Impressum

Rudi Benzien

Jonas, erzähl mal von Paris

Autobiografischer Roman

 

ISBN 978-3-96521-167-4 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1997 im Verlag am Park, Berlin.

 

© 2019 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstrasse 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.de
Internet: http://www.edition-digital.de

Erstes Buch

Kapitel 1

Eigentlich hieß er Friedhelm, Jonas war sein Familienname, aber es gab keinen, der ihn Friedhelm nannte. Er steckte voller Geschichten, deren Wahrheitsgehalt niemand überprüfen konnte. Seine Geschichten, die er erzählte, waren ausschließlich abenteuerlich-fantastischer Natur und er darin der strahlende Held. Das brachte ihm den Ruf ein, ein ausgemachter Spinner zu sein. Die meisten seiner Kollegen hielten ihn für einen notorischen Lügenbold.

Ich mochte ihn, wegen seiner Geschichten.

Ich hatte gerade den Lehrerberuf an den Nagel gehangen und war Redakteur bei dieser Jugendzeitschrift „Frohe Jugend“ geworden.

Jonas war Kraftfahrer.

Meine erste journalistische Dienstreise ging an die Ostsee.

Vorsaison: Ich hatte den Auftrag, eine Umfrage unter Wochenendurlaubern abzuhalten. Mein Chef lebte mit der fixen Idee, dass alle Menschen überall und zu jeder Zeit lesen müssten. Meine Umfrage sollte den Beweis erbringen, dass jeder Wochenendurlauber mindestens ein Dutzend schöngeistiger Bücher mit sich führte. Mein Chef hielt das für selbstverständlich, denn zu jener Zeit befanden wir uns gerade auf dem Weg zur gebildeten Nation.

Pünktlich um sechs Uhr früh hupte ein Auto vor meiner Haustür.

In dem alten, schäbigen Wolga saß ein dicker Mensch hinter dem Lenkrad. Ich stieg ein, warf meine Reisetasche auf den Rücksitz und setzte mich auf den Beifahrersitz.

„Hast du deine Badehose eingepackt, Junge? Bei der Wassertemperatur wird uns zwar der Arsch kalt werden und hinterher wird dein Schweif geschrumpft sein, dass du ihn problemlos durch ein Nadelöhr ziehen kannst. Übrigens, Friedhelm Jonas heiße ich. Aber lass dir nicht einfallen, mich Friedhelm zu nennen. Jonas bin ich. Verstanden?“

Ich hatte keine Badehose mit und dafür, dass er nicht Friedhelm genannt werden wollte, hatte ich volles Verständnis.

Auf der Fernverkehrsstraße Nummer 96 fuhren wir in Richtung Norden.

„Biste Berliner oder …?“, wollte er wissen.

„Mindestens in der dritten Generation.“ Diese Auskunft schien ihn zu beruhigen.

„Weißt du, ich kann solche Arschlöcher nicht ausstehen, die, wenn sie in mein Auto steigen, sich hinten hinsetzen und während der ganzen Fahrt das Maul nicht aufmachen“, erklärte er mir. Dann musste er mich mögen; ich hatte mich vorn hingesetzt. Er fragte mich, was ich denn an der Ostsee vor hätte. Ich sagte es ihm.

„Da wirst du vielleicht dein blaues Wunder erleben. Welcher Idiot schleppt denn, wenn er für drei Tage an die Ostsee fährt, ’ne Bibliothek mit?“

Wir hatten Oranienburg hinter uns gelassen, als sich ein merkwürdig ätzender Geruch im Auto ausbreitete. Ich schnupperte.

„Is was?“, fragte Jonas.

„Es riecht so komisch“, sagte ich.

„Mach dir nichts draus, mir qualmen bloß die Socken“, sagte er und zeigte auf seine Füße, „ich kann machen, was ich will, seit ich auf diesem Bock sitze, stinken meine Hufe, dass es mir manchmal selber zu viel wird. Das liegt daran, weil die Heizung genau auf meine Quanten zielt. Ich werd’ mal das Fenster runterdrehen.“

Wir durchfuhren ein Kaff, das Teschendorf hieß, als mich Jonas mit dieser Frage überraschte: „Warste schon mal in Paris?“

Der wollte mich wohl auf den Arm nehmen. Wie sollte ich denn je nach Paris gekommen sein?

„Du etwa?“, fragte ich zurück.

„Und ob“, sagte er und strahlte dabei Überlegenheit aus. Er steckte sich eine Zigarette an, mir bot er auch eine an.

„Erzähl mal“, forderte ich ihn auf.

„Hast du schon mal was von Lengede in Niedersachsen gehört?“

Mir fiel ein, dass es in Lengede vor einigen Jahren zu einem schweren Grubenunglück gekommen war. Die Sensation war damals gewesen, dass nach fast zwei Wochen noch elf Verschüttete entdeckt worden waren.

Ich sagte Jonas, was ich wusste.

„Siehste, einer von den Elf war ich.“

Jonas sah mich von der Seite an, um zu sehen, wie diese Mitteilung auf mich wirkte.

„Ich kenne euch Journalisten, jetzt wirste gleich wissen wollen, wie uns da unten zu Mute war. Kannste dir sparen, die Frage, darüber rede ich nicht. Manchmal träume ich nachts davon, … meinen besten Zuchtpapagei würde ich verschenken, wenn ich diesen Traum nicht mehr träumen müsste. Du musst wissen, ich züchte Papageien. Wenn du mal ’nen echten Amazonaspapagei haben willst, ich mach dir einen Preis unter Brüdern …“

Er drehte die Scheibe noch ein Stück weiter herunter.

„Und was hat Lengede mit Paris zu tun?“, fragte ich.

Jonas machte die Arme steif, drückte den Rücken fest gegen die Lehne seines Sitzes, blickte geradeaus und schwieg erst mal eine Weile.

