Impressum

Rudi Benzien

Schwester Tina

 

ISBN 978-3-96521-169-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1982 im Verlag Neues Leben, Berlin.

 

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1

Tina saß, nur mit BH und Slip bekleidet, vor dem Spiegel. Nach Dienstschluss hatte sie ausgiebig geduscht, nun färbte sie ihre Augenlider grünlich, zupfte mit der Pinzette an ihren Augenbrauen herum, bemalte sorgfältig ihre vollen Lippen, tupfte mit einem Wattebausch Make-up in ihr Gesicht.

Plötzlich hielt sie inne.

„Wozu machst du das eigentlich?“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und schmiss ärgerlich den Wattebausch in den Mülleimer neben der Tür.

Sie würde nicht weggehen können, denn sie hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst. Da saß sie nun in dem kleinen Zimmer gleich unter dem Dach, draußen an der Tür stand ihr Name: Schwester Tina.

Auf dem Korridor roch es wie im ganzen Haus nach Desinfektionsmitteln.

Diese Etage war das Schwesternwohnheim.

Eine Etage tiefer lagen der Kreißsaal, die Wöchnerinnen- und die Neugeborenenstation.

Tina ging ans Fenster.

Ab und zu kamen junge Männer vom Haupttor her mit Blumen in der Hand, um sich ihre neugeborenen Kinder anzusehen.

Von der Allee her drang Verkehrslärm hoch.

In Tina stieg Wut auf. Sie trat vom Fenster zurück, ging zum Regal, nahm sich den Radiorekorder, stellte ihn auf den Tisch, drückte die UKW-Taste.

„… von der Biskaya zieht ein Hoch ostwärts …“

„… in Dubai ließen die Entführer Frauen und Kinder von Bord gehen …“

„… Professor Doktor Patrick O’Neill, der acht Monate im Busch unter Menschenaffen lebte …“

Sie drehte weiter am Senderwahlknopf, hoffte auf Musik, auf ganz bestimmte, die zu ihrer Stimmung passte. Aber sie fand keine. Sie stieß mit dem Zeigefinger auf die Aus-Taste.

Sie sah sich im Zimmer um. Ihr Blick wanderte über die Stelle im Regal, wo bis gestern Franks Tonbandkassetten gelegen hatten, die er extra für sie bespielt hatte, von Gerd Christian bis Rod Stewart.

Nach dem Krach hatte sie zu ihm gesagt: „Du kannst auch gleich deine Kassetten mitnehmen, von wegen für jede Stimmung etwas, mir ist jetzt nach Kanonendonner, der ist sowieso nicht dabei.“

Frank wollte die Kassetten nicht nehmen, aber sie hatte sie ihm einfach in seine Umhängetasche gesteckt, bevor sie ihn zur Tür hinausschob. Dann hatte sie eine Weile gehorcht, ob er zurückkommen würde.

Aber er war nicht zurückgekommen. Sie hörte, wie sich seine Schritte entfernten.

Das war gestern gewesen.

Hätte ich doch wenigstens die Kassetten hierbehalten, dachte sie.

Sie setzte sich wieder vor den Spiegel und wischte das Make-up mit Creme ab.

Im Spiegel sah sie, dass in der hinteren Ecke des Wandregals, gleich neben „Weltall, Erde, Mensch“, hochkant eine Kassette stand. Sie nahm sie, drückte sie in den Radiorekorder.

Ein gleichmäßiges Rauschen kam aus dem Lautsprecher. Sie probierte die andere Seite: auch hier Rauschen.

Wenn sich Frank heute Abend nicht blicken lässt, dachte sie, dann fahre ich morgen zu ihm.

Gestritten hatten sie sich schon oft, aber rausgeschmissen hatte sie ihn noch nie.

Noch immer kam das monotone Rauschen der unbespielten Kassette aus dem Lautsprecher.

Tina zog den Verlobungsring vom Finger und warf ihn in die Zimmerecke, klingelnd sprang er hin und her.

Sie schaltete das Tonbandgerät aus, suchte den Ring, rutschte auf den Knien auf dem Fußboden herum, stocherte mit einer Haarklemme in der Scheuerleistenritze. Der Ring blieb verschwunden. Resigniert gab sie auf. Sie lauschte in den Flur hinaus. Ob Frank nicht doch …?

