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Guido Grandt

BRUDER
MAHL

Ein Freimaurer-Krimi

Impressum

Die in diesem Buch erzählte Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Charaktere, Szenen, Unterhaltungen und Ereignisse sind das Produkt der Fantasie des Autors mit Ausnahme der historischen Vorkommnisse und der regionalen, örtlichen Gegebenheiten. Die genannten Freimaurerlogen, ihre Akteure und ihre Handlungen sind ebenso fiktiv wie das Möbelhaus Roth in Balingen.

 

Der Text des Bundeslieds der Freimaurer (Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, komponiert am 15. November 1791) wird zitiert nach: http://freimaurer-wiki.de/index.php/Bundeslied.

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

 

Copyright © 2019 bei Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH, Planegg

1. Auflage 2019

 

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Sylvia Kling

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung/Einband: Alin Mattfeldt/Martina Stolzmann

Covermotiv unter Verwendung von: Shutterstock: iMoved Studio/Romolo Tavani/Angel Soler Gollonet/aSuruwataRI

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-127-0

www.bookspot.de

Prolog

»Niemand soll und wird es schauen,

Was einander wir vertraut,

denn auf Schweigen und Vertrauen

Ist der Tempel aufgebaut.«

Johann Wolfgang von Goethe
(deutscher Dichter und Freimaurer)

Eiskalt schlug das Wasser über dem grauhaarigen Mann zusammen, drang in Ohren, Nase, Mund und Rachen, strömte regelrecht in ihn hinein.

O Gott, ich ertrinke! O Gott …

Er fürchtete das Sterben.

Den Tod.

Elendig und allein. In diesem eisigen, nassen Grab, begleitet von Schaum, Bläschen und aufgewühltem Schlamm.

Fieberhaft versuchte er, kostbaren Atem zu sparen, die Panik zurückzudrängen, die sich rasend schnell in seinem Inneren ausbreitete, als würde ein Buschfeuer durch stürmischen Wind angefacht.

Ich brauche Luft! Sauerstoff!

Nur einen einzigen Atemzug!

Bitte …

Tausend Gedanken schossen durch sein aufgewirbeltes Bewusstsein. Völlig abwegige und doch so passende …

… In Europa ertrinken pro Jahr 35.000 Menschen, weltweit fast eine Million. Damit ist das Ertrinken nach Stürzen, Mord und sonstiger Gewalt die vierthäufigste Todesart. Der Durchschnittsmensch kann eineinhalb Minuten den Atem anhalten …

Diese Informationen hatte er irgendwann, irgendwo einmal gelesen; nun setzten sie sich wie glitschige Algen an einem versunkenen Schiffsrumpf in jeder einzelnen Windung seines Gehirns fest.

Nur eineinhalb Minuten! Nur neunzig gottverdammte Sekunden!

Aber nicht einmal die Hälfte der Zeit blieb ihm noch. Denn es war nicht nur sein mit Wasser vollgesogener Wollmantel, der ihn so unbarmherzig in die Tiefe zog, sondern noch etwas anderes. In den Taschen. Schwer wie Bleigewichte …

Auch bewegen konnte er sich nicht. Nicht einmal mit der Wimper zucken, geschweige denn schwimmen oder auch nur strampeln. Fast so, als sei er gelähmt.

Der grauhaarige Mann starb langsam und doch schnell. Nur die mechanischen Körpervorgänge, die er nicht bewusst steuern konnte, versuchten ihn, noch am Leben zu erhalten. Der sogenannte Tauchreflex setzte schon frühzeitig ein, schaltete den Stoffwechsel herunter, um unter Wasser Sauerstoff zu sparen. Dabei verlangsamte sich die Herzfrequenz drastisch. Von siebzig Schlägen auf gerade mal fünfundvierzig. Die Arterien in seinen Armen und Beinen verengten sich, um das verbliebene sauerstoffgesättigte Blut dem Gehirn, dem Herzen und anderen lebenswichtigen Organen zuzuführen. Doch der Druck in der Lunge wurde immer stärker, so als würde ein Luftballon in seiner Brust aufgeblasen. Rasender Schmerz folgte. Der Atemdrang wurde immer intensiver.

Bläschen und weißer Schaum tanzten um seinen Kopf und die schreckgeweiteten Augen. Das Hellgrün um ihm herum verwandelte sich in ein schmieriges Dunkelgrün, das schließlich in tiefe Schwärze überging.

Langsam schwand das durch Sauerstoffmangel immer mehr getrübte Bewusstsein des Mannes dahin. Wie ein Lichtball, der stetig kleiner und dunkler wurde. Er spürte ein Brennen in seinen Arm- und Beinmuskeln, von der Milchsäure, die sich zwischenzeitlich angesammelt hatte. Denn anstatt sauerstoffgesättigtem, rotem Blut floss jetzt nur noch bläulicher Lebenssaft durch seine Adern. Sein Herz hämmerte in wildem Stakkato, dröhnte überlaut in den Ohren. Dann schlug es immer langsamer und unregelmäßiger.

