Unter der Sonne

 

 

Unter der Sonne

Teil 2: Aufbruch

 

 

Jannika Hauch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Buch & Autorin

 

Ein Handrücken, eine menschliche Hand, eine Leiche. Und in seiner Hand - der golden glänzende Kronkorken. Melekai taucht auf, der Wahrheit und den höheren Schichten entgegen. Er taucht in eine fremde Welt, die geheime Tatsachen offenbart und sein Leben für immer verändern wird: Grenzenlose Armut und Flüchtlingsströme, Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um am Wohlstand seiner Schicht teilhaben zu können. Melekai erkennt eine Wahrheit, die ihn verstört und beginnt seine gefährliche Reise. Er bricht auf, aus seinem Bewusstsein aus und durch die Oberfläche. Was wird ihn dort erwarten? (Teil 2 von 3)

 

Jannika Hauch studierte in Hamburg Psychologie. Nach ausgedehnten Reisen durch die ganze Welt ist sie nun angehende Psychotherapeutin und arbeitet mit traumatisierten Menschen.

Sie schreibt Science-Fiction und Gegenwartsliteratur mit einer Vorliebe für dystopische Stoffe.

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2019

In Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

www.ifub-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: E. M. Cedes

E-Book-Erstellung: Björn Sülter

 

ISBN: 978-3-95936-176-7 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-177-4 (Print)

Zweitens

 

Der Beamte an der Grenzkontrolle trug die obligatorische Uniform der Grenzpolizei der zweiten Schicht, türkis und grün mit weißer Schirmmütze und neongelben Reflektorstreifen auf der Brust.

Als Jokke und Melekai ihre ID-Karten und Reisepässe vorzeigten und sein Monitor ihre Personendaten aufrief, erhellte sich seine Miene. Trotz der langen Schlange Einreisender, die hinter den Absperrbändern warteten, füllte er das Einreiseformular für sie aus und fügte den Einreisebarcode direkt in ihre digitalen Akten ein.

»Da Sie beide die dritte Staatsbürgerschaft innehaben, fallen keine Gebühren beim Grenzübertritt an. Als Staatsbürger der dritten Schicht können Sie sich auf allen Breitengraden der ersten, zweiten und dritten Schicht frei bewegen. Der Barcode ist online in Ihren Akten gespeichert.«

Er drehte sogar den Monitor und zeigte ihnen die Daten auf ihren ID-Karten.

»Die Dateien sind bis zu Ihrer Rückreise nach Drei grün hinterlegt und für jeden Polizisten erkenntlich. Der Sticker hier«, der Mann hielt einen daumennagelgroßen roten Sticker hoch, bevor er ihn neben Jokkes Ausweisfoto klebte, dann einen weiteren neben Melekais Bild, »dient dazu, Ihnen Grenzübertritte und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Schicht Zwei zu erleichtern. Als Touristen fahren Sie hier kostenlos.«

»Hervorragend!« Jokke und Melekai grinsten einander an.

»Einen schönen Aufenthalt, Herr Olofsson, Herr Gormock«, wünschte der Grenzpolizist und reichte den beiden ihre Pässe durch den Schlitz am Kontrollposten. »Die Konjunktur freut sich, wenn junge Leute Interesse an unserer Schicht haben.«

»Wir machen einen Wochenendtrip«, unterbrach Melekai, um die Reisenden hinter ihnen nicht noch länger warten zu lassen.

»Zur rechten Hand finden Sie die Touristeninformation, zur linken Hand die Metroschächte.«

Mit geschulterten Rucksäcken passierten sie die Detektoren.

»Mein Navigator empfiehlt, mit der Metro 87 Richtung Main-Plaza zu fahren«, meinte Jokke, der, in seinen Messenger vertieft, die Wegbeschreibung suchte. Melekai drückte ihm einen Nährstoffriegel in die Hand, und sie frühstückten im Gehen. »Es sind von hier aus einundzwanzig Stationen bis zur Lindenbergstraße. Die hat zwar keine eigene Haltestelle, aber es gibt eine Station, die nur drei Blocks entfernt ist.«

»Gut«, murmelte Melekai kauend. »Ich schlage vor, wir suchen uns irgendein billiges Hotel in der Nähe, und heute Nacht gucken wir uns an, was an der Lindenbergstraße abläuft.«

Jokke nickte. So eine Aktion hatten sie nicht mehr gestartet, seit sie in die Oberstufe gekommen waren.

