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Burkhard Ziebolz

Morgensterns Erkenntnis - Kriminalroman aus Niedersachsen

 

Saga

Zugegeben, der Gang der Handlung und die

darin vorkommenden Personen

sind frei erfunden.

Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß es sich so

zugetragen haben könnte.

Für Sabine und alle, die sich ohne Murren

der Mühsal des Lektorats unterworfen haben.

Prolog

Der Mond stand flach und rund am Himmel. Die Nacht war ruhig, nur das dünne Rauschen der Straße in einiger Entfernung zeigte an, daß man sich mitten in einer Großstadt befand. Kein einziges Mal störte die Sirene des Krankenwagens die Stille, und nur gelegentlich drang eine Stimme aus einer der anderen Abteilungen zu ihr durch.

Es war ein heißer Sommertag gewesen, und die Menschen hatten unter den hohen Temperaturen gestöhnt. Die Wärme hielt immer noch an, die Nacht brachte nur wenig Abkühlung. Die Frau schien dies nicht zu stören.

Sie saß schreibend über ein Blatt Papier gebeugt, konzentriert und für alles blind außer für die Tätigkeit, mit der sie befaßt war. Sie war von schlanker Statur und in einen makellos weißen Kittel gekleidet, wie ihn Ärzte oder Wissenschaftler tragen. Ihr freundliches, nicht mehr ganz junges Gesicht mit den zwei wachen Augen wurde umrahmt von dunklem, sorgfältig frisiertem Haar, durch das sich einige graue Strähnen zogen.

Der Raum, in dem sie saß, war hell erleuchtet und, nach Büromaßstäben, gemütlich eingerichtet. Zwei der Wände waren teilweise von Regalen bedeckt, angefüllt mit Büchern und Akten. Ein kleiner, runder Besprechungstisch mit vier Stühlen und der Schreibtisch mit Computer, Papier und Schreibmaterial vervollständigten den funktionellen Rahmen. Das einzige Fenster stand weit offen; es ging auf den Innenhof des Gebäudes hinaus.

An der Wand dem Fenster gegenüber hing ein Kunstdruck in dünnem Goldrahmen, eine verkleinerte Reproduktion von Pablo Picassos Guernica, an einer der anderen Wände fand sich die Kopie eines Stillebens von Cézanne, in Öl gemalt. Ein paar persönliche Gegenstände drückten dem Raum den Stempel seiner Benutzerin auf.

Die Frau machte einen angespannten Eindruck und war sehr vertieft in ihre Arbeit. Nur gelegentlich hob sie den Blick von dem, was sie schrieb, um einen Moment überlegend in die Dunkelheit vor ihrem Fenster zu schauen. Nach einiger Zeit stand sie auf und ging zu einem der Regale. Sie nahm ein dickes Buch, anscheinend ein wissenschaftliches Werk, von einem der Bretter und blätterte eine Weile darin.

Als sie die gesuchte Stelle gefunden hatte, kehrte sie damit zum Schreibtisch zurück, legte das Buch aufgeschlagen vor sich hin und setzte sich wieder. Sie las noch einige Minuten, dann schrieb sie weiter an ihrem Text.

Die Frau saß etwas vornübergebeugt. Ihre linke, freie Hand lag mit der Fläche nach unten neben dem Blatt, die Finger leicht nach innen gekrümmt, wie es ihre Angewohnheit war. Die einzigen Geräusche im Zimmer waren das Kratzen des Füllhalters, den ihre Rechte über das Papier führte, und das Knarren des Stuhles, wenn sie sich auf ihm bewegte. Sie bemerkte nicht das Augenpaar, das sie aus einem Fenster im gegenüberliegenden Gebäudeflügel, keine zehn Meter von ihr entfernt, aufmerksam beobachtete.

Das Zimmer hinter diesem Fenster lag in vollkommener Dunkelheit, zusätzlich schützte ein durchsichtiger Vorhang den Beobachter vor Entdeckung. Leise tickte eine Uhr, flache Atemzüge waren zu hören, ruhig und regelmäßig. Die dunkle Gestalt saß rittlings auf einem Stuhl, die Arme auf die Lehne aufgestützt. Sie blickte zu der Frau hinüber, während sie gleichzeitig ihren Plan noch einmal in allen Einzelheiten durchging.,

Gab es keine andere Möglichkeit? Die Antwort auf diese Frage war in den vergangenen Tagen immer wieder die gleiche gewesen. Es war in mehr als einer Hinsicht bedauerlich, aber es gab keine Möglichkeit, sie auf anderem als gewaltsamem Wege zu stoppen. Jedes Risiko mußte ausgeschaltet werden. Zuviel hing ab von dem, was die Frau wußte und was sie, in guter Absicht und ohne sich über alle Folgen im klaren zu sein, an andere weiterzugeben plante.

Die Augen beobachteten die Frau noch eine Weile, kühl und distanziert. Sie wirkten seltsam unbeteiligt, spiegelten keine Gedanken wider, auch nicht die Erleichterung, den sorgfältig gehegten und immer wieder durchdachten Plan endlich in die Tat umsetzen zu können.

Der Moment war gekommen. Der Lauf der Waffe hob sich. Sie wog sehr leicht, und die harte Riffelung des Griffes war deutlich an der Handfläche zu spüren. Ein Arm wurde ausgestreckt. Der schmale, weiße Hals der Frau lag in der Mitte der groben Zielvorrichtung.

Ein tiefes Einatmen und Ausatmen, dann bewegte sich der Finger am Abzug beinahe unmerklich. Ohne ein Geräusch sauste das Geschoß durch die Nacht, mit tödlicher Sicherheit seinem Ziel entgegen.

Der Frau blieb wenig Zeit.

Im Zimmer gegenüber erhob sich ein dunkler Schatten von seinem Stuhl. Er trat näher ans Fenster, um besser sehen zu können, und wachte von dort über das Sterben seines Opfers.