Jetzt sterbe ich …

Es war ihm, als spiele sich die Szene seines eigenen Ertrinkens vor seinem geistigen Auge ab. In Slow Motion. Selbst die Panik, die ihn befallen hatte wie ein wildes Tier, verebbte. Kein innerliches Aufbegehren vor dem endgültigen Aus mehr. Nur noch die Gewissheit, dass er nichts gegen das Unausweichliche tun konnte. Und das, obwohl die Oberfläche fast zum Greifen nahe war.

Da oben war das Leben. Und hier unten lauerte der Tod.

Unerbittlich.

Unumkehrbar.

Der Tod.

Das Wasser und der Schaum waren überall. Längst auch in seiner Luftröhre. Sein verkrampfter Kehlkopf hatte sich reflexartig geschlossen, um die Lunge zu schützen.

Ertrinken geschieht nicht plötzlich. Ertrinken geschieht allmählich …

Wieder belehrte ihn diese Stimme in seinem Kopf, verhallte nun langsam wie der letzte Glockenschlag bei einer Beerdigung.

Seiner Beerdigung.

Das Bewusstsein des grauhaarigen Mannes schrumpfte zu einem kleinen Lichtfleck zusammen. Das vor dem Kehlkopfreflex eingeatmete Wasser füllte einen Teil der Lungenbläschen und brachte sie schließlich zum Kollabieren. Seine Gehirnfunktionen waren jetzt lediglich noch äußerst schwache elektrische Impulse, die nach und nach erloschen, als würden Millionen Lämpchen nacheinander ausgeschaltet.

Dann war nichts mehr um ihn herum.

Nur noch tiefe, endgültige Dunkelheit. Und eisige Grabesstille.

Eins

»Es gibt Dinge, die sind so geheim,

dass man sie nicht einmal zu sich selber sagen darf.«

Giulio Andreotti
(siebenfacher italienischer Ministerpräsident)

Allmächtiger Baumeister aller Welten, ich sehe aus wie ein kranker Köter!

Kriminalhauptkommissar Mark Brandner von der Kriminalinspektion 1 der Polizeidirektion Balingen, zuständig für Mord- und Sexualdelikte, betrachtete sein Gesicht im fleckigen Spiegel der Herrentoilette. Seine rehbraunen Augen waren glasig und vom Dauerschnupfen verquollen, die gerade Nase gerötet. Die Wangenknochen stachen wie Rippenbögen aus dem hageren Gesicht hervor, darüber spannte sich die schwach gebräunte Haut. Sein Dreitagebart schimmerte an einigen Stellen silbern. Das früher einmal volle dunkelblonde Haar war so kurz geschoren, dass die Kopfhaut unter den grauen Stoppeln hervorschimmerte. Er selbst bezeichnete sie liebevoll als »Bruce-Willis-Glatze«.

Brandner war groß, über Einsfünfundachtzig und schlank, eher drahtig und sportlich mit festen, ausgeprägten Muskeln. Mit seinen dreiundvierzig Jahren konnte er zumindest in dieser Hinsicht zufrieden sein. Ein wenig Fitnessstudio und asiatische Kampfkunst hatten ihn bislang vor übermäßigem Fettansatz verschont. Seine Hände, die er soeben mit Flüssigseife aus dem Seifenspender einrieb und mit Wasser abspülte, waren feingliedrig und dennoch gewohnt, hart zuzupacken, wie gelbe Hornhaut auf seinen Handflächen bewies.

Plötzlich musste er wieder niesen.

Allmächtiger Baumeister!

Ein wahres Kreuz war das mit dieser Hausstaubmilben-, Gräser- und Pollenallergie! Wann hatte er das letzte Mal ohne irgendwelche Sprays frei durch die Nase atmen können? Vor wie vielen Jahren? Es schien eine halbe Ewigkeit her zu sein. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. So fühlte er sich auch heute wieder einmal nicht nur wie ein kranker Köter, sondern glaubte auch, mit dieser Allergie sein ganzes weiteres Leben führen zu müssen. Einfach ein Hundeleben. Zwar gab es im Winter keine für ihn lästigen Gräser und Pollen, dafür aber umso mehr trockene Heizungsluft, Staub und Milben. Ein Teufelskreis. Das ganze Jahr über.

Brandner drehte den Wasserhahn zu und trocknete seine Hände an den Papierhandtüchern ab. Dann zupfte er den Kragen seines weißen Hemdes unter dem dunkelgrauen Leinen-Blazer zurecht, nahm den knielangen Ledermantel in die Linke und trat nach draußen.

Es war erst kurz nach neun Uhr an diesem eisigkalten Januarmorgen und er war schon beim Shoppen! Genauer gesagt, seine Lebensgefährtin. Er spielte dabei lediglich die Rolle eines Statisten, der ohne großes Interesse neben ihr her schlenderte und viel lieber heimlich den hübschen Frauen nachsah, die ihm begegneten. Zudem war heute Samstag und eigentlich hatte er dienstfrei …

Mit ausladenden Schritten betrat Brandner die Kinder- und Jugendabteilung von Möbel Roth, dem größten Möbelhaus in der Kreisstadt hoch oben auf der Schwäbischen Alb. Der Geschäftsinhaber war Frank Roth, den er von früher flüchtig kannte, gehörte dieser doch einst derselben Bruderschaft an wie er selbst.

