Cover

Über dieses Buch

Demokratie ist ein allseits anerkannter Hochwertbegriff, möglicherweise der Hochwertbegriff der westlichen Moderne überhaupt. Aber die real existierende Demokratie ist auch ein System der Grenzziehungen – der sozialen Ausgrenzungen ebenso wie der ökologischen Entgrenzungen. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht entwirft Stephan Lessenich Perspektiven für eine solidarische, inklusive und nachhaltige Demokratie.

Leseproben der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Endnoten

Die deutschen Übersetzungen variieren. In einer Rede vor dem Unterhaus am 11. November 1947 äußerte sich der damalige britische Premierminister folgendermaßen: »No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.«

Crouch 2008 [2004].

So auch die ansonsten hervorragende Studie von Schäfer 2015.

Nullmeier 2017.

Vgl. Tocqueville 1985 [1835/1840].

Vgl. Marshall 2000 [1949].

Mit eben dieser Bestimmung beginnt Tocqueville (1985, S. 15) seine große Abhandlung Über die Demokratie in Amerika.

Weber 1980 [1922], S. 23. [Hervorhebung im Original.]

Ebd., S. 201 f.

Ebd., S. 202.

Vgl. insb. Parkin 1983 (die deutsche Übersetzung eines Textes von 1974) sowie Murphy 2004 [1984].

Parkin 1983 [1974], S. 124.

Ebd.

Ebd. [Hervorhebungen im Original.]

Parkin 1983 [1974], S. 132.

Vgl. Hirschman 1991.

Marshall 2000 [1949], S. 60.

Vgl. Schäfer 2013, S. 44.

Vgl. ebd., S. 41 ff.

Mills 2016 [1959], S. 269.

Castel 2000, S. 299.

Ebd. [Hervorhebung im Original.]

Ebd., S. 300.

Ebd.

Bourdieu 1985, S. 32. [Hervorhebung im Original.]

Vgl. Bourdieu 1982.

Castel 2000, S. 284.

Steinert 2004, S. 196.

Bourdieu 1985, S. 29.

Ebd., S. 21.

Steinert 2004, S. 195.

Beck 1986, S. 179.

Kreckel 2004, S. 47.

Castel 2000, S. 328.

Vgl. Carens 2019.

Murphy 2004 [1984], S. 101 f.

Ebd., S. 102.

Vgl. Shachar 2009.

Milanović 2012, S. 128, vgl. ebd., S. 127.

Murphy 1984, S. 559.

Vgl. Milanović 2012, S. 128.

Vgl. Spivak 2007.

Wallerstein 2003.

Balibar 1993, S. 163. [Hervorhebungen im Original.]

Ebd., S. 10.

Vgl. Lessenich 2018.

Biesecker/Winterfeld 2018, S. 573.

Moore 2016, S. 615.

Biesecker/Winterfeld 2018, S. 575: »Damit zerstört Externalisierung reproduktive Prozesse, zerstört soziale und natürliche Regenerationsfähigkeiten und -potenziale«.

Vgl. Mitchell 2011.

Vgl. McNeill/Engelke 2014.

Vgl. z. B. http://www.futureearth.org/blog/2015-jan-16/great-acceleration

Vgl. Nixon 2011.

White 1967, S. 1204.

Marshall 2000 [1949], S. 75.

Ebd., S. 76.

Ebd., S. 75 f.

Vgl. Wright 2000, S. 30.

Weber 1980 [1922], S. 532.

Ebd., S. 177.

Balibar 1993, S. 10 f. [Hervorhebungen im Original.]

Selbstverständlich ist auch hier die Rede von der Klassenlosigkeit im Kern unzutreffend, denn die sozialstrukturellen Differenzen des Ressourcenverbrauchs sind wohlbekannt und gut belegt.

Brand/Wissen 2017, S. 70.

Vgl. Manne 2019.

Vgl. Koppetsch 2019.

Vgl. Dowling/Dyk/Graefe 2018, S. 417.

