort neben dem üblichen Inventar eine vierzigbändige Ausgabe der Gesammelten Werke von Goethe aus dem 19. Jahrhundert. Von den Büchern lag ein Exemplar auf einem Brettchen aufgeschlagen vor mir, dem sitzenden Besucher, so dass ich nicht umhinkam, in der geschäftigen Abgeschiedenheit darin zu lesen – vor allem, da ich Deutsch konnte. Als ich den Band anhob, fiel mein Blick auf einen darunter befestigten Zettel, auf den Delbrück geschrieben hatte: »Sometimes I sit here and think. And sometimes I sit here when it stinks.« Bei meiner Rückkehr ins Wohnzimmer durfte ich dann in das grinsende Gesicht meines sich diebisch freuenden Gastgebers blicken – und die für dieses Buch so entscheidende Erkenntnis erlangen: Wissenschaftler besitzen ihren eigenen, skurrilen Humor.
Die Naturwissenschaft ist voll von solchen Anekdoten, und in diesem Buch finden sie zusammen, (möglichst) witzige Episoden aus dem Leben von pfiffigen Physikern, schlagfertigen Biologen und anderen manchmal mehr, manchmal weniger bekannten Forschern. Mit ihrer Hilfe hofft der Erzähler, das von vielen emsigen und neugierigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Angriff genommene große geistige Abenteuer der Menschheit zu einem attraktiven Stoff für fröhliche Gespräche zu machen – allen Schwierigkeiten zum Trotz. Schwierigkeiten zum einen für den gesunden Menschenverstand, der sich zum Beispiel mit Milliarden Sonnenmassen in einem schwarzen Loch nicht zurechtfindet, zum anderen bei den ethischen Entscheidungen über die Tragweite der Wissenschaft in einem zunehmend komplexer werdenden Umfeld mit wachsenden Bedürfnissen. Noch immer stehen selbst Journalisten und andere kluge Leute im öffentlichen Leben und in den Medien fassungslos vor vielen Ergebnissen und Entwicklungen, Potenzialen und Problemen der Naturwissenschaften – Stichworte geben die Gentechnik, die Energiewenden, die Quantensprünge und die Digitalisierung –, die ihnen trotz aller Aktualität und Brisanz äußerlich und damit eigentlich unverstanden bleiben. Vielleicht liefern Anekdoten der hier erzählten Art den Anschluss Suchenden einen kaum noch erhofften Zugang zu dem Terrain, auf dem sich aller Fremdheit zum Trotz möglichst viele Menschen auskennen sollten. Denn hier wird die Zukunft vorbereitet – auch wenn das im sozialen und historischen Umfeld häufig zu spät bemerkt wird.
Natürlich klingt der Satz »Was alle angeht, können nur alle lösen« aus den Physikern von Friedrich Dürrenmatt gut und zustimmungsfähig. Doch diese vernünftige Vorgabe funktioniert nur, wenn die Gemeinten, also »alle«, etwas von dem verstehen, mit dessen Hilfe es überhaupt Lösungen geben kann, also von der Wissenschaft. Zu verstehen, was Sache ist, scheint dabei ganz allgemein bei den Dingen von Vorteil zu sein, die jeden etwas angehen. Die technischen Entwicklungen, die durch Forschungen möglich werden, gehören seit vielen hundert Jahren dazu – auch wenn in den meisten Geschichtsbüchern nicht viel darüber zu finden ist. Auch Sozialwissenschaftler sind immer noch der Ansicht, man brauche einen Reaktorkern weder von einem Atomkern noch von einem Zellkern zu unterscheiden, wenn man politisch gewichtig und lautstark mitreden will. Eine Ansicht, die gerade dann vertreten wird, wenn man merkt, dass man trotz dieses Mankos ungebrochen Gehör findet, weil ja alle im gleichen Boot der Verständnislosigkeit sitzen.
