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Peter Gomez
Mark Lambertz
Timo Meynhardt

Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt

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Unseren Lieben

Peter Gomez, Mark Lambertz und Timo Meynhardt

Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt

Denkmuster – Werkzeuge – Praxisbeispiele

Haupt Verlag

Peter Gomez ist emeritierter Professor der Universität St. Gallen. Er war Rektor seiner Universität und Präsident der Schweizer Börse. Er publiziert zum Vernetzten Denken in der Führung und zur strategischen Entwicklung von Unternehmen.

Mark Lambertz ist ein «Digital Native» der ersten Stunde. Er gründete 1995 eine der ersten Digitalagenturen und führte sie erfolgreich während zweier Jahrzehnte. Heute berät und coacht er Teams und Unternehmen auf ihrem Weg zur agilen Organisation.

Timo Meynhardt ist Professor an der Handelshochschule Leipzig und Leiter eines Forschungszentrums an der Universität St. Gallen. Er beschäftigt sich mit Gemeinwohlfragen im Management (Public Value Scorecard, GemeinwohlAtlas) und ist Ko-Autor des Leipziger Führungsmodells.

Gestaltung und Satz: pooldesign.ch

Korrektorat: Monika Paff, D-Langenfeld

1. Auflage 2019

Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet.

Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de.

Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

ISBN 978-3-258-08140-3 (Buch)

ISBN 978-3-258-48140-1 (EPUB)

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2019 Haupt Bern

Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig.

E-Book Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.haupt.ch

Inhaltverzeichnis

Prolog

1. Reflexion in Zeiten des digitalen Wandels

Megatrends des digitalen Wandels

Reflektierende Unternehmenspraxis

Denkmuster für die verantwortungsvolle Führung des Wandels

2. Die Landkarte der reflektierenden Praktiker

Die Struktur: Das Viable System Model VSM – Herkunft und Zukunft

Der Praxistest: Von den Denkmustern zur Landkarte

Das Werkzeug: Die Funktionsweise des Viable System Model

Der Case: Machine Ltd.

Die Umsetzung: Netzwerke verstehen und entwickeln

Das Wissen: Weiterführende Literatur

3. Die normative Sicht: Der sinnstiftende Wertbeitrag

Die Struktur: Das System 5 des Viable System Model

Der Praxistest: Von den Denkmustern zur Wahl der Wertbeiträge

Das Werkzeug: Die Public Value Scorecard

Die Umsetzung: Drei Anwendungen in der Praxis

Der Case: Machine Ltd.

Das Wissen: Weiterführende Literatur

4. Die strategische Sicht: Der Weg in die Zukunft

Die Struktur: Das System 4 des Viable System Model

Der Praxistest: Von den Denkmustern zur Wahl der Strategie

Das Werkzeug: Die Methodik des Vernetzten Denkens

Die Umsetzung: Drei Anwendungen in der Praxis

Der Case: Machine Ltd.

Das Wissen: Weiterführende Literatur

5. Die operative Sicht: Das funktionierende Geschäft

Die Struktur: Die Systeme 1, 2, 3 und 3* des Viable System Model

Der Praxistest: Von den Denkmustern zur Wahl der Organisation

Das Werkzeug: Die Agile Operation

Die Umsetzung: Drei Anwendungen in der Praxis

Der Case: Machine Ltd.

Das Wissen: Weiterführende Literatur

6. Verantwortungsvoll führen: Mit der Landkarte ins Gelände

Sichtweisen der Führungslehre

Sichtweisen der Führungspraxis

Die integrierte Sichtweise

Die fünf Denkmuster als Handlungsmaximen der Führung

Mit dem Viable System Model VSM führen

Epilog

Anhang

Die Werkzeuge des agilen Managements im Detail

Literatur

Prolog

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Komplexität ist allgegenwärtig. Kaum eine gesellschaftliche, wirtschaftliche oder technologische Entwicklung, die dieses Prädikat nicht beansprucht. Kein Begriff, der die heutige Unsicherheit und Ratlosigkeit der Menschen besser zum Ausdruck bringt. Grund genug, um sich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Was meint die Aussage, ein Tatbestand, eine Entwicklung oder ein System sei komplex? Geht es um eine inhärente Eigenschaft, oder liegt einfach ein mangelndes Verständnis für die Zusammenhänge vor? Lässt sich Komplexität überhaupt bewältigen, oder sind wir deren Dynamik wehrlos ausgeliefert? Die von diesem Buch angesprochenen Führungskräfte müssen sich der Komplexität stellen, sonst können sie ihre Aufgabe nicht verantwortungsvoll wahrnehmen. Sie müssen lernen, Komplexität zu verstehen, abzubilden und zu bewältigen. Dieses Buch setzt sich zum Ziel, eine «Hilfe zur Selbsthilfe» auf diesem Weg zu sein und entsprechende Denkmuster und Werkzeuge zur Verfügung zu stellen.

Verschiedene Entwicklungslinien prägen unsere heutige Zeit, ganz besonders die Digitalisierung, die Globalisierung, der Klimawandel und die Synthetische Biologie. Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Digitalisierung der Unternehmenswelt, und es zeigt auf, wie verantwortungsvolle Führungskräfte sich diesem fundamentalen Wandel stellen. Exemplarisch für die sich abzeichnenden Entwicklungen sei das «Internet der Dinge» genannt. Dieses kann ohne Umschweife als «komplex» bezeichnet werden. Es wird der künftigen Mobilität völlig neue Dimensionen eröffnen: autonomes Fahren, Wegfall jeglicher Staus, massive Einsparung von Energie. Der digitale Wandel zeigt sich hier von seiner besten Seite, die inhärente Komplexität dieser Technologie wird daher gerne akzeptiert. Bei näherem Hinsehen offenbaren sich aber auch Schattenseiten. Diese Entwicklung erfordert eine intensive (online-) Vernetzung von Aktivitäten, die vorher unabhängig voneinander (offline) funktioniert hatten. Zusammen mit der gleichzeitig zunehmenden Komplexität der Verkehrssysteme ergibt dies einen Giftcocktail, der zu einer massiv höheren Störungsanfälligkeit führt. Komplexe Computersysteme haben zwangsläufig Sicherheitsmängel, und bei starker Verknüpfung ergeben sich auch aus kleinen Abweichungen Kettenreaktionen, die schwierig zu stoppen sind.

