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ANDREAS KUMP

ÜBER VIERZIG

ROMAN

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At the age of 37

She realized she’d never ride

Through Paris in a sports car

With the warm wind in her hair.

Marianne Faithfull, The Ballad of Lucy Jordan

Text: Shel Silverstein

INHALT

ROLAND

MONA

ROLAND

PIA

TOMMI

MONA

ROLAND

MONA

LESBOS

TOMMI

ROLAND

PIA

LESBOS

PIA

ROLAND

MONA

LESBOS

PIA

ROLAND

TOMMI

MONA

TOMMI

LESBOS

TOMMI

ROLAND

LESBOS

ROLAND

LESBOS

ROLAND

DANKE

ROLAND

Am Donnerstag bewegten sich die Temperaturen bereits gegen Mittag auf die vierzig Grad zu. Damit folgten sie den Vorhersagen der Meteorologen. Bislang noch nie gemessene Werte waren für den späteren Tagesverlauf in Wien angekündigt, heißer als in Athen und Madrid sollte es heute werden, und die Ursache dafür kam von weit her. Angekurbelt von einem Tiefdruckwirbel über der Biscaya hatte eine südwestliche Höhenströmung zu Wochenanfang Luft aus der Sahara bis nach Österreich getragen. Seitdem heizte sich vor allem im dicht bebauten Wien die Lage zunehmend auf. Auch weil die Lüftung nicht wie gewohnt funktionierte. In der oft windgeplagten Stadt, wo ganzjährig hinter jeder Ecke eine Bö lauern konnte, hingen die Blätter seit Tagen schlaff von den Ästen, nachts kühlte es wegen des abgestellten Luftstroms hingegen kaum ab. Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik hatte deshalb für Ostösterreich die Hitzewarnstufe Rot ausgerufen. Wer nicht unbedingt musste, so die staatsbehördliche Empfehlung, sollte heute in den sonnenintensivsten Stunden das Haus besser nicht verlassen.

Nun, Roland blieb keine andere Wahl. Er musste raus. Unbedingt. Daran führte für ihn kein Weg vorbei. Das war jedoch allein seine Schuld. Eine Folge eigener Versäumnisse und vor sich hergeschobener Termine. Nichts von dem, was es für ihn heute zu erledigen galt, war ursprünglich für diesen Tag vorgesehen gewesen. Jedes der anstehenden Vorhaben sollte längst abgehakt und aus der Welt sein. Der Zahnarztbesuch genauso wie die Rückgabe der Astschere. Aber mit dem Abhaken hakte es neuerdings in Rolands Leben. Konkret seit jenem Tag Anfang Juni, an dem ihn ein Notarztwagen von seinem Arbeitsplatz bei Twentyfoursevendotnet mit Blaulicht ins Allgemeine Krankenhaus befördert hatte. Knapp zwei Monate war das her, und seitdem erhielt jeder, der Roland eine E-Mail an die Firmenadresse schickte, postwendend eine Abwesenheitsnotiz: »Einstweilig nicht erreichbar.« Und seitdem unternahm Roland selbst alles, um kein weiteres Mal in den Zustand zu verfallen, der seine besorgten Arbeitskollegen damals die Notrufnummer hatte wählen lassen. Darum unternahm er in letzter Zeit am liebsten: nichts.

