Schweins, Michael; Golluch, Norbert Bei dem Sauwetter packt mich das Fernweh

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© Piper Verlag GmbH, München 2019
Illustrationen: Peter Gaymann
Covergestaltung: Cornelia Niere
Coverabbildung: Peter Gaymann
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

 

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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

wagen Sie sich mit uns in wilde, wenig erforschte Weiten: Unser Sprachzentrum, der Teil unseres Gehirns, mit dessen Hilfe wir unsere Welt benennen und damit eigentlich erst wahrnehmbar machen, ist umgeben von einem Meer aus Wörtern. Es findet in diesem Ozean an Namen, Benennungen und Aussagen immer die passende Zutat zu dem kommunikativen Rezept, an dem es gerade arbeitet. Dabei fischt es allerdings nicht in einem stillen Gewässer, in keiner friedlichen Ostsee, sondern in einem wilden Ozean, der nicht nur von so liebenswerten Buchstabengeschöpfen bevölkert wird wie Blütenzauber und Herzenswunsch, sondern auch von gefährlichen Wortungeheuern wie Aufmerksamkeitsdefizitstörung und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz. Diesen verbalen Monstern, so meinen wir, sollte man nicht nur beim alltäglichen Gebrauch von Sprache aus dem Wege gehen, sondern sie überhaupt in unerreichbare Tiefen versenken.

Hier soll es um die schönen Wörter gehen, solche, an die man redensartlich sein Herz hängen kann, unsere Lieblingswörter. Sie sind keine hübschen, aber unnützen Fossilien, sondern als fester Bestandteil der deutschen Sprache immer noch in Gebrauch. Sie werden täglich gesprochen und geschrieben, denn sonst wäre uns kaum die Gelegenheit gegeben, sie aus den Tiefen des Sprach-ozeans zu angeln.

Im Gegensatz zu Wörtern wie Bandsalat, der Bezeichnung für komplizierte Verwicklungen der vor 30 Jahren sehr beliebten Musikkassette, sind sie nicht Teil geschichtlicher Verwerfungen und somit dem Untergang geweiht, und sie werden auch nicht so schnell in Vergessenheit geraten. Damit alle Leser die erwählten Wörter in ihrer ganzen Bedeutung verstehen und von deren Schönheit profitieren können, haben wir sie zu fast hundert Prozent dem allgemeinen deutschen Wortschatz der Hochsprache entnommen. Dialektwörter oder solche, die lediglich im regionalen Sprachgebrauch vorkommen, rein schichtenspezifische oder der Jugendsprache zuzurechnende Wörter sind hier nicht das Thema – ebenso wenig das sich ständig weiterentwickelnde, vielschichtige Migrantendeutsch. Sie alle tummeln sich weiter im Sprachozean, dort, wo der Wellengang stark und die Strömungen unberechenbar sind.

Zur Wahl als Lieblingswort war so ziemlich alles zugelassen, was in Deutschland derzeit gesprochen wird. Keine Wortart wurde diskriminiert: Verben, Adjektive, Adverbien und Substantive – sie alle waren völlig gleichberechtigt. Sprichwörter, Redensarten und idiomatische Ausdrücke stehen hier allerdings nicht im Fokus. Es soll die Schönheit oder Skurrilität des einzelnen Wortes beeindrucken, nicht der möglicherweise hintergründige Sinn eines mehrteiligen Sprachgebildes.

Alles in allem harte Kriterien, finden Sie? Die Auswahl ist nicht das Ergebnis sprachwissenschaftlicher Präzision, Aspekte der Germanistik spielen nur am Rande eine Rolle. Sie geschah spontan, von Herzen, mit einer Prise Humor und einem hoffentlich gesunden Sprachgefühl. Um im Bild zu bleiben und unseren Besuch am Sprachozean zugleich zu beenden: Manchmal ging uns auch ein besonders guter Zufallsfang ins Netz.