Dieses Buch bietet die Möglichkeit, sich dank der Hilfe von Anekdoten mit der treibenden Kraft der Wissenschaft zu befreunden. Anekdoten gibt es seit den späten Tagen der Antike, und der Anfangsbuchstabe A drückt vor allem aus, was die jeweils präsentierte Begebenheit nicht will, nämlich so etwas wie ein systematisches Gedankengebäude errichten. So wie ein Atom unteilbar ist, kann die Anekdote unteilbar in dem Sinne sein, dass zwar das große Ganze stimmt, aber nicht unbedingt alle Kleinigkeiten zutreffen. Anekdoten treten wie Atome vor einem realen Hintergrund auf, ohne völlig in ihm aufzugehen. Es geht weniger um höchste Korrektheit als um Wahre Geschichten, erlogen von Loriot, wie eines der Lieblingsbücher aus den Teenagertagen des Autors heißt. Und es geht um Klatsch und Tratsch, nicht nur, wie ihn alle Menschen gerne hören und verbreiten, sondern auch im Sinne des gleichnamigen Buches des Evolutionsbiologen Robin Dunbar. Dieser macht sich Gedanken über den phylogenetischen Ursprung der menschlichen Sprache und verweist auf den sozialen Kitt, der zustande kommt durch das emsige Tuscheln von Ohr zu Ohr, das viele Menschen voller Vergnügen hinter vorgehaltener Hand betreiben. Wer mit Freunden und Kollegen in entspannter Runde die eine oder andere Klatschgeschichte austauscht, wird wissen, was gemeint ist. Und schon vor mehr als tausend Jahren enthielten die ersten spätantiken Anekdota genau das, was nach wie vor beliebt ist und einigen bunt illustrierten Zeitschriften bis heute als Existenzgrundlage dient: Klatsch. Damals über einen Kaiser und seinen Hofstaat, heute über Präsidenten, aber auch über Film-, Pop- und Sportstars und manche B-Prominente, die sich um die Aufmerksamkeit der Berichterstatter bemühen und dafür zu manch absonderlichen Mitteln greifen.
Als der Historiker Prokopios von Caesarea im 6. Jahrhundert nach Christus die ersten Anekdota verfasste, wollte er seinen Herrscher Justinian I. kritisieren und der Lächerlichkeit preisgeben, was sowohl kurzfristig gelungen ist als auch eine langfristige Nebenwirkung mit sich gebracht hat: Mit den von ihm geschaffenen Anekdoten entwickelte sich nämlich ein literarisches Genre, an dem sich Poeten immer wieder versucht haben, auch wenn viele Geschichten nur auf der klanglichen Ebene geblieben sind und sich in mündlicher Form tradiert finden, ohne als Text vorzuliegen.
Anekdoten bieten Menschen die Gelegenheit, ihrer natürlichen Neigung zu Klatsch und Tratsch nachzugehen. Und dabei müssen sie sich nicht nur auf Personen einlassen, die von ihnen als Künstler, Philosophen oder Politiker bewundert werden. (Wer wüsste sich nicht an das zu erinnern, was der weise Diogenes seinem großen Herrscher Alexander geantwortet hat, als der griechische König den Mann in der Tonne fragte, was er für ihn tun könne, nämlich »Geh’ mir aus der Sonne!«) Wenn sie auch historische Figuren mit in ihre Gespräche einbeziehen, denen sie die Kultur der Naturwissenschaften verdanken, kann die Welt, in der sie leben, nur besser werden. Es stimmt einfach: »Wissenschaft wird von Menschen gemacht«, und Anekdoten können helfen, neugierig auf sie zu werden, auf die Menschen ebenso wie auf deren Wissenschaft.