Adamczak 2017, S. 257.

Marx 1974 [1857/58], S. 189.

Vgl., auf die Marx’sche Analyse der Klassenbildung bezogen, Vester 2019, S. 13 ff.

Kastner/Susemichel 2019, S. 17. [Hervorhebungen im Original.]

Ebd.

Vgl. dazu grundlegend Wood 1995.

Asara 2019, S. 147 f., vgl. Plumwood 1995.

Blühdorn 2019, S. 155. [Hervorhebung im Original.]

Ebd., S. 159.

Vgl. Blühdorn 2013, S. 258 ff.

Blühdorn 2019.

Vgl. ebd., S. 153: »Das neue Projekt kann diesen Namen weiterhin tragen. Das, was dieser Name bezeichnet, der normative Kern dieses Projekts, ist dann aber etwas grundsätzlich anderes als zuvor.« Damit bestätigt Blühdorn, der sozial-ökologischen Umgestaltungsnarrativen allzu pauschal einen unwillkürlichen Beitrag zur Politik der Nicht-Nachhaltigkeit zuschreibt, wider Willen die von ihm kritisierte Vorstellung einer ›Demokratisierung der Demokratie‹ (vgl. Lessenich 2019).

Vgl. Bayertz 1998, S. 40 ff.

Vgl. Parkin 1983 [1974], S. 129 ff.

Rancière 2011 [2005], S. 111.

Wildt 2014.

Asara 2019, S. 145.

Vgl. Young 2011, Jugov 2017.

Asara 2019, S. 151.

Blühdorn 2019, S. 156. [Hervorhebung im Original.]

Offe 1986.

Ebd., S. 116.

Bayertz 1998, S. 47.

Adamczak 2019.

Ebd.

Balibar 1993, S. 13 f.

Ebd.

Demokratie – wer wäre nicht dafür? ›Demokratie‹ ist ein allseits anerkannter Hochwertbegriff, möglicherweise der Hochwertbegriff der westlichen Moderne schlechthin. Moderne Gesellschaften sind demokratische Gesellschaften: Diese schlicht anmutende Gleichung ist grundlegender Bestandteil des modernen Selbstverständnisses. Erst die fortschreitende gesellschaftliche Demokratisierung hat weitere Grundwerte wie Freiheit und Gleichheit allgemein zu realisieren erlaubt. Erst sie hat ›moderne‹ Gesellschaften tatsächlich, im Sinne ihrer historisch zeitgemäßen Verfasstheit, modern werden lassen.

Integration trotz Differenz, Einheit in der Vielfalt, Selbstbestimmung in Gemeinschaft: All diese scheinbar widersprüchlichen Leitideen moderner Vergesellschaftung sind an die ›Erfindung‹ und Existenz demokratischer Institutionen und Verfahren gebunden. Winston Churchills berühmter Ausspruch, die Demokratie sei das kleinste Übel unter den bekannten Formen politischer Regierung,1 trifft in seiner nüchternen, sich jeder idealisierenden Emphase enthaltenden Zuspitzung den Punkt gut: Es ist die Demokratie, die die ansonsten reichlich unwahrscheinliche Tatsache der sozialen Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Komplexität überhaupt möglich macht.

Dass Demokratie, allen wiederkehrenden Kritiken an ihrer Funktionalität zum Trotz, normativ nach wie vor einen guten Stand hat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass kaum jemand als un- oder gar antidemokratisch gelten möchte. Nicht zufällig reklamieren selbst ausgewiesene Autokraten das Gütesiegel für sich und ihre Intentionen. Die »gelenkte

Wenn daher die Demokratie mittlerweile auch hierzulande in Gefahr zu sein scheint, wenn gegenwärtig allenthalben von einer Krise, ja vom Niedergang und Verfall der liberalen Demokratie die Rede ist, dann müssen in der Tat die gesellschaftlichen Alarmglocken läuten – denn dann geht es ans Eingemachte, ans Herzstück der Moderne.