Dieses Buch soll Lesevergnügen bereiten und Ihnen ein leichtes Schmunzeln auf die Lippen zaubern. Wir wollten in Zeiten zunehmender Sprachdynamik, aber auch einer gewissen Sprachverarmung, die unter anderem mit dem Gebrauch und der Schnelligkeit digitaler Medien zusammenhängt, eine Lanze brechen für skurrile, gefühlvolle, witzige und kreative Wörter und Wortschöpfungen, die unsere Sprache und deren Möglichkeiten auszeichnen und derart einzigartig machen.

Vollständigkeit ist bei einem solchen Projekt nicht zu erreichen – das ist uns bewusst. Daher haben wir uns auf eine persönliche Auswahl beschränkt. Möglicherweise beeindruckt von deren Magie, hat sich Peter Gaymann dazu bereit erklärt, uns dieses Buch zu illustrieren. Wir danken ihm dafür und hoffen, dass auf diesem Wege ein gut les- und fühlbares Buch entstanden ist.

Kapiteleins

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Beim Namen genannt

Personenbezeichnungen sind so etwas wie sprachliche Etiketten, die jedem Menschen zugeordnet werden. Einige von ihnen tragen wir öffentlich zur Schau wie unseren Vor- und Nachnamen oder unsere Berufsbezeichnung, andere hängen wir uns nur temporär und im engsten Kreis der Familie um – Kuschelbär, Goldlöckchen, Couch-Potato – und wieder andere haften unterschiedlich lang an unserer Person, verliehen von uns selbst – Champion aller Klassen – oder unseren Mitmenschen. Auf manche dieser sprachlichen Namensschilder sind wir stolz – Angestellter des Monats –, andere empfinden wir als störend, lästig und sogar diskriminierend, weil sie uns von übelwollenden Mitmenschen angeheftet wurden. Die letzte und unangenehmste Kategorie sprachlicher Labels würden wir lieber heute als morgen wieder loswerden. Dabei handelt es sich um besonders »klebrige« Klassifizierungen – Versager, Weichei, Erbsenzähler –, benutzt von Konkurrenten und Feinden, die sich Luft machen müssen. Ob wohlwollend oder aus dem Bereich übler Nachrede, hier sollen einige der schönsten und kraftvollsten Personenbezeichnungen untersucht und durchleuchtet werden.

Start

Armleuchter

Ein Armleuchter, auch als Kandelaber bezeichnet, ist ein Kerzenleuchter, der mehrere Arme hat und mit dem Räume festlich illuminiert werden können. Das Wort hat einen kompletten Bedeutungswandel durchlebt und wird heute vor allem abschätzig für Personen gebraucht, die als Trottel oder Dummkopf gelten. Hörte man in der Vergangenheit das Wort Armleuchter, so erschloss sich einem in der Regel sofort sein direkter Wortsinn: Man wusste, es handelt sich um einen Kandelaber, der über kerzenbestückte Arme verfügt, die sein Licht weiter und intensiver streuen, als dies bei einem einfachen – armlosen – Kerzenhalter der Fall ist. Im Schein aktueller Lichtquellen betrachtet, könnte ein moderner Sprachnutzer das Kompositum etwa wie folgt analysieren: In dieser Zusammensetzung steckt das Wort Arm für einen Körperteil oder aber arm für den Mangel an materiellen Dingen. Leuchten lässt sich entweder naheliegend als das Verströmen von Licht deuten oder aber im übertragenen Sinne als Ausdruck geistiger Strahlkraft – wie etwa in der Aussage, jemand ist eine Leuchte. Auch beim Erleuchteten brennt im Dachstübchen helles Licht. So erschließt sich das Wort Armleuchter in seiner perfiden Bedeutung als Schimpfwort. Das Wort arm steht tatsächlich nicht für eine Körperextremität, sondern für Armut und Mangel – an Erleuchtung. Der sprichwörtliche Armleuchter wird als intellektuell unterbelichtet gesehen, weil es ihm an geistiger Leuchtkraft fehlt.

Emanzipierte Männer finden es übrigens merkwürdig, dass dieses Wort fast ausschließlich in der maskulinen Form auftritt. Von Armleuchterinnen hat man noch nicht gehört, was aber nicht bedeutet, dass diese nicht existieren … In der Jugendsprache der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war das Wort Armleuchter sogar für eine gewisse Zeit ein Synonym für Mann.