Ganz unvermittelt lief Roth ihm plötzlich über den Weg. Offensichtlich war er auf der Suche nach dem Verkaufsleiter, denn er fragte einen der Einrichtungsberater nach ihm.

Der verwitwete und kinderlose Roth war mittelgroß, schlank, Mitte sechzig, mit Geheimratsecken im dünnen grauen Haar. In seinem wettergegerbten Seglergesicht mit dem weißgrauen, gestutzten Vollbart funkelten dazu passende rauchgrauen Augen.

Er begrüßte Brandner mit einem freundlichen Nicken. Danach wechselten sie ein paar belanglose Worte. Schließlich gingen sie wieder jeder ihres Weges.

Der Hauptkommissar hielt Ausschau nach Monika Schäfer, mit der er seit vier Jahren liiert war. Obwohl es in letzter Zeit nicht besonders gut mit ihnen lief, wurde ihr Heirats- und Kinderwunsch immer stärker, steigerte sich fast zur Paranoia. So verrannte sie sich in die fixe Idee, dass mit ihren dreiundvierzig Jahren das meiste schon gelaufen war, ihre biologische Uhr bezüglich eigenem Nachwuchs dem Ende entgegentickte.

Nun ja, wahrscheinlich hatte sie damit auch recht. Allerdings kam es ihm so vor, als würde sie dadurch ihre Beziehungsprobleme einfach ignorieren. Frei nach dem Motto: Hauptsache eine »Einigermaßen-Beziehung«, die schließlich in einer Heirat endete, so wie es sich im Schwabenländle gehörte, und dann endlich ein Kind! Die letzte Fahrt auf der Mama-Baby-Autobahn, bevor sie in der endgültigen Ehe-Tristesse endete …

Das war nämlich ihr beider Problem, dachte Brandner resigniert, während er zwischen den bunten Baby- und Jugendmöbeln seine Lebensgefährtin suchte. Monika setzte ihm seit Monaten mit ihrem Heirats- und Kinderwunsch zu. Oft mit schier endlos langen Diskussionen, die nicht selten in einen handfesten Streit ausarteten.

Und er? Was hatte er für eine Meinung dazu? Irgendwann vielleicht heiraten, gut. Ein Kind nur, wenn er nicht permanent unter Druck gesetzt wurde. Zudem verabscheute er Streit wie die Pest. Da verging ihm alles.

Während er noch überlegte, warum er sich überhaupt darauf eingelassen hatte, an seinem dienstfreien Samstag im Möbelhaus, und dann auch noch in der Kinderabteilung herumzustöbern, entdeckte er Monika neben einem Babybett mit blauem Himmel.

Allmächtiger Baumeister aller Zeiten!

Völlig in Gedanken versunken stierte sie die Einschlagdecke an, als würde darin bereits ein Baby liegen. Ihr Baby. Und dann auch noch ein Junge!

Brandner atmete tief durch. Wenn schon ein Kind, dann auf jeden Fall ein Mädchen. Nicht einmal in dieser Hinsicht waren sie sich einig. Schon allein das war traurig genug und zeigte das Barometer ihrer Beziehung an.

Monika blickte auf, als sie ihren Lebensgefährten bemerkte, der sich inzwischen schweigend neben sie gestellt hatte. Sie war trotz ihres nicht mehr jugendlichen Alters noch sehr attraktiv. Ihr Solarium-gebräuntes Gesicht, aus dem zwei dunkelbraune Augen strahlten, wurde von einer schwarzen Pagenfrisur eingerahmt. Ihre Züge waren weich, die kleine Stupsnase saß über einem sinnlichen Mund. Von der Statur her war sie normal gebaut, außer dass ihr die Natur eine ziemlich große Oberweite geschenkt hatte.

Bevor sie etwas erwidern konnte, musste der Hauptkommissar erneut niesen. Die Lautstärke ließ die in der Abteilung anwesenden Kunden in seine Richtung blicken. Einem Einrichtungsberater fiel vor Schreck der Schreibblock aus der Hand.

Brandner grinste und zuckte entschuldigend mit den Achseln in Richtung Verkäufer, bevor er in ein Papiertaschentuch schnäuzte.

»Was hältst du von diesem süßen Bettchen?«, fragte Monika.

Augenblicklich fror Brandners Grinsen ein. »Wenn du mal einen Jungen bekommen solltest, dann …«

»Was heißt hier mal? Und warum ich

»Ich kann ja wohl keine Kinder bekommen.«

»Das heißt wir, du Dummerchen!«

»Fängst du schon wieder damit an?«

Wortlos drehte sich Monika um. Nach einem kurzen schweigenden Rundgang durch die Kinderabteilung gingen sie Richtung Ausgang. Das Möbelhaus war gut besucht, mit Einkaufswilligen fast schon überfüllt. Winterschlussverkauf.