Bereits 1984 hat der Soziologe Charles PERROW in seinem Buch «Normal Accidents» (1984) aufgezeigt, welcher Zusammenhang zwischen der Komplexität und der Koppelung (der Intensität der Verknüpfung der Teile) eines Systems besteht. Wenn bei steigender Komplexität sich gleichzeitig die Koppelung erhöht, dann nimmt die Gefahr von Großunfällen exponentiell zu. Dies widerspricht aber der menschlichen Intuition, die steigende Komplexität meist mit mehr Kontrolle (oder in heutiger Terminologie: Compliance) zu bewältigen versucht. Dabei wäre das Gegenteil gefordert: Je komplexer ein System, desto autonomer müssen dessen Teile sein, um das Gleichgewicht zu halten. Oder anders ausgedrückt, die Intelligenz muss im System verteilt sein. Dies gilt für Atomkraftwerke genauso wie für Universitäten, für Großkonzerne ebenso wie für kleine und mittlere Unternehmen. [8]

Dieses Beispiel zeigt, dass die menschliche Intuition in komplexen Situationen oft kein guter Ratgeber ist. Der Nobelpreisträger Daniel KAHNEMANN (2011, 241) umschreibt dies wie folgt: «Der Anspruch der Intuition, in einer unvorhersagbaren Situation korrekte Resultate zu liefern, ist eine Selbsttäuschung ... Der Intuition kann in Situationen, die keine Regelmäßigkeiten aufweisen, nicht vertraut werden.» Und er geht sogar noch weiter (2011, 225): «Die Forschung zeigt ... dass zur Maximierung der Prognosegenauigkeit in schlecht strukturierten Umwelten die endgültige Entscheidung Algorithmen überlaßen werden sollte.» Dies ist kein Plädoyer dafür, Entscheide in Zukunft an Maschinen zu delegieren. Aber wissenschaftliche Erkenntnisse zu Verhaltensmustern komplexer Systeme sollten Priorität erhalten vor dem Vertrauen auf die eigene Intuition. Dafür spricht auch, dass das menschliche Gehirn sich wohl räumlich gut orientieren kann, aber bei gleichzeitig mit verschiedenen Geschwindigkeiten ablaufenden Prozessen überfordert ist. Die in diesem Buch angewandte Methodik des Vernetzten Denkens soll helfen, kontraintuitive Entwicklungen aufzuzeigen und der Komplexität angemessene Strategien zu entwickeln.

Szenenwechsel. Rolf Soiron, eine der profiliertesten Schweizer Führungspersönlichkeiten der letzten Jahrzehnte, hat in einem kürzlichen Interview (SOIRON, 2018, 76) die Frage nach seiner beruflichen Motivation wie folgt beantwortet: «Die Mechaniken und Zusammenhänge, wie Organisationen ticken, zu verstehen». Und er fährt fort: «Vielleicht weil mich die spezielle Mechanik von Organisationen so interessierte, kam ich immer ziemlich rasch in die Nähe derjenigen, die das Sagen hatten. Quantitativ waren meine Netzwerke daher nie sehr groß, qualitativ aber recht gut.»

Aus diesen Ausführungen lässt sich der Anspruch dieses Buches ableiten. Wir erforschen die Zusammenhänge, Mechaniken und Strukturen von Unternehmen angesichts des digitalen Wandels. Wir zeigen auf, wie mit der steigenden Komplexität der neuen Unternehmenswelt umgegangen werden muss. Für uns bedeutet «verantwortungsvoll führen», die Lebensfähigkeit des Unternehmens zu sichern und zu entwickeln, indem den Ansprüchen seines Umfeldes ganzheitlich Rechnung getragen wird. Es geht uns weder um die Vorhersage möglicher zukünftiger Entwicklungen, noch um die umfassende Darstellung digitaler Strategien oder der zur deren Umsetzung erforderlichen sozialen Kompetenzen. Wir möchten Führungskräfte anleiten, als «reflektierende Praktiker» die Komplexität der heutigen Unternehmenswelt zu akzeptieren, deren Zusammenhänge und Strukturen gedanklich zu durchdringen und kompetent zu handeln. Es gibt nämlich nur einen Weg, die Zukunft vorherzusehen – sie selber zu gestalten!

Wir beginnen unser Buch mit der Entwicklung von Denkmustern, die das verantwortungsvolle Führen in einer komplexen Welt leiten sollen. Dann stellen wir unsere «Landkarte» in Form des Viable System Model VSM vor. Dieses bereits vor einem halben Jahrhundert entwickelte Organisations- und Führungsmodell (Beer, 1972)hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil, seine Zeit ist mit den Herausforderungen des [9] digitalen Wandels erst gekommen, indem es den Übergang vom Denken in Hierarchien zum Verstehen von Netzwerken ideal begleitet. Die für die Lebensfähigkeit eines jeden Unternehmens konstitutiven Funktionen des normativen, des strategischen und des operativen Managements werden in ihrer detaillierten Ausgestaltung vorgestellt und anhand von Praxisbeispielen illustriert. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden schließlich zu Prinzipien verantwortungsvoller Führung in Zeiten des digitalen Wandels verdichtet. [10]

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Reflexion in Zeiten des digitalen Wandels

Das digitale Zeitalter übt eine große Faszination auf die Menschen aus, und die Medien – von Fachpublikationen bis hin zur Boulevardpresse – nehmen dieses Thema bereitwillig auf. Die einen beschwören das Schreckgespenst eines massiven Verlustes von Arbeitsplätzen und der Übernahme der Kontrolle durch intelligente Maschinen, die anderen sehen darin die überfällige Freisetzung von Innovationspotenzialen ungeahnten Ausmaßes. Es wird oft mit Schlagworten wie «Künstliche Intelligenz», «Autonomes Fahren» und «Roboter statt Menschen» operiert, ohne allerdings zu präzisieren, was genau sich hinter diesen Begriffen verbirgt. Und ohne zu verstehen, dass es sich beim «digitalen Wandel» nicht um eine singuläre Erscheinung handelt, sondern dass diese durch mehrere Megatrends charakterisiert ist. Ein Ziel dieses Buches ist es, das Verständnis für diese Entwicklungen zu schärfen und aufzuzeigen, was «Führung» in diesem Kontext bedeuten kann.

Die Globalisierung, die ökologische Nachhaltigkeit, politische Unsicherheiten, der demografische Wandel und die synthetische Biologie fordern Führungskräfte heraus. Unser Fokus liegt aber auf dem digitalen Wandel.