„Am 24. Oktober 1963 fuhren wir ein, am 7. November, nach vierzehn Tagen, holten sie uns mit der Dahlbuschbombe hoch. Wir kamen erst mal in ein Krankenhaus, später verfrachteten sie uns in einen noblen Bus und ab ging es nach Paris.

Die Fettsäcke von der Direktion wollten damit ihr schlechtes Gewissen beruhigen, sie hatten uns aufgegeben gehabt und die Rettungsarbeiten einstellen lassen. Wenn unsere Kumpels nicht Dampf gemacht hätten, wären wir da unten verreckt. Paris sollte so eine Art Trostpflaster für uns sein, verstehst du …“

Er drehte die Scheibe hoch, schaltete die Heizung ab, drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

Ich wartete nun darauf, dass er von seinen Abenteuern in Paris erzählen würde.

Vor uns fuhr langsam ein Traktor mit einem Hänger voll dampfendem Mist. Der Geruch, der davon ausging, ließ mich die Wolke vergessen, die von Jonas’ Füßen aufstieg. Heftiger Gegenverkehr machte ein Überholen unmöglich.

„Am Tage müsste das verboten werden, die sollen ihren stinkenden Mist nachts durch die Gegend fahren, Scheißer, die“, schimpfte Jonas. Endlich riss der Gegenverkehr ab, er überholte.

„Jonas, erzähl mal von Paris“, sagte ich.

„Sag mal, willst du deine Umfrage auch am FKK-Strand veranstalten?“, fragte er mich. Seine Absicht war wohl, meine Neugier zu steigern.

Umfrage am FKK-Strand, warum eigentlich nicht …?

„Schon möglich“, sagte ich. Jonas quittierte das mit einem Grinsen.

„Ich stelle mir vor, wie das aussieht, wenn du, nur mit Kugelschreiber und Notizbuch bekleidet, die nackten Weiber anquatscht: Hallo, Lady, darf ich fragen, welche Lektüre Sie hier bevorzugen?“

So lustig fand ich diese Vorstellung nicht. Im Gegenteil. War vielleicht doch etwas abwegig, von Wochenendurlaubern zu erwarten, dass sie Bücher mit sich schleppten.

Trotzdem, ich war fest entschlossen, koste es was es wolle, genug Material zu sammeln, dass es für einen Zweiseiter reichen würde.

„Los, Jonas, erzähl jetzt endlich von Paris!“, forderte ich mit Nachdruck. Ich wollte nicht mehr an diese Umfrage denken, die vielleicht eine Pleite werden musste.

„Irre, einfach irre, kann ich dir sagen. Die Weiber zum Beispiel …“, Jonas leckte sich die Lippen, „die sehen nicht bloß zum Verrücktwerden aus, Junge, die können auch was auf der Matte, wenn du verstehst, was ich meine. Figuren haben die, da bleibt dir die Luft weg. Solche aufgeblasenen Kartoffelärsche, wie unsere Weiber sie spazieren tragen, die kannst du da lange suchen, alle picobello …“

Die Richtung, die er einschlug, gefiel mir nicht. Ich versuchte, ihn in eine andere Richtung zu drängen.

„Der Eiffelturm, warst du da auch mal oben?“

„Scheiß Eiffelturm. Meinst du, der hätte uns interessiert? Die hübschen kleinen Puffs in der Gegend um Montmatre, die sind wir abgeklappert, eine Woche lang, jeden Abend. Kies hatten wir genug, da konnten wir die Puppen tanzen lassen“, schwärmte er.

Ich unternahm noch einen Versuch, ihn auf einen anderen Kurs zu bringen.

„Sicher wart ihr auch mal im Louvre, Mona Lisa und so …“

„Na klar, einen ganzen Tag haben sie eine Stadtrundfahrtmit uns gemacht, Sight-seeing, Champs Elysees, Arc de Triomphe, Louvre … geschenkt, aber gleich am zweiten Abend bin ich in einem Stripladen gelandet, ‚Mirabelle‘ hieß er. Du wirst es nicht glauben, da hab’ ich eine Mademoiselle kennengelernt, die hieß tatsächlich Mona Lisa. Morgens um vier bin ich auf dem Zahnfleisch zurück ins Hotel gekrochen …“

Alles, was er sagte, erinnerte mich an dieses blödsinnige Landsergequatsche, das ich oft genug in Kneipen und bei Familienzusammenkünften zu fortgeschrittener Stunde gehört hatte.

„Hast du dir was mitgebracht von der Reise?“, fragte ich.

„Und ob“, grinste Jonas, „hat, Gott sei Dank, nicht lange gehalten.“

Eigentlich hatte ich schon keine Lust mehr zu fragen, um was für eine Art Mitbringsel es sich gehandelt hatte. Ich ahnte es schon. Ich fragte trotzdem, weil ich spürte, dass er darauf wartete.

„Einen Tripper“, antwortete er, nicht ohne Stolz.

Ein großer Erfolg wurde die Umfrage auf dem Zeltplatz in Prerow nicht. Zwar fanden wir ein paar Menschen, die jeweils einen Krimi bei sich hatten, die waren aber ausschließlich westlicher Herkunft und stellten somit kaum die richtige Wegzehrung bei der Erstürmung der Höhen der Kultur dar.

Andere, die ich befragte, tippten mit ihrem Zeigefinger gegen ihre Stirn oder stellten die Gegenfrage: Ob ich vielleicht eine Macke hätte.

Jonas hielt sich bei meinen Befragungen immer diskret im Hintergrund, in seinem Gesicht ein hämisches Dauergrinsen. Als ich an dem Schild mit den drei großen Buchstaben FKK halt machte, fragte Jonas: „Und was jetzt, Alter?“

Mich ritt der Teufel. „Was soll sein? Jetzt befrage ich die Nackten.“

„Dann würde ich dir empfehlen, deine Rüstung abzulegen, sonst halten sie dich für einen Spanner und hauen dir die Jacke voll.“

Ich zog mich aus, hing mir Hemd, Hose und Unterwäsche über den linken Unterarm, die Schuhe nahm ich in die rechte Hand.