Monika verschwand kurz noch in der Boutique, um nach Kerzenständern zu schauen. Mark blieb am Geländer stehen und blickte vom dritten Stock hinunter in den Eingangsbereich. Auch hier wuselte es wie in einem Ameisenhaufen. Dann schweifte sein Blick zur Rolltreppe hinüber. Er sah viele junge Paare. Männer in Winterkleidung, eleganten Anzügen oder legeren Sportklamotten. An ihrer Seite adrett und modisch gekleidete Frauen, manche von ihnen gestylt und geschminkt, als würden sie einen Opernball besuchen. Dazwischen Jugendliche mit weiten Kapuzenjacken, Strickpullis und Jeans.

Soeben wollte Brandner den Blick wieder von der Rolltreppe abwenden, als er irritiert innehielt. In der Menschentraube, die sich stetig nach oben bewegte, stand eine Frau mit einer Gucci-Tasche in der rechten Hand. Ihr Alter war schwer zu schätzen, so um die dreißig, würde ein zufälliger Beobachter sagen. Vielleicht jünger. Sie war an die ein Meter siebzig groß und schlank und hatte ihr weizenblondes Haar zu einem modischen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Gesichtszüge erinnerten an die einer Skulptur aus dem antiken Griechenland, mit einer Haut wie reines Elfenbein, einer geraden Nase und vollen Lippen.

Aber das Faszinierendste waren die großen, von langen, seidigen Wimpern umrahmten Augen. Die Pupillen schimmerten meerwasserblau. Wie nasse, funkelnde Diamanten. Augen, von denen jene, denen es vergönnt war, hineinzublicken, vom ersten Moment an fasziniert waren. Augen, die einer Frau gute und ehrliche Freundschaft und einem Mann verheißungsvolle Leidenschaft, die Erfüllung seiner sexuellen Träume und vor allem Treue verhießen.

Jäh machte Brandners Herz einen Sprung. Er ignorierte sogar den aufkommenden Niesreiz, starrte wie gebannt auf die Frau, die jetzt das Ende der Rolltreppe erreicht hatte. Er erkannte und kannte sie! Auch jetzt noch. Nach all den Jahren. All den Sehnsüchten, Wünschen und Träumen. Sie war noch schöner geworden, als er sie in Erinnerung hatte. Noch reifer und weiblicher …

»Larissa!«, rief er laut, aber seine Worte gingen im dezenten Lärm der Kunden und der Kaufhausmusik unter. Ohne zu überlegen setzte er sich in Bewegung, rempelte Menschen an, murmelte Entschuldigungen und versuchte der attraktiven Frau durch den Menschenstrom zu folgen. Obwohl er über die meisten Köpfe hinweg sehen konnte, verlor er Larissa an einer Stelle der Einkaufspassage, an der sich verschiedene Wege kreuzten, aus dem Blick.

Brandners Puls raste. Seine Gedanken kreisten um die Frau, die nach so vielen Jahren jäh wie ein Komet in sein Leben eingeschlagen hatte.

Larissa!

Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen? Drei Jahre? Larissa Carlhoff, deren Vater Deutscher war und deren Mutter aus der ukrainischen Schwarzmeermetropole Odessa stammte. Seine erste wirklich große Liebe, die Frau, die während ihrer kurzen, zweijährigen Beziehung so zärtlich und verständnisvoll gewesen war. Die alles für ihn getan hatte, was eine Partnerin für einen Mann tun konnte. Trotz ihres Altersunterschieds von acht Jahren.

Brandner war damals gerade vierzig geworden und sie zweiunddreißig. Er hatte es vermasselt. Alles war ihm selbstverständlich vorgekommen und er hatte sich, wenn es um Gefühle ging, oft wie ein Elefant im Porzellanladen benommen. Er, der große Mark Brandner, damals erst Kriminalkommissar, der sich aber vorkam wie der Chef der Balinger Polizei. Der Schrecken der nicht wirklich existierenden Unterwelt in dieser etwas über dreiunddreißigtausend Einwohner zählenden Kreisstadt auf der Schwäbischen Alb.

Dabei war er nicht mehr wert gewesen als eine Schmeißfliege auf einem toten Kadaver. Ganz gewiss nicht mehr. Überheblich, arrogant und egoistisch. Und dafür hatte ihm das Schicksal zu Recht eine bittere Lektion erteilt. Erst als Larissa ihm den Laufpass gab und nach Berlin umzog, war ihm bewusst geworden, was er eigentlich verloren hatte: die beste Frau der Welt. Aber da war es bereits zu spät für seine Einsicht, nicht aber für den Vorsatz, sich zu ändern. Dafür hatte er viel getan, sich beispielsweise der Bruderschaft der Freimaurer zugewandt und dort nach langer Prüfung Moral und Ethik kennengelernt und selbst erlernt.

Plötzlich fiel Brandner Monika ein, die bestimmt vor der Boutique auf ihn wartete. Gewaltsam versuchte er, seine Gedanken aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückzukatapultieren. Aber es gelang ihm nicht ganz.

Larissa!

Im Magen verspürte er heiße Nadelstiche. Der Schweiß rann ihm in dicken Bahnen den Nacken hinunter, sickerte klebrig in den Hemdkragen.

Was machte sie in Balingen?

