Feminismus. 100 Seiten

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Auf den nächsten 100 Seiten geht es um das Thema Feminismus. Zur Einstimmung möchte ich Sie einladen, Ihre eigene Haltung kurz zu reflektieren, indem Sie Assoziationen wecken und an Personen oder Ereignisse denken, die Sie mit dem Thema verbinden. Es gibt kein Richtig oder Falsch bei den folgenden zehn Fragen, nur Sie und das, was Sie antworten.

Frage 1: Wann haben Sie zuletzt das Wort »Feminismus« gelesen – bevor Sie dieses Buch in die Hand genommen haben?

Frage 2: Hat der 8. März für Sie eine Bedeutung?

Frage 3: Als das Frauenwahlrecht 1918 in Deutschland eingeführt wurde, war das eine Errungenschaft der Frauenbewegung. Richtig?

Frage 4: Denken Sie an Ihre Mutter: Würden Sie sie als gleichberechtigt in der Beziehung zu Ihrem Vater bezeichnen?

Frage 5: Als Kanzlerin hat Angela Merkel die Bundesrepublik Deutschland sehr geprägt – auch als Frau?

Frage 6: Sind Sie der Meinung, eine Frauenquote sollte auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen eingeführt werden?

Frage 8: Wer Gender Studies als Studienfach belegt, studiert Feminismus an der Uni – richtig?

Frage 9: Ist Alice Schwarzer für Sie ›die‹ deutsche Feministin?

Frage 10: Simone de Beauvoir sagte einmal, dass echte Gleichberechtigung in einem kapitalistischen System nicht möglich sei. Hat sie recht?

Von Gleichheits-, Differenz- und Post-Feminismus sowie anderen Ideen, die gemeinsam eine Bewegung bilden

Nein. ›Den‹ Feminismus gibt es nicht.

Das wusste ich aber noch nicht, als ich mit Anfang 20 während meines Germanistikstudiums auf die sogenannte feministische Linguistik stieß. Dass die Grenzen meiner Sprache auch die Grenzen meiner Welt bedeuten, das hatte ich bereits bei Ludwig Wittgenstein gelesen. Dass die deutsche Sprache mich als Frau an vielen Stellen unsichtbar macht – etwa dann, wenn von »Studenten« die Rede ist, ich als »Studentin« aber auch gemeint bin – und dass damit nicht nur meine eigene Welt begrenzt wird, sondern auch die aller anderen, das leuchtete mir ein. Ich sprühte in großen schwarzen Lettern »Frau« an die Außenwand meiner Studentinnenwohnung und begann, mit Sprache zu experimentieren. Die »Krankenschwesterin« sorgte für Lacher in Uniseminaren und öffnete mir die Tür zu Grundsatzdiskussionen über Geschlechtergerechtigkeit.

Heute, rund 20 Jahre nach Abschluss meines Studiums, hänge ich immer noch am Sichtbarmachen von Frauen in der Sprache. Es geht mir längst auch um mehr, um Gleichstellung in der Gesellschaft, in der privaten wie politischen Debatte:

Statt des einen Feminismus gibt und gab es viele unterschiedliche ›Feminismen‹, die vollständig abzubilden den Umfang dieses Buches sprengen würde – auf den folgenden Seiten bringe ich Ihnen aber einige Feminismen näher. Dabei geht es in der Hauptsache um Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ich werde immer wieder bedeutende Bücher, Ereignisse oder Biografien skizzieren, auch von außerhalb des Landes. Einige Protagonistinnen und Protagonisten können Sie zum Teil mit exklusiven Zitaten etwas näher kennenlernen: Es sind Menschen, mit denen ich gemeinsam gearbeitet habe, deren Aktivismus ich schätze und die mich auf meinem feministischen Weg begleitet haben und begleiten.

Richtung innerhalb der Frauenbewegung, die durch Zusammenschluss nur von Frauen (bei gleichzeitigem bewusstem Ausschluss der Männer) um Gleichberechtigung kämpft.

Ganz anders lautet die Definition der Schauspielerin Emma Watson von 2017:

Feminismus bedeutet, Frauen die Wahl zu lassen.

Klammer auf:

Watson ist Britin – sie spricht von choice, ein Wort, hinter dem sich mehrere Diskussionen verbergen. Im aktivistischen Kontext etwa bedeutet »Pro Choice«, dass Frauen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch haben sollen (seit vielen Jahrzehnten ein wichtiger Punkt auf der feministischen Agenda, siehe Seite 55, 63). Der sogenannte Choice Feminism dagegen bezieht sich auf eine Folge der Serie Sex and the City: In »Time and punishment«, Staffel 4, Episode 7, beschließt Charlotte, einem Vorschlag ihres Mannes nachzugeben und künftig nur mehr Ehefrau und vielleicht bald auch Mutter zu sein, aber nicht mehr erwerbstätig. Gegen den Widerspruch ihrer Freundinnen sagt Charlotte: I choose my choice – ›Ich wähle meine Wahl‹. Im »Choice-Feminismus« steht also das individuelle Wohlempfinden aufgrund eigener, freiheitlicher Entscheidungen im Vordergrund –

Klammer zu.