Wenn jetzt wenigstens jemand an die Tür klopfen und sagen würde: Tina, wir brauchen Sie, aus dem Kreißsaal kommen die Babys wie vom Fließband. Aber es geschah nichts.

Ich werde verrückt in dieser Bude, dachte sie.

In solch einer Situation war sie noch nie gewesen.

Vor drei Wochen hatte es wieder einmal Krach zu Hause gegeben, es ging um nichts Besonderes. Mutters übliche Vorhaltungen: „Wenn du schon später kommst, dann sag wenigstens vorher Bescheid …

Im Haushalt könntest du auch mal wieder was’ machen …

Acht Stunden hinterm Ladentisch, da weiß ich auch, was ich getan habe …

In deinem Zimmer sieht es aus wie in einem Saustall …

Solltest dir ein Beispiel an deiner Schwester nehmen …"

„Ich gehe, ich besorge mir ein Zimmer im Schwesternheim, ich hab’s satt, jeden Tag die gleichen Sprüche zu hören“, hatte sie ihre Mutter angeschrien.

„Dann geh doch, von mir aus geh lieber heut als morgen“, kam es zurück.

Ihr Vater, der große Streitschlichter, war gerade für ein Vierteljahr auf Montage. Sein Betrieb, der Großtransformatoren baute, hatte ihn nach Sibirien geschickt.

Ein Wort hatte das andere gegeben. Drei Tage später klappte es mit dem Zimmer im Schwesternwohnheim. Tina zog aus.

Dann verkrachte sie sich mit Ulrike, ihrer Schwester, wegen einer Lappalie. Tina konnte sich nicht mal mehr erinnern, worum es eigentlich gegangen war.

Gestern nun der Streit mit Frank.

Frank wollte sich nicht mit Tinas Dienstplan abfinden. Die vielen Dienste am Wochenende, oft Dienstwechsel mitten in der Woche, vom Frühdienst zum Nachtdienst …

„Das ist doch kein Leben mit uns, wir sehen uns zu selten, meine Kumpels im Betrieb sagen auch, so was würden sie nicht mitmachen“, das hörte sie in der letzten Zeit immer häufiger von Frank.

Sie erklärte ihm geduldig, dass Babys eben rund um die Uhr zur Welt kommen und sich nicht an Zeiten zwischen sieben und siebzehn Uhr halten.

Meistens ließ sich Frank mit ein paar spaßigen Sätzen, einem Dutzend Küssen und manchmal auch etwas mehr von diesem Thema abbringen.

Gestern hatte Tinas Prinzip nicht funktioniert.

Frank war stur geblieben.

„Entweder du lässt dich ein paar Wochen auf Normaldienst setzen, oder …“

„Was ,oder‘?“, fragte Tina, „was meinst du damit?“

„In ein paar Monaten gehe ich zur Fahne, bis dahin könntest du wirklich Normaldienst machen oder wie ihr das nennt. Wenn ich bei der Armee bin, dann kannst du immerzu Nachtdienst machen …“

„Normaldienst gibt es bei uns nicht, und für mich wird keine Extrawurst gebraten“, sagte sie, und es klang härter, als sie es eigentlich gewollt hatte.

„Das ist es ja, du hast garantiert noch nie gefragt, ob es nicht ausnahmsweise mal ginge, du willst es überhaupt nicht …"

„Geh doch, such dir eine, die nur Normalschicht arbeitet, vergiss auch deine Kassetten nicht.“

Nun saß Tina im Zimmer, in dem sie sich nicht zu Hause fühlte, und hatte niemanden, dem sie ihr Herz ausschütten konnte; ihren Vater nicht, bei dem sie es am liebsten getan hätte; auch Ulrike war nicht da, bei der sie es am zweitliebsten getan hätte.

Sie setzte sich an den kleinen runden Tisch, zog den Radiorekorder zu sich heran, steckte den Stecker des Mikrofonkabels ins Gerät, drückte auf die Taste, auf der KW stand, drehte an verschiedenen Knöpfen, der Zeiger rutschte hinter dem Skalenglas hektisch hin und her. Pieptöne, Musik und fremdländische Wortfetzen drangen in ihr Ohr, aber nicht in ihr Bewusstsein.

Ohne hinzusehen, drückte sie wieder ein paar Tasten. Stille trat ein.