„Und deinen Presseausweis musst du jetzt noch zwischen die Zähne nehmen. Wenn du willst, dann fotografiere ich dich so. Das wird ein Bild, das kannst du glatt als Aufmacher für deinen Artikel nehmen“, sagte Jonas.

Es fehlte nicht viel und ich hätte mich wieder angezogen.

„Komm“, sagte Jonas, „gib mir deine Klamotten, dann hast du die Hände frei für Kugelschreiber und Notizbuch.“

Ich ging los, Jonas folgte mir mit zehn Meter Abstand, angezogen, meine Sachen unter dem Arm.

Ich steuerte auf zwei Mädchen zu, die neben ihrem Zelt auf einer Decke lagen. Das eine Mädchen schlief, das andere las in einem abgewetzten, dünnen Heftchen.

„Verraten Sie mir, was Sie da Schönes lesen?“, fragte ich.

„Was geht Sie das an?“, lautete ihre Anwort, aber es klang nicht unfreundlich, sie zeigte mir sogar die Titelseite ihrer Lektüre. „Der Herr Graf lassen bitten …“

„Na, zufrieden?“, fragte sie und bedeckte ihr goldenes Dreieck mit dem Heft.

Ich erzählte ihr von meiner Umfrage.

„Da bin ich wohl mit meiner Schwarte kaum der richtige Kunde für Sie. Hätte ich geahnt, dass Sie kommen, würde ich glatt „Wie der Stahl gehärtet wurde“ mitgebracht haben.“ Jonas kam näher.

„Das ist wohl Ihr Butler?“, kicherte das Mädchen.

Inzwischen war das andere Mädchen erwacht. Das weitere Gespräch ergab, dass die beiden Mädchen Pädagogik studierten. Das andere Mädchen holte aus ihrem Rucksack zwei Bücher, die mir prächtig ins Konzept passten. ‚Didaktik‘ hieß das eine, ‚Entwicklungspsychologie‘ das andere.

Bevor wir weiterzogen, wussten wir, dass wir die beiden Mädchen abends im Strandcafé finden könnten, wenn wir wollten.

Ich steuerte auf eine Frau zu, die neben ihrem Zelt nackt an einem Propangaskocher hantierte. Jonas hielt wieder diskret Abstand.

„Darf ich Sie mal stören“, versuchte ich mit der Frau ins Gespräch zu kommen.

„Egon, Egon!“, schrie sie los.

Aus einer Gruppe junger Männer, die ein Stück entfernt Volleyball spielten, kam ein ölig glänzender Muskelprotz angerannt.

„Was will der von dir, Elvira?“

„Hör’n Sie mal, hier liegt ein Missverständnis vor“, versuchte ich zu erklären.

Wortlos bezog Jonas neben mir Stellung.

„Das ist ein Journalist, der macht eine Umfrage“, sagte er ganz ruhig.

„Halt dich da raus, Fetty“, knurrte der Muskelprotz und machte Anstalten, auf mich loszugehen.

Hinter dem wütenden Muskelmenschen hatten sich noch drei nackte Volleyballspieler aufgestellt. Es sah so aus, als würde ein Zusammenstoß unvermeidbar sein.

Jonas legte betont langsam meine Sachen in den Sand, zog sich seine Jacke aus, legte sie sorgfältig zusammengefaltet daneben und krempelte sich die Hemdsärmel hoch.

„Also, Jungs, wenn ihr Krawall wollt, den könnt ihr haben. Ich muss euch allerdings warnen, ich war mal in der Fremdenlegion, Spezialausbildung. Wäre nicht schlecht, wenn einer von euch einen Krankenwagen alarmiert, ihr werdet ihn gebrauchen können.“

Jonas‘ kleine Rede blieb nicht ohne Wirkung.

„Was heißt hier Umfrage?“, lenkte der Muskelmensch ein. Jonas zeigte auf mich.

„Das kann der dir erklären. Ich bin von der Zeitschrift ‚Frohe Jugend‘ und mache eine Umfrage zum Thema …“, spulte ich meinen Spruch runter. Als ich das so sagte, kam ich mir auf einmal ziemlich blöd vor. „Das konnten wir ja nicht ahnen“, ließ sich der Muskelmannn vernehmen, „seit Tagen treibt sich nämlich hier in der Gegend ein Kerl rum, der unsere Frauen belästigt.“

Die Männer zogen sich zurück zum Volleyballfeld, die Frau hatte sich inzwischen eine geblümte Kittelschürze übergezogen und machte sich wieder an ihrem Kocher zu schaffen.

Jonas nahm unsere Sachen und ging schweigend durch die Düne. Ich folgte ihm. Hinter der Düne reichte er mir meine Kleidungsstücke. „Zieh dich an, Alter, lass es für heute genug sein“, sagte er.

Auf der Rückfahrt fragte ich Jonas: „Sag mal, warst du wirklich in der Fremdenlegion?“

„Fast“, sagte er, „nach meiner Lehrzeit hatte ich die Schnauze voll. Immer musste ich nach der Pfeife anderer tanzen. Erst in der Schule, dann in der Lehre, als ich Geselle war, haben sie mir immer die beschissensten Arbeiten zugeteilt und dazu zu Hause der Spruch: Solange du deine Füße unter unseren Tisch steckst …, na, du weißt schon. Da bin ich nach Westberlin gefahren und wollte mich in Frohnau bei der Legion anheuern lassen. Aber die haben mich nicht gewollt. Ich war ihnen zu fett und Plattfüße hatte ich damals auch schon. Bin ich eben in der Kohle gelandet, Lengede.“

Wenn ich gewollt hätte, Jonas würde mir in einem Atemzug seine ganze Lebensgeschichte erzählt haben. Er wartete auf weitere Fragen, aber ich stellte keine, weil ich über meinen Artikel nachdenken wollte.

