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Erich Virch

Heideblues – Kriminalroman

 

Saga

Ich sehe ein Wasser blinken,

Das Wasser das ist frisch;

Ich sehe etwas schimmern,

Das ist fürwahr kein Fisch.

Hermann Löns

1. Kapitel

Die Autobahn ist eine merkwürdige Sache. Hier treffen in ständiger Lebensgefahr die unterschiedlichsten Menschen zusammen: dösende LKW-Fahrer, halsstarrige Senioren, junge Hitzköpfe, angstvoll an die Mittelspur geklammerte Frauen, Männer mit schwelendem Tunnelblick. Die Überholspur ist eine einzige Schlange, da kommst du von rechts nur rein, indem du links einem vor die Nase fährst und ihn zum Bremsen zwingt. Hast du das geschafft, mußt du ganz dicht am Vordermann kleben, sonst schert hinter jedem Laster ein Kleinwagen aus, quetscht sich in die Lücke und zwingt dich selbst zum Bremsen. Derweil blinkt zwei Meter hinter dir ein schwarzer Audi, obwohl der Schafskopf genau sieht, daß vor dir nicht frei ist. Und spätestens, wenn der dich rechts überholt, fällt dein Verstand aus dem Fenster. Ab jetzt gibst du Vollgas und riskierst alles. Du wirst zum Vollidioten, zum rasenden Vollidioten in einem rasenden Konvoi enthemmter, rasender Vollidioten.

Ich begegne zwar immer wieder Männern, die das für ihre Person zurückweisen und behaupten, sie seien total gelassene, defensive Fahrer. Aber das sind die Schlimmsten. Entweder lügen sie nämlich, oder es sind Oberlehrer – die Typen, die sich im Schneckentempo links neben einen Laster heften und schweratmend ganze Vollidiotenkonvois blockieren, bis hinter ihnen die nackte Mordlust ausbricht.

Das ungeschriebene Gesetz der Autobahn lautet: Steck dir das geschriebene sonstwohin, gib Gas und bete. Es gibt nur eine Möglichkeit, dem aggressiven Sog zu entgehen – Ablenkung. Zum Beispiel durch eine aufregende Beifahrerin oder durch schöne Träume, Luftschlösser, Pläne: man braucht einen Anlaß für ein intensives Gespräch oder Selbstgespräch.

An diesem Samstag fehlte mir nur die Beifahrerin; Träume hatte ich so reichlich, daß ich das höllische Gerangel und Gedrängel um mich her kaum wahrnahm. Ich hatte mein ganzes Zeug schon vor der Fahrt in den Fußraum vor den Beifahrersitz geworfen, die Colaflasche klemmte im Handschuhfach, es konnte also nichts rutschen oder fallen. Der Diesel war hübsch in Schwung, ich kam gut voran. Am Berg bemerkte ich im Rückspiegel gelegentlich eine gewisse Nervosität, aber die da hinten hätten mir lieber dankbar sein sollen. Ein Leichenwagen ist nämlich kein übler Schrittmacher – wo so eine düstere Todesmahnung von hinten angedonnert kommt, weicht man ganz gern zur Seite.

Während ich lenkte, riß ich den Mund auf und schnitt Grimassen dazu. So mußte es zumindest von außen wirken, aber an befremdete Blicke war ich gewöhnt, die konnten mich nicht vom Singen abhalten. Schon gar nicht an diesem Tag. Ich sang Randy Newmans boshaftes Couplet über Simon Smith und seinen Tanzbären. Darin geht es um das fröhliche Leben mittelloser Künstler:

I may go out tomorrow if I can borrow a coat to wear

Oh, I'd step out in style with my sincere smile and my dancing bear

Es war nicht allein das Lied, das mir Spaß machte. Es war vor allem die Aussicht, endlich der Lage zu entkommen, die es beschreibt. Wenn der große Dr. Günther Didier recht hatte – und in solchen Dingen war auf ihn meist Verlaß – würde meine ewige Geldnot bald ein Ende haben. Was für eine unglaubliche, herrliche Aussicht auf Erlösung! Songschreiber zu werden, war der größte Fehler meines Lebens gewesen. Nicht, weil ich nicht gut genug war – ich gehörte zu den besten. Mein Problem war gerade meine Schwäche für Qualität. Nach herrschender Auffassung muß Musik nämlich „aus dem Bauch” kommen. Ich dagegen konnte Geräuschen aus dem Bauch noch nie besonderen Hörgenuß abgewinnen. Ein guter Song kann alles ausdrücken, Gefühle wie Wut, Ohnmacht, Einsamkeit, Liebe oder pure Lebensfreude, er kann spotten, protestieren, bloßstellen, argumentieren und so fort. Wenn er allerdings Gehör finden will, läßt er das alles bleiben und bleibt konsequent im Seichten. Und da zu arbeiten, im Seichten, ist mir immer schwergefallen. Zeilen wie Marmor, Stein und Eisen bricht / aber unsere Liebe nicht hätte ich überhaupt nie hingekriegt. Ich hätte schreiben müssen: Marmor, Stein und Eisen brechen – und das wärs ja wohl schon gewesen. Ehrlich gesagt, hasse ich die Masse von Herzen für ihren Geschmack. Und Leuten gefallen zu müssen, deren Geschmack man zum Kotzen findet, ist eine eklige Lebensaufgabe. Das Schlimmste dabei: selbst wenn du dich überwindest und verleugnest und so schmalzig daherkommst, wie es irgend geht – das Publikum spürt mit sicherem Instinkt, wenn du es nicht ehrlich meinst. Wirklich begeistern kann es sich nur für Kitsch, der von Herzen kommt – und von meinem Herzen kommt was anderes.

Trotz alledem hatte ich jetzt, nach all den Jahren, anscheinend doch noch irgendwie ins Schwarze getroffen. Mit etwas Glück würde ich bald nicht mehr den Tanzbären spielen müssen. Natürlich wußte ich aus drastischer Erfahrung, daß kein Pflänzchen dieser Welt so zart und empfindlich ist wie die Erfolgsaussichten in meinem Geschäft, aber eine Chance wie diese mußte man erst einmal haben.

Ich konnte das Aufatmen im Pulk der Linksfahrer förmlich spüren, als ich endlich nach rechts ging und die Ausfahrt nahm. Schwungvoll lenkte ich den Diesel auf die Landstraße. Wenn ich geahnt hätte, was mich erwartete, wäre ich auf der Stelle umgekehrt.

 

Mein Wagen war ein Mercedes, ein uraltes Rappold-Modell mit einem Kreuz auf dem Dach, Palmzweigen auf den Scheiben und schwarzen Fenstervorhängen. Ich hatte ihn, wie schon oft, von meinem Vater geliehen. Es tat mir jedesmal leid, den alten Mann zu bekümmern, der sich nichts sehnlicher wünschte, als seinen Sohn in einem soliden Beruf Geld verdienen zu sehen, aber meine eigene Rostlaube war „zur Inspektion”, und ich brauchte ein Auto. Außerdem gehörten Papas Kummerfalten zu seiner Berufsausstattung, zumal er ein Mensch war, der trotz all der Jahre im Pietätsgewerbe noch erstaunlich oft echtes Mitgefühl mit seinen Kunden aufbringen konnte. Ein sanfter Mann, mit dem Alter steif und durchscheinend geworden. Er hatte besorgt ausgesehen, als er mir auf dem Hof hinter der Firma den Autoschlüssel gab. Der Wind zerrte an den weißen Strähnen, die sorgfältig über die rosige Kopfhaut gekämmt waren. „Ich kann dir nur den alten Wagen geben, Paul. Den neuen brauchen wir ja.”

„Ist doch bestens!”

„Hast du Geld?”

„Aber ja! Ich komm schon zurecht!” Die Firmenautos hatten immer einen vollen Tank; bis Niederholt würde es schon reichen. „Geh rein, Papa”, sagte ich, „ist zu kalt hier!”