„Es ist zum Verrücktwerden, ausgerechnet heute muss ich Bereitschaft haben, ausgerechnet heute. Warum musste ich ihm auch noch die Kassetten hinterherschmeißen?“

Wütend hieb sie wieder auf die Tasten ein, als würden die dafür können, dass ihr in den letzten Tagen so viel schiefgegangen war. Plötzlich hielt sie inne. Da kam etwas aus dem Lautsprecher des Rekorders, was sie hinhören ließ.

Es war ihre leicht verfremdete Stimme, die aus dem Lautsprecher kam. Sie ließ das Band zurücklaufen und spielte es wieder ab. Dann nahm sie sich das Mikrofon und drückte die Aufnahmetaste herunter.

Aber auf Anhieb fiel ihr nichts ein, was sie sich hätte sagen können.

„Ich bin die berühmte Sängerin Tina Calotta … Sie sind also die berühmte Sängerin Tina Calotta Veneri, erzählen Sie doch unseren Hörern mal, wie es mit Ihnen angefangen hat.“

Sie hielt das Tonband an, ließ es zurücklaufen und hörte sich an, was sie gesprochen hatte.

Sie war beeindruckt, nicht von dem, was sie sagte, sondern einfach von der Stimme, die da aus dem Lautsprecher kam. Das war eine richtige Radiostimme, gar nicht ihre, mit der sie „Guten Morgen, Herr Doktor!“ sagte oder „Rutscht mir doch alle mal den Buckel runter!“.

Sie bekam Lust, noch mehr auf die Kassette zu sprechen.

Sie löschte den alten Text von der berühmten Sängerin nicht; wo er aufhörte, sprach sie weiter.

„Also, meine Herren und Damen, ich bin nicht die Sängerin Tina van Bergen, wie Sie vielleicht denken, sondern die bedeutende Kinderkrankenschwester Tina, die gute Fee im Babyland. Der erste Mensch, mit dem die Babys, wenn sie das Licht der Welt erblickt haben, richtig zu tun bekommen, das bin ich …“

„Dann komm mal, du erster Mensch, wir brauchen dich dringend, zwei Babys in der letzten Stunde, drei sind mindestens noch zu erwarten.“

Im Türrahmen stand Ingrid.

„Ich spinne ein bisschen mit dem Kassettenrekorder“, sagte Tina entschuldigend, schaltete das Gerät ab, stand auf und ging zur Tür.

„So in Slip und BH? Vielleicht ziehst du doch lieber ’nen Kittel über.“

Tina wurde rot und ärgerte sich darüber.

Ich muss völlig durchgedreht sein, dachte sie, ging zum Schrank und zog sich einen Kittel über.

„Hast wohl Probleme mit deinem Fränkiboy? Soll ja gestern Abend etwas laut gewesen sein bei dir …“

„Dein Interesse ist rührend, nächstens werde ich dir ein Protokoll zukommen lassen, damit du genau informiert bist.“

„Dir muss aber eine gewaltige Laus über die Leber gekrochen sein“, sagte Ingrid beleidigt. Sie verließ das Zimmer, gefolgt von Tina. Wortlos gingen sie nebeneinander durch den Flur, die Treppe hinunter zur Neugeborenenstation.

 

Unter Arbeitsmangel litt Tina in dieser Nacht nicht.

Es ging los mit Flaschenwaschen, Sterilisieren von Spritzen und Kanülen, Routinearbeiten, die Tina nicht gerade liebte. Noch vor Mitternacht holte sie zwei Babys aus dem Kreißsaal, einen Markus Meier mit einer Himmelfahrtsnase und eine Babette Klaucke mit langen schwarzen Haaren und schönen langen Wimpern.

Die Hebamme im Kreißsaal hatte ihr die beiden in den Arm gelegt, in jeden eins, ein junger Assistenzarzt marschierte vor Tina her und öffnete ihr alle Türen.

Ingrid und Tina mussten sich beeilen, denn um vierundzwanzig Uhr mussten vierundvierzig Babys frisch in Windeln verpackt werden, die Hälfte davon, die sogenannten Sechsmaler, wartete darauf, dass sie ihr Milasanfläschchen bekamen.

Trotzdem, beim Empfang ließ sich Tina Zeit.

Ingrid hatte sich für Markus entschieden, Tina behielt das Baby Babette für sich.