Panikattacken. Natürlich, davon hatte er vorher immer wieder einmal gehört und gelesen. Ohne sich groß darüber Gedanken zu machen. Panikattacken zählten für ihn zu der Art Programmfehler, die ausschließlich anderen Leuten passierte. So wie Leukämie, Multiple Sklerose, Morbus Parkinson und so weiter. Darum überraschte es Roland an besagtem Junitag doppelt, dass dem nicht so war. Plötzlich war er davon betroffen. Von einer Minute auf die andere fühlte er sich unruhig, seine Handflächen wurden schwitzig, das Herz morste ungewohnte Schlagfolgen an das Hirn. Die Nachricht glaubte er im Nu enträtselt zu haben: Herzrasen bis zum Infarkt. Seine Pumpe war im Begriff zu übersteuern, gleich würde er hopsgehen. Herzinfarkt, dachte er noch, darf denn das wahr sein? Damit rutschten sonst Neunzigjährige am Ende eines erfüllten Lebens vom Stuhl, aber doch nicht er, Roland Libert, fünfundvierzig, Leiter des Sysadmin-Teams bei Twentyfoursevendotnet, verheiratet, Vater eines kleinen Sohnes namens Lukas. Er wollte nicht so jäh und unvollendet abtreten. Minutenlang sah es jedoch genau danach aus. Der Tod war dabei, einen großen Fehler zu machen. Aus dem Off hörte er bereits Neil Young mit goldgelber Engelsstimme »Comes a Time« singen, während sich das Tamtam des Herzens weiter steigerte. Das Panikgefühl eskalierte. Roland machte sich zur Abreise fertig. Er lag rücklings auf dem Parkett und starrte in Erwartung seines Exitus die weiße Zimmerdecke an. Die Stimmen der um ihn herumstehenden Kollegen nahm er nur noch gedämpft wahr. Dann war auch schon der Notarzt zur Stelle. Er wurde auf eine Trage gehoben. Beim Transport ins Krankenhaus begann er zu hyperventilieren. Er bekam eine Atemmaske übergestülpt und …

Panikattacken. So unerwartet sie kommen, so schnell gehen sie vorbei. Das wusste Roland seither. Und dass es sich dabei um eine Alarmreaktion des Körpers handelte. Eine drastisch geäußerte Kritik der Psyche an der Haushaltsführung, wenn man so will. Über den daraus resultierenden, an ihn adressierten Forderungskatalog machte er sich keine Illusionen: weniger Stress, weniger Deadlines, weniger Jazz mit Mona, weniger Espressi doppi am Morgen, weniger Postings, Pins und Pizzaservice untertags, weniger Bier nach Dienstschluss, weniger durchgespielte Nächte in World of Warcraft (als Zwerg).

Sein Leben ging zwar weiter, sah nun aber anders aus. Inzwischen gab es darin Dr. Follath, einen Neurologen, der ihm bei der ersten Konsultation gleich dreißig Filmtabletten des rasch wirkenden Angsthemmers Xantyl verschrieben hatte, nur einzunehmen bei neuerlichem Aufflackern der Symptome, außerdem noch Dr. Eller, Psychotherapeutin, die Roland ihrerseits Tricks beibrachte, wie sich die irrige Annahme eines Herzinfarkts schon im Ansatz und ohne Medikation vertreiben ließ. Was mehr als nur Vorsichtsmaßnahmen waren. Die vorläufig bis Jahresende geltende Freistellung von seinem Job war an die Befürchtung gekoppelt, trotz alledem eine weitere Panikattacke erleiden zu können. Die Schockerfahrung des ersten Mals saß bei Roland tief. Oder um es mit den ungeschönten Worten von Dr. Eller zu sagen: »Das ist wie ein Sprung im Glas. Das geht nicht mehr weg.«

Vierzig Grad Celsius, das kann noch eine heiße Sache werden, befürchtete Roland. Jetzt nur keine Panik. Bloß nicht auf falsche Gedanken kommen. Auch wenn ihn die Kombination aus Hitze und runterknallender Sonne dazu verleitete. Seit mehreren Minuten stand er an einer Fußgängerampel am Margaretenplatz und wusste nicht: vor oder zurück. Die Luft hatte etwas Geleeartiges, Hinderliches, in ihr schwamm ein fremdartiger, schwerer Geruch. Die Ampel wechselte auf Grün, zum vierten Mal seit Roland hier wartete, aber er trat auch diesmal nicht aus dem schützenden Schatten der Markise. Gestern Abend, während der Wettervorschau, war ihm bei der Erklärung des Satellitenbilds mulmig geworden. Die Prognose vertrug sich nicht mit seinen Plänen für den heutigen Tag. Aber das half nichts. Umzudisponieren kam nicht infrage. Ein Seitenblick zu Mona hatte ihn sofort eines Besseren belehrt. Es gab keine Ausflüchte mehr, drückte sie durch ihre Körperhaltung ihm gegenüber aus. Diskutieren zwecklos. Er sah und spürte es. Monas Nachsicht mit seinen Schwächen war erschöpft. Morgen würde er auch bei Saharaluft aufbrechen müssen. Und nun war morgen heute und es war exakt so heiß und atemraubend, wie die Wettermoderatorin im Fernsehen behauptet hatte.