Er hatte geglaubt, das Vergangene weggesteckt und überwunden zu haben. Aber das stimmte nicht! An der Achterbahnfahrt seiner Gefühle erkannte er, dass er es nur verdrängt hatte. Jetzt kam alles wieder hoch. Die Wut, die Enttäuschung, die Zuneigung – die Liebe?

Erschrocken über seine eigenen Gedanken drehte sich der Hauptkommissar vor der Boutique im Kreis. Er war in einer Beziehung, die zwar besser sein konnte, aber immerhin: Monika hatte viele gute Seiten, sah umwerfend aus, plante, mit ihm zusammenzubleiben, ein Leben lang, sogar Nachwuchs …

Wo war sie?

Wieder nieste er laut. Es war ihm egal.

Oh, Larissa …

»Suchst du mich?« Von hinten legte ihm Monika die zierliche Hand auf die Schulter. Brandner zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum.

»Hast du mich erschreckt«, stieß er schärfer hervor als gewollt. Im gleichen Moment tat es ihm leid. In seinem Schädel brummte und dröhnte es noch immer. Gegenwart und Vergangenheit tanzten einen wilden Reigen in seinem Denken und seinen Gefühlen.

»Du musst doch nicht gleich so giftig werden!«, gab sich Monika gekränkt. »Was ist überhaupt los mit dir? Du siehst aus, als ob du gerade einem Gespenst begegnet wärst.«

Brandner wusste nicht, was er darauf antworten sollte, zuckte verlegen mit den Schultern.

Ja, ich bin einem Gespenst begegnet. Einem Gespenst, das plötzlich wieder in meinem Leben aufgetaucht ist. Und diese Begegnung hat mich irgendwie aus der Bahn geworfen. Allmächtiger Baumeister aller Welten, steh mir bei!

***

Schon seit Stunden lag er wach, konnte nicht einschlafen. Neben sich hörte er Monikas ruhiges und gleichmäßiges Atmen. Ihr Gesicht wurde vom silbernen Mondlicht erhellt, das durch das Fenster fiel, während Frost und Kälte draußen blieben.

Brandner löste den Blick von seiner Freundin. Der Digital-Wecker auf dem Nachttisch zeigte 3.05 Uhr. Deprimiert schaute er zum Fenster hinaus. Die Scheibe des Mondes stand voll und rund am dunklen, sternenübersäten Himmel über Balingen. Hier in der Kreisstadt des Zollernalbkreises, hoch oben auf der Schwäbischen Alb, war er geboren worden, kannte sprichwörtlich jeden Winkel und jede Gasse.

Heute Nacht drehen sie wieder überall durch.

Bei Vollmond war es fast immer so. Männer, die ihre Frauen schlugen. Betrunkene, die ausrasteten. Drogendealer und Junkies, die sich in die Haare kriegten. Autofahrer, die zu viel Gas gaben oder gekifft hatten und damit direkt ins Krankenhaus oder in die Leichenhalle fuhren …

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich Monika auf die andere Bettseite drehte und im Schlaf seine Hand suchte. Er drückte sie, ohne darüber nachzudenken. Dabei wanderten seine Gedanken zurück zu Larissa.

Warum bist du zurückgekommen?

Während er an seine einstige große Liebe dachte und dabei die Hand seiner jetzigen Lebensgefährtin hielt, kam er sich irgendwie schlecht und verdorben vor. Fast gar wie ein Ehebrecher.

Das Vibrieren des Handys riss ihn jäh aus seiner Selbstverdammung. Er hatte zwar keinen Nachtdienst, aber trotzdem musste er in Notfällen erreichbar sein. Deshalb schlief er seit Jahren mit dem Smartphone auf der Nachtkommode, genauso wie mit zwei Packungen Papiertaschentüchern und einem Nasenspray.

Was für ein Hundeleben …

»Was ist los, Teddy?«, brummte Mark launisch, aber hellwach. Gleich darauf bereute er es. Sein Freund und Kollege, Kriminaloberkommissar Leo Jamin, wegen seiner Statur von allen »Teddy« genannt, der in dieser Nacht Dienst hatte, störte ihn wirklich nur, wenn es auch dringend war.

»Ein Toter«, entgegnete Teddy ohne Umschweife, wie es seine Art war. Immer direkt und sofort auf den Punkt kommend. »Am Ufer der Eyach. In Klein Venedig. Der Leichenschänder ist schon unterwegs.« Mit »Leichenschänder« war Gerhard Wagner gemeint, der Gerichtsmediziner aus dem rund fünfundzwanzig Kilometer entfernten Tübingen.

Brandner ließ sich die genaue Adresse geben. Es war nicht weit weg. Er stand auf und zog sich rasch an. Monika, die inzwischen aufgewacht war, sah ihm dabei zu.

»Was Ernstes?«, fragte sie.

»Der Tod ist immer ernst, nicht wahr?« Mark lächelte ihr nur gequält zu und verließ schweigend die hundertvierzig Quadratmeter große Penthouse-Wohnung. Sich völlig im Klaren darüber, dass er das erste Mal von seiner Lebensgefährtin ging, ohne ihr einen Abschiedskuss zu geben. Er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen. Auch wenn die Gedanken an Larissa durch Teddys Anruf etwas in den Hintergrund gedrängt worden waren.