Sie maß die Temperatur, badete das Baby und trocknete es sorgfältig ab, reinigte mit Tupfern vorsichtig Nase und Ohren, cremte es ein und redete dabei mit ihm.

„So, meine Liebe, nun wickeln wir dich schön ein und bürsten deine Haare. Jetzt könnten wir zur Babyausstellung gehen, du würdest garantiert den ersten Preis bekommen.

Dann lag das Baby Babette als vorschriftsmäßig gebündeltes Neugeborenes auf dem Wickeltisch. Tina besah es sich noch einmal genau von allen Seiten, nahm es hoch, küsste es auf die Nase und brachte es ins Nebenzimmer, wo lauter Körbe an der Wand befestigt waren. In das dritte Körbchen von der Tür legte sie Babette Klaucke.

Sie füllte das große Krankenblatt aus, auf dem die ersten Lebensdaten eines Neuankömmlings verzeichnet werden: Name der Eltern und Beruf, Geburtstag und -stunde, Länge, Gewicht, Temperatur …

Aus den anderen Zimmern kam das quäkende Geschrei der hungrigen „Sechsmaler“, die nach ihren Fläschchen verlangten, das Signal für Tina und Ingrid, dass sie sich beeilen mussten.

Um zwei Uhr kamen sie endlich dazu, sich eine Tasse Kaffee zu machen. Sie saßen mit weit von sich gestreckten Beinen in ihren Sesseln und schlürften den Kaffee.

„Du musst mir ja nicht erzählen, weshalb ihr Krach hattet, du und dein Fränkiboy. Echt mal, wenn du denkst, dass ich neugierig bin, da irrst du dich …“

Tina hatte die Augen geschlossen. Sie holte tief Luft, um der gar nicht neugierigen Ingrid „eins mit dem Säbel überzuziehen“, wie sie es nannte. Da klingelte das Telefon. Ingrid nahm den Hörer ab, Tina stieß die eingezogene Luft zischend aus.

„Dann kommen wir beide“, sagte Ingrid in den Hörer und legte auf. „Erhebe dich, du müde Schnecke, das nächste Pärchen wartet auf uns im Kreißsaal“, sagte Ingrid und stand stöhnend auf.

Kurz vor sieben Uhr stand Tina wieder in ihrem Zimmer, todmüde. Kein Gedanke mehr an den Krach mit Frank. Sie nahm auch keine Notiz von dem Kassettenrekorder auf dem Tisch, sie ließ sich rückwärts auf die Liege fallen und schlief auf der Stelle ein.

Den Brief, der auf dem Tisch gleich neben dem Rekorder lag, hatte sie nicht bemerkt.

Es war gleich elf, als sie aufwachte, und das Erste, was ihr ins Auge fiel, war der Brief. Obwohl sie alles andere als frisch und munter war, sprang sie wie elektrisiert hoch.

Sie nahm das Kuvert in die Hand, es war offen, aber sie fürchtete sich, das beschriebene Blatt Papier aus dem Umschlag zu ziehen. Sie legte den Brief auf den Tisch, ging unter die Dusche, frühstückte anschließend, wobei sie immer auf den Brief starrte.

Sie nahm den Umschlag wieder in die Hand, befühlte ihn.

Außer einem beschriebenen Blatt Papier war da noch etwas im Umschlag. Nun ist alles klar, den Brief muss ich nun gar nicht mehr lesen, da steckt sein Verlobungsring drin, das sagt alles, dachte sie.

Sie zog entschlossen den Briefbogen aus dem Umschlag.

 

Meine liebe streitsüchtige, uneinsichtige, rechthaberische Tina! Natürlich habe ich nicht ganz recht, aber denk nicht, dass Du ganz recht hast. (Ich schreibe ,ganz ‘ klein und hinten mit z, das ist ein freundlicher Akt von mir.)

Ich hätte das lieber alles mündlich mit Dir besprochen, aber Du warst schon zum Dienst, als ich hier ankam. Ich habe Dir zwei Vorschläge zu machen.

Vorschlag Nummer eins: Den Abend, an dem Du mich rausgeschmissen hast, vergessen wirso leicht wirst Du mich nicht los.

