Oper. 100 Seiten

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Weihnachten 1973: Meine musikbegeisterte Mutter initiiert eine geraffte Aufführung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel im heimischen Wohnzimmer. Meine Schwester, ihre Klassenkameradinnen und ich haben die »Bühne« gestaltet – ein Hexenhaus aus Styropor, ein zum Käfig umfunktionierter Tisch, eine mit rotem Krepppapier abgedeckte Lampe für den Ofen, verschiedene Requisiten und Kostüme. Die Dialoge haben wir gesprochen, die eingängigen Lieder wie »Suse, liebe Suse«, »Brüderchen komm tanz mit mir« oder auch den »Abendsegen« zum Kassettenrekorder-Playback gesungen. Das Publikum: Klassenkameraden, Geschwister, Nachbarn. Mein Vater hat diese Aufführung vor den Eltern und Geschwistern der beteiligten Künstler auf Super-8-Film festgehalten (freilich ohne Ton, aber noch heute sind mir die Melodien lebendig im Ohr).

Dies war mein persönlicher Einstieg in die Welt der Oper. Drei Jahre später: Mozarts Zauberflöte. Ich ging mit meiner Mutter und meiner Schwester ins Kino; denn dort wurde die Filmfassung des Regisseurs Ingmar Bergman (Originaltitel: Trollflöjten) gezeigt – in schwedischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Der Film vermittelt nicht nur die Magie des

Hänsel und Gretel und Die Zauberflöte sind jene Werke, mit denen Kinder und Jugendliche gerne an die Oper herangeführt werden: Beide Werke erzählen musikalische Märchen, und viele ihrer Melodien können Kinder nachsingen; die Eignung als »Oper für Kinder« darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um durchaus komplexe Kompositionen handelt. Der sinfonische Orchesterklang von Hänsel und Gretel ist stark von Wagner beeinflusst, die zeitlose Musiksprache der Zauberflöte lotet zugleich die Extreme der Stimmfächer aus: Die Königin der Nacht mit Spitzentönen und Koloraturen auf der einen Seite, auf der anderen Sarastro als Pendant in der Tiefe. Das Werk setzt sich sehr bewusst mit der Tradition des Singspiels auseinander, aber auch mit der Tradition der Oper an sich. Vor allem aber enthält es Melodien, die man nicht vergisst.

Bei einer Klassenfahrt besuchte ich dann zum ersten Mal ein »richtiges« Opernhaus. Die Vorstellung in Berlin war

Dies war der Beginn einer lebenslangen Leidenschaft. Kein Weg war mir zu weit, kein Werk zu lang (Richard Wagners Ring des Nibelungen hat eine Spieldauer von insgesamt 16 Stunden), keine Handlung zu abstrus (man behauptet gelegentlich, die von Verdis Trovatore sei völlig unverständlich). Mit der Oper ist es wie mit manchen Delikatessen. Man liebt sie oder man hasst sie. Rational kann man sich diesem »unmöglichen Kunstwerk« (so der Kunsthistoriker Oskar Bie zu Beginn seiner Operngeschichte) nur bedingt nähern. Aber wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, der kann sich kaum entziehen.

Um die Faszination der Oper soll es in diesem Buch gehen, nicht behandelt werden die anderen Gattungen des Musik-Theaters, Tanztheater, Musical und Operette. Die Oper ist eine der aufwändigsten Theaterformen, sie erfordert Sänger, ein mehr oder weniger großes Orchester, Regiearbeit, Kostüme und Bühnenbilder.

Jeder weiß, dass das, was auf der Bühne passiert, Spiel ist, dass man nicht wie Pamina und Papageno in der Zauberflöte auf der Flucht singend über sein Schicksal sinnieren würde oder als Schwindsüchtige noch sterbend schöne Melodien auf den Lippen hätte wie Mimì in Puccinis La Bohème oder Violetta in Verdis La Traviata.

Und doch zieht uns das Musiktheater in seinen Bann. Die oftmals archaisch grundierten Geschichten um Themen wie

Man darf sich jedoch nicht von medial inszenierten Events wie den Festspieleröffnungen in Bayreuth oder Salzburg täuschen lassen: Ein Opernbesuch muss keine teure Angelegenheit sein. Natürlich kann ein Platz im Parkett zur Saisoneröffnung der Mailänder Scala schon mal bis zu 2500 € plus 10 % Vorverkaufsgebühr kosten, in der Spielzeit selbst sind es dann aber »nur« noch maximal 250 €. Das Preisspektrum der Wiener Staatsoper reichte in der Saison 2018/2019 von 2 € für die günstigsten Stehplätze bis zu 500 € für Parkettplätze bei Jubiläumsvorstellungen.

Viele Opernhäuser bieten Repertoirevorstellungen zu moderaten Preisen und entsprechende Ermäßigungen für Studierende und Empfänger von Sozialleistungen an. Dann sind Karten bereits zu einstelligen Europreisen zu haben, durch Abonnements kann man zusätzlich sparen. Und mit etwas Glück bekommt man über Last-Minute-Tickets gelegentlich sogar Spitzenplätze zu einstelligen Eurobeträgen.

Wie viele Opern gibt es?