 

In der Metro erregten sie Aufmerksamkeit. Ihre Neoprenjacken, einfarbig und aus gestärktem faltenfreiem Fabrikat, schienen in Zwei weniger in Mode zu sein als bei ihnen zuhause. Überhaupt kam Melekai sich unpassend gekleidet vor, verglich er sich mit den übrigen Menschen in vielfältig gemusterten Stoffen. Viele Leute, die mit ihnen Metro fuhren, sahen abgekämpft aus, einige schliefen auf dem Gitterboden. Hier gab es keine Sitzplätze, und das ungleichmäßige, spontane Beschleunigen der Metro machte es dringend erforderlich, sich an einer der Halteschlaufen festzuhalten, um nicht zu fallen. Sie sahen viele Frauen in leichten Kleidern und Männer in Leinenhosen.

Nach wenigen Minuten Metrofahrt wussten Jokke und Melekai auch, warum. Es war deutlich wärmer als bei ihnen zuhause. Entweder funktionierten die Belüftungssysteme nicht richtig, oder sie arbeiteten anders als in Drei.

Aufgeregt sprangen sie aus der Metro, als sie ihre Haltestelle erreicht hatten. Bald schlenderten sie mit offenen Mündern die Straßen des M-Levels entlang. Die zweite Schichte des europäischen Breitengrads bot eine Fülle kunstvoll gestalteter Straßenmalerei. Wohin man auch blickte, jede kahle oder mit Rissen durchzogene Betonwand war mit Graffitis besprüht. Die Bürgersteige quollen über von Passanten. Das mochte auch daran liegen, dass viele Cafés ihre Tische und Stühle mitten auf der Straße aufgestellt hatten. Das öffentliche Leben in Zwei lief draußen auf den Straßen ab.

Wo kamen all die Menschen her? Noch nie in seinem Leben hatte Melekai so viele Menschen auf offener Straße gesehen. Oder kam es ihm nur so vor, weil die Tunneldecken hier deutlich niedriger waren?

Hotelschilder säumten den Straßenzug, soweit das Auge reichte, und alle zehn Meter versuchten Teenager, ihnen irgendetwas zu verkaufen. Das Gebrauchtwarenangebot reichte von Akkuladegeräten über Kabelverlängerungen bis hin zu Koffeintabletten ihnen unbekannter No-Name-Firmen. Selbstgemixte Popper-Cocktails für traumreichen Schlaf, kreative Schaffensprozesse oder längere Orgasmen wurden an jeder Straßenecke verkauft. Ob mit tropischem, schokoladigem oder würzigem Geschmack, beinahe jeder Passant, der ihnen entgegenkam, hatte einen dieser Plastikbecher in der Hand. An jeder noch so überfüllten Straßenecke hatten Händler ihre Waren ausgebreitet.

Es kostete sie den gesamten Nachmittag, ein Hotelzimmer zu finden, denn an jeder Straßenecke bat eine weitere Person sie darum, etwas zu probieren, Geld für Obdachlose zu spenden oder in eines der vollgestopften Geschäfte zu kommen. Die Bürger aus Zwei schienen ihnen anzusehen, dass sie aus einer unteren Schicht stammten. Und viele waren offensichtlich der Meinung, dass sie deshalb Geld im Überfluss besaßen. Einige Male liefen Jokke und Melekai anderen Touristen über den Weg, und sie nickten einander zu. Die Straßenverläufe gingen mal auf-, mal abwärts. Manchmal nahm der Fußgängerweg fast die Hälfte der Straße ein, manchmal gab es gar keinen. Chaos herrschte auf den Straßen, und die schwüle Luft sammelte sich in den nackten Tunneldecken.

Das Hotel, in dem sie schließlich ein billiges Zimmer mit Dusche nahmen, hatte rosa tapezierte Wände und eine Bar im Erdgeschoss, die zu jeder Tages- und Nachtzeit geöffnet war.

Eine ältere Dame in enger Stretchjeans saß am Empfangsschalter und lackierte sich die Fußnägel, als Jokke und Melekai eintraten. Das Zimmer kostete sie fünfzehn Dollar die Nacht, ein Spottpreis, verglichen mit den Lebenshaltungskosten in Drei. Eine abgegriffene Plastikkarte diente als Schlüssel. Abschließtechniken aus der Steinzeit. Gab es sowas in Drei überhaupt noch?