Vorschlag Nummer zwei: Atze pumpt mir morgen seine MX. Um fünf, gleich nach der Arbeit, komme ich zu Dir, und wir fahren irgendwohin. Bis dahin wirst Du ja ausgeschlafen haben …

Morgen? Das ist ja heute, ging es Tina durch den Kopf.

Sie las weiter:

In der Ecke am Fenster habe ich einen Ring gefunden. Ich wette, das ist Deiner. Wenn ich mit Atzes Feuerpferd angeritten komme, will ich ihn wieder an Deiner linken Hand blinken sehen.

Dein Frank

 

PS: Denk nicht, weil ich den Anfang gemacht habe, dass ich nun für immer Deinen komischen Dienst akzeptiere. Ich komme Dir zwar einen Schritt entgegen, das heißt, eigentlich gehe ich einen Schritt zurück, ich hoffe, Du tust das auch.

2

Mit Frank ist wieder alles in Ordnung. Ich musste ihm allerdings versprechen, dass ich freiwillig keinen zusätzlichen Wochenenddienst mehr mache, jedenfalls so lange nicht, bis er zur Fahne geht. Irgendwie habe ich zwar ein schlechtes Gewissen dabei, aber dieses Zugeständnis musste ich ihm schon machen.

Gestern waren wir mit dem Motorrad am Müggelsee. Da gab es fast wieder Krach, weil er an den FKK-Strand wollte, ich aber nicht. Ich finde es blöd, sich da von den alten Knackern anstarren zu lassen, außerdem ist mein neuer Bikini ein Gedicht, wiegt höchstens zehn Gramm.

Wir gingen an den Textilstrand.

Nach dem Baden fuhren wir zu mir, da konnte mich Frank lange genug ohne Bikini sehen.

Es war eine schöne Nacht. Wir quatschten fast bis um zwei. Das finde ich unheimlich gut. Früher, als ich noch zu Hause war, redeten Ulrike und ich oft bis weit nach Mitternacht über alles miteinander. Es war dunkel im Zimmer, und leise spielte unser Radio. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, das kam später. Jetzt, wo ich Ulrike selten sehe, und wenn, dann nur am Tage, da können wir nicht mehr wie damals über alles reden. Es macht mich traurig, wenn ich daran denke, dass es Dinge gibt, die schön waren, die aber nie im Leben wiederkommen werden.

Es ärgert mich, dass Frank mich manchmal nicht versteht. Ich erzählte ihm zum Beispiel letzte Nacht, dass es mir manchmal so geht wie Liza Minelli in dem Film „Cabaret“. Oft spüre ich das Bedürfnis, richtig laut zu schreien, so laut, dass die Wände wackeln. Das kann mich ankommen, wenn ich besonders fröhlich oder glücklich bin, auch wenn mir hundeelend ist. Wo kann der Mensch schon mal so richtig laut aus Leibeskräften schreien, wenn ihm danach ist? Da würde doch jeder gleich denken, dass man eine Macke hat. Im Film „Cabaret“ ist die Minelli, als ihr nach Schreien zumute war, einfach zu einer S-Bahn-Unterführung gegangen, hat gewartet, bis ein Zug über die Brücke donnerte, und hat geschrien, dann ist sie befreit wieder nach Hause gegangen. Das kann ich verstehen.

Als ich Frank fragte, ob er auch schon mal ein Schreibedürfnis verspürt habe, da sagte er: „Tina, ich weiß, manchmal hast du ganz schön verrückte Ideen.“

Bevor ich mich über seine Antwort ärgern konnte, küsste er mich und streichelte meine Brüste.

Den Liza-Minelli-Effekt werde ich mal im Wald ausprobieren, wo mich kein Mensch sehen und hören kann, aber wenn ich da nach zwei Stunden ankomme, dann ist mir vielleicht gar nicht mehr nach Schreien. Die richtige Wirkung setzt sicher nur ein, wenn man in dem Moment, wo einem danach ist, auch gleich brüllen kann.

3

Sie hatten es gewusst, lange genug, aber als in Franks Briefkasten die grüne Karte steckte; sah die Welt mit einem Schlag anders aus. Wenn es nach Frank gegangen wäre, hätten sie Hochzeit gefeiert, lange bevor die Einberufung angeflattert kam. Tina hatte nicht gewollt.