Politikverdrossenheit

Nun werden allfällige Erschöpfungserscheinungen der mindest-schlechten unter den Regierungsformen wahrlich nicht erst seit gestern öffentlich thematisiert. Ganz im Gegenteil: Die Debatte um die »Politikverdrossenheit« der Bürger*innen begleitet das politische Geschehen schon seit

Begrifflich in einem gemeinsamen Assoziationsraum mit Gefühlen der Frustration, der Unlust und der Unzufriedenheit gelagert, verweist die Diagnose der Verdrossenheit durchaus auch auf die Nähe zu sinnverwandten, aber aggressiveren Stimmungen wie Verbitterung, Groll und Zorn. Und doch blieb der wissenschaftlich-politische Verweis auf den Verdruss der Leute an ›der Politik‹ über lange Zeit und für gewöhnlich irgendwie an der Oberfläche der Phänomene: Aus grundlegender Politik- wurde im politischen Diskurs selbst oft die personalisierbare Politikerverdrossenheit, für die jede*r ohne weiteres das passende Beispiel zu finden vermochte. Oder aber sie mutierte zum Topos der Parteienverdrossenheit, der durch den Verweis auf allgemein anschlussfähige Stereotype des Ortsvereinslebens und der ›Ochsentour‹ scheinbare Lebensnähe suggerierte und mit einem letztlich folgenlosen, augenzwinkernden Achselzucken quittiert werden konnte.

Die offenbar schon damals populäre Distanzierung vom politischen Geschehen wurde so auch lange Zeit nicht mit einer Nähe breiter Bevölkerungskreise zu populistischen Anwandlungen in Verbindung gebracht. Vielmehr galt sie als Ausweis der Wohlstandsapathie einer mit anderen Dingen, etwa Familienplanung und Konsumhandeln, beschäftigten Bevölkerung. Oder aber sie wurde der jeweils nachwachsenden ›jungen Generation‹ zugeschrieben, der die

Dem ist mittlerweile durchaus anders: Die öffentliche Sorge um die Demokratie geht heute tiefer. Bisweilen geht es ihr gar ums Ganze. Nicht selten werden historische Parallelen zu den 1920er Jahren und dem Scheitern der Weimarer Republik – als »Demokratie ohne Demokraten« – gezogen. Der Aufstieg der Neuen Rechten in Deutschland und Europa, die Verbreitung autoritärer Demokratien in den postsozialistischen Gesellschaften und die rechtspopulistische Regierungspolitik in Österreich und Italien, der öffentliche Auftritt selbst- und fremdernannter ›Wutbürger‹, die in den ›sozialen Medien‹ sich bahnbrechenden Eruptionen von Verachtung und Hass, die letztlich leerlaufende transmediale Aufregungsmaschinerie, die Unversöhnlichkeit des Umgangstons in der politischen Debatte, schließlich die bis hinein ins Private vordringende Dynamik des Kommunikationsabbruchs zwischen unvereinbar erscheinenden Meinungen: All das erinnert auch (und vielleicht gerade) den, der oder die politisch unruhige Zeiten allenfalls vom Hörensagen kennt, auf unheimliche Weise an ›früher‹.

In gewisser Weise hat der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch quasi das Buch zu dem Film geschrieben, der vor dem geistigen Auge der um die Nachkriegsdemokratie Fürchtenden abläuft. Mit Post-Democracy, erstmals 2004 und vier Jahre später auch in deutscher Übersetzung erschienen,2 hat Crouch ganz offensichtlich den Nerv der Zeit getroffen – und einen Begriff gesetzt, der nicht nur eine Flut wissenschaftlicher Folgeliteratur ausgelöst hat, sondern zur gängigen Münze auch in der politisch-medialen Debatte geworden ist. Wo heute zwei oder drei versammelt sind im Namen demokratischer Besorgnis, da ist Crouchs »Postdemokratie« nicht weit.