Neben dem digitalen Wandel sehen sich Führungskräfte mit einer Vielzahl kaum überschaubarer Herausforderungen konfrontiert. Dazu zählen neue politische Unsicherheiten, die Globalisierung, die ökologische Nachhaltigkeit, der demografische Wandel und die Versprechen der völlig neuen Disziplin der synthetischen Biologie. Auf diese Themen wird im Verlauf unserer Ausführungen immer wieder Bezug genommen, ganz besonders in Kapitel 3 zum sinnstiftenden Wertbeitrag und in Kapitel 4 zur nachhaltigen Entwicklung des Unternehmens. Sie stehen aber – wie bereits im Prolog dargelegt – nicht im unmittelbaren Fokus unserer Ausführungen, da dies den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Der digitale Wandel lässt sich anderseits ohne deren Einbezug nicht verstehen, wie besonders bei der Entwicklung der strategischen Netzwerkdiagramme in Kapitel 4 zu illustrieren sein wird. [13]

Megatrends des digitalen Wandels

Drei Megatrends des digitalen Wandels werden auf künftige Unternehmensführung einen großen Einfluss haben:

Weltweit befindet sich die liberale Wirtschaftsordnung auf dem Rückzug. Die unternehmerischen Freiräume werden durch staatliche Einflussnahme und Regulierung stark eingeschränkt, und in den wichtigen Wachstumsbereichen diktieren Monopole den Wettbewerb.

Die Innovationen der digitalen Technologie führen zu grundlegenden Umwälzungen in drei Bereichen: Kommunikation, Energie und Logistik. Diese können nur als Ganzes verstanden werden, als verbindendes Element profiliert sich dabei das Internet der Dinge.

Die Ablösung der herkömmlichen Infrastrukturen durch digitale Plattformen und Netzwerke wird die Zukunft der Arbeit entscheidend prägen. Dem Verlust heutiger Arbeitsplätze steht eine Vielzahl neuer Beschäftigungsmöglichkeiten entgegen.

Diese Megatrends definieren in Abb. 1.1 ein Spannungsfeld, in dem sich die künftige Führung behaupten muss.

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Abbildung 1.1 Spannungsfeld der Führung im digitalen Wandel

Die unternehmerische Freiheit wird zum knappen Gut. Was hat sich gegenüber früher verändert, als sich bei technologischen Entwicklungsschüben dem unternehmerischen Denken und Handeln fast grenzenlose Chancen boten?

Vier Entwicklungen prägen unsere Zeit:

Die liberale Wirtschaftsordnung ist im Rückzug begriffen

Monopole dominieren die wichtigsten Wachstumsmärkte

Der Staat reguliert (oft willkürlich) den digitalen Wandel

Unternehmen verlieren ihre gesellschaftliche Akzeptanz («Lizenz zum Geschäften») [14]

Die liberale Wirtschaftsordnung baut auf Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft, Respekt vor privatem Eigentum, freiem Wettbewerb und Mut zum Risiko. Diese Ordnung geht meist einher mit einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Weltweit sind Demokratien im Niedergang begriffen (LEVITSKY, ZIBLATT, 2018; KAGAN, 2018). Und mit ihnen die Möglichkeiten, unternehmerisch Neuland zu betreten. Aber auch in den noch bestehenden Demokratien gewinnen ideologische Strömungen an Einfluss, die im «(neo-) kapitalistischen» System des Unternehmertums eine ungerechtfertigte Bereicherung einiger Weniger zulasten der breiten Bevölkerung sehen. Entsprechend werden die unternehmerischen Freiheiten schrittweise eingeengt.

Die wichtigsten digitalen Wachstumsmärkte werden von weltweiten Monopolen dominiert. GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) setzen die Standards und sind für viele andere Unternehmen unverzichtbare Partner beim Aufbau des eigenen Geschäfts (GALLOWAY, 2017). Gelingt es kreativen Start-ups, eine Nische zu besetzen, so werden sie bei Erfolg von den Großen akquiriert. Das Geschäft funktioniert nach dem Prinzip: «Der Gewinner nimmt alles!» Eine reale Chance haben nur die schnellen Verfolger oder allenfalls etablierte Firmen, die dank ihrer Kapitalkraft digitale Geschäfte aufbauen können, dies vor allem im B2B-Bereich.

Die Kombination von privatwirtschaftlichen Monopolen und staatlichen Regulierungen hindert den freien Wettbewerb.

Der Staat sieht sich mit der Situation konfrontiert, dass die neuen Technologien Freiräume schaffen, die aufgrund ihrer Neuartigkeit noch keiner gesetzlichen Regelung unterstehen. In diese stoßen die schnellsten Digitalunternehmen hinein und bauen sich die Monopolsituation ganz nach ihren eigenen Regeln auf. Aus gesellschaftspolitischen Überlegungen kann dies der Staat nicht hinnehmen, was sich in Eingriffen und Regulierungen niederschlägt. Dies alles erfolgt aber weitgehend unter Ausschluss demokratischer und gesetzgeberischer Prozesse in einer «Zone der Willkür» – und damit zum Nachteil von Unternehmen und der Gesellschaft im weitesten Sinne. Ein gutes Beispiel dafür ist die kürzlich erlassene EU-Datenschutzverordnung, die vieles neu regelt, aber (dank geschickter Lobbytätigkeit der betroffenen Firmen) auch vieles ungeregelt lässt. Eine interessante Entwicklung zeichnet sich im Konkurrenzkampf zwischen den Monopolisten selber ab, indem Apple den Mitwettbewerber Facebook (zumindest zeitweise) von seinen iPhones verbannt, um diesen zu zwingen, unfaire Datenpraktiken aufzugeben. Dies wohl nicht aus moralischen Überlegungen, sondern um zu vermeiden, dass auf alle Monopolisten neue Regulierungen zukommen. [15]

Bestehende Unternehmen verlieren zunehmend ihre gesellschaftliche Akzeptanz, ihre «Lizenz zum Geschäften». Ihnen wird vorgeworfen, zu sehr auf den eigenen Gewinn bedacht zu sein und die gesellschaftliche Wertschöpfung geringzuschätzen. Diese Entwicklung haben viele Unternehmen auch selber zu verantworten, da für sie das Gemeinwohl oft nur eine Nebenbedingung war. Die Erkenntnis aber wächst, dass die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwortung der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft ist. Voraussetzung ist aber unternehmerische Freiheit (SCHWARZ, 2018). Diese muss mehr denn je auch verdient werden.