Das Material, das ich zusammengetragen hatte, war dürftig. Aber ich war entschlossen, mit reichlich Fantasie ein gewaltiges Werk zu verfassen. Schrieb nicht Kisch in seinen jungen Jahren eine brillante Reportage über einen Großbrand, der gar nicht stattgefunden hatte?

Ich schrieb einen dreiseitigen Artikel mit meisterhaft erfundenen und unheimlich echt wirkenden Aussagen von angezogenen und nackten Menschen am Ostseestrand.

Siegessicher legte ich mein Werk auf den Tisch meines Chefs.

Nach einer Stunde ließ er mich rufen. Ich war mir sicher, er wollte mich für mein Meisterwerk loben.

„Weißt du“,, sagte er, „das klingt alles etwas wie an den Haaren herbeigezogen. Ich habe dich vielleicht mit dieser Sache überfordert. Den Artikel muss ich wohl selber schreiben. Wenn du nichts dagegen hast, verwende ich dein Umfragematerial, da spürt man richtig, dass es echt ist.“

Das war zwar eine Niederlage, aber schmeichelhaft war immerhin die Feststellung, dass meine durchweg erfundenen Antworten für echt gehalten wurden. Sollte vielleicht mein Talent im Erfinden von Realität liegen?

So verlief meine erste journalistische Dienstreise, die ich längst vergessen hätte, wenn nicht Jonas dabei gewesen wäre.

Kapitel 2

Ich würde lügen, behauptete ich, Jonas wäre mir auf Anhieb übermäßig sympathisch gewesen. Gut, er erwies sich auf unserer ersten gemeinsamen Reise als Kumpel, aber was und worüber er redete, das ließ nicht gerade auf besondere Vielfalt seiner Interessen schließen. Dieser Eindruck verstärkte sich bei unserer nächsten Fahrt.

Es ging nach Radeberg, wo sie seit ewigen Zeiten ein edles Bier brauen. Nach dem journalistischen Fehlstart mit der Befragung an der Ostseeküste wollte ich nun um jeden Preis zeigen, dass ich doch mehr als nur ein hoffnungsvolles Talent im Erfinden von Realität war.

Ich hatte mir eine Serie von Reportagen ausgedacht, mit denen ich beweisen wollte, dass es genug Erzeugnisse in diesem Land DDR gab, auf die wir stolz sein konnten: Meißener Porzellan, Suhler Jagdwaffen und Radeberger Pilsener zum Beispiel.

„Ob wir in Radeberg ein paar Pullen Bier abstauben können? Was meinst du?“, begrüßte mich Jonas, als ich morgens in seinen Wolga stieg.

„Kann sein, kann nicht sein, außerdem fahren wir deshalb da nicht hin“, sagte ich.

„Bist wohl mit dem linken Fuß aufgestanden. Übrigens, deine Ostseeumfrage war wohl ein Schuss in den Ofen, dein Chef hat da selber was zusammengeschrieben, wie ich gelesen habe. Ist alles kalter Kaffee, das ganze Ding kannst du vergessen.“

Zwar war ich der gleichen Meinung wie Jonas, aber ich war wohl wirklich mit dem linken Bein zuerst aufgestanden.

„Hör mal, Jonas, vom Autofahren verstehst du vielleicht was, aber von der hohen Kunst des Journalismus hast du nicht die geringste Ahnung“, sagte ich.

„Mein lieber Mann, dir muss ja gleich eine ganze Kompanie Läuse über die Leber marschiert sein, ist wohl besser, ich halte meine Schnauze.“

Das war mir mehr als recht, da konnte ich eine Weile ungestört meinen eigenen Gedanken nachgehen.

Ich dachte in alle möglichen Richtungen, kam aber immer wieder an den gleichen Punkt: Die Ostsee-Geschichte. Ich machte mir nichts vor, sie war ein Reinfall gewesen.

Mit der neuen Serie, die ich mir ausgedacht hatte, musste es mir gelingen, Eindruck auf meinen Chef zu machen. Ich war mir der Zweischneidigkeit meiner Absicht bewusst. Die Reportagen so zu schreiben, dass sie die Aufmerksamkeit und das Interesse der Leser finden würden, dahin ging mein Ehrgeiz. Aber wenn sie meinem Chef gefallen sollten, dann bedeutete das, Abstriche in der ersten Wirkungsrichtung zu machen. Der Chef fühlte sich nur einem Leser verpflichtet, und der saß im Zentralrat des stolzen Jugendverbandes, der FDJ hieß.

„Sag mal, bist du Genosse?“, drängte sich Jonas in meine Gedanken.

„Seit ich zwanzig bin“, antwortete ich unlustig.

„Habe ich mir gedacht“, quittierte Jonas meine Antwort.

„Und was soll das heißen“, fragte ich gereizt.

„Nur so. Bist offenbar so’n richtiges Kind der Republik. Schule, Abitur, Eintritt in die Partei, Studium, vorher vielleicht Armee, dann Stufe eins auf der Karriereleiter, in fünf Jahren sage ich dann „Herr Chefredakteur“ zu dir …“

„Nun halt mal die Luft an, Jonas, wenn du damit sagen willst, dass ich bloß in die Partei gegangen bin, weil ich Karriere machen wollte, dann bist du gewaltig auf dem Holzweg“, fiel ich ihm ins Wort.

„Reg dich nicht auf, Junge, aber zugeben musst du doch, dass sich in euren Reihen ’ne Menge Arschlöcher versammelt haben, die nur an die Futterkrippe wollen und sonst gar nichts.“

„So was soll’s geben, aber tu mir den Gefallen, rechne mich nicht dazu“, sagte ich.