Der alte Mann nickte. In der Tür drehte er sich noch einmal um und machte eine Armbewegung, die den Wagen, den Hof, die ganze Firma umschloß. Ich kannte die Bedeutung: „Das könnte alles deins sein.” Darin lag ein Vorwurf, der früher zu fürchterlichen Diskussionen geführt hatte. „Du vergehst dich”, hatte Papa mir vorgeworfen, „du vergehst dich an allem, was deine Mutter und ich aufgebaut haben, und an deinem eigenen Glück sowieso! Denk doch nur, was du mit deinen Gaben aus dem Geschäft machen könntest!”

Dummerweise waren meine Gaben eher musischer Natur. Als Junge war ich zwar anfangs ein ganz guter Schüler gewesen, doch das hatte schnell nachgelassen. Hieß es erst noch „dem Paul fällt alles zu”, so fielen mir bald nur noch die Augen zu. Die Schule langweilte mich gräßlich. Ich hockte lieber zuhause im Werkzeugkeller und spielte Gitarre. Ich schloß die dicke Tür hinter mir, schaltete den Verstärker ein und vergaß alles. Mit geschlossenen Augen spielte ich für ein imaginäres, wogendes Publikum, ließ die Saiten kreischen, wummern, weinen und jauchzen. Die einzigen Menschen, die mich tatsächlich hätten hören können, lagen nebenan, aber die konnten nicht mehr applaudieren. Je länger ich übte, desto schneller und sicherer flitzten meine kurzen Finger übers Griffbrett. Wenn ich richtig in Fahrt war, tanzte ich verzückt auf und ab, die leeren Flaschen in den Sprudelkisten jubelten mir scheppernd zu, meine krausen Haare flogen. Ich hatte sie langwachsen lassen und war stolz darauf, daß sie vom Kopf abstanden wie bei Jimi Hendrix.

Auch meine Stimme war nicht übel. Anfangs klang sie schauerlich, denn mein erstes Vorbild war Paul McCartney, und es dauerte eine ganze Weile, bis mir aufging, daß der Mann Tenor war und ich Bariton. Als ich das aber mal eingesehen hatte, hörte ich mit dem Gequieke auf und entwickelte einen kratzigen, tiefen Sound, der auf Feten ziemlich gut ankam. Selbst ältere Mitschüler mußten neidisch zusehen, wie die Mädels dem kleinen dicken Leichennickel an den Lippen hingen.

Meine Eltern waren nicht begeistert. Sie wünschten sich von mir mehr Verständnis fürs Geschäft.

„Was soll ich denn machen”, fragte ich damals, „soll ich im Elviskostüm auf den Sarg springen und Crying In The Chapel singen?”

Mein Vater hatte gekränkt geschwiegen.

Heute, fürchte ich, würden die Leute gerade solchen Blödsinn gern teuer bezahlen. Kürzlich hatte ich für eine Trauerfeier ein komplettes Streichorchester besorgen müssen, das sollte auf Wunsch des Verstorbenen Conquest Of Paradise fiedeln – die Musik, mit der weiland Henry Maske in den Ring stieg. Der verblichene Boxfan hatte sich wohl vorgenommen, das Paradies mit der Faust zu erobern und dem Schöpfer mal so richtig eine aufs Maul zu hauen. Da hatte der Herrgott noch Glück, daß Henry Maske nicht Kickboxer war.

 