Erster Tag

Die Klinik glich einem Ameisenhaufen, in dem ein Kind mit einem Ast herumgestochert hatte. Am Morgen hatte die Stationsschwester das verschlossene Büro von Dr. Morgenstern mit ihrem Zweitschlüssel geöffnet, nachdem ihre Chefin auf minutenlanges Klopfen nicht reagiert hatte. Sie hatte sie tot an ihrem Schreibtisch gefunden und war laut um Hilfe schreiend auf den Gang gelaufen. Die Frau befand sich immer noch im Schockzustand. Natürlich war sofort die Polizei verständigt worden.

Hauptkommissar Hans Fröhlich, der Beamte vom Dienst, nahm den Anruf kurz vor dem Frühstück entgegen, eine Stunde bevor sein Nachtdienst beendet gewesen wäre. Er benachrichtigte die Kollegen von der Spurensicherung und fuhr sofort los. Der frühen Stunde entsprechend war seine Laune, als er, unrasiert und unausgeschlafen, zwanzig Minuten später am Tatort erschien.

Fröhlich war ein sportlicher, breitschultriger Mann von fünfundvierzig Jahren und seit zwölf Jahren bei der Mordkommission der Kripo Braunschweig. Er liebte seinen Beruf, ohne eigentlich einen Grund dafür nennen zu können. Trotz der Gewalt und des Elends, mit dem er ihn immer wieder konfrontierte, hatte Fröhlich sich seine positive Lebenseinstellung bewahrt, und er schien immer nach einem Grund zum Lachen zu suchen. Meist fand er auch einen, und dann wurde sein markantes Gesicht plötzlich wieder jung.

Seine kräftige Figur machte immer noch einen recht drahtigen Eindruck, ungeachtet des leichten Bauchansatzes, den man nur sah, wenn er ausgezogen war. Das kurzgeschnittene, graue Haar lichtete sich im Stirnbereich, bildete tiefe Geheimratsecken, und beim Lesen mußte er seit einiger Zeit eine Brille aufsetzen. Ansonsten war er ein Ausbund an Gesundheit, mit einem ungebrochenen sportlichen Bewegungsdrang und dem ständigen Bedürfnis nach Aktivität.

Er betrat das Zimmer wachsam, beinahe zögernd, und sah sich um. Der erste Blick über den Tatort war sehr wichtig, weil er noch nicht durch Fakten aus der Spurensicherung und Zeugenaussagen beeinflußt war. Dabei ergaben sich oft ganz andere Eindrücke als die, die bei der planmäßigen und zielgerichteten Untersuchung einer Örtlichkeit greifbar wurden; Eindrücke, die für die Aufklärung eines Sachverhaltes ausschlaggebend sein konnten.

Der Raum, den er betrat, zeigte die gleiche produktive Unordnung, wie sie in vielen Büros zu finden war. Das Schicksal hatte die Tote mitten in der Arbeit ereilt; sie war, auf dem Stuhl sitzend, über ihrer Schreibarbeit zusammengebrochen und bedeckte diese fast vollständig mit dem Körper. Die Leiche war schon in Totenstarre gefallen. Der Kopf lag so, daß das Gesicht von der Tür abgewandt war und Fröhlich es bei Betreten des Zimmers nicht sehen konnte. Er ging um den Schreibtisch herum und registrierte das sich ihm bietende, grausige Bild mit wissenschaftlicher Neugier, ohne das Gefühl der Beklommenheit, das er immer am Schauplatz eines Mordes hatte, loswerden zu können.

Dr. Morgenstern war sicherlich unter großen Schmerzen gestorben. Die Haltung ihres Körpers war aufs äußerste gespannt, anscheinend hatte sie kurz vor ihrem Ende ein starker Krampf geschüttelt. Die weit aufgerissenen Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, die bläulich verfärbte Zunge hing seitlich aus dem Mund. Das Gesicht war grimassenhaft verzogen und hatte eine schwarzblaue Farbe angenommen.

Vergiftet, mit einer Substanz, die heftigen Schmerz verursacht, schloß der Hauptkommissar aus dem Zustand der Leiche. Wahrscheinlich war die Totenstarre sofort und vollständig eingetreten; das passierte oft, wenn dem Tod starke Muskelanspannung voranging. Die Starre hatte den Körper auf dem Stuhl fixiert und verhindert, daß er auf den Boden fiel. Keine schönes Ende, aber welches Ende war schon schön.

Die Kollegen von der Spurensicherung trafen ein und breiteten sofort in professioneller Eile ihre Utensilien aus. Fröhlich begrüßte sie kurz, dann trat er beiseite, um sie in dem plötzlich kleingewordenen Zimmer nicht in ihrer Arbeit zu behindern.

Fröhlich saß an seinem alten, schwarzen Holzschreibtisch in der Dienststelle. In seinem Stuhl zurückgelehnt, eine Zigarette im Mundwinkel, vor sich eine Tasse starken, schwarzen Kaffee und einen Berg Akten, ließ er die Ereignisse des Vormittags noch einmal an sich vorüberziehen.

Die Tote hatte seit mehr als zehn Jahren die Abteilung Psychiatrie III des Städtischen Krankenhauses geleitet. In dieser Abteilung wurden ausschließlich Kinder und Jugendliche behandelt, die wegen brutaler Gewalttaten festgenommen worden waren und bei denen die psychiatrische Untersuchung geistige oder seelische Defekte festgestellt hatte. Die Station war vom Rest des Krankenhauses völlig isoliert, wurde mit modernster Technik überwacht und hatte einen Sonderstatus unter allen Abteilungen des Hauses.

Dr. Morgenstern hatte sich ihrer schweren Aufgabe, die Kinder wieder zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, mit einer Hingabe gewidmet, die kaum Platz für andere Beschäftigungen gelassen hatte. In ihrer knappen Freizeit hatte sie in einem Verein mitgearbeitet, der die Resozialisierung von Strafgefangenen unterstützte. Dadurch und durch ihre Arbeit hatte sie vielen ihrer früheren Patienten zu einem guten Start ins normale Leben verhelfen können.

Darüber hinaus war zunächst wenig über Dr. Morgenstern zu erfahren. Fröhlich wollte die Vernehmungen der wichtigsten Zeugen am nächsten Tag durchführen. Die spärlichen Informationen zum privaten Umfeld der Toten hatte er durch den Pförtner des Krankenhauses erhalten, der ab und zu mit ihr ein privates Wort gewechselt hatte und mit dem er mehr zufällig ins Gespräch gekommen war.

