Prof. Dr. Christian Antz

ist Referatsleiter im Wirtschaftsministerium Sachsen-Anhalt in Magdeburg sowie Honorarprofessor am Institut für Management und Tourismus an der Fachhochschule Westküste in Heide.

Sebastian Bartsch

ist evangelischer Theologe und Pfarrer in Hettstedt sowie Gründungspräsident der St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt.

Dr. Georg Hofmeister

ist evangelischer Theologe und leitet als Geschäftsführer die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen in Kassel.

Die Tagung und die Publikation »Ich bin dann mal auf dem Weg« wurde vom Land Sachsen-Anhalt, Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Magdeburg über das Programm Förderung der Regionalentwicklung sowie über die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen Kassel finanziell unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <www.dnb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2018

Lektorat: Rainer Berger, München

Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Einbandmotiv: Rast für Leib und Seele beim Pilgern in der Kirche der Benediktinerabtei Huysburg im Vorharz, © Dr. Jakobus Wilhelm OSB, Benediktinerabtei Huysburg. Kapiteleinstiegsbild: © percds, iStock

Redaktion und Textbearbeitung: Prof. Dr. Christian Antz, Anne Heuermann, Fachhochschule Westküste, Heide

Printed in Germany

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz

Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

ISBN 978-3-73980-183-4

Vorwort der Herausgeber

Unsere Welt ist im permanenten Wandel begriffen und auch wir Menschen sind aus unterschiedlichen privaten oder beruflichen Gründen immer und ständig unterwegs. Globalisierung, Medialisierung, Digitalisierung halten uns rund um die Uhr in Gang. Eine überbordende Freiheit an multioptionalen Möglichkeiten macht es uns auch nicht einfacher, unseren Lebensweg zu wählen. In der antiken Mythologie hatte es Herkules am Scheideweg da noch leichter. Wie soll sich in dieser Unübersichtlichkeit des Weltgeschehens ein Einzelmensch orientieren, wo soll er Halt für sich finden, wer gibt ihm die Richtschnur für sein Handeln – im Leben und auch über den Tod hinaus? Eine der möglichen Antworten findet sich in einer uralten Glaubenspraxis, die den Menschen heute gedanklich und real wieder bewegt: das Pilgern. Wallfahren und Pilgern kommt dem wachsenden Bedürfnis der Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts nach Sinnsuche, Orientierung und Spiritualität entgegen.

„In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen eigentlich überlebenswichtig sind. Der Camino [Pilgerweg nach Santiago de Compostela] bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen.“ Hape Kerkeling hat damit die Grunddisposition auf den Punkt gebracht: die Suche der heutigen Menschen in einer Welt der Globalisierung und Entwurzelung. Sie machen sich auf den Weg, um Gott, den Mitmenschen und sich selbst auf andere Art und Weise zu erfahren. Sie suchen Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens. Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ aus dem Jahr 2006 über seine Pilgerfahrt nach Santiago 2001 hat gerade in Deutschland einen wahren Pilgerboom ausgelöst. Auf dem Pilgerweg lernen wir wieder Demut und Bescheidenheit, Körperlichkeit und Schmerz, Gemeinschaft und Nächstenliebe, Sinn und Orientierung. Pilgern wird für die meisten eine Reise zu sich selbst und auch zu Gott. Die Botschaft Jesu Christi kann sich ihnen durch den „Gottesdienst“ im Freien und im Gehen neu oder wieder erschließen. Heutzutage ist diese Verkündigungsmöglichkeit der christlichen Botschaft auch ein fester Bestandteil der kirchlichen Angebote geworden. In ihnen realisiert sich eine Form von kirchlicher Präsenz bei den Menschen, die durch Schlagworte wie „Kirche auf Zeit“, „Kirche unterwegs“ oder „Kirche bei Gelegenheit“ charakterisiert ist. Sie sind Teil eines vielfältigen spirituellen Angebotes in Freizeit und Tourismus, dass sich in Ergänzung der ortsgebundenen Gemeindekirchen entwickelt und etabliert hat.

Auch in Sachsen-Anhalt wird auf dem Jakobs- oder dem Lutherweg gepilgert, obwohl mittlerweile 85 % der Einwohner keiner christlichen Kirche angehören. Trotzdem war Kerkelings Buch in den Jahren 2006/2007 das meistverkaufte Sachbuch auch in diesem Bundesland und hat auch in dieser Region eine Pilgerbewegung ausgelöst. Die Menschen sind selbst in einem mehrheitlich kirchenfernen Gebiet unterwegs auf der Suche und sehnen sich nach authentischen Antworten. Aus diesem Grund wurde bereits im Jahr 2005 auf Initiative des Ministeriums für Wirtschaft des Landes Sachsen-Anhalt die Teilstrecke des Jakobuspilgerweges durch Sachsen-Anhalt festgelegt und beschildert sowie die ökumenische St. Jakobus Gesellschaft gemeinsam von der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (heute Evangelische Kirche in Mitteldeutschland), dem Bistum Magdeburg, der Evangelischen Anhaltischen Landeskirche sowie dem Gebirgs- und Wanderverband Sachsen-Anhalt gegründet.