Das Warnlämpchen der Tankanzeige leuchtete auf. Ich ging vom Gas und hielt unruhig Ausschau nach Wegweisern. Ich hatte den berechtigten Verdacht, daß ich mich verfahren hatte. Überhaupt – hatte Didier nicht gesagt, die neue Autobahn sei fertig, man brauche nur den richtigen Abzweig zu nehmen? Vermutlich war ich laut singend daran vorbeigebrettert. Für mich sah hier oben alles gleich aus; ländlich, flach wie ein Kuhfladen, darüber der weite, eisige Winterhimmel. Unten leere Viehkoppeln, fahles Graugrün, kahle, windschiefe Hecken und Bäume. Neben den alten Bauernhäusern gab es überall Neubausiedlungen. Die automobile Erschließung der Region hatte eine Flut von Neubauten aufs Land geschwemmt; Einzelhäuser, Doppelhäuser, Reihenhäuser, alle in norddeutschem Ziegelrot gehalten, hier und da Pferdeköpfe auf den Dächern, strammes Verbundsteinpflaster vor den Garagen, Sprossenfenster, akkurate, weiße Friesenzäune. Die Bauern in den ehemals verschlafenen Dörfern mußten sich in ständigem Goldrausch befinden; sie konnten schließlich den Wert ihrer Äcker im Handumdrehen um das Hundertfache steigern. Sie brauchten nur per Gemeinderatsbeschluß Bauland daraus zu machen. Ein Ratssitz unter Gleichgesinnten war da gleichsam eine Lizenz zum Gelddrucken.

Ich vermied es, darüber nachzudenken, was unter den neuen Pferdekopf-Dächern für Musik gehört wurde. Sie erinnerten mich immer an die TV-Kinderserien, in denen fröhliche Mädchen und Jungen unentwegt ins Grüne reiten, während die gutmütige Oma dem Jüngsten augenzwinkernd mit dem Finger droht, weil er vom Teig genascht hat. Das war schon im Sommer deprimierend genug, aber jetzt, im Dezember, wirkte das Bild auf mich vollends niederziehend.

Erst als ich den Elbdeich sah, wurde mir klar, wo ich gelandet war. Ich fuhr ein ganzes Stück den grasbewachsenen Wall entlang, bis ein Weg im Bogen hinaufführte. Oben hielt ich an und stieg steifbeinig aus. Der Wind blies jeden Atemzug in weißen Fetzen davon. Ich ließ den Blick über die zähen Fluten wandern. Schräg gegenüber, am anderen Ufer, beherrschte ein monströser, hellgrauer Kubus das Bild. Ein Atomkraftwerk. Das mußte Krümmel sein. Demnach war ich irgendwo in der Nähe der Geesthachter Brücke. Ich ging ein paar Schritte den Fußweg entlang, dehnte und reckte mich, die Hände hinterm Kopf. Am stromabgewandten Deichfuß lag ein Kinderspielplatz. Eine Frau im blauen Anorak stand, die Hände in den Ärmeln, neben einer Bank aus groben Holzbohlen und beobachtete ihren dickvermummten Sprößling, der einsam an einem Kletterseil baumelte wie ein Mehlsack. Ich ließ die Arme fallen, setzte mich wieder in den Leichenwagen und schlug den Autoatlas auf.

Ich war schon oft in Niederholt gewesen, doch aus der ungewohnten Richtung hinzufinden, war nicht ganz einfach, zumal es jetzt rasch dunkel wurde. Mit der Karte auf dem Schoß steuerte ich zurück nach Süden. Eines war wie immer: je näher ich dem Dorf kam, desto schlechter wurde meine Stimmung.

Um fünf war es stockfinster. Ich hatte gerade eine Allee aus Eichen und Linden passiert, als der Motor zu stottern begann. Die Straße schlug einige leichte Kurven. Links dichter Wald, auf der anderen Seite eine Reihe von Weihern mit Nadelgehölz dahinter. Als der Wagen endgültig ausrollte und stehenblieb, konnte ich seitlich einen unbefestigten Weg erkennen, der zu einem Joggerparkplatz zwischen den Teichen führte. Der Tank war hoffnungslos leer, ich versuchte gar nicht erst, das Auto wieder in Gang zu bekommen, sondern schaltete die Scheinwerfer aus und benutzte die Zündung, um es so weit wie möglich von der Straße zu befördern. Einen Moment blieb ich in der plötzlichen Stille und Dunkelheit sitzen, dann griff ich zum Handy und wählte Didiers Nummer.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er abhob. „Ja?” Sein Tonfall suggerierte wie immer, daß er beschäftigt sei und nicht gestört zu werden wünsche, aber kaum hatte ich meinen Namen genannt, hub ein Jubilieren an: „Paulchen! Nickelchen!” Der hessische Akzent machte daraus „Paulschen” und „Nickelschen”, und der blecherne Klang der Stimme machte die Sache nicht besser. „Des Paulschen, unser Held der Saiten! Ja, wo bleibt er denn?”