»Davon glaube ich kein Wort!« – »I don’t believe a word of it!« Mit diesen oftmals knurrig und kopfschüttelnd ausgesprochenen Worten reagierte der 1906 in Berlin geborene und 1969 in Stockholm mit Nobelpreisehren ausgestattete Max Delbrück1 auf Wissenschaftler, die ihm hocherfreut von einem ihrer Ansicht nach wichtigen Versuchsergebnis berichteten – und auf seine lobende Anerkennung hofften. Aber Delbrück, der 1937 von Berlin nach Pasadena bei Los Angeles gegangen war, um am dortigen California Institute of Technology (Caltech) das Atom der Biologen zu finden, schüttelte in vielen Fällen nur unnachgiebig den Kopf. Dann verzog der in den Nachkriegsjahren von der Forschergemeinde als Wegbereiter der Molekularbiologie gefeierte Intellektuelle seinen Mund, was seinem Gesicht fast ein entsetztes Aussehen verlieh, und wiederholte unbekümmert sein harsches Verdikt, um den verdutzten Kollegen mit den besten Wünschen im Gang stehen zu lassen.
Natürlich sprach sich auf den Fluren der Universitäten und bei Gesprächen auf Konferenzen herum, wie rücksichtslos und grob Delbrück seine oft allzu raschen Urteile fällte. Erwähnt sei hier der Fall, in dem ein Genetiker ihm voller Stolz und mit einem strahlenden Lächeln berichtete, wie er ein einzelnes Gen in Fliegen gefunden habe, das den ungefähr auf vierundzwanzig Stunden angelegten (und deshalb circadian genannten) Biorhythmus der Insekten beeinflusste oder vielleicht sogar bestimmte; oder jener Fall, in dem ein befreundeter Astronom Delbrück am Caltech ganz aufgeregt davon erzählte, dass es weniger sichtbare und mehr unsichtbare Materie (Dunkelmaterie) im Kosmos gäbe. Zudem beklagte man die große Mühe, die man hatte, Delbrücks Aufmerksamkeit erneut auf das angesprochene Thema zu lenken. Aber nach und nach merkten vor allem die Molekularbiologen, dass Delbrück das ihm mitgeteilte Ergebnis mit seiner schroffen Art eigentlich aufwertete und seine Gesprächspartner vor allem dazu herausfordern wollte, tunlichst Gewissheit über das Berichtete zu erlangen. So kam es dann auch, dass er in den meisten Fällen seiner demonstrativen und unhöflichen Ungläubigkeit schlicht danebenlag – natürlich sowohl in dem erwähnten Beispiel mit dem Fliegengen als auch bei der Existenz von Dunkelmaterie. Und so drehten seine Kollegen eines Tages mit diebischer Freude den Spieß gemeinsam um und verabredeten nach einem Vorschlag des Molekularbiologen Sydney Brenner Folgendes: Wenn Delbrück auf eine wissenschaftliche Mitteilung seine berüchtigte Replik »Davon glaube ich kein Wort!« von sich geben würde, sollte man nicht verzagen, sondern sich – im Gegenteil! – freuen, denn mit Delbrücks Abweisung wachse die Wahrscheinlichkeit, dass man zum einen recht habe und zum anderen etwas von Relevanz vorweisen könne. Unangenehmer sei es, wenn Delbrück gar nicht reagiere und einfach gelangweilt weiterginge. Dann habe man bei seinen Forschungsarbeiten etwas gefunden, das entweder wenig weiterführend sei oder niemand glauben könne und wahrscheinlich besser auf dem Müllhaufen der vergeblichen wissenschaftlichen Bemühungen landen sollte.