Als letztlich überlebt bezeichnet Crouch die real existierende Demokratie unserer Tage, weil sich hinter der Fassade einer funktionierenden demokratischen Ordnung – mit allem, was dazu gehört: Gewaltenteilung, Regierungswechsel, Parlamentsvorbehalt – faktisch eine schleichende Aushöhlung und Entwertung politischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse vollziehe. Der entscheidende Grund dafür sei die zunehmend ungezügelte Dominanz ökonomischer Interessen, die sich auf mindestens zweifache Weise äußere: Zum einen in Form eines allein der oberflächlichen Aufmerksamkeitsproduktion dienenden medienindustriellen Komplexes; zum anderen in Gestalt einer Heerschar von unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf den Hinterbühnen der Politik operierenden Wirtschaftslobbyisten. Die ›eigentlichen‹ Entscheidungen, so die Essenz des Arguments, fällen nicht die von den Bürger*innen gewählten demokratischen Repräsentanten, sondern

Jenseits des Wahrheitsgehalts dieser Analyse – und der Anschlussfähigkeit des Konzepts für kritisch-progressive ebenso wie für antidemokratisch-verschwörungstheoretische Ausdeutungen – ist hier vor allen Dingen von Interesse, vor welchem Gegenhorizont Crouchs Bild von postdemokratischen Verhältnissen seine bedrohlich-düstere Wirkung entfaltet. Als das Andere der postdemokratischen Gegenwart konstruiert er nämlich eine noch nicht allzu ferne Vergangenheit, in der vielleicht nicht alles besser, in jedem Fall aber die Welt der Demokratie noch in Ordnung war. Crouch selbst kondensiert seine Erzählung von Aufstieg und Fall der Demokratie in den westlichen Industriegesellschaften in der Figur einer Parabel: Während diese über Jahrzehnte hinweg beständig mehr Demokratie gewagt hätten, stellten die 1970er Jahre einen historischen Wendepunkt dar, seit dem die demokratische Qualität der politischen Gemeinwesen Westeuropas und Nordamerikas im steten Sinkflug begriffen sei.

Als Gegenbild der Postdemokratie dient somit der Rückblick auf ein vergangenes, ›goldenes Zeitalter‹, in dem – so heißt es – eine breite, ja tendenziell gesellschaftsweite

Nach allem, was man weiß, ist dieses Narrativ vom kurzen Sommer der Demokratie, hier nur leicht überstilisiert wiedergegeben, in seinem Realitätsgehalt durchaus fragwürdig. Nicht, dass es völlig aus der Luft gegriffen wäre – keineswegs. Doch in seiner Überhöhung der effektiven Beteiligung und Teilhabe des ›produktiven Kerns‹ der industriellen Nachkriegsgesellschaft an den Schaltstellen und Segnungen der korporatistischen Demokratie blendet es zumindest wesentliche Teile der sozialen Realität dieser Gesellschaft aus: Die demokratische Schattenexistenz von Frauen, Migrant*innen oder Nicht-Erwerbstätigen kommt in den retrospektiven Mystifizierungen der ›guten alten

Vor allem aber hat das befremdliche Idealisieren des Korporatismus, das sich – so ein empirisch nicht systematisch überprüfter Eindruck – gehäuft im Schrifttum älterer, männlicher, sozialdemokratiezugewandter Sozialwissenschaftler findet, auch Konsequenzen, was die Frage wünschenswerter Repolitisierungs- und Demokratisierungsprozesse betrifft. Im Lichte der bedrückenden Gegenwart erscheint eine bessere Zukunft dann gleichsam als Verlängerung der Vergangenheit. Die Wiederherstellung der industriekapitalistischen Konstellation des Nationalkeynesianismus wird zum demokratiepolitischen Rettungsschirm, denn die »imaginierte Demokratie nach der Postdemokratie ähnelt in vielem der in den 1980er-Jahren verlorenen korporativen Demokratie.«4

Die Dialektik der Demokratie