Während Roland an der Ampel überlegte, wie sich die augenblickliche Lähmung überwinden ließe, sah er auf der anderen Straßenseite Oleg auftauchen, den ukrainischen Eigentümer und Barista des angehipsterten Ladens Kaffee von Oleg in der Schönbrunner Straße. Ein fröhlicher, gutmütiger Kragenbär von einem Kerl. Breite Schultern. Vollbart. Dichter Pelz im V-Ausschnitt eines weißen T-Shirts.

»Challo Roland!«, schallte es von gegenüber. Roland atmete tief ein, winkte mit der rechten Hand zaghaft zurück, dann trottete Oleg auch schon heran.

»Roland, was machst du immer?«, begrüßte ihn Oleg mit ausgebreiteten Armen. »Warum kommst du nicht mehr auf Espresso vorbei?«

»Hmm.« Roland senkte den Blick, als stünde er unter Anklage.

»Magst du Kaffä von Oleg nicht mehr?«

»Aber sicher, Oleg. Dein Kaffee ist der beste der Stadt, aber … es ist … das Herz.«

»Cherz? Was chast du mit Cherz? Chast du Liebeskummer?«

»Nein, äh … Herzrasen.«

»Ah! Rasen! Zu schnell, ja?« Oleg schlug sich mit der Faust im flotten Takt auf die Brust.

»Ja, genau. Zu schnell.«

»Kein Koffä-in, ja? Kein Doppio, ja?«

»Nein, besser im Moment kein Koffein.«

»Aber ich chabe keinen koffä-infreien Kaffä. Tut mir leid«, brummte der Ukrainer.

»Weiß ich, Oleg.«

»Ist Prinzip von mir, verstehst du? Das ist nicht Kaffä, wenn kein Koffä-in. So wie Birr ohne Alkohol ist auch nicht Birr.«

»Ja, ja.«

»Aber kommst du wieder, wenn Cherz gesund?«

»Klar.«

»Mach’s gut, ja?«

»Ja, ja.«

Der ukrainische Barista drückte ihm aufmunternd den Oberarm und trottete dann die Margaretenstraße stadteinwärts davon.

Roland blieb mit trockenem Mund unter der Markise zurück. Selbst im Schatten wurde es langsam ungemütlich. Die Schweißperlen in seinem Nacken schwollen gefühlt auf Golfballgröße an. Trotzdem rührte er noch immer kein Bein. Er fühlte sich weiterhin gefangen im Für und Wider, im Vor und Zurück, wo ein Gedanke den anderen in Schach hielt, bis gar nichts mehr ging. Er fragte sich: War es wirklich schlau, zur Mittagszeit eines auf Rekordhitze zusteuernden Sommertags durch windstille Großstadtstraßen zu laufen? In seinem zurzeit mehr als dünnen Nervenkostüm? Er überlegte fieberhaft. Nach Hause waren es keine fünf Minuten, er wohnte nur zwei Straßen von hier – aber umzukehren, das traute er sich nicht. Die Sorge, Mona hinterher erklären zu müssen, warum er heute ein weiteres Mal gescheut hatte, verbaute ihm den Rückweg.

Roland blieb unschlüssig. Normalerweise würde er um diese Uhrzeit längst im Kongo planschen. So hatte er jedenfalls seit seiner Krankschreibung die meisten sonnigen Tage verbracht. Im Kongressbad, dem Kongo, wie die eingesessenen Wiener dazu sagten. Es hieß das Kongo, nicht der. Der Kongo war ein Staat in Zentralafrika, das Kongo ein städtisches Freibad im Westen von Wien. Dorthin zog es Roland freilich auch heute wieder. Vorher musste er sich aber in die flimmernde Pilgramgasse vorwagen und andere Orte in der Stadt aufsuchen, endlich erledigen, was von ihm erwartet wurde, Antriebsarmut hin oder her.