Das Internet der Dinge spielt in der «dritten industriellen Revolution» die entscheidende Rolle. Diese begann in den Augen von Jeremy RIFKIN (2014) mit dem Schock des bisher höchsten Ölpreises im Jahr 2008. Dieser löste den Umstieg in neue Energien und umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels aus. Parallel dazu eröffneten sich durch die digitalen Technologien in vielen Bereichen ungeahnte neue Anwendungsfelder und Märkte. Diese Entwicklungen können nur als Ganzes verstanden werden, denn die drei Dimensionen der Kommunikation, der Energie und der Logistik bedingen einander gegenseitig, um Produktivitätssteigerungen zu erzielen, welche wiederum Voraussetzung für künftiges Wachstum sind. Die Produktivität lässt sich heute nur noch steigern, wenn die Reibungsverluste entlang der Wertschöpfungskette reduziert werden können – am besten gleich auf null. Und dies ist mit den künftigen Möglichkeiten der digitalen Plattformen und des Internets der Dinge möglich. Mit diesem «globalen neuronalen Netz» lassen sich – zumindest glauben dies die Utopisten – die Grenzkosten bis auf null reduzieren, es gibt keine Gewinne, keine Eigentumsrechte und keine knappen Güter mehr, wir befinden uns im Endzustand in der «Share Economy».

Das Internet der Dinge – ein faustischer Pakt?

Dass all diesen Verheißungen des Internets der Dinge gewichtige mögliche Gefahren gegenüberstehen, haben wir bereits im Prolog dargelegt. In Abb. 1.2 seien diese Zusammenhänge nochmals illustriert.

Heute fahren Automobile unabhängig voneinander und offline. Allfällige Staus lassen sich durch geschicktes Umfahren umgehen. Das gilt auch für den Energieverbrauch, er lässt sich gezielt verringern. Wird mithilfe des Internets der Dinge alles miteinander verknüpft und online betrieben, so erhöht sich nicht nur die Koppelung. Die Komplexität des Verkehrssystems steigt aufgrund der immer sophistizierter werdenden Computersysteme und damit auch die Störungsanfälligkeit. Auch kleine technische Probleme oder Eingriffe von Hackern bewirken eine kaum mehr aufhaltbare Kettenreaktion. [16]

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Abbildung 1.2 Entwicklung der Mobilität im Zeitalter des Internets der Dinge (in Anlehnung an CLEARFIELD und TILCSIK (2018, 51).

Das autonome Fahren und die elektronische Börse haben vieles gemeinsam!

Ähnliches gilt für die Börse. Vor der Einführung der elektronischen Börse wurden die Geschäfte im Ring abgewickelt, die Wertschriftenhändler riefen einander die Kurse zu, und die rückwärtigen Dienste führten diese aus. Dabei kam es kaum zu Fehlern. Bei der elektronischen Börse, insbesondere beim Hochfrequenz-Handel, steigt die Komplexität exponentiell an. Es können pro Sekunde über 30 000 Angebote bearbeitet werden. Und mit den heute dominierenden Produkten wie ETFs (Equity Traded Funds – einen Index abbildenden Aktienfonds) wird die Koppelung erhöht. Wie gefährlich dies sein kann, zeigt die Börsenentwicklung im Dezember 2018. Dieser Monat war der schlechteste seit 1931, und dies nicht wegen sich verschlechternder Fundamentaldaten, sondern weil automatische Handelsalgorithmen von Hedgefunds eine Abwärtstendenz prognostiziert und damit eine Kettenreaktion ausgelöst hatten.

Das Internet der Dinge wird zweifellos zur dominierenden Technologie der Zukunft werden. Deshalb muss es einen zentralen Fokus bei Überlegungen zur künftigen Unternehmensführung einnehmen. Dies aber immer unter Berücksichtigung der möglichen Schäden, die diese Technologie anrichten kann. [17]

Diese Überlegungen führen nahtlos zum Thema der Zukunft der Arbeit. Nach RIFKIN (2014) gibt es für die nächsten zwei Generationen ausreichend Gelegenheit zur Arbeit, nämlich bei der Demontage der Infrastruktur der zweiten industriellen Revolution und beim Aufbau der digitalen Plattformen und des Internets der Dinge. Eine Differenzierung drängt sich angesichts neuerer Erkenntnisse auf. Gemäß einer Studie von McKINSEY (2018) werden in der Schweiz bis 2030 eine Million Jobs wegfallen. Anderseits entstehen dafür fast so viele neue Arbeitsplätze. Sie erfordern aber ganz andere Fähigkeiten. Firmen und Bildungsinstitute stehen vor der Aufgabe, rund 800 000 Arbeitskräfte umzuschulen und weiterzubilden. Eine Untersuchung der Weltbank (NZZ, 2018) stellt fest, dass der Rückgang von industriellen Arbeitsplätzen sich vor allem auf die angelsächsischen Staaten konzentriert. Grund dafür sind einerseits der fehlende soziale Schutz und anderseits die Mängel im Bildungswesen.

Welche Verantwortlichkeiten ergeben sich für die Zukunft der Arbeitswelt?

Die obigen Aussagen sind allerdings mit großer Vorsicht zu genießen. Deshalb wird in Abb. 1.3 ein Szenario vorgestellt, das die Thematik aus einer anderen Perspektive beleuchtet: Wer soll in Zukunft die Verantwortung tragen für eine nachhaltige Entwicklung der Arbeitswelt?

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Abbildung 1.3 Szenario zu Verantwortlichkeiten für die Zukunft der Arbeit [18]

Der Arbeitsmarkt von Ländern wie der Schweiz oder Deutschland könnte sich in Zukunft in drei Segmente teilen. Das oberste Segment bilden die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, die bei der Mensch-Maschinen-Symbiose einen Mehrwert erbringen. Die Verantwortung der Rekrutierung und Förderung dieser Mitarbeitenden sollte bei der Wirtschaft liegen. Das dritte Segment umfasst alle jene Berufe, die auf einer engen Beziehung zwischen Menschen aufbauen, wie die Gesundheitspflege, die Altersbetreuung oder der Schulunterricht. Hier sollte die Verantwortung in Zukunft vermehrt bei der Zivilgesellschaft mit ihrem Milizsystem liegen. Das zweite Segment beinhaltet die potenziell gefährdete Arbeit. Hier sollte der Staat subsidiär zum Zuge kommen, dies durch Aus- und Weiterbildungsangebote zur Erreichung des ersten Segments, durch die Entwicklung neuer Berufsbilder für das dritte Segment sowie beim Reißen aller Stricke durch ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Reflektierende Unternehmenspraxis

Ein grundlegendes Verständnis für den Umgang mit diesen Megatrends ist Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Führung in Zeiten des digitalen Wandels. Unser Buch will dazu die Voraussetzung schaffen und fokussiert dabei auf die Frage: Welche Denkmuster und Werkzeuge sind geeignet, um diese und ähnliche Spannungsfelder bestmöglich zu bewältigen, und wie gehen Führungskräfte bei deren Umsetzung in der Unternehmenspraxis vor? Welche inhaltlichen Strategien und Taktiken sie entwickeln, und wie dabei ihre soziale Führungskompetenz zum Tragen kommt, wird anhand von Praxisbeispielen ergänzend illustriert. Führungskräfte sollen aber mit erster Priorität ein Instrumentarium kennenlernen, das sie auf den Umgang mit komplexen Zusammenhängen vorbereitet.