Übrigens – der vor kurzem im hohen Alter verstorbene Sydney Brenner hat sich noch als 90-Jähriger Gedanken über die genetische Wissenschaft und das geheimnisvolle Leben gemacht, die sie erkundet. Dieser große alte Mann der modernen Biologie hat stets darauf hingewiesen, dass sich zum einen die meisten Ideen von Wissenschaftlern irgendwann als falsch oder überholt erweisen – als Brenner studierte, traute zum Beispiel noch niemand der DNA zu, den Stoff zu bilden, aus dem die Gene sind, und die Biochemiker favorisierten völlig andere Moleküle –, und dass zum anderen ein einzelner Gedanke, selbst wenn er noch so gut zu sein scheint, nicht die ganze Welt erklären, sondern bestenfalls bloß ein Stück von ihr erfassen könne. Brenner schlug deshalb Freunden und Kollegen vor, im Haus der Wissenschaft immer mit einem Besen in der Hand umherzulaufen. Mit ihm könne man erst alles unter den Teppich kehren, was entweder nicht stimmte oder was nicht verstanden worden war, um danach zu schauen, ob man auf dem strapazierten Teppich überhaupt noch aufrecht stehen und sich weiter umschauen konnte. Wenn ja, sollte man andere einladen, sich neben einen zu stellen, um das hübsche und erfreuliche Kehrergebnis zu feiern. Mir scheint, Brenners Besen sollte unentwegt und schwungvoll durch den Tempel des Wissens fegen und an vielen Stellen gehörig Staub aufwirbeln.
Noch einmal zurück zu Delbrücks beliebtem Satz »I don’t believe a word of it!« Im Oxford Book of Scientific Anecdotes mit dem Titel Eurekas and Euphorias, das der in London tätige Zellbiologe Walter Gratzer herausgegeben hat, ist zu erfahren, dass Delbrücks Ausspruch einen konkreten historischen Vorläufer hat. Das damit gemeinte ungläubige Staunen findet sich nämlich in genau diesen Worten bereits in den 1938 erschienenen Erinnerungen des in den USA geborenen, aber in England lebenden Schriftstellers Logan Pearsall Smith. In seinen Unforgotten Years erzählt Smith unter anderem von Benjamin Jowett, der als Professor für antike Sprachen in Oxford unterrichtete und zeit seines Lebens mehr von alten Traditionen als von neuen Forschungsergebnissen hielt, auch wenn diese aus dem 19. Jahrhundert stammten. Als er zum ersten Mal von der 1875 in Deutschland gemachten Entdeckung des Kniesehnenreflexes hörte, bei dem ein leichter Schlag auf die Patellarsehne unterhalb des Knies zu einer Streckung des Kniegelenks führt, was den Unterschenkel in die Höhe hüpfen lässt, schüttelte der Sprachgelehrte sein weises Haupt und rief aus: »I don’t believe a word of it!« Er glaubte einfach nicht, dass ein Nervensystem derart vorhersagbar funktionierte und mit ein wenig Schwung von außen derart wirkungsvoll angestoßen werden konnte. Allerdings stellte sich der zweifelnde Gräzist nicht lange stur. Er forderte vielmehr den Überbringer der ihm komisch erscheinenden Nachricht auf, ihm einen entsprechenden Schlag auf die Kniesehne zu versetzen – und staunte dann dermaßen über sein in die Höhe schnellendes Bein, dass er seine Einstellung der naturwissenschaftlichen Forschung gegenüber grundsätzlich änderte. Von nun an wartete er neugierig auf weitere neurologische Ergebnisse und motorische Reflexe. Nicht nur der Geist, auch der ihn beherbergende Körper kamen dem gelehrten Humanisten jetzt wunderbar vor, ohne dessen zumindest muskuläre und andere materielle Hilfe bekanntlich niemand sprechen kann, und wahrscheinlich am allerwenigsten das klassische Griechisch, auch wenn dessen Klang dem Geist noch so sehr behagt.