Watson fügte noch hinzu, dass sie nicht wisse, was ihre Brüste mit ihrem Feminismus zu tun hätten: Nachdem sie sich öffentlich als Feministin bekannt hatte, erntete sie heftige Kritik, als sie in einer kunstvollen Fotostrecke im Magazin Vanity Fair eben ihre Brüste zeigte, einigermaßen bedeckt durch eine Art Strick-Poncho. Wie eine Feministin so etwas machen könne, fragten viele. Schließlich stehe die Forderung, Frauen sollten nicht mehr auf ihre (makellosen, schlanken, weißen) Körper reduziert werden, ganz oben auf der feministischen Agenda. Emma Watson sagte dazu:

Feminismus ist kein Stock, mit dem andere Frauen geschlagen werden. Es geht um Freiheit, um Befreiung und um Gleichheit.

Offensichtlich gibt es nicht nur viele Vorstellungen davon, was unter Feminismus verstanden wird, es kursieren auch viele Handlungsanweisungen dafür, wie sich eine Feministin (oder ein Feminist) zu verhalten habe. Dabei geht es um Taten, Worte und auch das Aussehen, die Lebensplanung, die Frage, ob eine heterosexuelle Partnerschaft, gar Ehe, möglich sei, ob Kinder »erlaubt« seien, eine Festanstellung oder eine Taxifahrt mit einem männlichen Fahrer. All diese Vorstellungen und Handlungsanweisungen sind häufig widersprüchlich – sie können das Leben eines Menschen sehr einschränken. Was erstaunlich ist, geht es bei den meisten feministischen

Nicht alles, was eine Feministin tut, ist eine feministische Tat.

Es gibt viele Filme, Romane, Sachbücher, Popsongs oder Kunstwerke, die eine feministische Intention erkennen lassen. In diesen Kästen werden Sie im Folgenden einige dieser Werke kennenlernen – aus Deutschland, aber auch aus den USA, aus Frankreich, Kanada, der Schweiz, aus Schweden, Großbritannien oder Nigeria.

Das wohl bekannteste Buch der feministischen Debatte ist Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht, geschrieben 1949. In diesem über 900 Seiten langen Essay untersucht de Beauvoir (19081986) die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Es ist eines der Bücher, das wahrscheinlich nicht alle gelesen haben, die daraus zitieren; besonders häufig diesen Satz: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu.« De Beauvoir schreibt, dass eine Frau sich als Gegenstück zum vorherrschenden männlichen Prinzip diesem unterzuordnen habe und somit unfrei sei.

Die Philosophin und Autorin, die viele auch als die Partnerin von Jean-Paul Sartre kennen, hat sich dem Existentialismus verschrieben: Die Freiheit des bzw. der Einzelnen steht für sie im Vordergrund. Ihr Buch, das vor allem in der Zeit der zweiten Frauenbewegung (siehe Seite 51), also rund 20 Jahre nach seinem Erscheinen, viel diskutiert werden wird, ist ursprünglich nicht feministisch gemeint. Dennoch legt es den Grundstein zu vielen feministischen Debatten über Gleichstellung, Freiheit und die Frage, ob es Frauen überhaupt gibt: »Von allen wird einmütig anerkannt, dass es innerhalb der menschlichen Spezies ›Weibchen‹ gibt. Sie stellen heute wie ehedem etwa die Hälfte der Menschheit. Und doch sagt man uns, die Weiblichkeit sei ›in Gefahr‹, man ermahnt uns: ›Seid Frauen, bleibt Frauen, werdet Frauen.‹ Nicht jeder weibliche Mensch ist also zwangsläufig eine Frau …«

»Der Feminismus von Simone de Beauvoir lässt sich am besten in ihren eigenen Worten zusammenfassen: ›Feminismus ist eine Art, individuell zu leben und kollektiv zu kämpfen.‹ Das heißt, beim Feminismus geht es um uns als Individuen, aber es geht auch um die anderen.«      (Julia Korbik)