Der erste Weg des Tages galt seinem Zahnarzt. Vierundzwanzig Minuten blieben Roland noch, um den bereits mehrfach verschobenen Termin pünktlich wahrzunehmen. »Diesmal fix. Definitiv. Letztgültig. Damit wir uns richtig verstehen, Herr Libert!« Ihm klang noch deutlich im Ohr, was ihm die Assistentin des Zahnarztes letzte Woche auf die Mobilbox gesprochen hatte. Er wusste, das eigens für ihn angefertigte Ersatzteil musste heute auf den vor Wochen zurechtgeschliffenen Zahn. Sonst … Ja, was sonst? Er hatte nicht vor, das herauszufinden.

Und auch das zweite, oft angekündigte, bislang nie verwirklichte Vorhaben zog sich seit geraumer Zeit hin. Die Rückgabe der Teleskop-Astschere an Christian. Ein echtes Profigerät, Traum jedes Hobbygärtners. Roland hatte es sich in einem Anflug von Tatendrang im Frühling bei seinem Schwager ausgeliehen, dann aber nie benutzt. Achtlos war die Astschere bei ihnen im Vorzimmer gelehnt, zum wild wuchernden Ärger Monas. Roland hatte seiner Frau gestern hoch und heilig geschworen, er erledige heute beides. Zahnarztbesuch und Rückgabe der Astschere. Nicht zum ersten Mal freilich. Aus Monas resignierender Reaktion schloss er aber, er sollte diesmal besser Wort halten.

Nur keine Panik, dachte Roland. Du hast alles unter Kontrolle. Netzwerkswitches erneuern, Bugs fixen, Patches einspielen – als Systemadministrator konnte er das im Schlaf. Er musste es anstatt im Job nur bei seiner Psyche anwenden. Das war einer von Dr. Ellers Tricks: an den eigenen Fähigkeiten festhalten, Routinen vertrauen. Half das nicht, um seine Angstwallungen zu vertreiben, musste er pragmatisch zur nächsten Methode greifen. Sich wie die Kinder beim Fangenspielen ins »Boot« retten, an einen Ort, an dem man sich geborgen fühlt. Oder auf seinen prominenten »Rhythmushelfer« hören. Rhythmushelfer? Roland verstand zunächst nicht, was Dr. Eller mit diesem Vorschlag meinte. Aber als ihm die Psychotherapeutin erklärte, die Imagination eines unfehlbaren Taktgebers diene dazu, ihn beim Einbremsen seiner Herzschlagfrequenz zu unterstützen, ließ er sich bereitwillig darauf ein. Er entschied sich, ohne lange zu überlegen, für Buddy Rich, den Jazz-Schlagzeuger, virtuos und entspannt wie kaum ein zweiter an diesem Instrument. Als er später durch einen Zufall herausfand, dass Buddy Rich an einem Herzinfarkt gestorben war, hielt er trotzdem an dem erwählten Rhythmushelfer fest. An sich war Roland kein Typ für Autosuggestion. Auch Entspannungstechniken lagen ihm nicht sonderlich. Yoga etwa, wie von Dr. Eller als Ausgleich vorgeschlagen. Yoga kam für ihn nicht infrage. Genauso wenig schaffte er es, unter Anleitung zu meditieren. Sobald ihm jemand zuflüsterte, er fühle sich leicht, rieb ihn schon der Flüsterton auf, und es war mit der Übung bereits im Ansatz vorbei. Sich leicht zu fühlen, fiel ihm schwer. Überhaupt fällt einem vieles schwer, wenn sich immer wieder die in Angst ausufernde Unrast meldet. Ja, er hatte jetzt häufig Panik vor der Panikattacke. Panikattackenpanik, wie er es selbst nannte. So verrückt war das mitunter.

Auf der Suche nach dem passenden Bewegungsimpuls ging Roland unter der Markise das weitere Repertoire Dr. Ellers durch. Was war noch im Köcher?

»Selbstvergewisserung, Perspektivenwechsel vornehmen«.