Ganz zuletzt soll dieses erste Kapitel mit persönlich erlebten Anekdoten und dem dazugehörenden Hinweis schließen, dass der Autor in den 1970er-Jahren der letzte Doktorand von Delbrück am Caltech in Pasadena war und dessen Davon-glaube-ich-kein-Wort-Skepsis am eigenen Leib erfahren durfte.2 Es ereignete sich, als ich ihm von meiner Beobachtung erzählte, dass der kleine Pilz, mit dem in Delbrücks Laboratorium gearbeitet wurde, seine Stängelchen beim Wachsen dem Experimentator entgegenkrümmte, wenn man diese als »Sporangiophoren« bezeichneten Strukturen nur vorsichtig genug anpustete und keinen Sturm dabei entfachte. Delbrück konnte nicht glauben, dass das primitiv wirkende winzige Lebewesen derart windsensitiv war und so empfindsam reagierte, doch das geschilderte – und sich bald als reproduzierbar erweisende, also als real erhärtende und dann auch untersuchenswerte – Phänomen ließ ihn nicht los, weshalb er seinen Studenten spontan abends zum Dinner einlud. Zwar konnte man beim Essen im familiären Kreis selbst nicht viel über die Wissenschaft reden – außer zu verabreden, dem Windphänomen weiter auf den Fersen zu bleiben, wie es dann auch geschehen ist –, aber im Haushalt der Delbrücks gab es keinen Geschirrspüler, weil der Hausherr es liebte, mit seinen Gästen beim Abwasch zu plaudern. Und während man die Teller säuberte und abwischte, versuchte Delbrück zugleich sie trockenzublasen, um vielleicht so das Geheimnis des Windes zu erfassen.
Er freute sich auf jeden Fall über die neue Fragestellung, die ihn am nächsten Morgen fröhlich forschen ließ. Beim gemeinsamen Spülen konnte man nach dem kulinarischen Genuss ganz entspannt manchem geistigen Vergnügen nachgehen, erst trickreiche Experimente entwerfen und später eher weinselig verrückte Gedanken vortragen. Und manch einer beanspruchte auch noch am nächsten Tag seine Gültigkeit, wenn man sich wieder im Laboratorium herumtrieb und weiter an seinen Untersuchungsobjekten forschte. Falls einem dabei erneut eine komische Beobachtung gelang, konnte man schnurstracks zu Delbrück laufen, der oftmals in seinem Büro zu finden war. Auf dessen Tür stand in großen Buchstaben: »Enter without knocking«, und darunter etwas kleiner: »If you can«. »Herein ohne anzuklopfen«, könnte man vielleicht auf Deutsch sagen, wobei die sich anschließende Mahnung »Falls Du es schaffst« mehr zur Ermutigung gedacht war und sich der Tatsache verdankte, dass die Tür erstens ziemlich schwer war und zweitens oftmals klemmte. Aber wer sie öffnen wollte und kräftig zupackte, konnte einfach in das Zimmer hineingehen und seine Botschaft loswerden. Allerdings erst, nachdem er in dem dort wartenden knallgelben Sessel Platz genommen hatte, der einen merkwürdig tief einsinken ließ. Von oben in aufrechter Haltung lächelte Delbrück den jetzt von weit unten aufblickenden Delinquenten an, der in dieser Situation allen Mut brauchte, um seinen Bericht abzuliefern – und nicht überrascht sein durfte, wenn er zuletzt Delbrücks liebsten Satz zu hören bekam: »Davon glaube ich kein Wort!«
Zwar hätte man manchmal gern ein direktes Lob von Delbrück gehört, doch meistens trieb er seine Studenten mit unangenehmen Bemerkungen an, was ihnen allerdings letztlich nur Vorteile bringen und retrospektiv auch gefallen konnte. Sein Urteil konnte aber auch unangenehm hart werden, nämlich dann, wenn er es am Ende eines Seminarvortrags äußerte, der ihm kein Vergnügen bereitet hatte. Meist fügte er in einem solchen Fall ganz zuletzt hinzu: »Das war der schlechteste Vortrag, den ich je gehört habe.« Doch einige Freunde meinten auch dann noch, dass er dies vor allem sagte, um den Kritisierten beim nächsten Mal zu besseren Leistungen zu motivieren – denn wenn der Vortrag wirklich schlecht gewesen wäre, hätte Delbrück den Saal vor seinem Ende verlassen, und zwar so, dass jeder es sehen konnte.