„Wenn wir die Armeezeit hinter uns haben, dann heiraten wir, vorher, das wäre Quatsch. Du hast bloß Angst, dass ich dir während dieser Zeit abhandenkomme.“

Frank hatte nicht mal abgestritten, dass er davor Angst hatte.

„Verheiratet zu sein bedeutet eine festere Bindung, als bloß verlobt zu sein“, gab er zu.

„So, du traust mir also zu, dass ich durchbrenne, und glaubst, wenn wir den Ring von der linken Hand auf die rechte stecken, das wäre die Garantie, dass ich dir nicht untreu werde … Franki, Franki, du bist ein Einfaltspinsel“, sagte sie, und Frank war sauer, stocksauer.

Nun, wo es feststand, dass er in zwei Wochen den Koffer packen musste, war Tina nicht mehr so sicher, ob ihre Ablehnung richtig gewesen war. Schließlich gab es auch in Stückow, wo Frank seine Armeezeit absolvieren sollte, Mädchen, und Ausgang würde er ab und zu haben. Wenn ihm da nun ein anderes Mädchen über den Weg läuft? Aber der Zug war abgefahren, Hochzeit war nicht mehr drin. Zwar waren die Wartezeiten beim Standesamt nicht so lang wie bei einer Trabi-Anmeldung, aber innerhalb von zwei Wochen gab es keine Chance. „Außerdem, wenn ich heirate, dann muss mein ganzer Stamm dabeisein, ich will zu Hause bei meinen Eltern feiern. Du kennst meine Mutter nicht, sie braucht eine Vorbereitungszeit von mindestens drei Monaten“, sagte Tina.

In ihren Nachtgesprächen schworen sie, sich treu zu bleiben. Einen Trost gab es außerdem noch, Stückow lag keine sechzig Kilometer von Berlin entfernt, da konnte Tina Frank oft besuchen fahren.

Eine Woche bevor Frank einrücken musste, besuchten sie zusammen Tinas Eltern. Tinas Vater war gerade von seiner sibirischen Montagereise zurückgekommen. Eigentlich hatte Frank nicht mitgehen wollen. Er glaubte, dass ihn Tinas Vater nicht besonders mochte. Er war gegen die Verlobung gewesen, das hatte er zwar nicht direkt gesagt, aber von Tina wusste Frank, dass er zu ihr gesagt hatte: „Mädchen, du musst dich doch nicht gleich verloben. Ich hab nichts gegen deinen Frank, aber um den Richtigen zu erkennen, muss man vorher schon ein paar andere gekannt haben.“

Tina hatte sich aber nicht von der Verlobung abhalten lassen.

Sie schleppte Frank jedenfalls mit zu sich nach Hause, und er war mitgegangen, weil er sonst von den wenigen Abenden, die ihnen noch blieben, einen verloren hätte.

Tinas Vater erzählte, wie sie fast ihren Großtrafo nicht hätten montieren können, weil die sowjetischen Bauarbeiter Schwierigkeiten mit dem Fundament hatten, das auf dem aufgetauten Frostboden wegzusacken drohte. Ulrike war mit ihrem Freund da. Für jeden hatte Tinas Vater ein kleines Geschenk mitgebracht, auch für Frank, einen Aschenbecher aus sibirischem Malachit. Sie tranken armenischen Weinbrand.

Tinas Mutter gab die Geschichte zum Besten, wie es ihr nach tagelangem Rumtelefonieren gelungen war, für ihren Babyausstatterladen vierzig Babykopfkissen aufzutreiben.

Dann sagte Tinas Vater zu Frank: „Und am Montag in acht Tagen geht es also ab zur Fahne. Was haltet ihr davon, wenn wir am nächsten Freitag eine anständige Abschiedsfeier steigen lassen?“

Frank war so überrascht, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.

Tina sprang ihrem Vater auf den Schoß und gab ihm einen Kuss.

„Du bist das beste Väterlein, das es gibt.“

Tinas Mutter war von dem Vorschlag nicht so sehr begeistert, was sie sich aber nicht anmerken ließ. Sie dachte an die Unordnung, die entstehen würde, wenn das Haus voller Leute war. Sie fürchtete Brandlöcher in Tischdecken und Teppich.