Ah, das schien ihm in diesem Moment am zielführendsten zu sein. Er tat einen Schritt aus dem Schatten, blinzelte kurz in das Gleißen, ließ seine Wahrnehmung drohnengleich in die Höhe steigen und besah sich seine Situation objektiv von oben. In der Sülze der Saharaluft erkannte er: sich, einen mittelalten Mann, hagere Figur, Bauchansatz, kurzes, an den Schläfen angegrautes Deckhaar. Ein im Grunde nicht weiter auffälliger Typ, bekleidet mit Bermudashorts, fransigem Muskelshirt und Flipflops. Eine sommerliche Lässigkeit ging von der freizeitlichen Kleidung aus, in einem Sommer, den im aufgeheizten Wien kaum noch jemand als lässig empfand. Über der rechten Schulter führte der Mann einen Stoffbeutel mit sich, in der linken Hand hielt er eine Teleskop-Astschere, unterarmlang, metallisch glänzend. So weit, so gut. So selbstkritisch sich Roland auch prüfte, er bemerkte kein Schwanken oder Wanken, sah kein Anzeichen dafür, warum dieser aufrecht am Straßenrand stehende Mann nicht gegen die Wüstenluft und die auf ihn niederknallenden Sonne gewappnet sein sollte. Das erfüllte ihn mit neuer Zuversicht, und er nahm nun tatsächlich Bewegung auf. So schnell, wie es die billigen Plastiktreter an seinen Füßen eben zuließen. Flip-flop, flip-flop. Schmatzende Geräusche orchestrierten seine Schritte.

Zwölf Uhr mittags war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um an einem Hochsommertag auf der Pilgramgasse unterwegs zu sein. Die Sonne stand zu dieser Stunde am Zenit und kostete ihre Strahlkraft erbarmungslos aus. Da der Himmel heute blank geputzt war, gab es keinen Schutz vor ihr, denn die Straße verlief minimal gekrümmt nach Norden. Eine dreistöckige Schlucht ohne Schattenränder. Allgegenwärtige Hitze, unausweichliches Licht. Roland schritt trotzdem weiter aus.

Vorbei am Eissalon, dem Handyshop, am Reisebüro, in dessen Schaufenster sinnigerweise ein Poster mit einer Sanddüne hing, am Budapest Bistro. An der nächsten Ecke angelangt, atmete er erst einmal tief durch. Autos rasten in hoher Geschwindigkeit vorbei, der Lärm der Motoren hallte nach. Im Nacken kullerten weiter Golfbälle. Der Odor des Straßenrands stieg ihm in die Nase. Ein schweres Benzin-Luft-Gemisch, das direkt ins Gehirn durchkroch. Er sah auf seine am Handgelenk klebende Armbanduhr. Noch zwanzig Minuten, um es zum Zahnarzt im Neunten zu schaffen. Knapp, aber machbar. Vorausgesetzt, die U-Bahn ließ nicht lange auf sich warten.

In der U-Bahn ertappte sich Roland anschließend beim heftigen Schnaufen. Kein Wunder, denn die Luftverhältnisse waren kritisch. Gekippte Fenster saugten einen nur dünnen Wind ins Wageninnere. Eine andere Kühlung gab es nicht. Wie die meisten Wohnungen, waren auch die älteren U-Bahn-Garnituren in Wien nicht klimatisiert. Bis vor einigen Jahren stellte das kein großes Problem dar. Aber nun gab es anders als früher kaum noch Sommertage, an denen die Temperaturen nicht über dreißig Grad stiegen. Wobei die aktuelle Hitzeperiode noch einmal andere Maßstäbe setzte. Roland blickte in abgekämpfte, fiebrige Gesichter. Der Zug rüttelte lärmend von einer Station zur nächsten. Im Wagen stank es nach gekochter Kotze. Zombies, dachte er, die Leute um mich herum sehen wie in schlechten Zombiefilmen aus, verschwitzt, käsig, stumpf auf ihre Handys starrend. Und er selbst? Da machte er sich nichts vor. Er sah kein bisschen besser aus. Er war von den Kräften gezeichnet, die ihn aus der Berufslaufbahn geschleudert hatten – und jetzt kam auch bei ihm die Hitze dazu, die ihn schlauchte. Aber er hatte nach wie vor Buddy Rich, den guten, alten Buddy, bei dem jeder Schlag pünktlich auf die Eins kam, und darum behielt er während der gesamten Fahrt den Glauben an sein Durchhaltevermögen. Die Saunaluft in der U-Bahn ließ sich mit der Unterstützung seines Rhythmushelfers ertragen. Monas Tribunal, würde er im letzten Moment schwächeln und gleich ins Kongressbad fahren, hingegen nur schwer. Aber nicht daran denken, nahm er sich vor. Nur keine Panik schieben. Sonst passiert wer weiß noch was.