„Der Held steht ohne Sprit im Wald”, sagte ich lahm. „Irgendwo am Teich zwischen Wittholt und Niederholt. Ich …”

„Wart mal ganz kurz”, unterbrach Didier, „ich hab de Groot auf der anderen Leitung.”

Andy de Groot war TV-Produzent. Didiers größter Vorzug bestand darin, ständig Leute wie de Groot auf der anderen Leitung zu haben. Didier hatte unzählige Kontakte, er kannte Politiker, Spitzensportler, Geschäftsleute und so weiter. Mir war völlig schleierhaft, wieso sich Menschen mit ihm abgaben, die es nicht nötig hatten, aber sie hatten es schon immer getan, selbst zu Zeiten, als er noch keine Millionen hatte und mit seiner Blechstimme als Sänger unterwegs war. Ich kannte niemanden, der in ihm nicht auf Anhieb einen Aufschneider und Hanswurst gesehen hätte, und doch war er einer der einflußreichsten Leute der Branche. Zu allem Überfluß hatte er auch noch politische Ambitionen, verfaßte Rezepte für den Weltfrieden, Traktate gegen Ausbeutung und Krieg sowie Interviews, in denen er sich selbst fulminante Antworten auf knallharte Fragen gab. Daß er mit diesem Quatsch bis in den Vorstand seiner Partei gelangt war, hatte sie in meinen Augen nicht eben aufgewertet. Aber wen interessierte schon mein Eindruck. Irgendwann würde der schräge Verein die Fünf-Prozent-Hürde schaffen und Didier in den Bundestag befördern. Einstweilen nutzte er geschickt die Schaltstelle, die er eingenommen hatte: er organisierte auf Kosten der Partei öffentlichkeitswirksame Großveranstaltungen, um die sich selbst arrivierte Popstars rissen. Dafür bewunderten ihn wiederum seine politischen Freunde, und am Ende hatten alle was davon – am meisten er selbst.

 

Langsam kühlte der Wagen aus. Ich begann zu frösteln. Der rabenschwarze Waldsaum verschwamm mit dem sternlosen Himmel, die Wasseroberfläche der Teiche zeichnete sich kaum heller ab. Die Straße war völlig leer. Endlich klingelte das Handy.

„Paulchen?” Jetzt gab sich die Blechstimme fürsorglich: „Paß auf, Paul, gleich kommt der Walter Lübbers dich mit seinem Auto abholen. Ist ein roter Golf, siehst du sofort. Den Walter kennst du, das ist der Bruder von unserem armen Willilein! Stell dich so hin, daß er dich sieht, gell!”

Ich fragte mich schon lange nicht mehr, warum der große Dr. Günther Didier manchmal so infantil daherquatschte. Der Niederholter Willi Lübbers war ein Walroß von Mann, riesig rund und dick und ganz bestimmt kein armes Willilein. Vielleicht hatte Didier in einem seiner Verhaltensratgeber gelesen, daß man selbst größer erscheint, wenn man andere verniedlicht. Irgendwie fühlte ich mich von ihm tatsächlich immer wieder verunsichert.

Draußen war es eisig. Ich zog meine Jacke an, steckte das Handy ein, nahm die Reisetasche vom Beifahrersitz, schloß die Türen ab und machte mich zu Fuß auf den Weg über die dunkle Landstraße. „Links gehen, der Gefahr ins Auge sehen”, hatte man mir als Kind beigebracht. Ich ging zügig, trotzdem war ich binnen weniger Minuten durchgefroren. Notgedrungen begann ich zu traben. Meine kalten Fußknöchel schmerzten. Die Luft tat beim Einatmen weh, und ich mußte die Reisetasche andauernd von einer Hand in die andere wechseln, um die jeweils kältere unter der Jacke aufzuwärmen.