»Frau Morgenstern hatte kein Privatleben«, hatte er gesagt und sich die Mütze in den speckigen Nacken geschoben, offensichtlich wenig berührt vom Ableben der Ärztin. »Soweit ich weiß, war sie nicht verheiratet und hatte auch keinen Freund. Interessierte sich nur für ihre Patienten und ihre Arbeit. Angehörige gibt's auch nicht, eigentlich konnte sie einem leid tun. Nur von einer Nichte in Köln hat sie mal gesprochen. Ihre Schwester ist mit ihrem Mann bei einem Unfall vor ein paar Jahren ums Leben gekommen. Ihr Vater ist schon im Krieg gestorben, ihre Mutter ein paar Jahre danach. Bis auf die Leute aus dem Krankenhaus und die Mitglieder von ihrem Resozialisierungsverein hatte sie wohl niemanden.«

Dabei hatte es Fröhlich erst einmal bewenden lassen. Bevor weitere Befragungen stattfanden, wollte er die Ergebnisse der Spurensicherung und der Obduktion abwarten.

Der Obduktionsbericht lag schon zehn Stunden nach Auffinden der Leiche vor. Dr. Sperlings Team in der Pathologie hatte blitzschnell gearbeitet und die Dienstzeitregelungen ignoriert. Wie Fröhlich vermutet hatte, war die Todesursache Vergiftung.

Das Gift war mit einer Nadel in die Blutbahn des Opfers gebracht worden. Die Wunde lag rechts neben dem Kehlkopf und war nur als winziger Punkt erkennbar, der Einstich wies eine Tiefe von einem Millimeter auf. Als Tatzeit wurde etwa dreiundzwanzig Uhr des Vortages angegeben.

Die ganze Sache war ziemlich rätselhaft und hätte Stoff für einen Kriminalfilm abgeben können. Dr. Morgensterns Büro war von innen verschlossen gewesen, der Schlüssel hatte vor der Toten auf dem Tisch gelegen. Wahrscheinlich hatte sie die Bürotür abgeschlossen, um bei ihrer Arbeit ungestört zu sein. Der Zweitschlüssel wurde in einem Schrank verwahrt, zu dem nur die Stationsschwester Zugang hatte. Diese hatte ihren Dienst um acht Uhr angetreten. Um halb neun war die Tote gefunden worden. Eigentlich wäre das ein klassisches Szenario für Selbstmord gewesen, aber man hatte weder eine Nadel noch eine Spritze, mit der sie sich das Gift hätte injiziert haben können, am Tatort gefunden.

Die Auswertung der Gewebeproben hatte ergeben, daß ein Nervengift aus Pflanzenextrakten verwendet worden war, das von einigen südamerikanischen Indiostämmen zum Präparieren ihrer Jagdpfeile benutzt wurde. Es war ein Nervengift, das - in die Blutbahn gebracht - die Beute lähmte und den Tod durch Atemlähmung hervorrief. Je nach Größe und Gewicht des Beutetieres konnte der Todeskampf wenige Sekunden bis zehn Minuten dauern. Zehn sehr lange Minuten, wie es hieß. Das Gift war in weiten Teilen Südamerikas verbreitet und wurde - nicht nur in ländlichen Gebieten - in sehr starker Verdünnung auch als Abtreibungsmittel eingesetzt. Nur durch einen Zufall war es so schnell identifiziert worden. Einer der Laboranten beschäftigte sich hobbymäßig mit Giften (manche Leute kriegen nie genug, wunderte sich Fröhlich) und hatte vor einiger Zeit ein paar Gramm der gleichen Substanz von einem Bekannten aus Brasilien für Studienzwecke erhalten.

Wir haben also eine Tote ohne nennenswertes Privatleben, faßte der Hauptkommissar zusammmen. Das war gut, denn es schränkte den Kreis der Verdächtigen ein. Andererseits fand man sie mit der Injektion eines südamerikanischen Giftes im Hals in einem von innen verschlossenen Raum. Es gab keine Spuren am Tatort und keine Tatzeugen. Für den Ahnungslosen klang das sehr interessant. Für den Profi klang es nur nach Streß. Fröhlich seufzte angesichts der mühseligen Kleinarbeit, die er auf sich zukommen sah.

Zweiter Tag

Die vorherrschende Farbe in Dr. Frenzels Büro war Weiß. Der Assistent der Ermordeten war bei der Auswahl seines Mobiliars anscheinend nicht nach funktionellen Gesichtspunkten vorgegangen, sondern hatte sich eher von ästhetischen Kriterien leiten lassen. Mehr als ein Stück war Designerware. Fröhlich wußte dies, weil eine Freundin seiner Frau ebenfalls eine Schwäche für die schönen Dinge des Lebens hatte. In ihrer Wohnung hatte er ausgiebig Gelegenheit gehabt, zeitgenössisches Möbeldesign zu studieren. Da die Einrichtung des Büros wahrscheinlich nicht vom Krankenhaus bezahlt worden war (wenn doch, mußte es in dieser Hinsicht gewaltige Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppierungen des Öffentlichen Dienstes geben), fragte er sich, wie Frenzel dies mit dem Einkommen eines Assistenzarztes machte.

Er hatte sich Frenzel als ersten vorgenommen, weil er am engsten mit der Ermordeten zusammengearbeitet hatte und sie deshalb wahrscheinlich am besten kannte.

Er schätzte ihn auf Ende Dreißig. Der Mann war von mittelgroßer Statur, braungebrannt und hatte dunkle, glatte Haare. Das offene, gut geschnittene Gesicht zeigte ein fast klassisches Profil. Das Outfit unter dem weißen Kittel schien dem Raum angepaßt. Wahrscheinlich trägt er Unterhosen passend zur Farbe der Klobrille, vermutete der Hauptkommissar. Wenn schon Ästhet, dann konsequent. Eigentlich mochte er solche Typen nicht besonders, war er selbst doch das genaue Gegenteil. Der letzte Modetrend, den er mitgemacht hatte, lag mindestens zwanzig Jahre zurück.