Auf halbem Weg zu seinem Wagen wollte er noch mal umdrehen, dachte dann aber an die drängenden Worte des Kollegen und ließ es bleiben. Er nahm nicht den kleinen Aufzug des dreistöckigen Gebäudes, sondern rannte die Treppe hinunter und stieß die Haustür auf. Er war froh, seinem Heim für die nächsten Stunden zu entkommen. Auch dies ein seltsamer Gedanke, der normalerweise keinen Platz in seinem Denken hatte und trotzdem überlaut in ihm schrillte.

Es ist wie eine Flucht … Eine Flucht vor dir selbst … Eine Flucht vor Monika …

Brandner verscheuchte die seltsamen Gedanken, als er in den schwarzmetallicfarbenen Audi A3 stieg, der auf dem Stellplatz hinter dem Haus geparkt war. Gleich drauf startete er den 170 PS starken Motor. Viel zu schnell umfuhr er die Fußgängerzone im Stadtzentrum, fluchte, als ihm die erst vor Kurzem eingerichtete Umleitung wieder einfiel. So konnte er nicht auf direktem Weg das Viertel erreichen, sondern musste erst durch sämtliche Einbahnstraßen kurven, um an die Eyach zu gelangen.

Dann verminderte er die Geschwindigkeit, fuhr fast nur noch im Schritttempo. Vor ihm zerriss das grellblaue Blinken der drei Streifenwagen die eisige Nacht. Nicht mal zweihundert Meter vor dem kleinen Staudamm. Neugierige, die von der hektischen Betriebsamkeit der Beamten aus dem Schlaf gerissen worden waren, starrten aus den Fenstern der Wohnungen, die hier erst vor wenigen Jahren neu entstanden waren. Das Viertel hatte den Namen »Klein Venedig« erhalten. Es lag unterhalb des Schlosses mit seiner Herberge und einer Shisha-Bar. Hier führte keine Straße entlang, lediglich ein asphaltierter Fußgängerweg.

Am rechten Ufer erkannte Mark Brandner seine Kollegen. Kriminaloberkommissar Leo Jamin, der mit dem dichten schwarzen Haupthaar und Vollbart, der beachtlichen Körpergröße von hundertneunzig Zentimetern und hundertzehn Kilo Lebendgewicht, tatsächlich an einen Teddybären erinnerte. Er stand neben dem schlaksigen Gerichtsmediziner Gerhard Wagner und dem muskelbepackten Kriminalhauptkommissar Michael Friedholf von der Kriminalinspektion 4. Er war der Chef der Kriminaltechnik, zu der auch die Spurensicherung gehörte.

Die drei so unterschiedlichen Männer starrten schweigend auf etwas zu ihren Füßen, das Mark von seiner Position aus nicht erkennen konnte. Dann drehte sich Friedholf um und wandte sich an einen der uniformierten Polizeibeamten. Ein Reporter mit einer digitalen Fotokamera vom Zollern-Alb-Kurier oder vom Schwarzwälder Boten, da war sich Brandner nicht ganz sicher, verließ soeben aufgeregt den Leichenfundort.

Er parkte den Audi hinter den drei Streifenwagen, dem Kleinbus der Kriminaltechniker und dem Leichenwagen und ging zu Fuß zu den Kollegen hinüber. Die Polizisten hatten einen Teil des Ufers mit einem Absperrungsband abgegrenzt und den Fundort gesichert.

Brandner stellte den Kragen der Winterjacke hoch, um Hals und Nacken wenigstens ein klein wenig vor dem frostigen Wind zu schützen. Mit jedem Schritt spürte er intuitiv, dass ihn ein böses Schlamassel erwartete.

Plötzlich, mitten hinein in diese Gedanken, platzte die Erinnerung an Larissa.

Meine Larissa.

Sein Herzschlag beschleunigte sich erneut. In diesem Moment wusste Mark Brandner nicht, was ihm mehr Angst machte: seine Ex-Freundin oder die Leiche, die ihn in dieser frostigen Winternacht erwartete.

***

Mit gebrochenem Blick starrte der Tote in die unendliche Schwärze des Himmels. Die ergrauten Haare lagen wie ein nass gefrorenes Flies um das scharfkantig geschnittene Gesicht. Die Oberschichten der bleichen Gesichtshaut waren bereits aufgequollen, ebenso die Hände und sicher auch die Füße. Das konnte man auf den ersten Blick jedoch nicht erkennen, weil sie in dicken Winterschuhen steckten. »Waschhaut« sagten die Pathologen zu der hellen, gewellten Epidermis, die sich bei Wasserleichen oder feucht gelagerten Toten nach mindestens drei Stunden bildete. Das Schlimmste aber war der weißliche Schaumpilz vor der fleischigen Nase, der beim Ertrinken durch Verquirlen von Luft, Wasser und Bronchialsekret entstand.