Die Geschichte des Feminismus handelt von vielen Feminismen – und sie ist auch eine Geschichte der Verneinung, des »ich bin zwar keine Feministin, aber…«. Jahrelang wurde etwa Angela Merkel die »Feministin?«-Frage gestellt. Sie verneinte und erklärte, der Gedanke, es habe ihr als Kanzlerin etwas genutzt, dass sie eine Frau sei, habe ihr nie gefallen. Sie setze stattdessen auf »Toleranz« und »diversity«. Merkel wurde in der

Klammer auf:

Dass Ivanka Trump, Tochter des Donald Trump, Immobilienmogul und seit 2017 Präsident der Vereinigten Staaten, sich als Feministin bezeichnet und im gleichen Atemzug ihren Vater als »nie frauenfeindlich« verteidigt, bringt mich zum Lachen und zum Weinen: Donald Trumps Verhalten in der Öffentlichkeit und seine Politik haben mit der Vorstellung von einer Welt, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sind, etwa so viel gemeinsam wie ein Fisch mit einem Fahrrad.

Die First Daughter hält dennoch am Feminismus fest, und zwar am sogenannten »Lean-in-Feminismus«. Benannt wurde er nach Lean In: Frauen und der Wille zum Erfolg (2013), dem Bestseller von Sheryl Sandberg, der Geschäftsführerin von Facebook. Das Buch ist eine Art Karriereanleitung für Frauen. Mit Netzwerken, verlässlichen Partnern, mehr Frauen in Führungspositionen und einer bedingungslosen, nimmermüden Leistungsbereitschaft könnten es alle an die Spitze schaffen, verspricht die Autorin. Dass es auch alleinerziehende Mütter ohne Partner gibt und nicht alle

Klammer zu.

Königin Máxima von den Niederlanden fand gleich nach der »Feministin?«-Frage eine Definition, der sich die Kanzlerin anschließen konnte, wie sie auf dem Podium sagte (und später in einem Interview mit der Zeit wiederholte). Für sie ist »Feminismus, wenn ich dafür bin, dass Männer und Frauen die gleichen Lebenschancen haben.«

Die »Feministin?«-Frage wird häufig gestellt – und auch von Männern beantwortet: This is what a feminist looks like – ›so sieht ein Feminist aus‹, sagte der frühere US-Präsident Barack Obama über sich selbst, räumte dann jedoch ein, in seinem Haushalt habe er keine andere Wahl gehabt. Manche grenzen sich in ihren Antworten ab: »Ich habe mich immer für feministische Theorie interessiert, aber wirklich überzeugt hat sie mich nie«, meinte die frühere Bundesministerin Kristina Schröder. Wieder andere vereinbaren das scheinbar Unvereinbare: »Ich trage Make-up – und bin Feministin!«, brüstet sich manch Beautybloggerin und widersetzt sich damit dem vermeintlichen Diktum, dass »die Emanzen« nur mit unrasierten Beinen und ungeschminkten Lippen »echt« seien.

Mit demselben Vorurteil kokettiert auch die Kosmetikindustrie: Als L’Oréal die Sängerin Lena Mayer-Landrut für einen Werbeclip im »feministischen Statementlook« schminken ließ, empörte sich die Öffentlichkeit – warum sollten gerade Feministinnen ihre Lider grün, violett und braun färben? »We f*cking HATE you, L’Oréal Paris!«, kommentierte die Protestorganisation Pinkstinks Germany (siehe Seite 16). Das Video verschwand schnell wieder aus dem Netz, die

Die »Feministin?«-Frage wird auch Künstlerinnen gestellt: Marina Abramović hat sie immer wieder verneint, weil sie als Künstlerin weder in eine Schublade passe noch ein Geschlecht habe. Ihre Performancekunst wird trotzdem immer wieder als feministisch bezeichnet: In »Rhythm 0« (1974) beispielsweise saß Abramović auf einer Bühne, umringt von Gegenständen, darunter eine Pistole. »I am an object« lautete die Erklärung – das Publikum konnte die Gegenstände benutzen, um mit ihnen und der Künstlerin zu tun, was es wollte. Etwas Ähnliches machte Yoko Ono bereits 1964, in ihrem »Cut Piece« ließ sie sich vom Publikum die Kleidung Stück für Stück mit einer Schere zerschneiden. Eher spielerisch kam die Darstellung von Frauen in der Gesellschaft daher, die Judy Chicago und Miriam Shapiro 1972 in »Womanhouse« inszenierten: Mit vielen ›typisch weiblichen‹ Requisiten wie Schminksachen, Puppen, Kissen, Hygieneprodukten und Bratpfannen stellten sie einen Frauenalltag dar – und zugleich in Frage.

Wie sich Frauen mit einer sogenannten Empowerment-Strategie selbst stärken können, zeigte Petra Mattheis in ihrem Projekt »BAM – Become a Menstruator« (20132018BAM41Lila Podcast