Unser Buch fokussiert auf Denkmuster und Werkzeuge beim Umgang mit den Spannungsfeldern des Wandels.

Weshalb wird dieser Umgang mit den genannten Megatrends nicht öfter thematisiert? Es fehlt schlicht ein ganzheitliches Verständnis für diese Entwicklungen. Der Grund dafür ist die meist von Expertinnen und Experten geführte, stark spezialisierte Diskussion. Diese haben meist eine eingeengte Sichtweise auf das technologisch Machbare und die sich abzeichnenden Wettbewerbsvorteile. Als Spezialisten und Berater müssen sie aber kaum Verantwortung für die Wirkung ihres Denkens und Handelns in Gesellschaft, Wirtschaft [19] und Unternehmen übernehmen. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist auch deren Einstellung zum Thema der Führung, wie Mitroff (2018, Pos. 259) treffend bemerkt: «Es ist eine selbstgefällige Annahme, dass – im Vergleich zur Technologie – Management einfach, wenn nicht gar trivial sei.»

Führungskräfte sind nicht einfach für die Umsetzung technologischer Neuerungen zuständig, sondern sie müssen ihre Mitarbeitenden für diesen Wandel begeistern, dessen Auswirkungen für die gesunde Entwicklung des Unternehmens richtig einschätzen und den Wandel selbst weiterentwickeln und beschleunigen. Damit leisten sie auch einen Beitrag zum Gemeinwohl, den die Zivilgesellschaft heute von Führungskräften zu Recht erwartet.

Ein umfassendes Führungsverständnis setzt ein stetes Überdenken der eigenen Aufgabe im größeren Kontext des Wandels von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen voraus – überzeugende Führungskräfte beweisen sich in diesem Umfeld als reflektierende Praktiker. Aber erfordert der tiefgreifende Wandel tatsächlich ein grundlegend neues Führungsverständnis, wie dies heute vielerorts gefordert wird? Oder kommen jetzt erst recht die Grundsätze guter Führung zum Tragen, wie sie über die letzten Jahrzehnte entwickelt und in der Praxis erfolgreich umgesetzt worden sind? Auf diese Frage wird im 6. Kapitel näher einzugehen sein.

Der Begriff des reflektierenden Praktikers wurde zu Beginn der 1980er-Jahre von Donald SCHON (1984) geprägt. Als stehender Ausdruck bezeichnet er Frauen und Männer, die Führungsverantwortung übernehmen. Um dies noch zu unterstreichen, verwenden wir in diesem Buch stets die Mehrzahl: «reflektierende Praktiker». Im Gegensatz zu Expertinnen und Experten sind reflektierende Praktiker in das Unternehmen integriert, sie tragen Verantwortung für ihr Denken und Handeln, sie beeinflussen den Lauf der Dinge. Sie verfügen über großes implizites Wissen – meist Erfahrung genannt –, das sie mit neuen Inhalten kombinieren müssen.

Reflektierende Praktiker machen sich intensiv Gedanken zu den grundlegenden Zusammenhängen ihrer Führungssituation. Für den digitalen Wandel heißt dies beispielhaft, dass sich technologische Entwicklungen zwar zu einem gewissen Grad prognostizieren lassen (siehe «Moore’s Law», MOORE, 1965), die möglichen Anwendungen jedoch voller Überraschungen sind, oder anders ausgedrückt: Hier liegen die Wettbewerbsvorteile innovativer Unternehmen. Reflektierende Praktiker lassen sich nicht von den Versprechungen der technologischen Entwicklung blenden, sondern haben stets das eigene Unternehmen im Blick. Sie wissen, dass sich Anwendungen nicht prognostizieren lassen, sondern dass sie selber die Zukunft gestalten müssen. Und sie sind sich bewusst, dass sie mit ihren Eingriffen in das Unternehmen dieses nicht nur verändern, sondern dass es darauf reagiert, und zwar auf oft unvorhersehbare Weise. Das bedeutet, dass sie ihr «internes Modell» laufend anpassen, d. h., über ihre Reflexion reflektieren. Ganz entscheidend ist schließlich die Fähigkeit, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen des digitalen Wandels und deren Auswirkungen auf das Unternehmen zu verstehen. [20]

Reflektierende Praktiker – Frauen und Männer, die ihre Führungsaufgabe ganzheitlich wahrnehmen – haben eine umfassendere Sicht als Experten, sie sind für ihr Unternehmen und ihre Mitarbeitenden verantwortlich.

Reflektierende Praktiker stellen sich somit – im Gegensatz zu Experten – zum digitalen Wandel die folgenden Fragen:

—   Experten: Welche neue Technologie könnte für das Unternehmen vorteilhaft sein?

Praktiker: Welche Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich aus der neuen Technologie für mein Unternehmen? Welche bisher nicht existierenden Märkte entstehen neu?

—   Experten: Wie kann die neue Technologie bestmöglich im Unternehmen eingesetzt werden?

Praktiker: Wie reagiert mein Unternehmen auf den durch die neue Technologie notwendigen Umbau?

—   Experten: Welchen wirtschaftlichen Erfolg erzielt das Unternehmen durch die Anwendung der neuen Technologie?

Praktiker: Welche Vorteile ergeben sich zusätzlich für meine Mitarbeitenden und für das Gemeinwohl?

In ähnlicher Weise argumentiert Nicholas TALEB (2018) mit dem Begriff des «Skin in the Game», dass die eigene Haut auf dem Spiel stehen muss. Reflektierende Praktiker verfügen über Führungswissen und -erfahrung sowie ein passendes Instrumentarium für wirkungsvolles Handeln. Vor allem aber verfügen sie über einen kreativen Zugang zu neuartigen Problemsituationen.