Übrigens – Delbrück liebte es, wenn man versuchte, seine großen oder groben Witze zu toppen und sich zu wehren. Gelungen ist dies zum Beispiel dem Biophysiker George Feher aus San Diego, der eines Tages vom Caltech zu einem Vortrag eingeladen war. Feher bedankte sich und sagte, er käme nur, wenn er zwei Vorträge halten dürfe. Auf die erstaunte Rückfrage, warum er denn so etwas verlange, antwortete der Biophysiker, er wolle wenigstens einen Vortrag halten, von dem Delbrück nicht sagen könne, dass es der schlechteste Vortrag sei, den er je gehört habe. Der Ausgetrickste reagierte mit schallendem Lachen. Doch dabei sann er wahrscheinlich längst auf Rache.
Ob Delbrück von den oben zitierten Unvergesslichen Jahren von Logan Pearsall Smith jemals gehört oder sie gar gelesen hat, ist nicht bekannt, aber das kritische Knurren mit seinen oftmals stimulierenden Folgen hat er wahrscheinlich von dem großen Physiker Wolfgang Pauli übernommen, der in den frühen 1930er-Jahren in Zürich tätig gewesen war.3 Der spätere Biologe Delbrück konnte mit einem Stipendium der amerikanischen Rockefeller-Stiftung bei Pauli als Postdoc arbeiten, nachdem er in Göttingen seine Doktorarbeit auf dem Gebiet der Theoretischen Physik abgeschlossen hatte.
Seit den 1920er-Jahren erlebte diese Wissenschaft bei ihren Versuchen, die Atome zu verstehen, höchst dramatische Änderungen in ihrem Weltbild, und während die beteiligten Physiker mit wachsender Verzweiflung in den Instituten umherrannten und ohne ihre immer verrückter scheinenden Ideen nicht weiterkamen, trösteten sie sich mit einer poetischen Entschuldigung in Form von Hamlets Worten: »Ist es Wahnsinn, so hat es doch Methode.« Zu den Facetten dieser irrsinnigen Methode gehörte es kurioserweise, einen theoretischen Vorschlag nicht deshalb abzulehnen, weil er ziemlich verrückt aussah, sondern deshalb, weil er nicht verrückt genug aussah. »It’s not crazy enough«, lautete das Argument, mit dem viele Ideen einfach übergangen wurden – natürlich auf Englisch, da die Wissenschaft immer internationaler wurde. Wenn man Glück hatte, hieß es am Ende eines Vortrags, in dem neue Ideen präsentiert wurden: »Die Vorschläge klingen verschroben genug, an denen könnte tatsächlich etwas dran sein.«
Verrückt genug erschien den Physikern zum Beispiel Paulis Idee, den Elektronen in den Atomen die unanschaulich bleibende Möglichkeit einzuräumen, auf zwei Weisen zu existieren, die man »rauf« und »runter« nannte, »Spin up« oder »Spin down«. Diese Zweiteilung konnte sich zwar niemand zwingend als physikalische Eigenschaft vorstellen, sie bot mathematisch aber die Möglichkeit, die Teilchen in einem Molekül auf Distanz zu halten und den chemischen Gebilden ihre funktionierende und stabile Form zu geben. So vorzugehen, sah zwar tatsächlich nach Wahnsinn aus, bewährte sich aber durchweg als erfolgreiche Methode und ließ die Physiker in den 1920/30er-Jahren aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.