Als Tina und Frank zurück zum Schwesternwohnheim gingen, sagte sie: „Nun gib schon zu, dass du dich in meinem alten Herrn getäuscht hast, er mag dich …“

„Vielleicht …“, sagte Frank. Er war sich nicht sicher, ob Tinas Vater die Fete nicht nur deshalb gab, weil er froh war, dass er, Frank, jetzt für längere Zeit verschwand.

Von diesen Gedanken sagte er Tina nichts.

Dann auf der Liege in Tinas Zimmer fragte sie nach einer Weile: „Soll ich dir was Schönes verraten?“

Frank schwieg. Er zog mit seinem Zeigefinger eine unsichtbare Linie über ihre Haut vom Kinn bis zum Nabel.

“Nicht, Franki, soll ich dir die Überraschung sagen ode …“

„Na, sag schon“, erwiderte er.

„Für unsere letzte Woche habe ich Urlaub genommen.“

Er küsste sie, dass ihr fast der Atem ausging.

Dann lagen sie eine Weile schweigend nebeneinander.

Tina hörte durch die Wand, wie Oberschwester Berta in ihrem Zimmer rumorte. Sie wischte, wie jeden Tag, ihren Fußboden, dazu spielte sie auf ihrem vorsintflutlichen Plattenspieler ihre Lieblingsplatte. In den paar Wochen, seit sie im Schwesternwohnheim lebte, hatte Tina diese Platte schon fast an die Hundert Mal anhören müssen.

Mädchen, liebst du einen Fallschirmspringer, so lieb ihn nimmer, denn er kehrt nicht mehr zurück … In einer anderen Strophe des Liedes war von einem U-Boot-Fahrer die Rede … und taucht sein U-Boot nicht mehr auf, Mädchen warte nicht länger darauf, denn er kehrt nicht mehr zurück

Sonst hatte sich Tina über dieses blödsinnige Lied geärgert, heute machte es sie traurig. Da fiel ihr ein, was Oberschwester Berta gesagt hatte, als sie fragte, ob sie eine Woche Urlaub haben könne.

„Weshalb so plötzlich?“

„Mein Verlobter kommt zur Armee, es ist unsere letzte Woche.“

„Das soll ein triftiger Grund sein?“

„Für mich ist es einer …“

„Als ich so jung war wie Sie jetzt, 1940 war das, glauben Sie, da wäre ich auf die Idee gekommen …“

Da spürte Tina Wut in sich aufsteigen, sie wusste, nun würde sie unsachlich werden, schließlich kannte sie sich.

„Mich interessiert nicht, was Sie 1940 oder in der Steinzeit gemacht haben, ich nehme jedenfalls nächste Woche Urlaub, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen …“

Ihr Disput fand ein Ende, weil Tina ein Neugeborenes aus dem Kreißsaal holen musste.

Als Tina damit beschäftigt war, das Baby zu baden, kam Berta und sah ihr eine Weile wortlos zu. Alte Ziege, dachte Tina, wartest wohl darauf, dass ich irgendwas falsch mache.

„Mit Ihrem Urlaub, das geht schon in Ordnung“, sagte Berta und ging aus dem Raum.

Geliebt wurde Oberschwester Berta von den Schwestern der Station nicht. Nichts war ihr sauber genug, keine konnte ihr alles recht machen. Besonders den jüngeren Schwestern gegenüber war sie unausstehlich, jedenfalls empfanden sie es so.

Die Platte war abgelaufen, nur noch die Schruppgeräusche drangen durch die Wand.

Frank setzte sich aufrecht und sah Tina an.

„Wir werden uns jetzt drei Wochen nicht sehen, drei Wochen …“

Tina legte ihren Arm um seine Schulter.

„Junge“, sagte sie, „Junge, das stehen wir durch, garantiert, uns bleibt nämlich gar nichts anderes übrig.“

Durch die Wand drang eine neue Melodie. Der Refrain des Liedes ging so: Reite, kleiner Reiter, reite in die weite Welt, bald hast du dein Ziel erreicht.

Sie ließen sich beide nach hinten fallen und lachten aus vollem Halse.

 

Dann war Freitag. Frank hatte schon zwei Abschiedsfeiern hinter sich, eine mit seinen Kollegen aus der Brigade. Sie hatten ihm die üblichen Sprüche mit auf den Weg gegeben: „Nie auffallen, Alter, weder positiv noch negativ, das ist eine goldene Regel …“ und Ähnliches in der Art. Die andere Fete hatten seine Freunde arrangiert. Ein Glück, dass auch Tina dabeigewesen war, denn Frank, der nicht viel Alkohol vertrug, war bald ziemlich elend zumute gewesen. Da konnte er froh sein, dass eine vollausgebildete Kinderkrankenschwester zur Stelle war.