Roland fühlte sich erleichtert, als er an der U-Bahn-Station Rossauer Lände wieder an die Oberfläche trat. Hitzeschwaden lungerten vor dem Ausgang herum. Eine leere, in der Mitte abgeknickte Red-Bull-Dose lag glänzend auf dem Gehsteig. Der verdorrte Grasstreifen am Fahrbahnrand flehte vergebens um Wasser. Mit nochmaligem Blick auf die Armbanduhr bog Roland in die Seegasse ein: Ihm blieben drei Minuten für die letzten fünfhundert Meter. Das hieß sprinten, sonst würde er es nicht pünktlich schaffen. Roland begann zu laufen, schneller und schneller. Die Aussicht, nach Wochen der Lethargie erstmals wieder ein selbstgestecktes Ziel erreichen zu können, setzte plötzlich Adrenalin in ihm frei. Das Klatschen der Plastiktreter begann sich in der Gasse zu überschlagen. Rhythmische Geräusche, die Roland bei seinem Lauf anspornten.

Die Ordinationshilfe nahm keine Notiz von ihm. Seit mehreren Minuten stand Roland bei der Anmeldung und wartete darauf, dass sie endlich vom Computer hochsah. Es war angenehm kühl in der Zahnarztpraxis, ein Standventilator führte halbkreisförmige Bewegungen aus. Trotzdem transpirierte Roland übermäßig. Nachschwitzen. Eine Folge des Sprints. Das Muskelshirt klebte ihm am Körper, die kurzen Haare hingen ihm nass in die Stirn. Unter den nackten Sohlen sammelte sich Salzwasser. Roland vertrieb sich die Zeit, indem er die Ordinationshilfe beim Tippen beobachtete. Sie war ein paar Jahre älter als er und trug eine weiße Bluse, dazu ein seidenes, blau-gelb gestreiftes Halstuch. Korrekt sitzende Haare ließen erahnen, dass er eine Frau vor sich hatte, die es in allen Belangen genau nahm.

Langsam wurde Roland ungeduldig. »Guten Tag«, sagte er etwas lauter.

Als fühle sie sich bei Wichtigem gestört, sah die Ordinationshilfe unwillig zu ihm auf. Der Versuch eines Lächelns passte nicht wirklich zu ihrem Gesicht. Es folgte eine kurze Musterung von oben herab, bei der ihr immer abschätziger werdender Blick auf halbem Weg hängen blieb. Ihre Stirn kräuselte sich bedenklich.

»Was ist das?«, näselte die Frau.

»Das?«, fragte Roland.

»Ja, das.«

»Eine Teleskop-Astschere«, sagte er und hob sie demonstrativ hoch.

»Ach, ist das eine?«

»Ja.«

»Und wozu, glauben Sie, ist derlei Gerät bei Ihrem Termin nötig?«

Die Zunge in Tinte tauchen und durch die Nebenhöhlen sprechen. Das konnte nicht jeder. Die Ordinationshilfe konnte wiederum gar nicht anders. Roland beeindruckte das negativ. Er spürte, wie Buddy Rich in seinem Brustkorb gleichklingend das Tempo anzog. Am liebsten wäre er prophylaktisch gegangen. »Ich habe sie zufällig dabei«, hörte er sich stattdessen antworten.

»Zufällig? Sie erscheinen zufällig mit einer Astschere beim Zahnarzt?« Die Ordinationshilfe lachte gekünstelt. Sie blickte hinter ihn, wo die anderen Wartenden saßen, Gemurmel kam hinter seinem Rücken auf.

Roland war die Situation unangenehm. Er suchte nach einer filmreifen Antwort. Ihm fiel nur spontan keine ein.

»Wie heißen Sie?«, wurde er im Gegenzug gefragt.