Übrigens: Mit dem doppelten Sinn des Wortes Arm/arm spielt auch der scherzhafte Spruch »Lieber arm dran als Arm ab«. Er thematisiert gleichzeitig beide Wortbedeutungen und bezieht daraus seinen Witz.

Armleuchter

 

Arschgeige

Arschgeige ist ein deftiges und stark abwertendes Schimpfwort für jemanden, über dessen Person oder Handlungen man äußerst aufgebracht ist. Das vorangestellte Substantiv ist von hohem Beleidigungswert. Arsch war für den hinteren Teil des menschlichen Körpers schon zu Zeiten bekannt, als in hiesigen Regionen noch Althochdeutsch gesprochen und geschimpft wurde: Das damalige Vorläuferwort für Arsch lautete ars, hatte aber ganz und gar nichts mit dem lateinischen Wort für Kunst gemein, sondern ist vom indogermanischen orso-s abgeleitet, das womöglich im wienerischen Oarsch überlebt hat.

Was der zweite Teil des Wortes leistet und welche Aufgabe dabei der Geige zukommt, ist nicht einfach zu klären. Um Musik aus dem Verdauungstrakt geht es jedenfalls nicht. Manche Sprachforscher stellen eine Verbindung zu dem umgangssprachlichen Verb geigen für koitieren her.

Als Nebenklang schwingt mit, dass man möglicherweise der angesprochenen Person die Meinung geigen möchte. Dann wäre der Schimpfende der Solist, das beschimpfte Objekt das Instrument und das Schimpfen und Beleidigen an sich eine musikalische Leistung. Oder der Autor hat sich gerade in eine interpretatorische Sackgasse manövriert …

Das Schimpfwort Arschgeige kommt nicht gerade international daher – da Arsch im Englischen arse oder ass und im Französischen cul heißt, müssten die entsprechenden Zusammensetzungen arse fiddle oder ass violin bzw. cul de violon lauten. Tun sie aber nicht. Immerhin bietet die Schweiz mit Arschgiigä ein Synonym; im Russischen fehlt das Instrument, man begnügt sich mit zasranec, Arschloch.

Blindgänger

Die erste Assoziation, die sich bei dem Begriff Blindgänger einstellt, ist das Bild eines Menschen, der sich ohne Augenlicht gehend fortbewegt. Eine weitere Bedeutung bezeichnet eine Mine oder ein Explosivgeschoss, das nicht zur Explosion gekommen ist – nicht zu verwechseln mit dem Rohrkrepierer, einem Geschoss, das fatalerweise im Lauf der Schusswaffe explodiert. Einzug in die Soldatensprache findet das Wort Blindgänger im Ersten Weltkrieg und ist in diesem Rahmen bis heute in Gebrauch. Doch auch im übertragenen Sinne begegnet uns der Blindgänger mittlerweile überall: als ein Mensch, der viel verspricht, der sich selbst so einiges zutraut und dies manchmal auch nach außen hin lautstark kundtut, der am Ende aber nichts von seinen Versprechungen einhält. Die angekündigte Leistungsexplosion bleibt aus.

Parallel zum militärischen Umfeld oder der privaten Karriere bietet sich die Anwendung des Begriffs im erotisch-sexuellen Kontext an. Dort, wo es darum geht, Standfestigkeit zu zeigen, ist ein Blindgänger der Herausforderung nicht gewachsen und versagt kläglich. Im Gegensatz zum nicht explodierten Geschoss, das noch nach Jahren eine Gefahr für Leib und Leben darstellt, ist der menschliche Blindgänger normalerweise nicht dauerhaft gefährlich.