Aus Anlass ihres zehnjährigen Bestehens hat die St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt im Jahr 2016 eine Tagung unter dem Titel „Ich bin dann mal auf dem Weg“ im Kloster Huysburg im östlichen Harzvorland durchgeführt. In dem am Jakobusweg liegenden aktiven Benediktinerkloster kreisten die Vorträge um die Themen: Wohin zieht der Mensch beim Pilgern, was gibt ihm das Christentum mit auf den Weg und als wer kehrt er in die Alltagswirklichkeit zurück? Die Veranstaltung war geprägt durch einen engen Gedankenaustausch. Dabei wurden die Perspektiven des Pilgerns in Deutschland aber auch auf europäischer Ebene diskutiert: Was bewegt die Pilger äußerlich und innerlich, wo sind Handlungsfelder für die Kirchen, wie können Tourismus und Kirchen noch enger zusammenarbeiten, wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Pilgern, Wandern, Wallfahrt oder Radwandern, welche Bedeutung haben offene Kirchen am Weg für den Tourismus, aber auch für die Kirche selbst, wie wird das Christentum in anderen Zeiten aussehen?

Der nun vorliegende Sammelband bildet eine wissenschaftliche Grundlage zum Thema Pilgern, insbesondere zu den Wegen in Deutschland sowie zu den Bedürfnissen deutschsprachiger Pilger. Interdisziplinär und lösungsorientiert wenden sich die Beiträge mit ihren verschiedenen theologischen, soziologischen, psychologischen und touristischen Schwerpunkten gleichermaßen an Wissenschaftler, Kirchen und Praktiker. Ergänzt um weitere Beiträge liegen in diesem Buch die Vorträge der Tagung in schriftlicher Fassung vor. Neben wissenschaftlichen Diskursen wird auch Praxisbeispielen aus Deutschland breiter Raum geschenkt. Die wissenschaftliche Zusammenfassung in dem nun erschienenen Band ist eine wesentliche Konsequenz aus den Ergebnissen der Tagung und spiegelt den aktuellen Stand der Diskussion wider. Und die Publikation gibt Tourismus, Kirchen und den Trägern von Pilgerwegen Anregungen für ihre Zukunftsfähigkeit.

Wir danken allen Beteiligten für das Vorbereiten und Durchführen der Tagung. Die St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt mit Sitz in Hettstedt befördert und begleitet auch künftig die spannenden Entwicklungen im Umfeld von spirituellen Wegen und touristischen Zielen. Die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen in Kassel hat dieses Modellvorhaben freundlicherweise unterstützt und wird weiterhin die Anliegen der „Kirchen am Weg“ bzw. der „Gemeinden auf Zeit“ begleiten und fördern. Das Institut für Management und Tourismus (IMT) der Fachhochschule Westküste in Heide widmet sich im Rahmen seiner Forschungen gleichbleibend dem Spirituellen Tourismus wie dem Slow Tourism. Dem Wissenschaftsverlag UVK in Konstanz und München sei für das immer offene Entgegenkommen beim Pilgerthema herzlich gedankt. Letztendlich steht der Mensch im Mittelpunkt des Sammelbandes, der von den Angeboten persönlicher Erfahrungen, spiritueller Wahrnehmungen und kulturgeschichtlicher Sehenswürdigkeiten profitieren kann. Die in diesem Werk geäußerten Gedanken möchten den Prozess des Verstehens begleiten. Wir wünschen dem Buch viele Leserinnen und Leser und den Wegen weiterhin viele Pilgerinnen und Pilger.

Prof. Dr. Christian Antz
Institut für Management und Tourismus an der Fachhochschule Westküste

Sebastian Bartsch
Präsident der St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt

Dr. Georg Hofmeister
Geschäftsführer der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen

Inhalt

Spirituelle Reisen:
Können Kirchen und Tourismus gemeinsam Gäste finden?

von Christian Antz

Abstract

Spiritueller Tourismus bettet sich in die parallelen Entwicklungen auf dem Reisemarkt ein, die durch Individualisierung, Hybridität und Markenorientierung geprägt sind. Dabei spielt die Sinnorientierung vor dem Hintergrund der globalen Krisen in Natur, Wirtschaft oder Politik eine entscheidende Rolle. Nur so sind die divergierenden Entwicklungen des spirituellen Reisens zu verstehen. Einerseits hält die Welle der Kirchenaustritte bei den christlichen Kirchen seit Jahren weiter an, so dass allein 2013 die katholische Kirche 180 Tsd. und die evangelische Kirche 150 Tsd. Mitglieder verloren hat.

Die Kirchenabstinenz beruht u. a. auf dem Wunsch, sich nicht mehr längerfristig zu binden, der Mobilität der Bevölkerung und der Unzufriedenheit mit der Institution Kirche. Trotzdem sind 2011 noch 28 % der Deutschen in Berlin und sogar 76 % in Bayern Mitglieder der christlichen Kirchen. Andererseits bezeichnen sich nach dem Bertelsmann Religionsmonitor 2008 noch überwältigende 70 % der Deutschen als religiös. Und Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“, mit dem 2006 der Pilgerhype in Deutschland so richtig einsetzte, war im säkularen Ost- wie im christlichen Süddeutschland gleichermaßen das meistverkaufte Sachbuch mit insgesamt 3 Mio. Exemplaren 2006/2007.