Reflektierende Praktiker müssen ganz spezifische Denkmuster entwickeln, um der Komplexität des digitalen Wandels gewachsen zu sein. Im Folgenden werden fünf solche Denkmuster vorgestellt und in ihrer praktischen Anwendung illustriert.

Denkmuster für die verantwortungsvolle Führung des Wandels

Neuartige Problemsituationen, wie sie sich beim digitalen Wandel zunehmend stellen, erfordern einen kreativen Zugang beim Erkennen der großen Zusammenhänge und bei der Bewältigung der anstehenden Komplexität. Wegleitend ist dabei die Einsicht, dass [21] es keine unternehmerische Freiheit ohne gesellschaftliche Verantwortung geben kann und dass das Wohlergehen der Menschen stets im Mittelpunkt des Denkens und Handelns der reflektierenden Praktiker stehen muss.

Verantwortung übernehmen wird oft verstanden als «antworten können», «legitime Erwartungen erfüllen» oder «die Einheit von Handlung und Haftung sicherstellen». Wir wählen mit unseren Denkmustern einen etwas anderen Zugang, indem wir den reflektierenden Praktikern einen normativen Rahmen bereitstellen.

Verantwortungsvolles Führen zeigt sich für uns darin, dass eine Führungskraft die Denkmuster beachtet und ganz im Sinne praktischer Weisheit und mit gesundem Menschenverstand in der Praxis zur Anwendung bringt.

Unsere Arbeitshypothese lautet, dass sie in ihrer Führungspraxis bessere Resultate für sich und andere erzielen, wenn sie mit den Denkmustern operieren und ihre Aufmerksamkeit damit lenken.

Fünf Denkmuster charakterisieren verantwortungsvolle Führung:

Die optimale Vereinfachung von Komplexität

Die Perspektive der russischen Puppen

Die Einheit von Freiheit und Verantwortung

Im Zentrum der Mensch

Die ganzheitliche Erfolgsmessung

Denkmuster 1: Die optimale Vereinfachung von Komplexität

Komplexität erkennen, abbilden und bewältigen – diese drei Phasen durchlaufen reflektierende Praktiker, wenn sie mit schwierigen Problemstellungen konfrontiert sind. Dabei müssen sie folgende Fragen beantworten:

Ist das Problem tatsächlich komplex?

Lassen sich in der Komplexität Muster erkennen, und welches ist die optimale Vereinfachung der Problemsituation?

Wie können die eigenen Optionen der Problembewältigung erweitert werden?

Ausgangspunkt ist die Unterscheidung von einfachen, komplizierten und komplexen Problemen. Einfache Probleme sind durch eine geringe Anzahl von Einflussgrößen und Beziehungen charakterisiert, sie lassen sich analytisch lösen. Der Großteil der täglichen [22] Führungsaktivitäten fällt in diesen Bereich. Bei komplizierten Problemen steigt die Zahl der Einflussgrößen und der Beziehungen an. Die Art der Verknüpfung bleibt aber über die Zeit unverändert. Logistische Probleme gehören beispielsweise in diese Kategorie, mit der notwendigen Ausdauer findet sich letztlich eine optimale Lösung. Bei komplexen Problemen ändern sich im Zeitablauf nicht nur die Einflussgrößen und Beziehungen, sondern auch das Verknüpfungsmuster ist dynamisch. Die Entwicklung der Gesellschaft und der Wirtschaft gehört in diese Kategorie, genauso wie Wertschöpfungsprozesse von Unternehmen, bei welchen die Grenzen zwischen Lieferanten, Unternehmen und Kunden neu gezogen oder gar erfunden werden müssen.

Die Unterscheidung von komplizierten und komplexen Problemen ist nicht nur ein Sprachspiel, sondern Voraussetzung für einen kompetenten Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit.

Diese Zusammenhänge sind in Abb. 1.4 festgehalten.

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Abbildung 1.4 Einfache, komplizierte und komplexe Probleme

Je nachdem, ob ein Problem als kompliziert oder als komplex identifiziert wird, kommen unterschiedliche Denkweisen und Methoden zum Zug. Als verhängnisvoll erweist es sich [23] im Unternehmensalltag, wenn komplexe Probleme mit dem für komplizierte Probleme vorgesehenen Instrumentarium angegangen werden, sei es aus mangelndem Verständnis für Komplexität oder aus sturem Festhalten an gewohnten Methoden. Dass hiervon auch die akademische Welt nicht verschont bleibt, sei nur am Rande erwähnt. Eine exakte Identifikation und Akzeptanz von Komplexität ist aber für das weitere Vorgehen unerlässlich.

Wenn sich komplexe Problemsituationen als Folge der dynamischen Entwicklung der Teile und ihrer Verknüpfungen nicht vollständig erfassen lassen, stellt sich natürlich die Frage, wie man sich überhaupt ein Bild machen kann. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass eine reduktionistische Betrachtungsweise – indem man das Ganze in seine Teile zerlegt und diese analysiert – nicht funktionieren kann, denn es gilt: «Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile.» Oder noch konkreter, das Ganze ist «etwas anderes» als die Summe der Teile.

Das gilt auch im Zeitalter des «Big Data». Mehr und detailliertere Daten zu den einzelnen Teilen führen nicht zwangsläufig zu einem besseren Verständnis des Ganzen. Oder um es noch deutlicher auszudrücken, wir erleben heute mit «Big Data» oft einen Rückfall in das überwunden geglaubte reduktionistische Denken: «Der Glaube, dass komplexe Systeme verstanden werden können, indem man sie in ihre Teile zerlegt, deren Daten erfasst und diese isoliert studiert» (BRIDLE, 84). Dies führt dazu, dass unter Zeitdruck stehende Führungskräfte Komplexität nicht mehr durch eigene Denkleistung erfassen, sondern diese Aufgabe an Automaten delegieren. Und diese schaffen wiederum zusätzliche Komplexität, womit eine Aufwärtsspirale in Gang gesetzt wird. Mehr denn je ist deshalb eigenes vernetztes Denken gefordert, wie in Kapitel 4 ausführlich zu zeigen sein wird.

«Big Data» birgt die Gefahr des reduktionistischen Denkens und der Ablösung der eigenen geistigen Kreativität durch Automaten.

Das Verhalten von komplexen Situationen und Systemen lässt sich grundsätzlich nicht prognostizieren. Führungskräfte müssen sich somit in einer Welt zurechtfinden, die außer ihrer Geschichte wenig Anhaltspunkte für ein künftiges Handeln bereithält. Und gerade die Geschichte erweist sich oft als schlechte Ratgeberin. Technologien lassen sich recht gut voraussehen, sie sind meist dem Bereich des Komplizierten zuzuordnen. Anwendungsmöglichkeiten sind aber immer wieder überraschend, weil sie sich eben aus der Komplexität ergeben.