Ich war vielleicht eine Viertelstunde gelaufen, als endlich Scheinwerfer durch die Bäume blitzten. Ich blieb stehen und stellte keuchend die Tasche ab. Ich bin zwar kräftig, aber nicht gerade gertenschlank. Ich schob die Hände unter die Achseln und trat von einem Bein aufs andere. Als die Lichter um die Kurve kamen, zeigte sich, daß sie gar nicht zu einem Auto gehörten, dafür standen sie viel zu eng beieinander und lagen viel zu hoch. Was da kam, war bloß ein Trecker. Mürrisch trat ich zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Einen Augenblick stand ich im vollen Licht, die Baumstämme ringsum leuchteten kalkweiß.

Ich wollte geblendet die Augen schließen, doch das anschwellende Motorgeräusch hielt mich davon ab – und dann schoß die mächtige Maschine plötzlich brüllend auf mich zu, turmhoch, breit wie die Fahrbahn. Mit einem unwillkürlichen Aufschrei warf ich mich in den Straßengraben, fiel hart auf die Seite, Äste stachen mir ins Kreuz. Eine Abgaswolke hüllte mich ein, die Erde bebte, und wenige Zentimeter neben meinem Kopf malmte ein riesiges Hinterrad vorüber. Sekundenlang war ich wie gelähmt, dann kroch ich außer mir vor Wut aus der Versenkung und sprang auf die Straße. Die Rücklichter des Traktors waren schon ein ganzes Stück weit weg.

„Arschloch!” brüllte ich aus Leibeskräften, „Dreckiger Scheißbauer! Verfluchtes Arschloch! Scheiße! Verfluchte Drecksau!”

Vor meinen Augen tanzten immer noch Scheinwerferreflexe. Die Hose war heilgeblieben, aber in der Jacke fühlte ich einen Riß. Mit zitternden Händen suchte ich in der Finsternis nach meiner Tasche. Sie war plattgefahren und an der Seite aufgerissen. Ich klaubte sie auf und versuchte sie so unter den Arm zu nehmen, daß nichts herausfiel. Hinkend und fluchend machte ich mich wieder auf den Weg.

Vor Schreck war mir heißgeworden, doch bald kam die Kälte zurück. Mein Rücken tat weh. Der Weg zog sich. Als ich schon die Lichter des Dorfes zu sehen meinte, hörte ich hinter mir wieder einen Motor kommen. Diesmal blieb ich vorsichtshalber nicht stehen, sondern rannte seitwärts unter die Bäume. Wenig später leuchteten abermals zwei engstehende Scheinwerfer die Straße entlang. Ich hätte allerdings nicht einmal schwören können, daß es derselbe Trecker war, dafür hatte ich ihn beim erstenmal viel zu flüchtig wahrgenommen. Ein Nummernschild war auch jetzt nicht zu erkennen. Ich wartete zähneklappernd, bis er verschwunden war, dann machte ich mich wieder auf den Weg.

Zum Glück war das Dorf jetzt tatsächlich nicht mehr weit. Nach einer Viertelstunde tauchten hinter einer Biegung die ersten Häuser auf. Rote Ziegel, graue Verbundsteinauffahrten, weiße Friesenzäune, weihnachtliche Lichterbögen aus Elektrokerzen in den Fenstern und vor allem das leuchtende, tannengrüngeschmückte Schild des Wirtshauses: Göke's Gasthof. Ich riß die Tür auf und stampfte hinein. Als sie sich eben hinter mir schließen wollte, sah ich draußen einen roten Golf Richtung Wittholt brummen. Zu spät, Herr Lübbers.