»Roland Libert.«

»Aha, Libert!«, kam es zurück.

Aha? Was wollte sie ihm damit sagen?

Die Ordinationshilfe tippte mit Elan auf der Tastatur herum. Ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie daraus Befriedigung zog. Es konnte nicht zu seinem Vorteil sein, was sie schrieb. Er unterließ es, nachzufragen. Als sie endlich ihre Aufzeichnungen fertig hatte, wandte sie sich ihm neuerlich zu. »Stellen Sie das Gerät in den Schirmständer« – sie wedelte mit langen Fingern in Richtung der Eingangstür –, »und dann nehmen Sie bei den anderen Patienten Platz. Sie werden aufgerufen.«

Er tat wie geheißen.

Neunzig Minuten später in Ottakring. Christian hatte sich vor der Sonne verbarrikadiert. Die Fenster in der Wohnung am Yppenplatz waren luftdicht geschlossen, die Jalousien heruntergelassen, alle Vorhänge zugezogen. Genutzt hatte es wenig. Drinnen war es fast genauso heiß wie draußen. Schwitzend hockte Christian am Küchentisch. Der schwarze Haarschopf wies ungezähmt in alle Himmelsrichtungen, Schwaden von Zigarettenrauch zogen durch das abgedunkelte, ungelüftete Zimmer. Vis-à-vis von ihm: Roland. An der Wand hing eine alte Uhr, deren Zeiger sich nicht bewegten. Darunter ein Poster mit vierzig vom Aussterben bedrohten Fischarten. In der Wohnung nebenan dröhnte ein Fernseher, dem Vernehmen nach eine türkische Seifenoper. Vorsichtig nahm Roland einen Schluck Mineralwasser, die linke Wange noch taub von der Narkose. Dann tupfte er mit der Zungenspitze auf seinem neuen, künstlichen Backenzahn herum. Viel fühlte er dabei noch nicht. Gerade hatte er Christian von seiner Behandlung berichtet. In sämtlichen Details. Nun wartete er auf die Reaktion seines Schwagers.

»Das ist doch absolut daneben, oder?«, sagte Christian nach einer kurzen Pause.

Was genau war damit gemeint? Roland fragte sich, wie er auf Christians unklaren Kommentar reagieren sollte. Nicken oder den Kopf schütteln?

»Muss man sich jetzt schon wegen einer Astschere dumm anreden lassen? Das kann doch nicht sein.«

Roland gab ihm mit einer Geste recht, erleichtert darüber, dass es nicht die verspätete Rückgabe war, die Christian aufbrachte. Seine Nachlässigkeit war damit vorerst vom Tisch. Darauf hatte Roland während des Erzählens gehofft. Er wusste schließlich, dass sein Schwager überhebliches Getue auf den Tod nicht ausstehen konnte. Christian hasste jede Form von Standesdünkel. Es ging ihm ums Prinzip – und seinem Prinzip nach waren alle Menschen gleich, egal wie viel sie verdienten oder was sie darstellten. Und da der großbürgerlich konnotierte Hochmut einer willfährigen Gefolgsfrau des Medizineradels seine eigene Astschere betraf, fühlte er sich zusätzlich herausgefordert. »Habsburger Hurerei!«, platzte es in der Folge aus Christian heraus. So verbissen und kurzatmig, wie er an seiner selbst gedrehten Zigarette sog, war zu erkennen, dass er jeden Augenblick Betriebstemperatur erreichen würde.

»Wiener Charme«, sagte Roland.

Christians Mund wurde schmal. »Ja, genau! Der berühmte Wiener Charme!«, sagte er. »Wie ist es denn wirklich? Wenn du in dieser Stadt keinen Titel oder kein bekanntes Gesicht hast, fahren sie dir zur Begrüßung mit dem Arsch ins Gesicht.«