Das Zimmer hatte ein Fenster zu einem Belüftungsschacht, durch den die Luft rauschte und eine leichte Brise zu ihnen ins Zimmer blies. Ein rostiger Ventilator war über dem Bett in die Wand eingelassen.

»Im Klo rechts gibt’s einen Automaten, da können Sie sich Nährstoffpräps ziehen«, ließ die Hotelbesitzerin vernehmen und schüttelte das Bettlaken im Vorbeigehen auf.

»Die Wertmarken, die da rein müssen, müssen Sie sich bei mir holen. Ich schreibs dann mit auf die Rechnung.«

Barfuß ging sie zurück auf den Flur und steuerte auf den Empfangsschalter zu.

»Entschuldigung«, rief Melekai ihr nach, und Jokke trat zu ihm. »Heute Abend haben wir einen Termin in der Lindenbergstraße. Ist das weit von hier?«

Die Hotelbesitzerin blieb stehen. Ohne sich ihnen zu zuwenden, sah sie über ihre nackte Schulter. Sie warf einen Blick auf Melekais Lederschuhe, sein Ersatzpaar, die guten, die er zum Anzug oder bei Vorstellungsgesprächen trug.

»Aus Drei seid ihr also?«, fragte die Hotelbesitzerin skeptisch und pulte an einem losen Stück Fingernagel.

»Heute Abend spielt da eine Band. Die will ich seit Jahren unbedingt live sehen«, kam Jokke Melekai zu Hilfe.

Sie nickte, und Lachfältchen kringelten sich um ihre schwarz geschminkten Augen.

»Naja, ein kleiner Fußweg ist es schon zur Lindenbergstraße. Mitten in so 'nem Megablockviertel halt. Aber wenn ihr euch eh ein bisschen umgucken wollt«, meinte sie schließlich. »Da in der Nähe gibt’s einen Ägypter, der essbare Wassermelonen auf der Speisekarte hat. Kann ich empfehlen.«

»Danke für die Auskunft«, setzte Melekai an, doch sie machte bereits kehrt.

 

Zurück im Hotelzimmer zog Melekai das Portemonnaie aus der Hosentasche und legte sich den Kronkorken in die Hand. Der Abdruck, den die scharfen Kanten des Kronkorkens in seine Handinnenfläche schnitten, fühlte sich an, als drücke er einen glühenden Zigarettenstummel in seinem Fleisch aus, als würden er und das winzige Stück Kunststoff in seiner Hand Blutsbrüderschaft schließen. Wieder und wieder wälzte er die Worte des Mitarbeiters der Wasserwerke in seinem Kopf hin und her. »Sie sind nicht der erste, der mich das fragt.«

»Am 24.5. ist der zehnte Gullydeckel auf der Lindenbergstraße für fünf Minuten geöffnet.« Vielleicht war es besser, wenn er Jokke bat, im Hotel auf ihn zu warten. Melekai wollte ihn in nichts Gefährliches hineinziehen, auch wenn er sich noch immer nicht ausmalen konnte, was dort auf ihn wartete. In Drei gab es keine Gullydeckel. Wenn dieser Ort jedoch tatsächlich etwas mit dem Handrücken in der Pipeline zu tun hatte, steckte mehr dahinter als die Theorien dieses Bloggers »Animals in Darkness«. Dann ging etwas vor sich, das größer war als Melekais Vorstellungsvermögen.

Der Kronkorken klebte in seinem Fleisch wie eingestanzt. Er hoffte nur, dass Jokke nicht merkte, wie er schwitzte, seine Stirn sich kalt anfühlte, sein Körper glühte.

»Vermutlich ist es am unkompliziertesten, du wartest hier auf mich«, schlug er vor, und Jokkes Kopf schnellte hoch.

»Hä? So ein Blödsinn. Wofür habe ich denn bitte die HGB bezahlt? Damit ich hier rumhänge und mich langweile?«, empörte er sich. »Ich will wissen, was bei den Wasserwerken abgeht. Auf jeden Fall bin ich dabei.«

»Der zehnte Gullydeckel«, knurrte Melekai und lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Knie.