Der Flur sah aus wie in vielen Dorfgasthöfen: links ging es in den Schankraum, rechts zu den Toiletten, in der Ecke ein Zigarettenautomat, weiter hinten die Tür zum Saal, in dem wichtige Gemeinderatssitzungen und noch wichtigere Feuerwehrbälle stattfanden. Ich hielt mich links. Der Schankraum empfing mich mit bullernder Wärme, Stimmengewirr und Gelächter. Hinter dem Eichentresen, ein Adventsgesteck zur Linken, die Rechte am messingglänzenden Zapfhahn, thronte Heinrich Göke, Bürgermeister von Niederholt. Groß und breit, das Gesicht rotgeädert, hätte er das Urbild eines gemütlichen Dorfwirtes geboten, wären nicht seine kalten, blaßblauen Äuglein gewesen. Er wünschte mir vernehmlich guten Abend, sah aber knapp an mir vorbei. Ich hatte ihm mal mit ernster Miene erklärt, daß auf dem Wirtshausschild ein zweiter Apostroph fehle: es müsse Göke's Ga'sthof heißen.

„Das ist mein Schild, Herr Nickel”, hatte er brettsteif geantwortet. Anneliese, seine Frau, grinste mir dabei aus der Küche zu. Die beiden sprachen seit Jahren kaum ein Wort miteinander.

„Paul!” Aus dem hintersten Winkel des Raumes strahlte mir ein hageres, hakennasiges Gesicht entgegen: Karl Kranz, Didiers Toningenieur. Karl der Redliche, Karl der Lange, Karl der unermüdliche Tag- und Nachtarbeiter, Karl der Kahle. Das spärliche Flaumhaar, das auf ihm wuchs, war so hautfarben, daß er nicht einmal Augenbrauen zu haben schien. Er legte die unvermeidliche Zigarette in den Aschenbecher und umarmte mich herzlich: „Ja, bist du deppert, der Leichennickel! Grüß dich, Burschi!”

Sofort hob sich meine Stimmung wieder. Ächzend ließ ich mich nieder und packte die lädierte Tasche neben mich auf einen Stuhl. Karl wollte wissen, was geschehen sei, ich erzählte und ergänzte die Schilderung mit Mutmaßungen über die geistige Verfassung der traktorfahrenden Landbevölkerung.

Karl stimmte kopfschüttelnd zu, dann fragte er besorgt: „Sag, hast scho’ ’gessen? Wann net, ißt’ besser hier was, weil heut kocht die Iris.”

Didiers Gattin Iris pflegte vegetarisch zu kochen, was Karl und mich regelmäßig ins Wirtshaus trieb. Er schnalzte mit den Lippen: „Grünkohl?”

Ich nickte entschieden. Karl suchte Gökes Blick, deutete auf sein Bierglas, hob zwei Finger und rief: „Grünkohl!”

Während wir beim Bier aufs Essen warteten, mußte Karl mir das Neueste aus Niederholt berichten.

„Was passiert is? Nix is passiert. Das Übliche halt.”

Das Übliche, so stellte sich heraus, bestand diesmal aus einer Prügelei mit Nasenbeinbruch, zwei Reitunfällen, einer unehelichen Zwillingsgeburt und einem Festakt der Freiwilligen Feuerwehr, der damit geendet hatte, daß der Schuppen hinter dem Gerätehaus abbrannte. Langsam taute ich auf. Meine Hände und Füße kribbelten. Die Rückenschmerzen ließen nach. Göke erschien und brachte zwei große Portionen Grünkohl mit Kassler, Bregenwurst und Bratkartoffeln, dazu Bier. Als er alles auf den Tisch gestellt hatte, klemmte er das Tablett unter den Arm, sah knapp an uns vorbei und sagte: „Lassen Ihnen schmecken.”

Karl grinste anzüglich. Bei allem Spott war ihm aber immer anzumerken, daß er sich in Niederholt zuhausefühlte. Vor Jahren hatte ihn die Liebe aus Wien in die Lüneburger Heide verschlagen. Die blonde Britta war nicht lange bei ihm geblieben; dafür aber hatte er seine Liebe zum flachen Land entdeckt. Er sprach noch immer mit schwerem österreichischen Akzent, doch die Zeiten, in denen er beim verstörten Kaufmann Ehlebracht „Paradeiser” zu kaufen versuchte, waren vorüber. Karl konnte längst fehlerfrei „Tomaten” sagen, „Tüte” statt „Stanitzl”, „Frikadelle” statt „Fleischlaberl”, und seine Trinkfestigkeit genoß den Respekt des ganzen Dorfes.