Eigentlich hatte ich schärfer kontern wollen, denn wenn ich etwas nicht ausstehen konnte, dann diese miesen Karrieretypen, die einen Mangel an Intelligenz und gesundem Arbeitseifer durch kriecherisches Anpassungsverhalten und Nachbeten von Losungen erfolgreich ausglichen.

Ich verspürte nicht die geringste Lust, das in diesem Augenblick Jonas mitzuteilen. Schon mein mieser Charakterzug, niemals jemandem zuzustimmen sondern immer auf Widerspruchskurs zu gehen, ließ das nicht zu. Außerdem, so pauschal stimmte Jonas’ Behauptung schließlich nicht. Das wusste er wohl auch, er schien mich provozieren zu wollen.

Und ich ließ mich provozieren …

„Als du Holidays in Pariser Puffs gemacht hast, da waren hier herbe Zeiten. Im August ’61 hatten wir die Grenzen dichtgemacht, aber damit war der Fall nicht erledigt. Auch für mich nicht. Zwar sah ich ein, dass dieser Schritt nötig gewesen war, aber als Berliner, dessen halbe Verwandtschaft und ein halbes Dutzend Freunde in Westberlin lebten, sah ich keinen Grund zum Jubeln. Dazu kam noch etwas anderes: Es herrschte eine merkwürdige Hysterie auf unserer Seite, die mir gegen den Strich ging. Ich war damals Lehrer. Meine Parteigruppe schickte mich zu einer Anleitung in die Kreisleitung. Da redete einer, dessen Namen du jetzt auf der Liste der Politbüromitglieder lesen kannst. Jetzt wird nicht mehr diskutiert, sagte er, jetzt gibt es die Arbeiterfaust in die Fresse. Und das meinte er innenpolitisch. Eine junge Genossin fragte, was denn zu tun sei, wenn ein Mädchen mit einem aus Westberlin verlobt sei. Kein Problem, sagte der Redner, dann sucht sie sich eben einen kernigen Burschen von hier, und er schüttelte sich vor Lachen. Im ersten Fall war ich anderer Meinung. Ich war mir ganz sicher, dass auch jetzt beharrlich und mit stichhaltigen Argumenten diskutiert werden müsse. Mit der Faust schlägt man Beulen, aber keine Einsichten in die Köpfe. Die Antwort an das Mädchen fand ich zynisch, nur eine bessere hätte ich in dem Moment auch nicht gewusst. Ich schwieg zu allem.

Drei Tage später legten sie mir bei einer Parteiversammlung eine Zustimmungserklärung vor, die alle anderen schon unterschrieben hatten. Und da stand er wieder, dieser Satz von der Arbeiterfaust, die jetzt an Stelle von Argumenten zum Einsatz gebracht werden sollte.

Ich unterschrieb nicht.

Man diskutierte mit mir tagelang. Bei so einem wie dir, da müssen wir überlegen, ob der geeignet ist, Kinder in unserem Sinne zu erziehen, sagte ein Mädchen zu mir, das übrigens vier Jahre später über Ungarn in den Westen verschwand. Ich blieb stur, unterschrieb nicht. Ich war bereit, wenn es sein musste, gleich am nächsten Tag wieder auf dem Bau arbeiten zu gehen, wo ich hergekommen war.

Es dauerte sechs Wochen, dann normalisierte sich die Lage. In der Parteizeitung konnte man lesen, dass beharrlich und mit stichhaltigen Argumenten eine wirkungsvolle Überzeugungsarbeit zu leisten sei.“

Mir wurde bewusst, dass ich Jonas gerade ein Referat gehalten hatte.

„Ich sage ja nicht, dass alle nur auf ihren Vorteil aus sind, es gibt auch welche, die stehen für die Sache, aber die kannst du mit der Lupe suchen“, lenkte Jonas ein.

Wir verließen die Autobahn, Jonas sagte: „Junge, wir liegen gut in der Zeit. Wenn du Lust hast, können wir noch ein Picknick veranstalten. Ich habe Kuchen mit, solchen, danach leckst du dir alle zehn Finger ab, ‘ne Thermosflasche Kaffee habe ich auch dabei.“

Wir fuhren in einen Waldweg bis zu einer Lichtung.

Jonas breitete eine gelbe, flauschige Decke neben dem Auto aus und dekorierte sie mit zwei Samtkissen, von denen er noch zwei auf der hinteren Ablage deponiert hatte. Er stellte eine Thermosflasche auf eine sanftgrüne Stoffserviette, zwei Tassen, daneben legte er ein Paket, das mit einem blauen Band umwickelt war, den Gipfel bildete eine große, mehrschlaufige Schleife.

Jonas lud mich mit einer generösen Handbewegung zum Platznehmen ein, dabei sah er mir neugierig ins Gesicht.

Er wartete auf meine Reaktion.

„Donnerwetter, das ist ein Service. Wenn dir das alles deine Mami mitgegeben hat, dann musst du eine glückliche Kindheit gehabt haben“, sagte ich anerkennend. Was die Qualität des Kuchens betraf, Jonas hatte nicht übertrieben. Der zerschmolz auf der Zunge und schmeckte wie Nektar und Ambrosia zusammen.

„Wer hat dir denn den gebacken?“, wollte ich wissen.

Jonas zog seine Brieftasche aus der Jacke, entnahm ihr ein Foto. Er reichte es mir. Eine recht ansehnliche Frau, noch keine dreißig Jahre alt, war darauf abgebildet. Der knappe Bikini, den sie trug, ließ eine Figur erkennen, mit der sie aussichtsreich an jeder Schönheitskonkurrenz hätte teilnehmen können. Ich pfiff durch die Zähne: „Ist das deine Frau?“

„So einfach liegt der Fall nicht“, sagte Jonas, nahm mir das Foto aus der Hand, steckte es wieder ein.