Blindgaenger

 

Dampfplauderer

Laut Definition ist der Dampfplauderer eine Person, die gerne und viel redet und dabei ausplaudert, was eigentlich noch niemand wissen soll: nicht spruchreife Verträge, Vereinbarungen, für die Verschwiegenheit vereinbart wurde, privateste Intimitäten oder gar Geheimwissen des Staatsschutzes. Die Presse liebt Dampfplauderer im öffentlichen Leben; die Informationen, mit denen sie um sich werfen, sind oft brandaktuell und von unschätzbarem Wert für die Klatschpresse und alle Arten von sozialen Medien. Ob nun bei der Regierungsbildung eine inoffizielle Ministerliste existiert oder die Pop-Queen am Wochenende heimlich den Software-Milliardär geheiratet hat: Der Dampfplauderer haut es raus. Oder die Plaudertasche, sein weibliches Pendant. Der Dampfplauderer steht ständig unter Mitteilungsdruck.

In beiden, der Plaudertasche und dem Dampfplauderer, steckt das Verb plaudern, das für ein lockeres Gespräch steht, über dem aber immer wie ein Damoklesschwert die Gefahr einer Indiskretion hängt – wer plaudert, könnte auch etwas ausplaudern. Das Verb hat seinen Ursprung im spätmittelhochdeutschen pludern, und das heißt nichts anderes als schwatzen. Der zweite Teil des Wortes – das Substantiv Dampf im männlichen Falle – versinnbildlicht den Druck, unter dem geplaudert wird, während in der weiblichen Variante die Tasche wohl den großen Vorrat an Informationen dokumentiert, aus dem die geschwätzige Dame schöpft.

Aber auch die deutsche Sprache ist geschwätzig: Es existieren viele sinnverwandte Wörter für den Dampfplauderer oder die Plaudertasche. Alle deuten darauf hin, dass es Menschen gibt, die nicht zum Schweigen und zum Bewahren von Geheimnissen geschaffen sind. Hier eine Auswahl, jedes Wort mit einer gewissen Varianz in der Bedeutung:

Geschlechtsneutral sind Plappermaul, Labertasche und Quasselstrippe.

Die weiblichen Hochleistungsschwätzerinnen nennt man Schnatterliese, Quasseltante, Klatschweib oder Waschweib.

Männer mit losem Mundwerk werden als Schwafler, Schwätzer, Phrasendrescher, Quatschkopf, Schwadroneur oder eben Dampfplauderer tituliert.

Das englische chatterbox und das norwegische pratmaker ebenso wie das französische Verb bavarder zeigen deutlich, dass die Globalisierung des Banalen auf dem besten Weg ist.

Dampfplauderer

 

Dorftrottel

Der Begriff Dorf bezeichnet eine kleinere Gemeinde, die in der Regel kein Stadtrecht besitzt. Das Leben in einem solchen Ort in ländlicher Umgebung ist überschaubar und oft geprägt durch konservatives Denken, traditionelle Lebenseinstellungen und ausgiebige soziale Kontrolle. In einem Dorf kennt jeder jeden, und die dort lebenden Personen schreiben sich gegenseitig häufig bestimmte Eigenschaften zu. Wer in diesem Sozialverbund den Titel Dorftrottel oder Dorfdepp erhält, dessen Licht brennt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht besonders hell. Allerdings wird der Ausdruck weniger unter Dorfbewohnern als vielmehr in nahezu jedem Milieu benutzt, und zwar um jemanden zu kennzeichnen, der in einer Gruppe – Firma, Familie, Freundeskreis – nur mühsam mithalten kann und sich unbeholfen oder dumm verhält. Man hat also die Kirche, nicht aber den Trottel im Dorf gelassen.

Eintagsfliege

In der Tat, die biologischen Fakten bestätigen den Namen zumindest teilweise: Eintagsfliegen – es gibt mehrere Arten – leben als Imago, also als erwachsenes Tier, nur sehr kurze Zeit. Einige von ihnen verfügen über eine Lebensspanne von nur wenigen Stunden, andere werden einen Tag alt. Die langlebigen Eintagsfliegen erreichen das biblische Alter von maximal vier Tagen. Vor diesem Hintergrund der begrenzten Lebenszeit wurde der Begriff Eintagsfliege zum quasi geflügelten Synonym für das Adjektiv kurzlebig, was durchaus nachvollziehbar sein dürfte. Eine Eintagsfliege im übertragenen Sinne kann alles Mögliche sein: ein One-Hit-Wonder in den Charts oder ein Popstar mit kurzer Halbwertzeit, ein Buch, das sich nicht lange am Markt behaupten kann, oder eine Schnapsidee, die, bei Licht betrachtet, schnell wieder verworfen wird. Der Eintagsfliege ist das alles egal. Sie nimmt in der knappen ihr verbleibenden Zeit nicht einmal Nahrung zu sich, sondern ist voll und ganz mit der Erhaltung ihrer Art beschäftigt – eine schöne Aufgabe.