Nachdem wir uns eine Weile schweigend unseren Tellern und Gläsern gewidmet hatten, fragte ich: „Wie stehts denn auf dem Eichenhof? Alles wie gehabt im Hause Didier?”

Karl verzog bekümmert das Gesicht. „Der Willi hat zuadraht. Tot! Hat sich endgültig ins Jenseits gesoffen. Hat Delirium Delarium den Löffelstiel ab’geben, und aus die Maus!”

Deshalb also hatte der Doktor vom „armen Willilein” gesprochen. Willi war einmal der Erbe des Eichenhofs gewesen, der größten Besitzung in ganz Niederholt, aber er hatte alles durchgebracht. Nach der Zwangsversteigerung gehörten die Ländereien anderen Bauern, und im Haus residierte der Doktor, dem Willi noch dankbar sein mußte, daß er ihn als Faktotum auf dem Anwesen behielt. Über den dicken Willi und seine alkoholischen Eskapaden gab es unzählige Geschichten – und alle stimmten. Das behauptete zumindest Karl.

„Arme Sau”, sagte ich.

ein

„Geh, du bist doch unheilbar ahnungslos, Paul! Weißt du, wieviel das letzte Summers-Album weltweit verkauft hat? Auf sowas brauchst bloß a halbe Nummer draufhaben, und du mußt im Leben nimmer arbeiten. Einen solchen Titel tät ich dir amal gönnen!”

Ich tat, als würde ich in meiner plattgefahrenen Reisetasche kramen. Blätter und Erde zwischen Socken und Unterwäsche, verschrammte CDs, die Zahnpasta im ganzen Kulturbeutel umhergequetscht. Ich schämte mich. Erstens, weil ich meinem Freund die Wahrheit verschweigen mußte, und zweitens, weil ich das abwegige Gefühl hatte, es sei Unrecht, soviel Glück zu haben, wenn Karl es nicht hatte. Vermutlich war es genau dieses Gefühl, das seinerzeit Elvis Presley dazu trieb, dauernd Cadillacs an seine Freunde zu verschenken. Vielleicht würde ich auch bald ein paar Geschenke verteilen können. Im Geiste sah ich, wie ich Karl beiläufig einen Autoschlüssel zuwarf: „Hier Alter, du stehst doch auf Porsche – der da drüben gehört dir.” Und Karl würde nach Luft ringen, sprachlos vor Rührung und Dankbarkeit. „Du, Paul, ich weiß gar nicht, wie … wie …”

„Ihren Leichenwagen hab ich im Wald gefunden, bloß Sie nicht, Herr Nickel!” Walter Lübbers war gewichtig an den Tisch getreten und zeigte ein halb vorwurfsvolles, halb schelmisches Lächeln. Walter war fast ebenso groß und rund wie sein verstorbener Bruder, doch im Gegensatz zum rotblonden, schwammigen Willi hatte Walter dunkles Haar, das zu einer Ponyfrisur geschnitten war, und wirkte äußerst gesund und kompakt. Unter seinem zeltartigen, offenen Dufflecoat spannte sich ein handgestrickter Norwegerpullover, die Brille blitzte, dahinter braune Rehaugen. Er war sichtlich stolz auf seine langen Wimpern, denn beim Sprechen klimperte er fortwährend damit. Er legte die Hände an die Hosennaht wie ein Schuljunge: „Darf ich mich setzen?”

„Wir wollten grad gehen”, sagte Karl rasch und erhob sich.

Ich stand ebenfalls auf und streckte Walter die Hand hin. „Mein Beileid.”

Sein Gesicht zog sich für einen Moment in die Länge. „Danke” sagte er tonlos. Dann leuchteten die Augen wieder hoffnungsvoll auf: „Ich fahr Sie rüber, ja?”