Der im Jahre 1900 geborene Pauli, der 1945 den Nobelpreis für sein Fach bekommen sollte, konnte nicht nur ebenso viele verrückte Ideen aus dem Hut zaubern wie einige andere seines Fachs, er konnte auch gnadenlos erkennen, wann die rein mathematischen Spinner zu weit gegangen waren und vergessen hatten, dass sie keine Zahlenspielerei, sondern eine Naturwissenschaft betrieben. »Ich habe nicht immer als richtig erkannt, was sich später als richtig herausstellte«, hat Pauli einmal eingeräumt, »aber ich habe nie als richtig akzeptiert, was sich später als falsch erwies.«
Um den Zerfall von radioaktiven Atomen verstehen zu können, propagierte Pauli die Existenz eines nicht nur unbekannten, sondern zunächst auch unbegreiflichen Teilchens – es sollte mehr oder weniger ein Nichts sein, das sich dreht – und wettete eine Kiste Champagner darauf, dass die Physiker bis zum Ende seines Lebens niemals in der Lage wären, das konkrete Vorhandensein dieses Teilchens nachzuweisen. Doch als dieser kecke Pauli in einem Vortrag eines Kollegen den Vorschlag hörte, man könne doch den Energiesatz kurzzeitig außer Kraft setzen, wenn das helfe, die Atome theoretisch in den Griff zu bekommen, da stöhnte Pauli laut auf und meinte erzürnt: »Das ist nicht richtig. Das ist nicht einmal falsch.« Als der Vortragende ängstlich nachfragte: »Aber Herr Pauli, Sie glauben doch nicht, dass alles, was ich heute Nachmittag gesagt habe, Unsinn war?«, bekam er als niederschmetternde Antwort: »Nein, gar nicht, aber was Sie gesagt haben, war so konfus, dass man gar nicht sagen kann, ob es Unsinn war.« Und selbst, wer meinte, brillant gewesen zu sein, musste bei Pauli wachsam sein. So pflegte dieser gerne das Feuerwerk der Ideen zu loben, das ein Referent gerade präsentiert hatte, aber nur, um dann zu ergänzen, was es eben mit einem Feuerwerk auf sich habe: Bei seinem Abbrennen herrsche zwar mächtig Lärm, wie jeder wisse, aber zu sehen bekomme man dabei kaum etwas.
Bei Seminaren saß Pauli stets in der ersten Reihe, und manchmal standen eine Spielzeugkanone oder eine Miniaturtrompete vor ihm. Er durfte sie bei jedem Fehler des Vortragenden betätigen und einen Böllerschuss oder ein anderes Signal abgeben, so dass er von seinen Freunden und Feinden nach und nach den Spitznamen »Geißel Gottes« bekam. Dies gefiel ihm, denn er unterschrieb bald viele seiner Briefe auf diese Weise. In einem Schreiben sollte er den Antrag eines Kollegen für ein Stipendium begutachten, was Pauli mit den für ihn erstaunlich freundlichen Worten tat: »Ich habe gegen ihn nichts einzuwenden.« Als er einmal von Albert Einstein persönlich gebeten wurde, einen Physiker einzuschätzen, der bei dem großen Mann arbeiten wollte, schrieb Pauli seinem Duzfreund: »Lieber Albert! Ich kann Dir den Herrn wohl empfehlen, denn er ist ein tüchtiger junger Mann. Er hat nur einen Fehler, nämlich den, dass er manchmal zwischen Mathematik und Physik nicht unterscheiden kann. Das sollte Dir aber nichts ausmachen, denn Du selbst bist ja auch schon fast an diesem Punkt angelangt.«
Kopenhagener Osterkonferenz 1930 mit Trompete; erste Reihe, 2. bis 5. von links: Niels Bohr, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli
Da Pauli in der Schweiz wohnte, unterlag er nicht dem in Deutschland eingeführten politischen Zwang, Briefe an die Regierung oder amtliche Stellen – etwa zur Einwerbung von Finanzmitteln – mit »Heil Hitler« zu schließen. Als ihm ein Kollege aus Berlin verriet, wie schwer ihm dieser Nazi-Gruß und diese unterwürfige Geste falle und wie viel schöner doch ein »Mit den besten Grüßen« klinge, meinte Pauli, man könne ruhig und ohne schlechtes Gewissen der staatlichen Vorschrift folgen. Schließlich sei die offizielle Grußformel doch genauso verlogen wie die bürgerliche Floskel.