»Es ist ein großer Verlust für uns alle«, sagte Frenzel. »Sie war wirklich die Seele des Geschäfts.«

Sollte das schon der Anfang der Trauerrede sein? Der junge Arzt sah genauso aus wie jemand, der den soeben Verblichenen beerben wollte: gerötete Bäckchen, erwartungsfroher Blick, bemühtes Auf-den-anderen-Zugehen, mühsam gezügelte Vorfreude auf das Kommende.

»Hübsches Büro«, begann Fröhlich. »Sind das die Standardmöbel der Klinik?«

»Ich habe gern schöne Dinge um mich«, verriet Frenzel in unbefangenem Ton. Sein Gesichtsausdruck verriet aber neben Besitzerstolz auch Unbehagen.

»Dr. Frenzel, waren Sie im Krankenhaus, als die Tote gefunden wurde?«

»Nein. Ich hatte Spätdienst und kam erst um vierzehn Uhr. Man hatte mich aber schon vorher telefonisch über den Vorfall informiert.«

Vorfall ist gut, dachte der Hauptkomissar. Anscheinend lebte im Umfeld des Doktors dauernd jemand auf gewaltsame Weise ab.

»Warum sind Sie denn nicht sofort in die Klinik gekommen?«

»Sollte ich das? Ich nahm an, daß ich bei den Untersuchungen erstmal nur im Weg wäre. Außerdem hatte ich ja auch keine wichtigen Informationen, die ich loswerden mußte.«

Fröhlich bohrte nicht weiter, der Mann hatte natürlich recht.

»Können Sie sich irgendeinen Grund für den Mord an Ihrer Chefin vorstellen?«

»Es war also wirklich Mord? Einen Grund dafür... nein, absolut nicht. Sie war sehr umgänglich, anerkannt in ihrem Beruf und hatte nur Freunde. Ich selber habe mich sehr gut mit ihr verstanden.«

»Hatte sie irgendwelchen Ärger mit Patienten?«

»Meines Wissens nach nichts, was über das normale Maß des täglichen Ärgers hinausging«, antwortete Frenzel, dem Blick des Polizisten standhaltend. »Natürlich bin ich nicht bei allen ihren Gesprächen anwesend gewesen und kann deshalb auch nicht alles wissen. Sie hätte mir aber sicher von besonderen Problemen berichtet.«

»Wie lange sind Sie schon hier am Krankenhaus?« wollte Fröhlich wissen.

»Etwa sieben Jahre.«

»Immer in der gleichen Position?« bohrte der Hauptkommissar weiter.

Frenzel zögerte. »Ja, immer in der gleichen Position. Wissen Sie, Planstellen sind bei uns so knapp wie überall.« Eine gewisse Verlegenheit schwang in seinen Worten mit, er hatte offenbar das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen.

»Warum sind Sie hiergeblieben und nicht in eine andere Abteilung oder ein anderes Krankenhaus gegangen? Muß doch frustrierend für Sie gewesen sein, diese Zeit ohne berufliches Vorankommen.«

»Ich bin nicht unbedingt karrieresüchtig. Mich reizt die Arbeit mit den Jugendlichen hier«, antwortete der Arzt mit erzwungener Schärfe in der Stimme. Dabei vermied er es aber, dem Kommissar in die Augen zu sehen. Fröhlich hatte den Eindruck, daß ihm sein Status doch mehr zu schaffen machte, als er zugeben wollte. »Das Betriebsklima stimmt, die Kollegen sind sehr engagiert und nett. Und Frau Dr. Morgenstern war jemand, von dem man viel lernen konnte.«

»Wer, denken Sie, wird Dr. Morgensterns Nachfolger werden?«

»Keine Ahnung. Kommissarisch werde ich erstmal ihre Funktion übernehmen. Wer aber auf Dauer ihren Job macht, weiß ich nicht.«

Fröhlich sah Frenzel einen Augenblick an. Er räusperte sich. »Eine letzte Frage noch, dann sind wir für den Moment fertig. Wo waren Sie vorgestern abend gegen dreiundzwanzig Uhr?«

Wieder vermied Frenzel Blickkontakt.

»Ich war zu Hause. Leider allein bis auf meine Katze, aber die kann mir wohl kein Alibi geben.« Er lachte etwas gezwungen.

Fröhlich verzog pflichtschuldig das Gesicht zu einem leichten Lächeln und bedankte sich für die Auskünfte. Er verließ Frenzel, nicht ohne ihn darauf hinzuweisen, daß er sich in den nächsten Tagen noch einmal für ein ausführlicheres Gespräch bei ihm melden würde. Im Stillen hoffte er, bis dahin etwas mehr Überblick über die Zusammenhänge und Fakten zu haben.

Frenzel verbarg möglicherweise etwas, man konnte aber nicht sicher sein, ob es wirklich etwas mit dem Mord zu tun hatte. Manche Leute zeigten schon Symptome eines schlechten Gewissens, wenn sie die Polizei nur im Fernsehen sahen. Fröhlich hielt das für eine Art Urinstinkt des Menschen, hervorgerufen wahrscheinlich durch eine unterbewußte Furcht vor Beschneidung der persönlichen Freiheit. Dieser Instinkt machte ihm die Arbeit manchmal leichter, in der Mehrzahl der Fälle aber störte er eher den Dialog.

Dritter Tag

Es war exakt acht Uhr. Etwa vierzig Damen und Herren der Dienststelle saßen, den Kaffee oder Tee vor sich, im Besprechungsraum des Polizeipräsidiums Münzstraße beim morgendlichen Briefing. Der Reihe nach berichteten die jeweils leitenden Beamten von ihren Ermittlungen, um den allgemeinen Kenntnisstand der Kollegen abzugleichen.