Daraus entstand ein Paradigmenwechsel auch im Reisemarkt, auf den Kirchen und Tourismus noch unzureichend reagieren. Deshalb wurde auch die Begrifflichkeit in der Forschung 2006 von Religionsgeografie in den Containerbegriff des Spirituellen Tourismus verwandelt. Denn der Gast von heute ist immer noch unterwegs zu heiligen Orten (Suche nach Gott und Glauben), mehr jedoch zu sich Selbst (Sinnreise ins eigene Ich). Die unterschiedlichen Suchbewegungen der Menschen in Urlaub und Freizeit können somit nicht in der emotionalen Nachfrageransprache, aber bei der internen Anbieterkommunikation begrifflich unter dem Dach des Spirituellen Tourismus gebündelt werden. In Mitteleuropa steht das Christentum als gemeinsames kulturelles Orientierungssystem im Fokus des Spirituellen Reisens. Da deren 2.000 Jahre alten Werte, Bräuche und Riten – man denke nur an die Feier- und Namenstage – auch unterbewusst unser tägliches Leben prägen, sind sie mehr als eine Alternative zu außereuropäischen Religionen. Entscheidend für das christliche Angebot scheint jedoch gerade heute der Heilige Ort zu sein, der als authentischer Anziehungspunkt für Touristen des spirituellen wie kulturellen Reisens unabdingbar ist.

Ziel aller Bemühungen ist es, sich über den engen Kreis der christlichen Nachfrager den gesamtgesellschaftlichen Kundengruppen europäischchristlicher Tradition zu öffnen. Denn in Österreich firmieren diese vernetzten Angebote unter dem Slogan „Energie für die Seele tanken“ und in Deutschland noch grundsätzlicher unter dem Titel „Atem holen“. Und diese Angebote gilt es weiterhin im gesamten Spektrum des Spirituellen Tourismus zu heben, am Gast orientiert aufzuarbeiten und zeitgemäß verpackt zu vermarkten. Darin besteht eine große Chance für den Zugang zu den Nachfragern bei Kirche wie im Tourismus.

1 Was ist und von was handelt Spiritueller Tourismus?

Kommt beim säkularen und rationalen Menschen des 21. Jahrhunderts der Wunsch nach Geborgenheit und Aufgehobensein zurück? Nach allen Analysen wird die deutsche Jugend auf der einen Seite immer kommerzialisierter, egoistischer und werteferner und auf der anderen Seite keimt in ihr eine Sehnsucht nach Sinn und Sinnlichkeit. Auf der einen Seite verlieren die christlichen Kirchen kontinuierlich ihre Mitglieder und auf der anderen Seite steigt die Nachfrage nach Traditionen und Ritualen, Gottes- und Nächstenliebe. Liefern die zweitausend Jahre alten, traditionsgeladenen oder familienorientierten Regeln des Christentums Antworten auf die Fragen unserer Zeit? Lassen sich daraus in Freizeit und Tourismus entsprechende Angebote entwickeln, die von unterschiedlichen Zielgruppen nachgefragt werden?

Die Fakten sprechen dafür. Die von dem evangelischen Hamburger Pastor Hinrich Westphal 1997 gegründete ökumenische Aktion „Andere Zeiten“ will beispielsweise „einer kommerzialisierten Gesellschaft etwas Spirituelles entgegensetzen“. Auf der einen Seite soll das Leben und sollen die Jahre durch das Christentum, durch Sonn- und Festtage, wieder Rhythmus, Ordnung, Ritualität bekommen; auf der anderen Seite bietet das Christentum konzentrierte Mystik, Sinnlichkeit, Emotionalität. Nur über das anonyme Internet und persönliche Kontakte wurden unter anderem von 2000 bis 2009 von Hamburg aus eine Million kleiner, gemeinsam mit dem Benediktinerkloster Maria Laach hergestellter Bronzeengel verkauft – es scheinen eben „Andere Zeiten“ zu sein und zu kommen.

Fast sechs Jahre lang haben Kirchen und Tourismus in Sachsen-Anhalt um den Begriff einer sich neu entwickelnden Lebens- und Reiseform gerungen, bis als gemeinsamer Nenner 2006 das Begriffspaar des Spirituellen Tourismus herauskam.1 Allein über die Definition von Spiritualität gibt es innerhalb und zwischen den christlichen Kirchen sowie zwischen anderen Wissenschaftsdisziplinen keine einheitliche Deutung. Im Kern des Wortes findet sich der Begriff Geist, wobei die biblische und frühchristliche Auslegung die Lebensausrichtung auf den Heiligen Geist meinte. Heute wird Spiritualität vor allem als gesellschaftliches Modewort gebraucht, das gerade in seiner verheißungsvollen Unbestimmtheit keiner Ausrichtung auf ein religiöses Bekenntnis bedarf. So werden in dem Wortpaar Spiritueller Tourismus zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Strömungen zusammengefasst: Geist und Materie, Religion und Wirtschaft, Kirche und Welt. Dieser scheinbare Dualismus bringt aber letztendlich den Inhalt dieser Reiseform auf den Punkt.

Die scheinbare Interpretationsvielfalt macht den Spirituellen Tourismus zu einem Containerbegriff für verschiedene Tendenzen auf dem heutigen und künftigen Reisemarkt, die sonst schwer zu definieren wären. Bislang wurden Formen des spirituellen Reisens, vor allem die Pilgerreise als älteste Form des Tourismus, unter dem Begriff des Religionstourismus zusammengefasst. Dieser auf religiöse Reisemotive beschränkte Begriff vernachlässigt aber den aktuellen Trend zur allgemeinen Sinnsuche und entpuppt sich damit als eher begrenzender Schubladenbegriff. Während im Religionstourismus die (Volks-)Frömmigkeit, die Gemeinschaft, die Außengerichtetheit im Vordergrund steht, sind es beim Spirituellen Tourismus heute eher die Gegenwelt zum Alltag und die Innengerichtetheit. Die Offenheit und Anwendbarkeit des Dachbegriffes Spiritueller Tourismus dokumentiert sich auch in der Entwicklung des gesamten Reisemarktes. Während die Themen des spirituellen Reisens noch 2006 klar dem Kulturtourismus zuzuordnen waren, haben sich bis 2015 die Angebote als Mischformen von Kultur-, Natur-, Aktiv- oder Gesundheitstourismus neu entfaltet. Im endkundenorientierten Tourismusmarketing hat dieser unemotionale Terminus technicus jedoch nichts zu suchen; er fasst nur die Phänomene für die (Tourismus-)Wissenschaft und die (Tourismus-)Wirtschaft backstage zusammen.