Ziel der Erfassung von komplexen Problemsituationen muss stets die optimale Vereinfachung sein. Dies gemäß dem Bonmot von Albert Einstein: «Man soll die Dinge immer so einfach wie möglich sehen, aber nicht einfacher!» Die Gefahren liegen vor allem beim «nicht einfacher», wie wir schon verschiedentlich gezeigt haben. Die unzulässige Reduktion komplexer Sachverhalte auf komplizierte oder gar einfache Zusammenhänge [24] steht hier im Vordergrund. Diese lässt sich meist an folgender Formulierung erkennen: «... das ist ja nichts anderes als ...». Folgende weitere Erkenntnis erweist sich in diesem Kontext ebenfalls als hilfreich: Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung, und die ist sicher falsch! Wenn beispielsweise bei einem Streitgespräch zum Drogenproblem sich zwei einfache Lösungsvorschläge gegenüberstehen, nämlich die Drogen völlig zu verbieten versus die Drogen völlig freizugeben, dann handelt es sich zweifellos um ein komplexes Problem.

Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung ... und die ist sicher falsch!

Ein zentraler Grund für eine unzulässige Vereinfachung ist die in der folgenden Abbildung 1.5 festgehaltene Problematik der Zeitschere. Die zum Treffen guter Entscheide in komplexen Situationen benötigte Zeit nimmt stetig zu, hingegen nimmt die verfügbare Zeit aufgrund des Wettbewerbsdrucks und des starken Wandels immer mehr ab. Die sich öffnende Schere zwingt Führungskräfte zu «Sattelentscheiden», die sich durch mangelhafte Zielbestimmung, Beschränkung auf wenige Ausschnitte der Entscheidungssituation und einseitige Schwerpunktbildung auszeichnen. Dies führt aber zur Vernachlässigung von Nebenwirkungen und zur Übersteuerung. Wenn schließlich nur noch autoritäres Verhalten zu helfen scheint, ist die Schieflage perfekt. Dietrich DÖRNER (1989) hat diesen Mechanismus anschaulich in seinem Buch «Die Logik des Misslingens» beschrieben.

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Abbildung 1.5 Die Zeitschere als Grund für unzulässige Vereinfachung (GOMEZ, MEYNHARDT, 2010, 139) [25]

Den Versuch, komplexe Systeme optimal vereinfacht abzubilden, hat sich die Methodik des Vernetzten Denkens (GOMEZ, PROBST, 1999) zum Ziel gesetzt. Diese wird in 4. Kapitel zur strategischen Führung im Detail vorgestellt und in ihrer Anwendung illustriert.

Die Bewältigung von Komplexität erfordert das Zusammenspiel von optimaler Vereinfachung und Weiterentwicklung eigener Optionen!

Wie ist nun bei der Bewältigung von Komplexität vorzugehen? Wir sprechen hier bewusst von der «Bewältigung» der Komplexität und nicht von der Lösung eines komplexen Problems. Eine solche gibt es nämlich aufgrund der angeführten Argumente nicht, es gibt lediglich eine Annäherung an einen Idealzustand. Wegweisend für den Umgang mit Komplexität ist das «Gesetz der erforderlichen Varietät» von Ross ASHBY (1970, 207), wobei die Varietät die Vielfalt möglicher Zustände des Systems misst. Das Gesetz besagt, dass zur Bewältigung der Varietät einer Problemsituation eine mindestens gleich große Varietät durch die reflektierenden Praktiker aufgebaut werden muss. Abbildung 1.6 illustriert diesen Zusammenhang, wobei die Problemsituation bewusst amöboid als schwer fassbar dargestellt wird, während das Rechteck des Managements dessen begrenztes Instrumentarium abbildet.

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Abbildung 1.6 Das Gesetz der erforderlichen Varietät (nach ASHBY, 1970) [26]

Um die Varietät ausgeglichen zu gestalten, gibt es zwei Möglichkeiten: Vereinfachung der Entscheidungssituation (Varietätsreduktion) und Stärkung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten (Varietätsgenerierung). Um die volle Wirkung zu entfalten, müssen diese beiden kombiniert werden.

Der Schlüssel zur Vereinfachung der Entscheidungssituation mit dem Ziel der Varietätsreduktion liegt in der Erkennung von Mustern. Die Forschung zur Selbstorganisation und zur Evolution von komplexen Systemen gibt hierzu wichtige Hinweise. Es geht um die Identifikation von Regelmäßigkeiten im Fluss von scheinbar ungeordneten Ereignissen und Prozessen. Systemgrenzen sind nicht vorgegeben, sie können neu gezogen werden, indem bereichsübergreifend in Wirkungsketten gedacht wird. Emergente, spontan entstehende, sich selbst verstärkende Entwicklungen sind stets das Resultat von Rückkoppelungen, die tiefere Einblicke in die Eigendynamik der Entscheidungssituation ermöglichen. «Power Laws» (TALEB 2008) sind empirische Gesetzmäßigkeiten der Skalierung, die oft gegen die Inituition und reduktionistische Erklärungsversuche verstoßen. Schließlich gibt es auch bei komplexen Entwicklungen Konstellationen, sogenannte «pockets of order» (JOHNSON, 2009), die eine Prognose ermöglichen. Diese Zusammenhänge sind auf der linken Seite der Abb. 1.6 festgehalten und werden im weiteren Verlauf des Buches illustriert. [27]

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Abbildung 1.7 Komplexitätsbewältigung auf der Basis des Gesetzes der erforderlichen Varietät