Eintagsfliege

 

Erbschleicher

Für die Hinterbliebenen ist ein Todesfall ein schwerer Schlag. Allerdings mildert eine umfassende Erbschaft häufig die Trauer. Damit beim Erben auch alles seine Richtigkeit hat, muss derjenige, der etwas vererbt – der Erblasser –, ein gültiges Testament abfassen, das im Einzelnen festlegt, wer was erbt – und vor allem wie viel. Diese Tatsache nutzt der Erbschleicher aus: Er erschleicht sich das Vertrauen des Erblassers durch Schmeicheleien oder Überredungskünste und versucht so, im Testament genannt zu werden und an ein Erbe zu kommen, das ihm rechtlich eigentlich gar nicht zusteht. Zuweilen arbeiten Erbschleicher auch legal, verhalten sich aber den rechtmäßigen Erben gegenüber unkorrekt. Das Verb schleichen beschreibt in diesem Kontext ein Vorgehen, das durch Vertuschung, Hinterhältigkeit, Leisetreterei und perfide Planung geprägt ist. Wie ein gefährliches Raubtier pirscht sich der Erbschleicher an sein Opfer heran und ist im Einsatz seiner Mittel alles andere als wählerisch. Die Schönheit des Begriffs liegt in seiner Präzision – er beschreibt haargenau, was im realen Leben geschieht.

Erbschleicher

 

Erbsenzähler

Es gibt Menschen, die sehr großen Wert auf Genauigkeit legen und alles mit pedantischer Präzision erledigen. Sie sind nicht sonderlich beliebt und werden ironisch abwertend Erbsenzähler genannt. Wo steckt die Abwertung in diesem Wort? Man stelle sich einen Kaufmann vor, der mit Erbsen handelt. Wollte er ihr Gesamtgewicht bestimmen, wäre das naheliegende Vorgehen, sie abzuwiegen. Waagen weisen allerdings eine gewisse Ungenauigkeit auf, da kann die Menge schon mal um die eine oder andere Erbse differieren. Der Erbsenzähler will es aber genau wissen, verlässt sich deshalb nicht auf die Gewichtsbestimmung, sondern zählt die Erbsen einzeln. So erreichen Erbsenzähler maximale Präzision bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Unsinnigkeit – die pure Zeitverschwendung.

Wer in finanziellen Dingen ein Erbsenzähler ist, gilt sehr schnell als Geizhals. Vom übergenauen Erbsenzähler bis zur geizigen Krämerseele ist es gedanklich und bedeutungstechnisch nur ein Katzensprung.

Apropos Katze: Schon der große deutsche Autor des Barock, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622–1676), verwendete in seinem 1668 erschienenen Hauptwerk »Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch« das Wort Erbsenzähler, und zwar im Zusammenhang mit gestohlenen Lebensmitteln und einer angeblich dafür verantwortlichen Katze:

»Aber dieser Erbsenzähler wollte es nicht glauben. Er fing die Katze ein, wog sie und stellte fest, dass sie mit Haut und Haaren nicht so schwer war, wie seine Kutteln gewesen waren[1]

Eine leider nicht belegbare Anekdote zur Herkunft des Begriffs Erbsenzähler kursiert über den Verleger und Autor des ersten Reiseführers Karl Baedeker (18011859). Dieser soll beim Besteigen des Mailänder Doms nach jeweils zwanzig erklommenen Stufen eine Trockenerbse von der Westen- in die Hosentasche gesteckt haben. Oben angekommen, hat er die Zahl der in die Hosentasche gewanderten Erbsen mit zwanzig multipliziert und die Reststufen zu diesem Gesamtwert addiert. Auf dem Weg hinab machte er die Gegenprobe – alle zwanzig Stufen eine Erbse von der Hosen- zurück in die Westentasche. Kein Wunder, dass der Baedeker jahrzehntelang als der zuverlässigste Reiseführer auf dem Markt galt. Dennoch gibt es Zweifel an dieser Geschichte. Sicher scheint hingegen die Tatsache, dass der Begriff Erbsenzähler keine direkte Entsprechung in anderen europäischen Sprachen hat, es sei denn, man akzeptiert die englische Wortkombination bean counter als Bezeichnung für Pedanten.