Paulis oftmals zynische Bemerkungen machten auch keinen Halt vor den ganz Großen der Wissenschaft. Dies kann man am Beispiel seines Freundes Werner Heisenberg sehen, der 1933 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet worden war und sich Ende der 1950er-Jahre an einer Weltformel versuchte. Als Heisenberg in einem Rundfunkinterview behauptete, sie gefunden zu haben, schrieb Pauli dem mit ihm befreundeten russischen Physiker George Gamow einen Brief, in dem er unter einem leeren Rechteck in Paulis Handschrift notierte: »Das soll der Welt zeigen, dass ich wie Tizian malen kann. Es fehlen nur die technischen Details.«
Paulis Zeichnung mit Handschrift
Als Pauli dies schrieb, war in den Jahren zuvor auf raffiniertem experimentellem Wege das oben erwähnte sich drehende Nichts nachgewiesen und ihm klar geworden, dass er besagte Wette verloren hatte – und der Champagner wurde sogar bezahlt und getrunken –, aber der ganze Vorgang hatte sein Ansehen nur vergrößert, denn unter den Physikern konnte nur solch ein zweifelnder Teufel wie er überhaupt Wetten anbieten. Seine Kollegen kannten so etwas nur aus Goethes Faust, also dem Drama, in dem der Teufel gleich zwei Wetten anbietet: Eine erste dem Herrn im Himmel persönlich um die Seele des verzweifelten Faust auf Erden, und eine zweite dem Gelehrten selbst, dem er – erneut für seine Seele als Gegenleistung – einen höchsten Augenblick zu liefern verspricht. Wobei bis heute niemand weiß und die Philologen darüber streiten, wen Goethe die teuflischen Wetten am Ende des Dramas hat gewinnen lassen.
Im Jahre 1932 feierte die europäische Welt den 100. Todestag von Goethe. Als sich um Ostern die Physiker zu ihrer Frühjahrstagung in Kopenhagen trafen, führten sie am Ende der Konferenz ein Stück auf, das sie Faust – Eine Historie nannten und mit dem sie Goethes Drama parodierten. Zwar wird in der Fassung, die in dem Buch Der Kopenhagener Geist in der Physik zu finden ist, kein Autor der Faustparodie genannt, aber nach Auskünften von Carl Friedrich von Weizsäcker kann man Max Delbrück als den eigentlichen Urheber des im April 1932 aufgeführten Stücks betrachten. Delbrück selbst tritt darin als »Conferencier« auf, der dem Publikum zunächst die klassische Walpurgisnacht ankündigt, bei der allerdings keine Verbindung mit den Zuschauern (Beobachtern) zustande kommt – wie es sich in der klassischen Physik gehört –, weshalb auch nichts passiert. Faust schlägt nun vor, »die klassische Walpurgisnacht durch Wirkung des Publikums auf dieselbe zu entfernen« und »zur quantentheoretischen Walpurgisnacht überzugehen.« Dies wird akzeptiert, und das Spiel geht weiter. Es endet mit der »Apotheose des wahren Neutrons«, also des physikalischen Teilchens, das 1932 entdeckt worden war und die Kernphysik vor völlig neue Aufgaben stellte.
Die neue Physik mit den Quantensprüngen ist von so jungen Physikern entworfen worden – fast alle waren jünger als 30 Jahre –, dass manchmal von einer »Kinderphysik« die Rede war. Und so heißt es passend dazu am Ende der Faustparodie:
Gewiss! Das Alter ist ein kaltes Fieber,
Das jeden Physiker bedroht!
Hat einer dreißig Jahr vorüber,
So ist er schon so gut wie tot.
Am besten wär’s, Euch zeitig totzuschlagen.
Der Pauli hat hier weiter nichts zu sagen.