Vorsicht ist auch bei der Überforderung des Begriffs geboten. Mittlerweile ist der Spirituelle Tourismus zu einem Vehikel gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen geworden, bei denen es insgesamt um die Vermittlung von spirituellen und religiösen Inhalten mit anderen Methoden geht. Diese Gefahr birgt der Begriff selbst in sich, da seine Definition so weite Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Spirituelles Reisen nach der in Sachsen-Anhalt entstandenen Definition füllt die Bandbreite von einer gesamtgesellschaftlichen Reise ins Ich (Selbsttranszendenz) bis hin zu einer speziell touristischen Reise an die Grenzen seiner selbst (Heilige Orte) aus.2 Damit sind auch die künftigen wissenschaftlichen Verfahren festgelegt. Nur in einem interdisziplinären Forschungsansatz zwischen Theologie und Tourismus, Soziologie und Ethnologie, Geographie und Philosophie sowie weiteren Wissenschaften lassen sich die Phänomene dieses zukunftsträchtigen Reisemarktes erschließen und analysieren. Allein mit der Festlegung auf die Religionsgeographie sind die Fragen der Kunden nicht zu beantworten. Dies hat auch die erste große wissenschaftliche Tagung zum Thema gezeigt, die die Deutsche Gesellschaft für Tourismuswissenschaft unter dem Titel „Spiritualität und Tourismus. Perspektiven zu Wandern, Wellness und Pilgern“ 2009 in Eichstätt ausgerichtet hat.3 Die Tourismuswissenschaft und die -wirtschaft haben das wirtschaftliche Potenzial des Spirituellen Tourismus bislang als nicht marktrelevantes Nischenthema noch vielfach unterschätzt; Theologie und Kirche stehen diesem neuen Reisetrend wegen seiner ökonomischen Ausrichtung und seinem breiteren, nicht nur auf die Religion ausgerichteten Ansatz eher skeptisch gegenüber. Beide könnten mit ihrer defensiven Haltung eine wichtige Handlungschance verpassen. Bayern wird dagegen seiner Vorreiterrolle im Deutschlandtourismus weiter gerecht, indem Bayern Tourismus Marketing und Kirchen noch enger zusammenarbeiten und beide gemeinsam das Thema Spirituelles Reisen 2015 sogar zum Thema des Bayerischen Tourismustages machen.

2 Wo findet sich überall Spiritualität im Tourismusmarkt?

Während das Thema Spiritualität in anderen gesellschaftlichen Disziplinen einen festen Platz eingenommen hat, werden spätestens mit dem Erfolg von Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ 2006 die Themen des Spirituellen Tourismus auch in der Reisebranche nicht mehr als abstruse Randthemen belächelt. Viele Wissenschafts- und Wirtschaftszweige, auch die Reisebranche, reden von neuen, sinnorientierten Wachstumsmärkten, doch die fakten- und analyseorientierte Aufarbeitung in der Tourismuswissenschaft hinkt noch hinterher. In den letzten zehn Jahren sind an mehreren Hochschulen bereits Forschungsarbeiten zum deutschsprachigen Raum entstanden, doch aufgrund der dünnen Datenlage steht eine tragfähige wirtschaftsorientierte Untersuchung des europäischen Reisemarktes zum Spirituellen Tourismus noch aus. Dazu fehlen umfängliche Befragungsergebnisse der Endkunden; die Anbieterseite steckt in einer breiten und diffusen Wachstumswelle, ist aber aus den Kinderschuhen noch nicht heraus. Gerade weil Nachfrager und Anbieter nicht so eindeutig zuzuordnen sind, ist ein interdisziplinäres wissenschaftliches Herangehen in diesem Tourismusfeld unabdingbar; in den Religionswissenschaften und der Volkskunde liegen bereits weiterführende Arbeiten vor. Ohne eine künftige kontinuierliche und tiefergehende Marktforschung lässt sich der Themenkreis des Spirituellen Tourismus nur unscharf bewerten.

Ob das spirituelle Reisen nun ein Nischenmarkt oder ein Megatrend werden wird, kommt nicht nur auf Analyse und Prognose an, sondern auch auf die Frage, wie der Markt inhaltlich und räumlich weiter definiert wird. Gehört thematisch die Wallfahrt zum Grab der „säkularen Heiligen“ Lady Diana in Althorp genauso dazu wie das Grab des nun heiliggesprochenen Papstes Johannes Paul II. in Rom? Ist die künstliche Erlebniswelt Holyland Experience in Orlando ebenso Teil dieses Reisemarktes wie das authentische Stadtensemble um die Grabesbasilika des Heiligen Franziskus in Assisi? Wie setzen sich die 600 Mio. religionsbedingten Reisen mit 18 Mrd. Dollar geschätztem Umsatz jährlich, die die US-amerikanische World Religious Travel Association berechnet hat, zusammen? Haben alle 200 Mio. Pilger der unterschiedlichen Weltreligionen, die pro Jahr in Industrienationen wie Entwicklungsländern unterwegs sind, das gleiche Reisemotiv und lassen sich mit der gleichen Angebotsstrategie bedienen? Sind die bis 70 Mio. Hinduisten, die alle zwölf Jahre zur Kunbh Mela nach Allahabad strömen, mit in die Marktbeobachtung einzubeziehen, oder die 20 Mio. christlichen Pilger in der für Europäer fast unbekannten Wallfahrt zur Nuestra Senora de Guadalupe Hidalgo in Mexiko?4