Fröhlich war der dritte Beamte, der Bericht erstattete. Nach dem Interview mit Dr. Frenzel hatte es doch noch einige interessante Informationen gegeben. Überprüfungen der Bankverbindungen der Toten hatten ergeben, daß sie über ein Vermögen von knapp einer dreiviertel Million Mark verfügt hatte. Das Geld war von ihr selbst in den letzten vier Jahren in unregelmäßigen Raten zu etwa 50.000 DM bar auf ihr Konto eingezahlt worden. Vor etwa drei Jahren und vor einem Jahr hatte es größere Einzahlungen über 200.000 DM gegeben. »Entweder zahlt der Öffentliche Dienst doch besser, als man uns weismachen will, oder sie hatte eine lukrative Nebenbeschäftigung«, vermutete Fröhlich.

»Das stinkt etwas nach Erpressung«, bemerkte einer der Kollegen. Daran hatte Fröhlich natürlich auch schon gedacht, warum sollte die Ärzteschaft frei von krimineller Habgier sein. Allerdings paßte das nicht ganz zu dem, was er bisher über die Tote gehört hatte.

Da die Morgenstern nach den bisherigen Ermittlungen so gut wie kein Privatleben gehabthatte - die Überprüfung des Resozialisierungskreises hatte ergeben, daß sie nur zahlendes Mitglied war, sich aber selten bei den wöchentlichen Treffen sehen gelassen hatte -, sah es derzeit so aus, als könnte der Täter nur aus dem Krankenhausumfeld kommen.

»Hatte sie Schwierigkeiten mit dem Personal oder den Kollegen?«

»Fehlanzeige. Sie war umgänglich und gutmütig wie ein Koala. Es gibt niemanden, der sich negativ über sie geäußert hat.«

»Was ist mit beruflicher Konkurrenz?« wollte einer wissen.

»Das könnte eher passen«, räumte Fröhlich ein und zündete sich leicht zerstreut eine Zigarette an. Das Protestgeschrei der anwesenden Nichtraucher bewirkte allerdings, daß er sie gleich wieder ausdrückte.

»Anscheinend war sie der große Bremsklotz für die Karriere ihres Assistenten und Kollegen Frenzel. Aber deshalb jemanden umlegen? Glaube ich nicht.«

»Und ihre Patienten? Sie behandelte doch diese ganzen kleinen Pannetypen. Könnte da nicht einer dabei sein, der seine Macke an ihr ausgelassen hat?«

»Wäre immerhin möglich.« Fröhlich hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt und betrachtete angestrengt das Plakat an der hellgelb getönten Wand. ›Sei schlauer als der Klauer‹, stand da in großen Buchstaben zu lesen.

»Aber wer von denen hatte Zugang zu diesem Gift? Und wer konnte es ihr verabreichen? Die sitzen alle in einer geschlossenen Abteilung, keiner kann raus oder rein ohne Kenntnis des Pflegepersonals.«

»Hoffentlich«, grummelte es aus den hinteren Reihen. »Das letzte, was uns fehlt, ist eine Herde blutrünstiger, abgedrehter Halbwüchsiger.«

Fröhlich sah seinen Kollegen ohne Begeisterung an. »Von dir würde ich gern mal was Konstruktives hören, Meyer.«

Meyer zuckte die Achseln. »Wenn du darauf bestehst. Wie wäre es denn, wenn ihr das Gift schon viel früher verabreicht worden wäre und es erst zu wirken begann, als sie sich schon eingeschlossen hatte?«

»Respekt.« Fröhlich meinte es ernst. »Geht aber nicht, dazu wirkt das Gift in der Dosierung, die wir bei ihr gefunden haben, viel zu schnell.«

»Seid ihr schon in der Frage weitergekommen, wie ihr die Injektion verabreicht wurde? Anscheinend war doch keine Spritze am Tatort, und das Büro war von innen abgeschlossen.«

»Negativ. Wir haben noch nicht mal eine Theorie.«

»Was ist mit diesem Zwerg mit den vergifteten Fingernägeln, der immer durch den Luftschacht der Klimaanlage klettert? Ein Kratzer, und du hast es hinter dir«, gab Meyer zu bedenken.

Diesmal mußte auch Fröhlich lachen. »Wir haben alle Zwerge mit vergifteten Fingernägeln überprüft. Sie waren zur Tatzeit im Garten.«

Damit war dann das Ideenpotential der Gruppe erschöpft. Natürlich waren die Kollegen alle sehr bemüht, aber der eigene Fall beschäftigte sie gedanklich doch mehr, deshalb wurden bei den Morgenbesprechungen meist nur spontane Einfälle ausgetauscht. Manchmal tauchten Parallelen zwischen Fällen auf, oder jemand konnte sich an Fakten aus alten Vorgängen erinnern, was schon oft erstaunliche Erfolge gezeitigt hatte. Einmal hatte eine der Meyerschen Blödelbemerkungen die Tür zu einer Theorie aufgestoßen, auf die wahrscheinlich durch ernsthaftes Nachdenken keiner gekommen wäre und die sich schließlich als richtig erwiesen hatte.

Leider passiert das viel zu selten, sinnierte Fröhlich bedauernd, als er seinen Bericht beendet hatte und wieder in seinem Büro saß. Er zog konzentriert an der zweiten Frühstückszigarette. Angeregt durch einen Fernsehbericht mit sehr gelungener Computeranimation vom vorherigen Abend - Stichwort: Was richtet das Rauchen in der Lunge an? -, malte er sich dabei aus, wie sich seine Lungenbläschen langsam mit klebriger, brauner Teermasse füllten. Er mußte husten und schüttelte sich.

Erpressung. Das viele Geld auf Dr. Morgensterns Konto. Die Erpressungstheorie war vielleicht am erfolgversprechendsten. Aber wer hatte genug Dreck am Stecken, um sich erpressen zu lassen? Und wer hatte genug Geld, um so hohe Summen zu bezahlen? Frenzels teure Büroeinrichtung fiel ihm ein. Vielleicht sollte er den Doktor mal zu Hause besuchen und sehen, ob er dort auch so luxuriös wohnte.

 

Der erste Weg an diesem Tag führte ihn aber noch einmal ins Krankenhaus. Der größte Teil des Personals war in der Zwischenzeit schon vernommen worden. Die Stationsschwester, die die Leiche gefunden hatte, hatte einen Schock erlitten. Man hatte sie nach Hause gebracht, so daß eine Befragung am selben Tag nicht möglich gewesen war. Als Fröhlich nach dem Morgenbriefing im Krankenhaus anrief, erfuhr er, daß sie nun jedoch wieder im Dienst war.