Galgenvogel

Pechvogel, Pleitegeier, Schluckspecht, Schmutzfink, Streithahn, Zeitungsente, Spaßvogel und der später noch genauer zu behandelnde Lockvogel – sie alle flattern durch unseren kaum erforschten verbalen Luftraum. Ebenfalls zu den geflügelten Worten der deutschen Sprache gehört der Galgenvogel, das übelste Federvieh von allen.

Das Wort Galgenvogel setzt sich aus den einfachen Substantiven Galgen und Vogel zusammen. In ihm lebt die Geschichte gruseliger Strafvollstreckungen vergangener Tage weiter. Raben und Krähen waren die wirklichen Galgenvögel, weshalb sie im süddeutschen Raum auch tatsächlich so genannt werden. Die schwarzen Vögel, für die Aas ganz selbstverständlich zur Nahrung gehört, waren immer in der Nähe von Hinrichtungsstätten zu finden, wo sie sich an den Leichen der Erhängten gütlich taten.

Im Lauf der Zeit verschob sich die Bedeutung des Wortes Galgenvogel: Nun bezeichnete es nicht mehr einen der finsteren Vögel, sondern den armen Delinquenten, der sein Leben am Galgen lassen musste. Als Synonym tauchte gegen Mitte des 16. Jahrhunderts auch das Wort Galgenstrick auf – ein Teil des Hinrichtungswerkzeugs wurde zum Schimpfwort für den Gestrauchelten.

Von da aus war es nur noch ein kurzer Weg für den Galgenvogel vom tatsächlich hingerichteten Verbrecher zu einem Menschen mit kriminellem Potenzial und einer Option auf den Platz am Galgen. Heute muss man nicht einmal mehr verurteilt sein, um als Galgenvogel bezeichnet zu werden. Es genügt, einen schlechten Leumund zu besitzen, eine Person zu sein, der man den Strick um den Hals wünscht, weil sie als unehrlich gilt oder eine Zumutung für den Einzelnen und die Gesellschaft darstellt. Galgenvogel ist somit zum einfachen Schimpfwort geworden, ähnlich dem Taugenichts, dem Nichtsnutz oder dem Herumtreiber, nur eben eine Nummer deftiger.

Galgenvogel

 

Geizhals

Geizkragen und Geizhals sind zwei eigentümliche Wörter der deutschen Sprache. Sie bezeichnen dasselbe: einen Menschen, der nichts abgeben möchte oder eigentlich nie etwas abgibt. Die Herkunft dieser beiden Begriffe muss leider im Dunkel der Geschichte bleiben – Genaues lässt sich darüber nämlich nicht sagen. Weil Johannes Agricola (14941566), ein Freund Martin Luthers, bereits im 16. Jahrhundert über einen Bekannten schrieb: »Er ist ein rechter geytzhals«, lässt sich aber zumindest mit Gewissheit sagen: Das Wort ist schon recht alt.

Alt ist in Bezug auf den Geizhals ein wichtiges Stichwort: Manche assoziieren mit dem Begriff eine betagte Person mit dürrem, extrem faltigem Hals, ähnlich dem eines Truthahns. Überhaupt stellt man sich Geizhälse meistens alt und mager vor, mit scharf geschnittener Physiognomie und einem übellaunigen Gesichtsausdruck – so zumindest das Stereotyp. Warum ein Geizhals so aussieht? Das liegt auf der Hand, er gönnt sich ja schließlich nie etwas.