Bekleidet war der Tote mit einem knielangen grauen Wintermantel aus Kaschmir, der sich mit Wasser vollgesogen hatte und aussah wie ein wollener Leichensack. Darunter waren ein schwarzer Anzug und ein vom Brackwasser verfärbtes weißes Hemd zu erkennen.

Brandner wandte sich ab. Es war zu früh für eine Leiche. Zu früh in dieser Nacht, die sich bald jedoch schon in einen grauen bleiernen Morgen verwandeln würde. Hinzu kam, dass seine Nebenhöhlen wieder einmal wie durch ein Schleusentor verstopft waren und das neue Spray überhaupt nicht wirkte.

»Kein schöner Anblick, was?« Teddy sah den Kollegen von der Seite her an. Zwischen seinen Lippen steckte die obligatorische qualmende Zigarette.

Wortlos schüttelte Brandner den Kopf. Inzwischen war Gerhard Wagner, der Gerichtsmediziner, an sie herangetreten. Der »Leichenschänder« räusperte sich unnötigerweise, um auf sich aufmerksam zu machen. Auch er war, wie Teddy, bekennender Kettenraucher. Seine Lunge schien immer verschleimt zu sein. Ein dunkler, offener Wintermantel schlotterte wie eine Fahne um seine dürre Gestalt. Nur ein breiter Gürtel in der altmodischen beigen Cordhose schien zu verhindern, dass sie ihm vollends von den knochigen Hüften rutschte.

Brandner, der mit seinen über Einsfünfundachtzig bestimmt nicht zu den Zwergen gehörte, musste zu dem großen, hageren Gerichtsmediziner aufblicken. So viel also zu den Gemeinsamkeiten zwischen Teddy und dem »Leichenschänder«: Zigarettenkonsum und Körpergröße.

Der Gerichtsmediziner war von den Kollegen herbeigerufen worden. Der Amtsarzt, den die Streife benachrichtigt hatte, die zuerst auf den Toten aufmerksam wurde, war sich über die Todesursache zunächst nicht ganz im Klaren.

»Tod durch Ertrinken«, diagnostizierte Wagner mit belegter Stimme. Der Sechzigjährige fuhr sich mit einer fahrigen Geste über die müden Augen, in denen obligatorisch Melancholie und Trauer funkelten. So als ob er es den Menschen auf eine spirituelle Art und Weise übel nahm, dass sie von dieser Welt gingen. Und dann auch noch an einen Ort, an den ihnen die Lebenden nicht folgen konnten.

Brandner nickte stumm, trat von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte biss unbarmherzig in seine Knochen. Selbst die dicken Winterschuhe und die Wollsocken konnten nicht verhindern, dass sich seine Zehen langsam in Eisklumpen verwandelten.

»Die Leiche ist männlichen Geschlechts, Einsachtundsiebzig groß und etwa fünfundachtzig Kilo schwer. Der Mann ist Mitteleuropäer, um die vierzig und athletisch gebaut, wie man sieht. Eigentlich ist er in guter körperlicher Verfassung«, begann Wagner seinen vorläufigen gerichtsmedizinischen Befund. »Der Tote lag mindestens drei Stunden im Wasser, wie man unschwer an der Waschhautbildung erkennen kann. Nicht viel länger, denn die oberen Hautschichten sind zwar aufgequollen, haben sich aber noch nicht abgelöst. Leichenflecken fehlen weitgehend, was auf die Folge des Wasserdrucks zurückzuführen ist. Der ausgetretene Schaumpilz an den Atmungsorganen scheint auf einen typischen Ertrinkungstod hinzudeuten.«

Der Gerichtsmediziner machte eine kurze Pause, hustete heftig, bevor er fortfuhr. »Dieser kann aber auch bei Betäubungsmittelvergiftungen oder schwerem Lungenödem auftreten. Dann wäre er aber meist blutig durchsetzt, was hier nicht der Fall ist. Genaueres allerdings kann ich erst nach einer Obduktion sagen.«

Die drei Männer schwiegen, atmeten die eiskalte Luft ein.

Minus zehn Grad. Mindestens.

Michael Friedholf, der Chef der Kriminaltechnik, gesellte sich zu der kleinen Gruppe. Er sah aus wie ein Bodybuilder. Tatsächlich war er noch letztes Jahr der beste Ringer der Balinger Polizeidirektion gewesen. Nun übernahm er das Wort.

»Eine Anwohnerin, die ihren Hund Gassi führte, der in dieser Nacht keine Ruhe ließ, hat die Leiche entdeckt und die Kollegen verständigt«, erklärte er mit seiner piepsigen Stimme, die so gar nicht zu seinem Rambo-Äußeren passte. »Bislang haben wir keine untypischen Spuren am Ufer gefunden. Der Boden ist so hart gefroren, dass es auch keine Fußabdrücke gibt. Allerdings haben wir in den Manteltaschen des Toten etwas entdeckt.« Friedholf stockte kurz. »Steine …«

»Was für Steine?«, fragte Brandner irritiert.

»Ich zeige Sie Ihnen.« Friedholf bedeutete seinen Kollegen, ihm ein paar Meter weiter die Böschung hinauf zu folgen. Vor einer weißen Plane blieben sie stehen. Darauf lagen vier rohe Backsteine.