Wegleitend für Varietätsreduktion im Unternehmenskontext ist folgende Aussage von Steve Jobs (ISAACSON, 2011): «Einfachheit ist die höchste Form der Raffinesse ... Es erfordert eine Menge harter Arbeit ... etwas Einfaches zu schaffen, die Herausforderungen zu verstehen, die dem Ganzen zugrunde liegen, und eine elegante Lösung zu entwickeln.» Voraussetzung ist ein grundlegendes Verständnis der Spielregeln der Entscheidungssituation. Im Unternehmen geht es dabei um die Geschäftslogik, die Umweltdynamik und die Unternehmenskultur. Die Geschäftslogik beinhaltet die konstituierenden Prinzipien der Unternehmensführung und die speziellen Ausprägungen der jeweiligen Unternehmenskonstellation. Konkret, wer die Grundlogik unternehmerischer Tätigkeit – beispielsweise niedergelegt im Konzept des Shareholder Value (RAPPAPORT, 1998) – und die branchenspezifischen Anforderungen an das Unternehmen nicht versteht, wird nicht in der Lage sein, diesen Mangel durch Maßnahmen der Varietätsgenerierung wettzumachen. Das Gleiche gilt für die Umweltdynamik und die Unternehmenskultur. Wie Clayton CHRISTENSEN (2003) gezeigt hat, sind Unternehmen stets durch disruptive Angriffe der Wettbewerber in ihrer Lebensfähigkeit bedroht. Disruptionen laufen nach bestimmten Mustern ab, die rechtzeitig als Ausdruck der Umweltdynamik erkannt werden müssen. Die Unternehmenskultur schließlich ändert sich je nach Lebensphase des Unternehmens, in der Pionierphase gelten andere Spielregeln als in der Reifephase. Erst wer sich ein klares und einfaches Bild des Zusammenspiels von Geschäftslogik, Umweltdynamik und kulturellem Wandel verschafft, hat die Varietät der Problemsituation so reduziert, dass der Aufbau der eigenen Varietät in Angriff genommen werden kann.

Auf der rechten Seite der Abb. 1.7 sind Ansatzpunkte der Varietätsgenerierung durch das Management festgehalten. Die Forschung zu Komplexität und Selbstorganisation stellt auch hier eine Vielzahl von Hinweisen für die Unternehmensführung bereit. «Tipping Points» sind Ansatzpunkte, bei denen mit relativ kleinen Eingriffen eine große Wirkung erzielt wird (GLADWELL, 2006). Hierarchische Organisationsformen dominieren immer noch unsere Wirtschaft. Aber auch die Natur lehrt uns – wie bereits im Prolog gezeigt –, dass in vielen Fällen eine lose Kopplung gegenüber starren Strukturen viele Vorteile hat. In der digitalen Welt verliert das Modellieren stetig an Bedeutung, an seine Stelle tritt das Experimentieren. Pilotversionen werden im Markt getestet und stetig weiterentwickelt, bis das fertige Produkt stimmig ist. Und schließlich gewinnt der gezielte Einbau von Fehlern zunehmend an Bedeutung, um die Anpassungsfähigkeit (Resilienz) zu testen. [28]

Gravierende Unfälle sind oft das Resultat der Kombination von hoher Komplexität und starker Kopplung.

Zur Abrundung dieses Denkmusters soll die Anwendung des Gesetzes der erforderlichen Varietät am Beispiel der Vermeidung von Großunfällen illustriert werden. Wie bereits in Abb. 1.2 zu den Gefahren des Internets der Dinge illustriert, sind viele gravierende Unfälle, die meist durch relativ kleine Fehler ausgelöst werden, das Resultat des Zusammenspiels von Komplexität (linke Seite der Gleichung) und Kopplung (rechte Seite der Gleichung). Wenn die Komplexität zunimmt, ergibt sich eine Vielzahl neuer Teile. Sind diese eng miteinander gekoppelt, beispielsweise durch bereichsübergreifende Prozesse, so erfolgt auch bei kleinen Fehlern eine Kettenreaktion, die das Ganze unkontrollierbar macht. Wenn ein Unternehmen komplexer wird, so versucht das Management oft intuitiv, diesem Trend durch Zentralisierung zu begegnen. Dies ist aber genau die falsche Reaktion. Um die Kontrolle zurückzugewinnen, muss bei der Gestaltung solcher Systeme die Komplexität so einfach wie möglich gehalten werden (Varietätsreduktion), und die Kopplung muss lose sein (Varietätsgenerierung).

Die Ausführungen zum ersten Denkmuster der Komplexitätsbewältigung sollen mit einigen Beobachtungen aus einer etwas ungewohnten Sicht abgeschlossen werden. Komplexität ist keine objektive Eigenschaft eines Systems, sondern abhängig von der Perspektive und damit der Systemabgrenzung des Beobachtenden. Führungskräfte können Komplexität aufbauen, sei es durch schieres Unvermögen oder durch bewusste Manipulation. Ersteres hat als Ursache meist mangelnde methodische oder Sachkompetenz. Eine konsequente Umsetzung der Erkenntnisse zum ersten Denkmuster (siehe unten) kann hier weiterhelfen. Etwas anders liegt der Fall bei der Manipulation. CLEARFIELD und TILCSIK (2018, 67) führen als Beispiel das Unternehmen Enron an. Das Unternehmen baute Modelle, um den «wahren» Wert ihrer Vermögenswerte zu ermitteln. Bei Großprojekten trafen sie Annahmen, welche Einkünfte sie über die kommenden Jahre generieren könnten. Diese verbuchten sie als unmittelbare Geldflüsse, ohne solche je erzielt zu haben. Damit manipulierten sie den Aktienkurs und schließlich auch die Boni. Dieses sogenannte «mark-to-market accounting» (den Marktwert ansetzen) erhöhte nicht nur die Komplexität, sondern macht aus Enron ein eng gekoppeltes System – mit den bekannten Konsequenzen des Bankrotts.

CLEARFIELD und TILCSIK (2018) argumentieren weiter, dass Sicherheitssysteme oft die wichtigste Quelle von Systemversagen seien. Diese Systeme weisen meist einen so hohen Komplexitätsgrad auf, dass die Verantwortlichen dadurch völlig absorbiert werden und die einfachen Gefahrensignale ignorieren. Denn jedes komplexe System produziert schwache Signale, wenn es aus dem Ruder zu laufen droht. Wie diese entdeckt werden können, wird in Kapitel 4 gezeigt. [29]

Für das Denken und Handeln der reflektierenden Praktiker bedeuten diese Erkenntnisse Folgendes:

Unterscheide zwischen komplizierten und komplexen Problemen, und richte dein Vorgehen auf deren spezifische Charakteristika aus!

Lasse dich nicht von «Big Data» zu einer reduktionistischen Sicht komplexer Probleme verleiten!

Gehe komplexe Probleme stets im Geiste des «Gesetzes der erforderlichen Varietät» an, die Gleichung von Varietätsreduktion und Varietätsgenerierung muss aufgehen!

Lerne von der Natur den geschickten Umgang mit Komplexität!

Vermeide zerstörerische Kettenreaktionen – sorge für lose Koppelung in komplexen Systemen!

Denkmuster 2: Die Perspektive der russischen Puppen