„Verheiratet ist sie, aber nicht mit mir. Ihr Mann ist Offizier beim Ministerium, immer auf Achse. So was kann auf die Dauer nicht gut gehen. Eines Abends, als ich nach Hause fuhr, stand sie mit ihrem Kind in der Schönhauser Allee am Bordstein und winkte nach einem Taxi. Ich hielt an, nahm sie mit, nach Marzahn wollte sie. Wir verabredeten uns zum Kaffeetrinken. Ich war mir sicher, dass sie nicht kommen würde. Sie kam. Eins kam zum anderen, du verstehst schon …“

„Warst du nie verheiratet?“, fragte ich ihn.

„Mehr als genug, zweimal schon, aber das ist ein anderes Kapitel, Schwamm drüber …“

Sorgfältig faltete er das Kuchenpapier zusammen, sah auf die Uhr.

„Wir haben noch Zeit für ‘ne Zigarette. Komm, wir stecken uns eine ins Gesicht.“

Jonas machte ein paar tiefe Züge, sah den Rauchringen nach, die zwischen seinen gespitzten Lippen hervorquollen.

„Erst haben wir uns immer bei ihr zu Hause getroffen, wenn ihr Mann auf irgendwelchen Inspektionsreisen war. Einmal kam er zwei Tage früher als geplant zurück. Das war eine Szene, kann ich dir sagen: Er kommt in voller Kriegsbemalung zur Tür rein, sieht mich in seinem Bett sitzen und Silvia, seine Frau  neben mir … Dass wir nicht Karten oder Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt hatten, das war ihm gleich klar. Und was macht er? Er fummelt an seiner Revolvertasche herum. „Na los, Junge, erschieß mich doch, wenn du den Mumm dazu hast“, sagte ich so ruhig wie ich nur konnte.

„In zwanzig Minuten bin ich wieder da, dann möchte ich Sie nicht mehr vorfinden“, sagte er und ging aus der Wohnung. Mir fiel ein Stein vom Herzen, das kannst du mir glauben. Ich fragte Silvia, ob sie nicht mit mir kommen wolle. ‚Ich krieg das schon hin, mach dir mal keine Sorgen‘, sagte sie. Eine Weile haben wir uns dann gesehen. Sie zogen um in eine Offizierssiedlung, da hätten wir uns sowieso nicht treffen können, weil da einer dem anderen ins Schlafzimmer sehen konnte. Jetzt treffen wir uns immer in meiner Garage. Sie bringt Kaffee und Kuchen mit, ich klappe die Sitze runter und wir haben unsere Spielwiese“, Jonas wies auf die flauschige Decke und die Samtkissen, „dann die Kassette mit der richtigen Musik in den Rekorder geschoben, rattarattata …“

An der Wache am Tor der Exportbierbrauerei erwartete uns die Sekretärin des Direktors.

Bevor wir aus dem Auto stiegen, sagte Jonas zu mir: „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern mit rein ins Werk kommen, interessiert mich nämlich, wie sie das machen mit dem Bier …“

Eigentlich passte es mir nicht, dass er mitkommen wollte. Sicher ging es ihm nur darum, ein paar Flaschen Bier „abzustauben“. Aber mit welcher Begründung hätte ich ihm seine Bitte abschlagen sollen?

„Von mir aus komm mit“, sagte ich.

Der Direktor empfing uns in seinem Büro, informierte mich über die Geschichte der Brauerei, die Entwicklung der Bierbraukunst von der Steinzeit bis in die Gegenwart, über Produktionsablauf und moderne Brautechnologie. Er zählte die Länder auf, in die der edle Gerstensaft exportiert wurde, nannte die Namen der Luxusliner, die auf ihren Kreuzfahrten durch die Karibik und das Mittelmeer Pilsener Bier aus Radeberg an ihren Bars ausschenkten.

Mir klopfte vor Freude das Herz.

Die Informationen bewiesen, einleuchtend für jeden, was für ein Spitzenerzeugnis hier zum Ruhme der Deutschen Demokratischen Republik entstand, was ungemein das Ansehen unseres Landes im Ausland heben musste und nicht zuletzt deshalb Gefühle des Stolzes bei der einheimischen Bevölkerung aufkommen lassen musste, nach dem Motto etwa: Was wir nicht alles zustande bringen, Donner und Doria …

In meinem Notizbuch füllte sich Seite für Seite.

Gegen Ende des einführenden Informationsgespräches kam die Sekretärin ins Zimmer, stellte vor jeden ein geschliffenes Kristallglas und eine kleine Flasche Bier mit einem Etikett, das nicht für diese Welt gemacht war.

„I am the driver“, sagte Jonas, „wenn es Ihnen nichts ausmacht, nehme ich meine Flasche mit nach Hause. Und vielleicht darf ich auch mal etwas zu dem äußern, was Sie gerade alles so erzählt haben …“

„Bitte, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an“, ermunterte ihn jovial der Direktor, „aber erst mal Prosit, auf Ihr Wohl und das Gelingen der Reportage.“

Er stieß mit mir an. Wenn ich Jonas hätte Redeverbot erteilen können, ich würde es getan haben.

„Sie steigern andauernd Ihre Produktion, aber in meiner Kaufhalle habe ich Ihr feines Bier noch nie zu Gesicht bekommen. Wird sich das in Zukunft vielleicht ändern?“

Jonas hielt die schön gestaltete Exportbierflasche in der Hand, musterte anerkennend das Etikett.

„Das ist mein Kraftfahrer“, sagte ich zum Direktor und gab mir Mühe, einen entschuldigenden Tonfall zu treffen.

„Er sagt nur das, was viele denken. Aber zuerst kommen nun mal unsere Exportverpflichtungen, Valuta, Valuta, Valuta heißt die Losung. Außerdem fließt unser Bier ja vielerorts aus dem Hahn und an Hotels und Gaststätten der höheren Preisklassen liefern wir es auch in 0,5 Literflaschen“, erklärte der Direktor.

Durch einen Tritt gegen sein Schienbein gab ich Jonas zu verstehen, dass er auf weitere Fragen verzichten sollte.