»Die hier!«, sagte er dann. »Spuren gibt es auch an ihnen keine. Das Wasser hat alles abgewaschen.«

Ein paar Sekunden sagte keiner mehr etwas. »Das bestätigt meine Vermutung, dass der Mann ertrunken ist«, meinte Wagner dann. »Er hat sich die Steine in die Manteltaschen gestopft, um den Auftrieb zu verhindern.«

»Suizid«, lamentierte nun auch Teddy. »Zwar ungewöhnlich, sich komplett angezogen mit Steinen zu beschweren und dann einfach ins Wasser zu steigen, um sich zu ertränken, aber nun ja. Wir wissen ja aus Erfahrung, dass nichts unmöglich ist.«

»Komische Vorstellung trotzdem«, merkte Friedholf an. »Zudem ist die Leiche an dieser Stelle lediglich angeschwemmt worden, was darauf schließen lässt, dass der Mann an einem anderen Fleck Jesus spielen wollte.«

Teddy nahm einen tiefen Zug von seinem Glimmstängel. »Jesus spielen?«

»Na, der wollte sicher ausprobieren, ob er mit den Taschen voller Steine übers Wasser wandeln und damit den Messias toppen kann!« Der Mann von der Kriminaltechnik kicherte.

Doch keiner der übrigen Anwesenden fand diese Geschmacklosigkeit auch nur im Ansatz witzig.

Brandner hatte bislang geschwiegen. Mit zitternder Hand holte er sein Dosierspray aus der Hosentasche, steckte die Öffnung abwechselnd in beide Nasenlöcher und betätigte durch Pumpen die Sprühvorrichtung. Allerdings schien das feinverteilte Aerosol an den völlig verschleimten Nasenhöhlen wie von einer Wehrmauer abzuprallen, sorgte keineswegs für eine freie Atmung. Ärgerlich steckte er das Spray wieder ein.

Backsteine!

»Na, was meinen Sie, Brandner?«, fragte Friedholf nun.

Bevor der Hauptkommissar antworten konnte, trat ein Fotograf der Spurensicherung auf die Gruppe zu.

»Entschuldigen Sie, meine Herren. Aber ich kenne den Toten!«, sagte er überraschenderweise.

»Und?« Brandners Stimme war brüchig, als würde er aus einem tiefen Traum in die Wirklichkeit zurückzukehren. Für Sekunden machte er einen verwirrten Eindruck.

»Es ist Walter Wieland, Direktor der örtlichen Vorsa-Bank!«

Tatsächlich glaubte Brandner nun, dass das vom Wasser aufgequollene Gesicht Ähnlichkeit mit einem Mann hatte, der hin und wieder in den Lokalzeitungen erschien, um Spendenschecks zu verteilen oder medienwirksam neue Bank-Azubis zu begrüßen.

Wieland. Bankdirektor. Selbstmord. Backsteine. Monika.

Larissa.

»Sie bekommen morgen früh um acht unseren Bericht«, sagte Friedholf und wandte sich wieder den Spezialisten zu, die weiterhin den Tatort sicherten. Brandner nickte nur.

Larissa.

Urplötzlich tauchte der Name wieder in seinem Bewusstsein auf, verdrängte fast übermächtig den toten Wieland.

Er musste sie einfach wiedersehen. Mit ihr reden. Er nahm sich vor, sie so schnell wie möglich ausfindig zu machen. Er musste Gewissheit haben …

Doch was für eine Gewissheit?, fragte er sich gleich darauf im Stillen. Warum war sie überhaupt wieder in Balingen? Ob sie einen Freund, Partner, vielleicht sogar Ehemann hatte?

Brandner erschrak über sich selbst. So als hätte er sich bei etwas Unredlichem ertappt. Schließlich stand er vor einer Leiche. Einem Menschen, der bis vor kurzem noch voller Leben gewesen war. Vielleicht sogar mit Liebe …

Larissa!

Etwas stimmte nicht mit ihm. Dann schaute er wieder auf die Backsteine auf der Plane zu seinen Füßen. Diese rauen oder rohen Steine symbolisierten in der Freimaurerei die Unvollkommenheit des Verstandes. Jene Menschen also, die nur ihre eigenen Triebe lebten. Die Arbeit der Freimaurer am sogenannten rauen Stein war das Erkennen der eigenen Möglichkeiten, die störenden Unebenheiten und Ecken abzuschlagen. Dermaßen nach Vervollkommnung strebend mussten sie sich durch die königliche Kunst der Freimaurerei veredeln lassen, um zu einem kubischen Stein, einem behauenen Stein zu werden. Ein solcher, vollendet in der Form, ließ sich dann mühelos in das Fundament des Tempelbaus der Menschheit einfügen.

Aber Brandner wusste, dass Backsteine in der okkult-mystischen Weltanschauung auch noch eine andere Bedeutung hatten: Sie symbolisierten Verrat. Und Verräter mussten mit aller Härte bestraft werden. Mitunter mit dem Tod.

Allmächtiger Baumeister aller Welten! Etwas stimmt hier ganz und gar nicht!