Schwester Edith Sorgsam-Schröten (kaum zu glauben, daß jemand sich so was freiwillig antut, grauste sich Fröhlich im Geiste) war das Urbild der Krankenschwester. Sie war Anfang Vierzig, von kleiner, aber sehniger Statur. Ihr Kittel war so fleckenlos weiß, daß er wahrscheinlich in der Dunkelheit leuchtete, und ließ sekundäre Geschlechtsmerkmale nicht mal erahnen. Die Haare waren sorgfältig frisiert und sahen aus, als könne kein Windstoß sie aus ihrer derzeitigen Lage verrücken. Von ihrem desolaten Zustand nach dem Fund der Leiche war nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, sie machte einen sehr energischen und offenen Eindruck. Obwohl sie ihm gegenüber freundlich war, konnte Fröhlich erahnen, daß ihre burschikose Art ihr nicht nur Freunde einbrachte.

Wie immer begann Fröhlich die Vernehmung mit einigen belanglosen Sätzen, die den Gesprächspartner auflockern sollten. Dies brachte ihm ein paar Informationen über die private Schwester Edith ein. Sie plauderte sehr bereitwillig und erzählte ihm, daß sie in ihrer Freizeit extremen Sport trieb (Karate und Fallschirmspringen), daß sie einen Porsche fuhr, daß sie einen Hund hatte und daß sie ein großes Haus in der teuersten Gegend der Stadt bewohnte. Außerdem liebte sie ihre Arbeit und war nicht auf ihr Gehalt angewiesen. Offenbar verdiente ihr Mann, der Inhaber eines Architekturbüros war, genug.

Dr. Morgenstern hatte sie - wie alle anderen auch - nur dienstlich gekannt und beschrieb sie als überaus korrekte Person. Fröhlich war überzeugt davon, daß dies in Schwester Ediths Sprachgebrauch eine Menge bedeutete.

»Feinde? Kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat doch nur für ihre Arbeit gelebt. Im Krankenhaus kannte und schätzte sie jeder. Irgendwie... irgendwie hatten alle, auch die, die sie erst kurz kannten, den Eindruck, sie wüßten schon alles über sie. Verstehen Sie, was ich meine? Manchmal trifft man jemanden und glaubt, ihn schon ewig zu kennen. Sie hatte kein Privatleben, das war bekannt, also nahmen wir das, was wir jeden Tag bei der Arbeit sahen, als den wirklichen Menschen Morgenstern an. Vielleicht war sie aber ganz anders, als sie sich hier gab.«

»Wer könnte es also getan haben?«

»Ich glaube, der Mörder muß ein psychisch Gestörter gewesen sein.«

»Sie meinen, einer Ihrer Patienten?« hakte Fröhlich nach.

Die Schwester schluckte hörbar und wurde blaß. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das halte ich für ausgeschlossen«, preßte sie hervor. »Unsere Patienten reagieren alle sehr kontrolliert, keiner von ihnen wäre im derzeitigen Stadium seiner Behandlung zu einem Mord fähig.«

Fröhlich blickte sie nachdenklich an. Brodelte da etwas unter dem Topfdeckel? Er beschloß, die Frau auf kleiner Flamme schmoren zu lassen.

Die beiden schwiegen. Es war plötzlich sehr ruhig im Zimmer, nur das Ticken der großen, runden Wanduhr war zu hören. Fröhlichs Blick wanderte im Raum umher. Zwei der weißen Wände waren mit eierschalenfarbenen Metallschränken zugestellt, an der dritten stand ein weißer Schreibtisch, ebenfalls aus Metall. Den unteren Teil der vierten Wand, die Fröhlichs Platz gegenüber lag, bedeckte ein Regal mit Fachbüchern und Aktenordnern. Darüber hingen Fotos.

Er fixierte sie stirnrunzelnd. Es waren Schnappschüsse, die das Personal gemeinsam mit den Patienten zeigten. Teilweise hingen die Bilder ordentlich in Rahmen, teilweise waren sie nur mit Klebeband an die Wand geheftet.

Auf einer Fotografie war Schwester Edith mit einer Gruppe junger Leute in abgewetzten Jeans und ebensolchen T-Shirts abgebildet. Die meisten trugen lange Haare, es gab viele Tätowierungen, vielfach beringte Ohrläppchen und durchbohrte Nasenflügel. Sie stand mitten in der Gruppe und hatte den Arm um ein dünnes, blasses Mädchen von etwa fünfzehn Jahren gelegt. Das Bild war anscheinend im Innenhof des Gebäudes, der nach außen hin hermetisch abgeschlossen und nur über eine Treppe von der Station aus zu erreichen war, aufgenommen worden.

Auf einem anderen Bild stand Frenzel im Trainingsanzug inmitten der gleichen Gruppe. Die Jugendlichen trugen ebenfalls Sportzeug, einer hielt ein Netz mit Bällen in der Hand. Ein Junge, der dicht hinter Frenzel stand, fiel Fröhlich auf. Er war dicklich, und sein blondes, gut geschnittenes Haar machte im Gegensatz zu dem seiner Freunde einen sehr gepflegten Eindruck. Er war ungefähr vierzehn und hatte ein Mopsgesicht. Der Junge fixierte den Hinterkopf des Arztes mit einem Gesichtausdruck, in dem grenzenlose Verehrung zu liegen schien.

Fröhlichs Blick wanderte wieder zurück zu Schwester Edith. Sie hatte sich nicht, wie erwartet, entspannt, sondern machte einen noch verkrampfteren Eindruck als vorher. Ihre Hände drehten ein Taschentuch zur Wurst, die Knöchel waren schon weiß angelaufen. Ein leichter Schweißfilm wurde auf ihrer Stirn sichtbar. Seltsam, daß viele Menschen kein Schweigen während eines Gesprächs ertragen können, sinnierte der Kommissar. Wahrscheinlich eine Zivilisationserscheinung. Wesen von Kultur unterhalten sich halt, wenn sie zusammenkommen, Schweigen ist unhöflich.