Der Hals taucht im Zusammenhang mit Geiz und Raffgier in der deutschen Sprache auch an anderer Stelle auf. Wer den Hals nicht vollkriegen kann, vermag nicht genug in sich hineinzustopfen. Derselbe Mensch ist vermutlich auch ein Geizhals.

Das deutsche Wort Geizhals ist übrigens ein Solitär. Im Englischen gibt es für knauserige Briten, Schotten und Iren zahlreiche Begriffe, nur nichts mit Hals oder Kragen: miser, meanie, scrooge, shylock, tightwad, niggard. Auch die französische Sprache bietet zahlreiche Varianten für den Geizhals, aber auch hier keine Verbindung zwischen Körper und Kopf: avare, avaricieux, cupide, avide, regardant, ragin, mesquin, grigou, pleure-misère usw.

Kindskopf

Eine einfache Wortverbindung: Der Kindskopf denkt mit dem Kopf eines Kindes, obwohl er seinem Alter nach durchaus zu den Erwachsenen zu zählen ist. Landläufigen Einschätzungen zufolge sind die Denkleistungen, die einem kindlichen Kopf entspringen, fragwürdig. Viele Erwachsene sprechen Kindern die Fähigkeit zu sinnvoller Überlegung und strategischem Handeln ab. Was und wie Kinder aus Sicht der Erwachsenen denken, bezeichnen die Adjektive infantil oder kindisch. Unter einem solchen Blickwinkel müsste man allerdings auch manchen Staatenlenker oder Politiker in Geschichte und Gegenwart als Kindskopf bezeichnen. Dem russischen Zaren Peter III. (17281762) wird nachgesagt, dass er lieber mit Zinnsoldaten spielte, als sich seinen Aufgaben als Herrscher zu widmen. Ein amerikanischer Präsident fängt sich in der Presse schon einmal den fragwürdigen Titel »Twitterkindskopf« ein (Der Freitag, 8.1.2018), und die damalige Chefin des Internationalen Währungsfonds IWF, Christine Lagarde, sagt es diplomatisch: »Es ist jetzt das Dringendste, dass wir wieder zu einem Dialog mit Erwachsenen kommen.« (Frankfurter Allgemeine, 19.6.2015). Formvollendeter kann man nicht ausdrücken, dass man glaubt, von Kindsköpfen umgeben zu sein.

Personen mit dieser scheinbar vernunftbetonten Haltung gegenüber Kindern übersehen leicht, dass im Kopf eines Kindes auch Fantasie und Kreativität ihren Platz haben, und das oft in größerem Maße als im Holzkopf eines Erwachsenen.

Kindskopf

 

Klinkenputzer

Der Klinkenputzer ist kein Mensch, dessen Aufgabe es ist, mit Politur und Wischtuch Türklinken auf Hochglanz zu bringen. Ursprünglich wurde damit der Beruf des Vertreters beziehungsweise in früheren Zeiten des Hausierers oder Hökers bezeichnet, der über Land von Tür zu Tür zieht, um seine Waren an den Mann oder an die Frau zu bringen. Er verkauft Staubsauger, Kämme, Zeitschriftenabos oder Lebensmittel. Die scherzhafte Bezeichnung Klinkenputzer verdankt der Vertreter der Tatsache, dass er zwangsläufig immer wieder Hand an Klinken legen muss, um Türen zu öffnen (oder zu schließen). Im Zeitalter des Internets steht dieser Beruf kurz vor dem Aussterben. Bergab ging es damit aber schon seit den ersten Tupperware-Partys und anderen öffentlichen oder privaten Verkaufsveranstaltungen. Supermärkte und Internethandel haben zum weiteren Niedergang beigetragen. Doch die Berufsbezeichnung hat den Beruf dank erweiterter Bedeutung überlebt: Der Begriff Klinkenputzer bezeichnet heute Menschen, die als Bittsteller auftreten, ähnlich wie die Handelsvertreter vergangener Tage, die sich und ihre Ware unterwürfig anpreisen mussten – die Bezeichnung Klinkenputzer entbehrt also nicht einer gewissen Abschätzigkeit und Gehässigkeit.

Korinthenkacker