„Wenn Sie erlauben, dann würde ich Ihnen jetzt unseren Betrieb zeigen“, sagte der Direktor.

„Ich bleibe solange im Sekretariat sitzen, bis du zurückkommst“, sagte Jonas auf eine Art, die Widerspruch nicht zuließ, erhob sich und ging ins Vorzimmer des Direktors.

Als wir ein paar Minuten später das Vorzimmer durchquerten, hörte ich Jonas sagen: „… dann hab ich eine Weile in Paris gelebt, da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen …“

„Wenn Sie möchten, brühe ich uns erst mal einen Kaffee“, flötete das Mädchen.“ Jonas gab mir durch Augenzwinkern zu verstehen, dass die Sache hier nach seinem Geschmack verlief.

Nach einer guten Stunde kamen wir von unserem Rundgang zurück. Ich stellte dem Direktor noch ein paar Fragen, dann war ich mir sicher, genug Material zu haben, um einen wirkungsvollen Artikel schreiben zu können.

Der Direktor war ein großzügiger Mann. Er reichte mir und auch Jonas je einen Geschenkkarton mit sechs Flaschen Bier, von der Sorte, wie es auf Karibik-Kreuzfahrten kredenzt wird.

Jonas verabschiedete sich von dem Vorzimmermädchen wie von einer alten Bekannten.

Der Direktor hielt meine Hand fest.

„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber es wäre gut, wenn Sie mir Ihren Artikel, bevor er gedruckt wird, zur Ansicht schicken würden. Nicht, dass ich Ihnen ins Handwerk pfuschen will, es geht mir nur darum, dass rein fachlich alles stimmt.“ Ich versprach es.

Auf der Rückfahrt war Jonas guter Dinge. Er pfiff eine Melodie vor sich hin, die mir bekannt vorkam. Wir hatten das Lied nach dem Krieg als Jungen oft gesungen.

Erstaunlich, Jonas war sieben Jahre jünger als ich. In normalen Zeiten machen sieben Jahre Altersunterschied nicht viel aus, aber im Grenzbereich zwischen unruhigen Kriegszeiten und friedlicheren Nachkriegszeiten, da machen ein paar Jahre – besonders im frühen Jugendalter – so viel aus, als würde es sich um verschiedene Generationen handeln.

Ich war bei Kriegsende neun Jahre alt, Jonas gerade zwei. Da wird er wohl kaum die gleichen Lieder wie ich gesungen haben.

„Kennst du den Text von dem Lied, das du gerade pfeifst“, unterbrach ich ihn.

„Klar, haben wir als kleine Bengels immer gesungen. Ist nicht ganz stubenrein, der Text, wart mal, vielleicht krieg ich ihn zusammen:

 

Meine kleine Frau kann alles.

Montag fährt sie Rad.

Dienstag spielt sie Tennis.

Mittwoch spielt sie Skat.

Donnerstag wird gehäkelt.

Freitag wird gestrickt.

Sonnabend wird gebadet.

Sonntag wird gefickt …

 

so ungefähr ging der Text.“ Ich kannte diese Fassung auch, aber unmittelbar nach dem Krieg sangen wir eine andere. „Kennst du auch die andere Fassung?“, fragte ich Jonas. „Ich kenne bloß diesen Text, den ich dir gerade aufgesagt habe. Los, sag mal deinen auf.“

Ich musste mich ziemlich anstrengen, die andere Fassung zusammenzubringen:

 

„Meine kleine Frau kann alles,

montags fährt sie Rad,

dienstags muss sie laufen,

weil sie keins mehr hat.

Kam ein kleiner Iwan,

nahm ihr Fahrrad weg,

setzt sich auf Maschina,

fährt nach Moskau weg …“

 

„Nie gehört, is aber nicht schlecht“, sagte Jonas, „das macht wohl der Altersunterschied zwischen uns, dass du ’nen anderen Text zur gleichen Melodie kennst.“

Was er sagte, das ließ mich staunen, solch eine Schlussfolgerung hätte ich ihm nicht zugetraut. Wird wohl ein einmaliger Gedankenblitz gewesen sein, so in der Art, wie – blinde Hühner finden auch mal ein Korn – dachte ich mir.

Jonas begann, laut seine Textfassung von der „kleinen Frau“ zu singen; ich stimmte ein, sang aber die andere Fassung.

Am Ende applaudierten wir uns gegenseitig, viel fehlte nicht und Jonas’ Wolga hätte einen Baum gestreift.

„Kennst du das?“, fragte Jonas und begann wieder zu pfeifen. Ich erkannte, was er pfiff. Es war das Lied von den Partisanen vom Amur. Ich sang mit, Jonas schaltete von Pfeifen auf Gesang um:

 

„…und so jagten wir das Pack zum Teufel,

General und Ataman …

Unser Feldzug fand sein Ende

erst am Stillen Ozean …“

 

Wir sangen es zweistimmig und hingebungsvoll.

„Junge, damit können wir als Duo im Rundfunk auftreten“, sagte Jonas und schaltete das Autoradio ein. Ein Mensch mit starkem englischen Akzent sang ein Lied, dessen Refrain davon handelte, dass einer andauernd Bohnen in den Ohren hat.

„Schwachsinn“, sagte Jonas, er schaltete das Radio aus.

„Sag mal, weißt du schon, was du über die Bierbude schreiben willst?“, fragte er mich. Ich sagte ihm, was und wie ich es vor hatte und war mir seiner Zustimmung sicher.

„Ich glaube, die Leute werden ganz schön sauer, wenn sie deinen Artikel lesen“, sagte Jonas unbeeindruckt.

„Warum denn das?“, wollte ich wissen.