Fröhlich gratulierte sich im Stillen selbst. Er hatte den richtigen Riecher gehabt, hier lag irgendwo ein Hund begraben. Edith hatte offenbar sein Gesicht beobachtet, als er sich die Bilder ansah. Ihr eigenes wies nun einen sehr besorgten Ausdruck auf, eine tiefe, senkrechte Falte grub sich in die Stirn zwischen ihren Augen.

»So, das halten Sie für ausgeschlossen«, echote Fröhlich mit zweiminütiger Verspätung. »Warum denn?« Edith sollte keine Gelegenheit erhalten, sich wieder zu entspannen.

»Nun, keiner unserer Patienten ist unkontrollierbar oder absolut unberechenbar. Wenn Sie sie kennenlernen würden, würden sie Ihnen wie normale andere Kinder in dem Alter vorkommen. Dr. Morgenstern hatte zu allen ein gutes Verhältnis, die Patienten mochten sie. Es gab nie Aggressionen gegen sie.« Die Schwester sprach jetzt sehr schnell.

Fröhlich sah sie nachdenklich an. Er erhob sich ruckartig und ging auf die Wand gegenüber zu, wobei er Schwester Ediths Hände beobachtete. Das Taschentuch war mittlerweile derart verdichtet, daß es bei weiterer Bearbeitung sicher die Härte von Diamant annehmen würde. Sie beugte sich etwas vor, schien sich ebenfalls von ihrem Platz erheben zu wollen.

Fröhlich hatte die Wand erreicht und stand nun mit dem Rücken zu seiner Gesprächspartnerin. Er tippte mit dem Finger auf das Bild mit dem blonden Jungen und drehte sich herum.

»Wer ist das?«

Schwester Edith atmete hörbar. »Das ist Tobias Kronburger. Er ist seit drei Jahren bei uns, weil er seine Schwester umgebracht hat.« Sie schien sich beim Sprechen etwas zu fangen.

Einige Zeit war es still. Der Hauptkommissar richtete wieder den Blick auf das Bild des blonden, harmlos aussehenden Jungen. »Warum hat er seine Schwester ermordet?«

»Wir wissen es nicht. Er stammt aus guter Familie, ist gut in der Schule, immer nett, hat viele Freunde. Nur dieses eine Mal vor etwa drei Jahren ist er ausgerastet, mit der Folge, daß seine Schwester mit durchgeschnittener Kehle in ihrem Bett lag.«

Fröhlich erinnerte sich an den Fall. Ein alter Freund von der Polizeischule hatte ihn bearbeitet. Innerhalb weniger Stunden war Tobias, damals gerade elf Jahre alt, als Täter identifiziert worden. Die Tatwaffe, ein Fischmesser aus dem Besitz seines Vaters, wurde bei ihm gefunden. Sie wies einen blutverschmierten Fingerabdruck auf, der von Tobias stammte. Außerdem hatte ihn ein Zeuge kurz vor der Tat in das Mordzimmer gehen sehen. Es war eine klare Sache.

Tobias legte zwar ein Geständnis ab, gab aber später auch an, sich an den Abend der Tat nicht mehr richtig erinnern zu können. Man stellte eine partielle Amnesie fest, Hinweise auf ein Mordmotiv wurden nie gefunden.

Die Eltern waren erschüttert gewesen. Das Gericht hatte den Jungen wegen der latenten Gefahr, die von ihm ausging, auf unbestimmte Zeit in eine Heilanstalt eingewiesen.

»Dr. Frenzel ist übrigens ein alter Freund von Tobias' Vater und hat sich des Jungen intensiv angenommen«, berichtete Schwester Edith weiter. »Er hat natürlich ein starkes persönliches Interesse an der Sache, außerdem schreibt er an einer Arbeit über Tobias' Fall. Tobias mag ihn sehr und ist, wann immer er darf, bei ihm. Seine Eltern haben ihn hier noch nie besucht. Sie sind über den Verlust der Tochter noch nicht hinweggekommen.«

»Kann man verstehen«, murmelte Fröhlich bedauernd.

Er war nicht so recht zufrieden mit dem Gesprächsverlauf, hatte aber das Gefühl, im Moment nicht weiterzukommen. Deshalb verabschiedete er sich und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte.

»Wir werden uns noch einmal unterhalten müssen, Frau Sorgsam-Schröten.« Fröhlich brachte den Zungenbrecher über die Lippen, ohne anzuecken. »Sie bleiben doch in nächster Zeit in der Stadt, oder?«

Schwester Ediths Teint, der sich etwas erholt hatte, nahm wieder die Farbe ihres Kittels an. Sie versicherte, daß sie in den nächsten Tagen während der Dienstzeiten im Krankenhaus und abends zu Hause anzutreffen sei.

 

Fröhlich verließ das Zimmer. Vielleicht hatte er eben eine Spur gefunden. Schwester Ediths Verhalten war jedenfalls mehr als merkwürdig. Er nahm sich vor, die Akten des Kronburger-Falles noch einmal durchzugehen. Außerdem mußte er mit Tobias sprechen. Sicher würde er nicht mehr aus dem Jungen herauskriegen als die psychologisch geschulten Angestellten des Krankenhauses; aber vielleicht ergab sich jetzt, einige Zeit nach der Tat, aus dem Blickwinkel des Polizisten ein neuer Aspekt.

Er ging über den Flur der Station und nahm die Treppe nach unten. Der Grundriß der Klinik hatte H-Form, die Halle des Krankenhauses war sozusagen der waagerechte Strich des Hs. Sie war im Moment - um die Mittagszeit - fast leer. Zwei Patienten in Bademänteln mit eingegipsten Unterschenkeln - einer trug den Gips rechts, einer links - saßen auf Besucherstühlen und unterhielten sich. In der Cafeteria trank eine Frau einsam einen Kaffee. Der Pförtner des Gebäudes, der gleichzeitig die Telefonzentrale betreute, saß in seiner Loge. Es war der gleiche Mann, der Fröhlich am ersten Tag der Ermittlungen etwas über Dr. Morgenstern erzählt hatte.