„Überall ist Wallfahrt“, so formuliert es 2007 der Volkskundler Helmut Eberhart. Da grundsätzlich wenig über den Markt des Spirituellen Tourismus bekannt ist, da die unterschiedlichen Weltreligionen und -regionen sehr unterschiedliche Angebots- und Nachfrageparameter bezüglich dieses Reisesegments besitzen, da esoterische Strömungen ebenfalls von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung um die Sinnsuche profitieren und da der Markt des spirituellen Reisens sich in Kombination mit vielen anderen Spielarten des Tourismus am Rande und in den Zwischenräumen der Haupttrends entwickelt, ist eine Beschränkung sinnvoll.5 Die hier getroffenen Aussagen zum Spirituellen Tourismus sind deshalb auf Mitteleuropa und die christlichen Kirchen fokussiert, lassen sich aber teilweise auch auf andere Regionen und Religionen anwenden.

Wenn der Megatrend der gesamtgesellschaftlichen Sinnsuche auf den jetzigen und künftigen Markt des Spirituellen Tourismus angewandt wird, so müssen die genannten Forschungsdefizite mit berücksichtigt werden. Außerdem breitet sich der Spirituelle Tourismus ohne Rücksichtnahme auf die Tourismuswissenschaft auf weitere Tourismusbereiche aus. Der Hauptmarkt ist erstens immer noch verwoben mit dem Kulturtourismus, wo sich Kirchenbesichtigungen oder Klosterreisen finden, zweitens der mit Natur-, Aktiv- und Gesundheitstourismus gepaarte Bereich des Pilgerns und Wallfahrens, drittens die Pilger- und Studienreisen auf den Spuren des Apostels Paulus oder vor allem ins Heilige Land, viertens der Klosterurlaub, der einen Manager-, Fasten-, Exerzitien- oder Stille-Schwerpunkt haben kann, und fünftens der Besuch religiös-historischer Stätten und Feste. Zunächst würde man denken, dass diese verästelten Phänomene nicht einem einzigen Markt zuzuordnen wären, doch warum sollte sich der Spirituelle Tourismus anders entwickeln als die Konsumgüterindustrie? Gerade die großen Konzerne machen sich seit Jahren Gedanken darüber, wie sie ihre geschmacklich und räumlich immer differenzierter und kleiner werdenden Kundengruppen immer ausgefeilter und weltweit logistisch bedienen können.

2.1 Vom Pilgern und Wandern auf spirituellen Wegen

Selbst die beiden Schwerpunktgeschäftsfelder des christlich geprägten Spirituellen Tourismus, das Pilgern und der Klosterurlaub, bedienen unterschiedliche Zielgruppen und generieren deshalb auch unterschiedliche Angebote. Die Abgrenzung des Pilgerns vom Wandern bereitet aber heute schon einige Schwierigkeiten. Auch wenn die beiden zeitgenössischen Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in den Alpen jährlich ihre Gebirgswanderurlaube durchführten, wird man bei dieser Freizeitbeschäftigung schwerlich von Pilgern sprechen, obwohl der Nachfolger Petri in den Wanderschuhen steckte. Pilgern ist also so etwas wie Wandern plus Sinn- und/oder Gottessuche – auf die vereinfachte Formel gebracht „Beten mit den Füßen“.

Während das traditionelle Pilgern einerseits fast immer mit der körperlichen Betätigung des Wanderns und andererseits geistig mit der Religion verbunden war, bietet sich heute im christlichen Kulturraum ein differenzierteres Bild, so dass der Begriff Spirituelles Wandern eher den Kern (Auszeit für Körper und Seele) des zukünftigen Marktes trifft. Die Pilgerwanderung im klassischen Sinn ist einerseits nur noch ein Teil des Spirituellen Tourismus sowie andererseits des Wandertourismus. Meist entstehen Mischformen verschiedener inhaltlicher Ausrichtung, Gruppengröße, Reiselänge sowie Fortbewegungsmittel, die fast alle unter dem Dach des Angebotes Pilgern firmieren. Der größte Teil des Pilgertourismus macht heute der mit Flugzeug (z. B. Fatima), Bahn (z. B. Lourdes) oder Bus (z. B. Altötting) und nicht der mit den Füßen aus. Obwohl das Religiöse durch das Spirituelle heute oft ersetzt ist, gehören zum Pilgern immer noch die Orientierung auf einen Heiligen Ort und der Weg dorthin. Dem läuft nicht zuwider, dass der Lifestyle-Gedanke Teil des spirituellen Wanderns geworden ist. Man kann auch in einer Jack-Wolfskin-Jacke mit markant positioniertem Logo spirituelle Gedanken im Kopf haben. Dies hat uns schon Hape Kerkeling auf seinem Weg nach Santiago gezeigt.