Opern gibt es seit nunmehr über 400 Jahren. Von den geschätzten 80 000 bis 100 000 seit 1600 sind viele allenfalls noch in Werkverzeichnissen von Lexika zu finden, aber

Sehr gut dokumentiert seit 1996 die Plattform operabase.com, wo wann welche Oper gespielt wurde und in welcher Besetzung, interessant für den Opernfan und hilfreich für den Profi, da sich in der Premiumversion das aktuelle Repertoire der Künstler nachvollziehen lässt – unabdingbar für Operndirektoren und Disponenten, wenn es gilt, kurzfristig Einspringer für eine Rolle in einer selten gespielten Donizetti-Oper oder einem Werk des 20. Jahrhunderts zu gewinnen.

Tabelle auf Basis einer Auswertung von operabase.com. [1, vgl. dazu die Linkliste am Ende des Buches]

Fast 240 000 Menschen, also so viele Einwohner wie zweieinhalb deutsche Großstädte, haben in einem Jahr eine Aufführung der Zauberflöte gesehen. Vergleicht man die 10 meistgespielten Opern in der Saison 2018/2019 in Deutschland mit jenen weltweit, so gibt es Unterschiede: Puccinis Bohème, Verdis La Traviata, Mozarts Zauberflöte, Rossinis Barbiere di Siviglia und Bizets Carmen belegen auch weltweit Spitzenplätze, während Werke des deutschen Repertoires (Hänsel und Gretel, Der Fliegende Holländer) dort keine große Rolle spielen.

Mit Oper verbindet man eher ein älteres und wohlhabendes Publikum. Tatsächlich ist der Altersdurchschnitt des Opernpublikums höher als in anderen Sparten wie z. B. Schauspiel, aber auch Tanz (wobei sich hier die ballettbegeisterten Enkelinnen in Begleitung ihrer Mütter oder Großmütter vorteilhaft auf die Altersstruktur auswirken).

Charakteristisch für den typischen Opernbesucher ist sein bildungsbürgerlicher Hintergrund, was mit der gesellschaftlichen Verankerung dieser Kunstform an sich ebenso zu tun haben mag wie allgemein mit dem Image von Kultur – wobei kluge Inszenierungen Besucher aller Alters- und Gesellschaftsschichten ansprechen könnten und sollten.

Das tatsächliche Einkommen dürfte eine untergeordnete Rolle spielen, denn wie erwähnt bekommt man Opernkarten prinzipiell sehr günstig – günstiger jedenfalls als viele andere Freizeitaktivitäten.

Warum geht man in die Oper? Aufschlussreich ist eine Befragung des Publikums der Leipziger Oper, nach der es vier Arten von positiven Anreizen gibt:

In anderen Städten können die Ergebnisse natürlich je nach Umfeld und Sozialstruktur variieren.

Laut operabase.com ist Österreich mit 149,6 Aufführungen pro einer Million Einwohner sozusagen das »Land der Oper«. Es folgen die Schweiz (98,3) und Estland (91,0). Deutschland wurde mit 86,4 in der Spielzeit 2017/2018 auf Platz 4 verdrängt, wenngleich es mit 7062 Aufführungen insgesamt deutlich vor seinen Konkurrenten lag (Österreich 1250, Schweiz 765 und Estland 122). [2] In der Spielzeit 2015/2016 gingen in Deutschland insgesamt 3,9 Millionen Menschen in die Oper. [3]

Das Gesamtsetting des Musiktheaters bietet Raum für Phantasien, weswegen es sich vielleicht nicht bloß zufällig auch in Kunstwerken anderer Gattungen widerspiegelt. Opernromane gibt es von Margriet de Moor (Der Virtuose, 1997) und Petra Morsbach (Opernroman, 1998), aber auch zwei der in Venedig verorteten Krimis der amerikanischen Erfolgsautorin und Opernliebhaberin Donna Leon spielen im Umfeld des Opernhauses La Fenice; allen sind außerdem Textzeilen aus Opernlibretti als Motto vorangestellt. Filme wie Farinelli (1994) des belgischen Regisseurs Gérard Corbiau widmen sich der prunkvollen Oper der Barockzeit.

Im Palais Garnier in Paris, dem vielleicht berühmtesten Opernhaus der Welt und Inbegriff der Grand Opéra, spielt der französische Roman Das Phantom der Oper (1909/10, frz.: Le Fantôme de l’Opéra) von Gaston Leroux. Er erschien zuerst als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitung Le Gaulois, wurde dann auf die Bühne gebracht, mehrfach verfilmt und ist heute vor allem durch das gleichnamige Musical von Andrew Lloyd-Webber und Richard Stilgoe sehr bekannt. Populär ist auch der Film Diva von Jean-Jacques Beineix aus dem Jahr 1981, in dem der Fan der Opernsängerin Cynthia Hawkins ein Bootleg

Kollegenurteile

Die Tatsache, dass Gioacchino Rossini Il Barbiere di Siviglia in nur 13 Tagen geschrieben haben soll, veranlasste seinen noch produktiveren Kollegen Gaetano Donizetti zu der Bemerkung: »Er war schon immer ein fauler Hund.«

Aber auch Rossini selbst konnte recht scharfzüngig sein. Über das Werk von Richard Wagner sagte er, dieses habe »schöne Momente, aber schreckliche Viertelstunden«; im Falle der Oper Tannhäuser war er der Ansicht: »Um sie richtig zu werten, muss man sie zweimal hören. Persönlich habe ich nicht die Absicht, sie noch einmal zu hören.«

Wagner seinerseits, der mit scharfen Urteilen gegenüber Kollegen sonst nicht zimperlich war, äußerte sich lobend über den Italiener: »Von allen Musikern, die mir in Paris begegnet sind, ist er der einzig wirklich große.«