Fröhlich winkte ihm jovial zu und nahm den Fahrstuhl in den ersten Stock des südlichen Westflügels, dort lag das Geschäftszimmer der Krankenhausleitung. Der zweite Stock beherbergte die geschlossene Abteilung Psychiatrie III mit den Patienten von Morgenstern und Frenzel.

An der Tür des Geschäftszimmers standen, mit weißen Plastikbuchstaben auf grauem Plastikgrund, die Namen der Schreibkräfte: Martha Grumbach und Marlene Dittmann. Fröhlich betrat das Sekretariat.

Es war ähnlich funktionell eingerichtet wie alle anderen Räume im Gebäude. An der Wand hingen eine Metalltafel, auf der mit farbigen Magnetplättchen die Dienstzeiten der Ärzte markiert waren, und ein großer Kalender mit dem Foto eines Lavendelfeldes.

Zwei Frauen, die eine jung und hübsch, saßen an sich gegenüberstehenden Schreibtischen und blickten auf, als er eintrat. Er stellte sich vor.

Die ältere erhob sich (dem Namen nach wahrscheinlich Martha, kombinierte der Polizist) und ging ihm einige Schritte entgegen. Fröhlich verlangte den Direktor zu sprechen.

»Wir haben einen Geschäftsführer.« Martha schien eine der schnippischen Vertreterinnen der Sekretärinnenzunft zu sein. Fröhlich war diesem Typ oft begegnet; aus dem Sonderstatus ihres Chefs leiteten sie auch einen Sonderstatus für sich selbst ab und gaben das nach außen weiter. Er schmunzelte.

»Professor Dr. Walkemeier hat jetzt wenig Zeit.«

»Das trifft sich gut«, antwortete er. »Ich brauche auch nur wenig. Würden Sie mich bitte anmelden?«

Marthas Gesicht war wie aus Stein gehauen. »Worum geht es denn?«

»Das sage ich ihm dann schon.« Fröhlich beobachtete belustigt, wie sich der Stein rötlich verfärbte. »Also schön: Es handelt sich um kriminalistische Erhebungen. Sie wissen ja, jeder ist verdächtig.« Er zwinkerte ihr zu.

Wieder mal in nur dreißig Sekunden einen lebenslangen Feind gemacht, dachte er, bereute aber nichts. Kleine Freuden wie diese machten das Leben lebenswert.

Martha machte auf dem Absatz kehrt und ging zu einer Tür im hinteren Teil des Zimmers. Sie klopfte gerade in der richtigen Lautstärke - respektvoll, aber nicht zu überhören. Sie trat ein, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und man hörte leises Stimmengemurmel. Dann kam sie wieder heraus.

»Professor Walkemeier läßt bitten.«

»Das soll er nicht zweimal tun.« Mit breitem Grinsen marschierte er an ihr vorbei.

Walkemeiers Zimmer unterschied sich von den anderen, die Fröhlich bisher im Haus gesehen hatte. Es war sehr groß, etwa fünfzig Quadratmeter. Zwei Fenster ließen viel Licht herein. Die Möbel waren vorwiegend Biedermeier, sehr gut aufgearbeitet. Dunkles Braun prägte das Klima des Raumes. Zwei kleine, dunkle Gemälde mit Jagdmotiven schmückten die Wände. Wenn sie keine Reproduktionen waren, und davon ging der Hauptkommissar aus, waren sie sicherlich sehr teuer gewesen. Der Raum roch nicht unangenehm nach Pfeifentabak.

Walkemeier erhob sich lächelnd hinter seinem Schreibtisch, einem Ungetüm mit schwerer, grüner Lederschreibunterlage und einer futuristischen Leuchte aus grünem Glas, und bat ihn näherzutreten. Er war Mitte Fünfzig und korpulent. Ein teilweise ergrauter Vollbart verlieh seinem Gesicht einen patriarchenhaften Charakter, der von seiner energischen Nase noch unterstrichen wurde. Anstelle eines Kittels trug er einen grauen, gut geschnittenen Anzug.

Walkemeier bat den Hauptkommissar in einen der mahagonirot glänzenden Clubsessel aus Leder, der zu einer kleinen Sitzgruppe gehörte, er selbst setzte sich in den Sessel gegenüber. Fröhlich bemerkte, daß der Mann sich trotz seiner Leibesfülle sehr gewandt bewegte.

»Ich hatte Sie früher erwartet, Herr Hauptkommissar. Wie ich hörte, haben Sie schon einige unserer Angestellten vernommen.«

»Nur diejenigen, die sich im Umfeld des Mordes bewegt haben. Aber nun bin ich an einem Punkt, an dem ich einige grundsätzliche Informationen über den Krankenhausbetrieb brauchen könnte. Vieles wird verständlicher, wenn man den normalen Tagesablauf kennt.«

Zum Teil stimmte das. Natürlich interessierten Fröhlich diese Dinge, allerdings hoffte er auch auf einige persönlichere Auskünfte.

Er gab zunächst einen kurzen, sehr oberflächlichen Bericht zu den bisherigen Ermittlungen und fragte dann nach den Dienstzeiten der Ärzte und des Pflegepersonals, nach der Beschäftigungsdauer einiger Mitarbeiter, nach der Organisationsstruktur, nach Arbeitsabläufen. Walkemeier, der Kaffee geordert hatte und sich eine Pfeife stopfte, erwies sich als sehr kooperativ und geduldig und gab bereitwillig Auskunft.

Allmählich wechselte Fröhlich zu Fragen über, die sich mit dem persönlichen Bereich einzelner Angestellter beschäftigten. Walkemeier merkte dies sofort.

»Herr Hauptkommissar, bevor ich Ihnen weitere Fragen beantworte, möchte ich eines vorausschicken: Ich kenne mein Personal ohne Ausnahme sehr gut. Ich glaube nicht, daß irgend jemand davon zu einem Mord fähig ist. Für meine Leute lege ich die Hand ins Feuer. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß es einen wirklichen Grund gab, Frau Morgenstern zu töten. Für mich ist dies die bedauerliche Tat eines Wahnsinnigen.«