Das Spirituelle Wandern kann grundsätzlich unterteilt werden einerseits in Wallfahrt, die einen Kurzurlaub mit klarer Zielorientierung zu einem Nahziel darstellt. Dabei handelt es sich immer um eine Gruppenreise mit dem Schwerpunkt auf Religionstourismus, eventuell mit Kultur- und Naturerlebnis. Andererseits bezieht sich das Pilgern grundsätzlich auf einen längeren Urlaub zu einem nationalen oder internationalen Fernziel. Das Spirituelle Wandern findet in diesem Fall entweder als Individual- oder als Gruppenreise, entweder mit Ziel- oder Wegorientierung statt. Der inhaltliche Schwerpunkt der Reise kann entweder der klassische Religionstourismus, der oft eigenständige Kulturtourismus, die neuere Form des Naturerlebnisses oder die Reise zum Ich, also der Spirituelle Tourismus abzüglich des Religionstourismus, sein. Damit wird die Ausrichtung des Pilgerns im Gegensatz zum klassischen Tourismus heute auf den Kopf gestellt. Es geht nicht mehr so sehr um die Reise hin zu einem Ziel, sondern um die Reise hin zu sich selbst.

2.2 Von Klöstern und Kultur an spirituellen Orten

Auch der Klosterurlaub als zweiter Hauptbereich des christlich geprägten Spirituellen Tourismus wird mehr und mehr von dieser Innenorientierung des Reisenden auf sich selbst geprägt. Neben dem traditionellen Besuch von Klöstern im Kulturtourismus hat sich der Klosterurlaub erst Mitte der 1990er-Jahre als eigenständiges Marktsegment entwickelt. Zwar gab es seit Bestehen von Klöstern immer Räume und Gebäude für Fremde, Gäste oder Kranke (Hospize), die aber immer als Übernachtungsangebot auf einer (Pilger-)Reise genutzt wurden, nicht für einen eigenständigen Urlaub. Einerseits stehen in den Klöstern mittlerweile aus Nachwuchsmangel nicht nur die ehemaligen Hospitäler, sondern auch die eigentlichen Klausurbereiche neuen Nutzungen zur Verfügung, andererseits wächst das Interesse, sich auf Zeit in ein Kloster zurückzuziehen. Der Name Kloster leitet sich vom lateinischen Wort claustrum ab, das ‚abgeschlossener Raum‘ bedeutet – im Ursprung nun wieder genau das, was der multimediale Mensch von heute für seinen Urlaub mehr und mehr nachfragt – Abstand vom Alltag, innere Ruhe und äußere Stille.

Neben der Rückzugsmöglichkeit, Umschlossenheit, Abgeschiedenheit stehen christlich belebte Klöster für Authentizität und Glaubwürdigkeit. Im Gegensatz zu rein kulturhistorischen Orten oder folkloristischen Veranstaltungen, bei denen entweder nur noch alte Steine oder maskierte Schauspieler zu sehen sind, ist beim Klosterbesuch alles echt. Während noch vor 30 Jahren Klöster und ihre Bewohner als verstaubt und unzeitgemäß, als konservativ und unattraktiv aus Sicht der Gesamtbevölkerung galten, so scheint ihre Lebensweise – wenn auch nur auf Zeit – absolut en vogue zu sein. Aber auch hier entwickelt sich der Markt zu einer starken Segmentierung hin, die nicht alle Arten von Klosterurlaub unter ein Angebots- und Nachfrageportfolio subsumiert. Je nach Ordenszugehörigkeit oder geographischer Lage im Angebotsbereich, je nach Geschlecht und Alter im Nachfragebereich ergeben sich unterschiedliche Klosterurlaubstypen.

An traditioneller Stelle rangiert erstens das Thema der Klosterkultur. Entweder als Studienreise oder Tagesbesichtigung steht als kulturtouristische Attraktion das Klostergebäude und seine Ausstattung, auch Garten und Bibliothek und seine Nutzung als Museum oder Veranstaltungsort, im Vordergrund. Gerade die barocken und architektonisch großzügigen Klosteranlagen Süddeutschlands und Österreichs vermitteln damit eine neue, uns Mitteleuropäern vielfach verloren gegangene Sinnlichkeit. Noch mehr im profaneren Gelände entwickelt sich zweitens der Bereich der Klostertagungen, der Gebäude, Ausstattung, Ordensangehörige eher als wirkungsvolles und seriöses Ambiente nutzt. Beim „Tagen auf höchster Ebene“, wie ein Angebot des Klosters Andechs preist, wird aus einer Special Location, wie sie im gesamten Tagungs- und Kongresstourismus immer mehr nachgefragt wird, eine Spiritual Location, in der man als Ergebnis eine Art höherer Wahrheit erwarten darf. Ganz anders geartet sind drittens die Angebote von Klosterexerzitien einzuordnen, die das Kloster als geschlossenen Rahmen und vor allem die darauf abgestimmten Inhalte in den Vordergrund bringen. Hier finden sich Einzel- oder Gruppenexerzitien, Vortrags- oder Wanderexerzitien für unterschiedliche Nachfrager.