„Is doch klar, du machst den Leuten das Maul wässrig, dass ihnen die Zunge nach diesem Bier raushängt und wenn sie dann in ihre Kaufhalle gehen, sehen sie es nicht. Und die Chance, es aus den feinen, kleinen Flaschen mit dem schönen Etikett auf einer Karibik- oder Mittelmeerkreuzfahrt zu trinken, ist ja wohl auch nicht so groß …“

Ich wollte nicht zugeben, vor mir nicht und vor Jonas erst recht nicht, dass er mich verunsichert hatte, was die Wirkung meines Artikels betraf.

Im Stillen beschloss ich, meine Konzeption ein bisschen zu ändern.

Das mit den Kreuzfahrten durch Karibik und Mittelmeer würde ich weglassen, dafür hervorheben, dass Radeberger Pils aus vielen einheimischen Bierhähnen floss.

Aber es wurmte mich, dass Jonas sich als besserwisserischer Ratgeber und Kenner journalistischer Wirkungsfaktoren aufspielte.

„Jonas, erzähl mal von Paris“, versuchte ich ihn zu provozieren.

Er reagierte nicht.

Eine Weile hörten wir nach dieser Fahrt nichts voneinander.

Meine Bier-Reportage hatte meinem Chef gefallen, seinem einen Leser auch. „Junge, du machst dich“, hatte er gesagt. Als besonderes Lob empfand ich das nicht. Mir klang noch im Ohr, was Jonas gesagt hatte.

Jonas brachte sich auf eine andere Art in Erinnerung: Einige Tage war er der Held aller Kantinengespräche.

Die Kinderzeitung, die in der Strafanstalt Bautzen ihre fummeligen Beilagen einlegen ließ, wollte im Rostocker Zoo Fotos von Kindern und Löwen machen lassen. Dabei machte sich ein Löwe selbstständig, es drohte eine Panik auszubrechen. Die Kinder befanden sich in Gefahr.

Jonas stürzte sich auf den Löwen, warf ihn zu Boden und hielt ihn fest, bis die Wärter kamen und das Tier wieder in den Käfig sperrten. Jonas‘ Heldentat gewann noch an Größe, weil beim Kampf mit dem Löwen sein Sakko zerfetzt worden war, er konnte sogar einen Kratzer an der Schulter vorweisen.

Jonas, der unter seinen Kraftfahrerkollegen kaum einen Freund besaß, musste damit leben, dass aus diesem Kreis das Gerücht kam, der Löwe wäre gerade drei Monate alt gewesen und seine Gefährlichkeit wäre etwa genauso groß gewesen wie die einer normalen europäischen Hauskatze.

Kapitel 3

Unsere nächste Reise ging zu einem kleinen Garnisonsstädtchen in der Nähe von Berlin.

Schreiben wollte ich über diese Fahrt nicht. Eigentlich ging es mir nur darum, mich an ein Thema anzuschleichen, das „Soldat und Mädchen“ heißen sollte. In ein paar Tanzgaststätten im Ort wollte ich Beobachtungen machen und Gespräche mit Soldaten und Mädchen führen.

Auf der Hinfahrt fragte ich Jonas, ob er denn immer noch so guten Kuchen gebacken bekäme.

„Der Traum ist aus, ihr Mann hat sich von Berlin in den Norden versetzen lassen, aus, vorbei, finito …“

Es war ihm anzumerken, die Sache war ihm mehr an die Nieren gegangen, als seine laxe Art darüber zu reden, ahnen lassen sollte.

„Mut hast du ja, das muss ich dir lassen oder du bist ein ahnungsloser Engel.“ Ich wusste nicht, worauf sich Jonas’ Feststellung bezog.

„Wie meinst du das?“, fragte ich.

„Mann, wenn sich einer an Armee-Thematik rantraut, dann hat er entweder Mut, vorausgesetzt, er will wirklich schreiben, was Sache ist, oder er weiß nicht, worauf er sich einlässt. Was meinst du, wer das alles unter die Lupe nimmt, was du schreiben willst? Nun kannst du ja schreiben, wie sie es alle machen: Alles in Ordnung, Probleme gibt es keine, und wenn, dann nur klitzekleine.

Aber schreib mal über das blödsinnige EK-System und den Terror, den die älteren Diensthalbjahre gegen die jüngeren veranstalten und die ganzen Sauereien, die dabei passieren …

Gegen diese Idiotie muss wirklich was gemacht werden. Kaum ist nämlich das erste Diensthalbjahr das zweite, da machen sie mit den Neuen die gleiche Scheiße, die sie erdulden mussten, als sie die Neuen waren. Jeder, der einem anderen das antut, was er selber nicht angetan bekommen möchte, muss wissen, dass er ein Scheißer ist, dass sein Vater, seine Mutter und seine Freunde, wüssten sie es, ihn dafür verachten würden. Willst du darüber schreiben?“, schloss er seinen Kurzvortrag.

Obwohl ich ziemlich genau wusste, in welche Richtung mein Artikel gehen sollte, sagte ich: „Das weiß ich noch nicht, mal sehen, auf welche Probleme ich stoße, wenn ich mit den Jungs rede.“

Würde ich ihm gesagt haben, dass mein Thema „Soldat und Mädchen“ heißen sollte, wäre das wohl von ihm als Ausweichen vor ernster Problematik missverstanden worden.

Im Stillen gab ich ihm natürlich recht, andererseits war ich mir sehr sicher, dass mein Thema sehr viele Leser interessieren musste.

Außerdem bestand bei diesem Thema die Möglichkeit zu schreiben, was Sache war, offen, ehrlich, ohne ideologische Verkleisterung und Sprücheklopferei. In die Nähe von militärischen Geheimnissen konnte ich bei diesem Thema auch nicht geraten.

Mein Konzept war denkbar einfach. Das Problem „Soldat und Mädchen“ war eines, das Jahr für Jahr für den jeweils einberufenen Jahrgang akut wird. Es betrifft aber nicht nur Soldaten. Schließlich hat jeder Soldat mindestens ein Mädchen, dazu kommen als Betroffene: Mütter, Väter, Großmütter …