»Der zehnte was?«, fragte Jokke gereizt.

»Der Gullydeckel. Die haben mir gesagt, ich soll zum zehnten Gullydeckel auf der Lindenbergstraße kommen. Wer weiß, ob ich da reinklettern muss, das ist nichts für dich, Mann«, erklärte er und sah, wie Jokke blasser wurde.

»Das sind doch Zugänge zu den Abwasserkanälen«, stellte Jokke fest, und Melekai nickte mit steifem Hals.

»Okay. Der Tipp von den Wasserwerken hat also echt was mit dem Abwassersystem in dieser Schicht zu tun.«

Jokke ging in dem engen Raum auf und ab. »Wieso sagst du mir das denn nicht früher, Alter?«

»Tut mir leid«, brummte Melekai. »Ich dachte …«, er geriet ins Stocken. »Nein, ich hab nicht überlegt.«

»Fuck, Mann. Du glaubst, eine Leiche in den Abwasserpipelines bei uns zuhause zu sehen, und dann schickt dich ein Typ von den Wasserwerken zu Abwasserkanälen in Zwei? Wie krass ist das denn?« Jokke sprang auf, ein eigenartiges Leuchten im Gesicht.

»Scheiße, und was soll der Treffpunkt in dieser Straße? Wen treffen wir da überhaupt? Die Animals in Darkness-Sekte? Vielleicht zelebrieren die Blogger da ja irgendeinen Kult für diese Abwasserkreatur. Oder wir sind bei der Fütterung dabei!« Jokke lachte etwas zu laut und klatschte in die Hände. Melekai schaffte es nicht, in die euphorische Vorfreude seines besten Freundes einzusteigen. Seine Kraft schien sich in der rechten Faust zu bündeln, zentrierte sich um den Kronkorken. Für den Rest seiner Gliedmaßen blieb wenig übrig.

»Da geht was vor sich«, zischte Jokke und rieb sich den Nacken. »Hast du den Blick von der Ollen vorhin bemerkt? Ihre Reaktion, als du den Straßennamen gesagt hast? Ich bin sowas von dabei.«

 

Um sich das Warten zu vertreiben, spazierten sie durch das Level, besichtigten Hinterhöfe und überfüllte U-Bahn-Schächte und ließen sich vom bunten Treiben auf den Hauptstraßen davon tragen. Die Menschen grüßten sie freundlich, und das eine oder andere Mal wurden sie in Gespräche verwickelt. Mit jeder verstrichenen Stunde stieg Melekais Anspannung. Jeder gusseiserne Gullydeckel, auf den er trat, löste eine Gänsehaut bei ihm aus. Als es Abend wurde und die Straßenbeleuchtung einen gelblich schummrigen Schein annahm, tranken sie einen Energiedrink an einem Stand neben einer Fahrstuhlauffahrt, zahlten ein saftiges Trinkgeld an den hutzeligen Verkäufer und brachen auf.

Im Gully

 

Sie waren über dreißig Minuten zu früh. Schon während sie die Treppenstufen der Unterführung hinaufstiegen, entdeckten sie die Kreuzung, an deren Gebäudefront das weiße Schild hing: »Lindenbergstraße«.

Wäre er weniger überrascht gewesen, wenn das Schild verbogen und die Adresse weniger leicht zu finden gewesen wäre? In seiner Vorstellung war die Lindenbergstraße zu einem unvorstellbar hohen, weitläufigen Straßenzug geworden, ähnlich einem Fußballfeld mit Rundbögen. Doch es erstreckte sich nicht mehr als ein Wohngebiet vor ihnen, blau gestrichene Fassaden, Briefkastenschlitze, wie Bienenwaben. Klingelschilder, die auf die große Anzahl der Einwohner schließen ließen, die hier lebten. An der Straßendecke hingen Leuchtstoffröhren bescheidener Größe. Wie so oft in Zwei fehlten auch hier die Tageslichtlampen gänzlich.

Jokke klopfte ihm auf den Rücken.