Zwischen Kongressen und Exerzitien sind viertens die Klosterurlaube von Managern angesiedelt, die einen speziellen, aber ausbaufähigen Markt zur Selbst- oder Gruppenfindung für Privatpersonen oder Firmen darstellen. Eine neuere Art des Klosterurlaubs bilden fünftens die Klostermeditationen, die die historischen europäischen Klostermauern meist mit neuen oder außereuropäischen Methoden und Techniken verknüpfen. Sechstens wird der Markt des Gesundheitsurlaubs im Kloster künftig große Wachstumschancen haben. Auf der einen Seite steht hier die körperliche Gesundheit, die über klassische, teilweise als überholt geltende, aber heute „runderneuerte“ Angebote des katholischen Pfarrers Sebastian Kneipp über Fasten und Wellness bis zu Heilkräuter- und Naturheilverfahren reichen. Ein ebenso traditionelles, aber in der Gesamtbevölkerung noch wenig beachtetes Segment stellt das Thema der geistigen Gesundheit dar, wo Klöster über Seelsorge und pastorale jahrhundertealte Erfahrungen mitbringen und Lösungen anbieten. An siebter Stelle wäre der Klosterurlaub zu nennen, den die Mehrheit der heutigen Gesellschaft unter Klosterreisen verstehen würde, und die meist individuell durchgeführt wird: die Auszeit vom Alltag als Rückzug zu sich selbst oder zu Gott.

3 Welche Menschen machen sich auf eine spirituelle Reise?

Diese Sinnsuche, nicht die Religion als Motiv, zeichnet meist die Nachfrager nach Angeboten des Spirituellen Tourismus am Beginn des 21. Jahrhunderts aus. Bereits der Wellnesstrend befriedigte in den letzten Jahren Bedürfnisse von Wohlfühlen und Harmonie, die weit über die äußerlichen Anwendungen hinausgingen. „Man muss sich körperlich und seelisch entschlacken. Das ist auch ein Stück Wellness. Leib und Seele gehören schließlich zusammen“, schlussfolgert der evangelische Pastor Norbert Wilke, der auf der Nordseeinsel Norderney immer voller werdende Gottesdienste in den Sommermonaten erlebt. Daran lässt sich wieder erkennen, dass der Spirituelle Tourismus nicht so einfach einzugrenzen und herunterzurechnen ist. Denn die Nachfrage nach Sinnorientierung durch Reisen ist sehr viel breiter aufgestellt und ist als Wachstumssegment noch lange nicht am Endpunkt angekommen.

Zielgruppen können einerseits Intensivchristen, die ganzheitliche Angebote verlangen, oder Nichtkirchliche, die niederschwellige Bausteine nachfragen, sein; nicht nur für die wenigen Berufschristen, sondern für die vielen Suchenden unterschiedlicher Interessen lassen sich abgestimmte Reisen konzipieren. Zum Spirituellen Reisemarkt zählen einerseits die anscheinend religiös motivierten Reisenden, wie die Millionen von weltweiten Pilgern im Heiligen Jahr 2000 und zum Tod von Papst Johannes Paul II. 2005 in Rom oder zum so genannten Heiligen Jahr 2004 in Santiago de Compostela. Im Jahr 2000 haben sich andererseits einschließlich des katholischen Weltjugendtages 8,5 Mio. Pilger in Rom registrieren lassen, die 14,5 Mio. Übernachtungen generierten.6 Sind dies Kulturinteressierte und Bildungsreisende oder zeigt dies das unbeschreibliche Potenzial für Spirituellen Tourismus? Den 4 bis 5 Mio. Lourdes-Wallfahrern pro Jahr lässt sich ein spirituell-religiöses Motiv auf jeden Fall nicht absprechen.7

3.1 Von Gläubigen und von Kunden auf dem Weg

Der spirituelle Reisemarkt ist in Europa im Wachstum begriffen, aber auch hier nur punktuell und nicht als eine breite Massenbewegung fassbar. Und auch dann sprechen die Zahlen eine verwirrende Sprache. Wir kennen beispielsweise die noch vergleichsweise geringe Zahl der 180.000 Pilger, die sich im Heiligen Jahr 2004 in Santiago de Compostela haben registrieren lassen,8 aber dies sind nur die Reisenden, die die letzten 200 km zu Fuß gegangen sind, und deshalb unbedingt eine gestempelte Urkunde, die Compostela, haben wollen. Es geht aber vor allem um die viel größere Zielgruppe, die in Santiago angekommen sind, aber nicht den Rummel mögen, die nur mit sich und Gott ins Reine kommen wollen, und noch mehr um die, die irgendwo in Europa auf den Jakobswegen zwischen Russland und Spanien unterwegs sind. Interessanterweise hat gerade der evangelische Pfarrer Paul Geißendörfer, und das erst 1992, den ersten deutschen Jakobusweg zwischen Rothenburg und Nürnberg ins Leben gerufen. Im Jahr 2015 ist das Netz der deutschen Jakobswege schier unüberschaubar geworden. Und Menschen sind dort überall unterwegs, nur zählt sie keiner. Und dies scheint der spirituellen Zielgruppe gerade recht zu sein.

Auch die Pilger auf den Pfaden zu weniger bekannten Zielen müssen bei der Betrachtung mit berücksichtigt werden. Der in Deutschland eher unbekannte österreichische Wallfahrtsort Mariazell registrierte 2004 bei der Wallfahrt der Völker und dem Mitteleuropäischen Katholikentag 80.000 oder das fränkische Walldürn jährlich 150.000 Pilger. Von den 1 Mio. Menschen, die jährlich nach Altötting oder Andechs kommen, sind wahrscheinlich viele Kultur- bzw. Biertouristen; die 800.000 in Kevelar und 400.000 in Maria Vesperbild sind wahrscheinlich doch eher religiös motivierte Pilger. Und Regionalwallfahrten, bei denen sich wie bei der Bistumswallfahrt von Magdeburg nach Huysburg 5.000 oder bei der Matthiaswallfahrt nach Trier 6.000 Pilger einfinden, verdeutlichen die Unsicherheit bei der Datenlage und deren Interpretation. Um eine Vorstellung von den Kunden des Spirituellen Wanderns, deren Wirtschaftskraft und dem Defizit in der Tourismusstatistik zu bekommen: In Europa finden sich nach Untersuchungen der Religionsgeographie ungefähr 6.000 christliche Pilgerstätten, davon drei internationale (Rom, Lourdes, Fatima), 19 große und 830 größere, davon 1.000 in Deutschland, die insgesamt 60 bis 70 Mio. Pilger pro Jahr anziehen.9