Nun stand ihm nur noch die Feier bei Tinas Eltern bevor. Wenn ihm ein gutes Argument einfallen würde, hätte er sie ausfallen lassen. Aber er spürte, dass Tina viel an diesem Abend lag, also machte er gute Miene zum bösen Spiel.

Es wurde ein Abend, wie Frank ihn nicht erwartet hatte. Ulrike war mit ihrem Freund gekommen, Tinas Freundin Ramona war mit ihrem Freund da, es gab Kartoffelsalat, Bockwürste und Pfirsichbowle. Es wurde getanzt, Ulrike erzählte unentwegt von ihrer Arbeit im Kindergarten, Tina war ausgelassen, Frank beobachtete Tinas Vater. Er verglich ihn mit seinem, stellte sich ihn in ähnlicher Situation vor. Was Frank auffiel und beeindruckte, war, dass Tinas Vater nicht die Hausherrnrolle spielte, sondern sich im Kreis der jungen Leute so bewegte, als sei er einer von ihnen.

Tinas Vater tanzte mit den jungen Mädchen, und dazu auf eine Art, mit der er in jeder Diskothek seinen Mann hätte stehen können. Am meisten beeindruckte Frank, wie Tinas Vater mit seinen Töchtern umging.

„Na, junger Mann, würden Sie nicht mal mit mir tanzen wollen?“ Tinas Mutter riss ihn aus seinen Gedanken.

„Du wirst ihr doch keinen Korb geben, na, los schon.“ Tina zog ihn von der Couch.

Als Frank später in der Küche mit der Kelle im Bowlenglas herumfischte, gesellte sich Tinas Vater zu ihm.

„Ich kann mir vorstellen, dass dir nicht gerade besonders heiter ums Herz ist.“ Er stieß mit seinem Glas an Franks.

„Es geht“, sagte Frank.

„Werden deine Eltern zu deiner Vereidigung kommen?“

„Kann sein“, sagte Frank.

„Hör mal, Junge, wenn du Tina rechtzeitig schreibst, wann die Vereidigung ist, dann kommen wir mit dem Trabi. Was hältst du davon?“

„Ich würde mich freuen.“

„Abgemacht“, sagte Tinas Vater und stieß noch mal mit Frank an. Tina kam in die Küche.

„Habt ihr Geheimnisse, Jungs?“, fragte sie.

„Du bist neugierig, Tochter.“

Sie gingen zurück ins Zimmer.

Den Rest des Abends ließ Frank Tina nicht mehr los, sie tanzten nonstop bis zum Ende der Abschiedsparty.

Auf dem Nachhauseweg wollte Tina wissen, wie ihm der Abend gefallen habe.

„Ich wünschte mir, dass mein Vater ein bisschen so wie deiner wäre“, sagte Frank. Mit dieser Antwort war Tina zufrieden.

Am Sonntag kam Frank abends mit seinem Koffer zu Tina. Als er von zu Hause losgegangen war, hatte sein Vater von ihm wissen wollen, ob er denn unbedingt die letzte Nacht bei Tina verbringen müsse.

„Unbedingt“, war seine Antwort gewesen, und er war gegangen.

Tinas Tisch war festlich gedeckt. Weingläser, Servietten, allerlei leckere Sachen, das warme Licht einer Kerze erzeugte eine anheimelnde Atmosphäre.

„Soll ich dich morgen früh zum Bahnhof bringen, Soldat?“

„Lieber nicht“, sagte Frank.

„Aber gleich, wenn du angekommen bist, schreibst du mir.“

„Ehrenwort.“

Tina pustete die Kerze aus.

4

Frank ist gerade zwei Tage weg, und schon ist mir, als hätte ich ihn hundert Jahre nicht gesehen. Eigentlich habe ich am Wochenende dienstfrei, werde mich aber um wenigstens einen Dienst bemühen, sonst fällt mir die Decke auf den Kopf. Ob ich am Sonntag nach Stückow fahre, vielleicht kriege ich Frank zu sehen?