»Abschlussprüfung hin oder her, Mann. Diese Geschichte werden wir noch auf dem Sterbebett erzählen«, raunte er. Und tatsächlich kam das Abenteuer plötzlich greifbar nah, von langgezogenen Schatten begleitet. Die unheimliche Echtheit dieser unbekannten Kulisse ließ seinen Atem schneller gehen. Das Klopfen seines Herzens ließ die Schlagadern an seinem Hals und die Pulsader seines Handgelenkes spürbar pochen. Bis auf ein paar eingehakt vorübergehende Mädchen und eine ältere Dame auf Krücken war die Lindenbergstraße ausgestorben. In den meisten der schmalen Fenster und an den Aufgängen zu den Fahrstühlen leuchtete ein schwacher Schein, und Fernsehbildschirme flackerten durch die Jalousien hunderter Haushalte.

Morgen würden sie Bescheid wissen, morgen würden sie in einer Kabine der HGB sitzen, die Brüste der Reisebegleiterin bewundern und wissen, was vor sich ging. Dann konnten sie sich einen Arzt suchen, der tolerant genug war, ihnen nachträgliche Krankschreibungen für die versäumte Prüfung auszustellen und anfangen zu lernen; beruhigt von den Infos, die sie in nunmehr sechzehn Minuten erhalten würden.

Eine Gruppe dunkler Gestalten sammelte sich in einiger Entfernung mitten auf der Straße.

»Da ist jemand«, zischte Jokke und packte seinen Oberarm.

Die spärliche Beleuchtung reichte nicht bis in die Straßenmitte. Ein schwarzer Balken schwebte in der Gebäudeschlucht der Lindenbergstraße, umrahmt vom Dämmerlicht der Anwohner.

»Erster Gully«, flüsterte Jokke, während sie die Straße entlang gingen, und deutete auf den kreisförmigen Umriss des ersten Gullydeckels, den der Laternenschein von der Kreuzung noch erreichte. Danach wurde es dunkler. Melekai schaltete das Licht seines Messengers an. Sie gingen weiter, so geradeaus wie möglich. Im Bewusstsein, dass sie sich der Gruppe näherten, zählten sie in Gedanken die Gullys mit.

23:51 Uhr. Sie waren eine Weile gegangen.

»Licht aus«, zischte es plötzlich wie Feuerwerkskörper aus dem Dämmerlicht.

Jokkes Griff zog sich fester, als die scharfe Stimme aus dem Schattenriss der umstehenden Gestalten kam. Es war zu dunkel, um Gesichter zu erkennen, aber dass sie in einen Kreis aus bestimmt zwölf oder fünfzehn Leuten traten, erkannten sie.

»Ist das der zehnte Gullydeckel?«, fragte Melekai und bemühte sich, das Beben seiner Stimme zu unterdrücken.

»Hier bist du richtig, mein Freund«, antwortete einer.

»Scheißegal, ob richtig oder falsch. Du machst jetzt sofort das Licht aus, oder deine Reise ist hier beendet.« Das war die Stimme, die sie eben empfangen hatte.

Melekai leuchtete Jokke ins Gesicht, um sich ein letztes Mal zu versichern, dass sein Freund an seiner Seite war, dann fuhr er den Messenger herunter, steckte sich das Gerät in die Jackentasche und zog den Reißverschluss zu. In seiner linken Hand, der geballten Faust, steckte der Kronkorken. Er umklammerte ihn, als wäre er lebendig und könnte durch seine Finger schlüpfen und entkommen.

»So, das war's«, meldete sich die Stimme vom Anfang zurück, und eine dunkle Gestalt löste sich aus der Gruppe.

»Das Warten ist hiermit beendet. Alle nehmen ihr Gepäck, und dann kann es losgehen.«

»Aber Sie haben gesagt, um Null Uhr!« Eine zarte Frauenstimme war zu hören. »Mein Mann bringt meinen Sauerstofftank noch hierher, es ist erst fünf Minuten vor.«

»Wir brechen jetzt auf. Wer mit will, geht jetzt oder wartet bis zum nächsten Treff.«

»Aber ich habe bezahlt!« Die Frau klang verzweifelt, doch keiner der Umstehenden kam ihr zur Hilfe oder gab auch nur einen Ton von sich. Wie eine Mauer aus Schatten standen alle da, reglos. Einen Augenblick lang wollte Melekai ansetzen, etwas zu sagen. Doch als sich plötzlich die Luke des zehnten Gullydeckels aufschob, das hell erleuchtete Innere erst eine Sichel, dann einen vollen Kreis in die Dunkelheit malte, biss er die Zähne aufeinander.