Zur eigentlichen Kernzielgruppe stoßen wir auch bei den Reisenden vor, die Angebote der christlichen Spezialreiseveranstalter in Anspruch nehmen. Diese lassen sich in Deutschland jährlich auf 150.000 bis 200.000 Reisen schätzen,10 wobei darunter auch Mischformen mit Kultur- und Studienreisen fallen. Im Gegensatz zu den großen weltlichen Reiseveranstaltern, die heterogenen Gruppen eher kulturtouristische Reisen zu religiösen Stätten anbieten, haben wir es bei den christlichen Reiseveranstaltern mit eher homogenen Gruppen zu tun, deren Reisemotive sich ähneln. Die spirituellen Touristen, die individuell oder in individuell organisierten Gruppen unterwegs sind, kennt die Marktforschung fast gar nicht. Ebenfalls einer Analyse harren die nicht gezählten Angebote der (christlichen) Bildungsträger wie Volkshochschulen bzw. Katholische und Evangelische Erwachsenenbildungen sowie der besonders interessante graue spirituelle Reisemarkt wie „privat“ organisierte Reisen von Pfarrern, Kirchengemeinden bzw. Freundeskreisen. Hier sind die Parallelen zum Gesamttourismusmarkt in Deutschland mit einem wachsenden und dennoch undurchschaubaren „Grauen Beherbergungsmarkt“ evident.

3.2 Von hybriden Ruhe- und Erlebniswelten in Klöstern

Neben dem Pilgern etabliert sich auch in Deutschland in den letzten Jahren immer mehr der Markt des Klosters auf Zeit. Die Orden mit Angeboten für Laien registrieren bereits über 100.000 Anfragen pro Jahr, die zu mindestens 40.000 religiös motivierten Klosterübernachtungen führen.11 Aber auch hier sind die Nachfrager nicht so einfach einzugrenzen. Immer mehr Führungskräfte suchen den „Rückzug ins Gebet statt Actionurlaub“. So reist Frank Merkel, Vorstand einer Werbeagentur aus Viernheim, seit 1997 als einer von vielen immer wieder ins Benediktinerkloster Maria Laach statt wie früher in den Club Méditerranée. Die Abtei Andechs verzeichnet beispielsweise 3.000, die Abtei Neuburg 5.000, die Abtei Nuetschau 14.000 Übernachtungen mit Stille-, Meditations- und Exerzitienangeboten – meist ohne Marketingkonzept und Werbeplan. Zusammenfassend lässt sich für Mitteleuropa sagen, dass die Nachfrager nach spirituellen Reisen schwer zu fassen sind (Kultur, Neugier, Ruhe, Sinnsuche, Religiöses) und es keine gesicherten Gesamtanalysen gibt, dass sie einerseits eine Nischengruppe (religiöse Reisegruppen), andererseits aber eine Hauptzielgruppe (Kulturtouristen) darstellen, dass sie eher 50+ und Frauen (religiöse Studienreisen), eher Jugendliche und Männer (Jakobsweg), aber auch eher 40–50 Jahre alt und Männer (Manager-Exerzitien) sind, und dass sich der Markt in jedem Fall auf Wachstumskurs befindet.

Ein sehr anschauliches Beispiel einer breiten, differenzierten und zukunftsorientierten Gästeansprache findet sich wieder mal in Bayern. Das bereits über eine 1400-jährige Besuchertradition verfügende Donaukloster Weltenburg versucht einen Spagat zwischen allen Welten. An einer Sackgasse gelegen, gelingt es, mit barocker Asam-Kirche mit Konzerten und Klosterladen (Kultur) und Klosterbrauerei mit Biergarten und Klosterschenke (Gastronomie) jährlich 500.000 Menschen anzuziehen. Und wenn sie schon mal da sind, so sollten sie auch eine christliche pastorale Betreuung erhalten (Religion), die von christlichen Jahresbräuchen von Benediktusfest und Bayerischer Weihnacht bis zu Gottesdiensten und Tagesgebeten reicht. Des Weiteren finden sich die tiefergehenden Angebote von „Ab in den Urlaub“ mit „Mitleben im Konvent“ (Klosterurlaub) bis Biblische Wochenenden (Tagungen und Seminare) wieder. Eine Auszeit wird verstärkt von der ruhigen und einmaligen Natur- und Wanderlandschaft am Donaubogen (Natururlaub). Der nicht einfache Spagat zwischen Massen- und Ruhetourismus scheint zu gelingen. Gerade in Herbst und Winter kann man in Weltenburg das Nichts sehr gut finden. Um dem Zeitgeist immer auf der Spur zu bleiben, wurde 2014 durch Abt Thomas M. Freihart das der Donau zugewandte Gästehaus St. Georg nach umfassender Renovierung der historischen Räume eröffnet. Die wachsende Zielgruppe der Lohas wird sich hier wohlfühlen: Die Zimmer sind „perfekt einfach“ gestaltet.