Roland nickte beiläufig. Er hatte solche und ähnliche Brandsätze schon oft von Christian bei Gesprächen auf der »Kruste« gehört. Kruste, so bezeichnete Christian den bis in die letzte Ecke zugepflasterten Yppenplatz vor seiner Haustür. Auf diesem Platz führte er mit anderen Dissidenten seit Jahren im selben ranzigen Schuppen Diskussionen über lokale und globale Miseren. Dass es auf der Kruste inzwischen neue Lokale gab, die hauptsächlich von zugezogenen Gutverdienern frequentiert wurden, ließ die Diskutanten um die leistbaren Mieten im Viertel fürchten. Würde ihn die Sonne heute nicht hinter Mauern zwingen, wäre Christian jetzt mit absoluter Sicherheit dort zu finden gewesen. Beim Biersüffeln und Beschweren. Über den historischen Glanzlack, der diese Stadt erstickte. Die Konsumscheißwelt. Die Saturierten in der Parallelwelt des ersten Bezirks. Roland kannte die Bandbreite der Biertischthemen. Doch während er Christians Tiraden für plattes Frustablassen hielt, hörte er auch die tiefer sitzende Tragödie dabei heraus. Dass da einer, der alles über biologischen Landbau und das Gartenhandwerk wusste, es auch nach Jahrzehnten nicht schaffte, in der Wiener Erde anzuwurzeln. Eine üble Laune der Natur. Schließlich war Christian einer, der ohne Internet wusste, wie man Hainbuchen pflanzt, Brot bäckt und Schafe schert. Ein Typ, der den Kopulationsschnitt aus dem Effeff beherrschte, die Finesse beim Veredeln von Obstbäumen. Der Küchenabfälle zu Gartendünger kompostierte, auf japanische Art, in einem Bokashi-Kübel, gegen den erklärten Willen seiner Frau Hanna. Und so einer in der Großstadt, im zweiten Stock eines Zinshauses, Wand an Wand mit anderen, umzingelt von Häusern und noch mehr Häusern, auf versiegeltem, verlorenem Boden?

Bis zu seiner Panikattacke war Roland dem ökologischen Treiben Christians mit größtem Desinteresse gegenübergestanden. Grüner Daumen, schön und gut, ein vor sich hinfaulender japanischer Abfallhaufen in der Wohnung entsprach jedoch wirklich nicht seiner Vorstellung eines gemütlichen Zuhauses. Rolands Desinteresse an grünen Themen weichte sich erst auf, als er nach der Panikattacke über sein Leben nachzudenken begann. Er fragte sich dabei, wo er die letzten zwanzig Lebensjahre verschwendet hatte. Bei Twentyfoursevendotnet, kam er zur Erkenntnis. Virtuelle Probleme hatten ihn beschäftigt gehalten. Es gab nichts von ihm eigenhändig Erschaffenes, hervorgegangen aus ehrlicher, körperlicher Arbeit wie vor hundert Jahren. Nur Einser und Nullen. Er verstand nun besser, warum sich Büromenschen verstärkt nach Bauernhöfen oder Gartenparzellen sehnten, wo sie Beete anlegten, säten und ernteten.

Mit seinen eigenen Händen ein Haus bauen – Christian konnte das. Und er? Nein, er konnte das nicht. Was konnte er denn schon? Programmieren. Was half ihm das, sollte die Apokalypse eintreten? Die Energieversorgung gekappt, alle Systeme zusammengebrochen, die Supermärkte geplündert. Christian würde das nichts ausmachen. Der wüsste sich sofort selbst zu helfen. Aber Menschen wie er? Säßen dann vor erloschenen Bildschirmen, darauf wartend, dass jemand das Internet wieder anmacht. Wir sind eine Generation, die entfremdet von der Natur aufgewachsen ist, dachte Roland. Uns ist die Serverfarm näher als der Bauernhof. Wir weiden uns daran, bestens ausgebildet zu sein, sind dabei aber völlig nutzlos. Genau darum beneidete Roland seinen Schwager. Er besaß nutzbringendes Wissen. Er konnte, wenn er wollte, autark leben, sich selbst ernähren. Schon jetzt verdiente er sich sein Nötigstes in den Gärten anderer Menschen, tat dort, was andere nicht mehr konnten oder wie Roland nie gelernt hatten. Gartenarbeit. Feldarbeit. Waldarbeit. Handarbeit. Mit sichtbaren Früchten seines Tuns. Gab es Erfüllenderes?

»Wie gehen bei dir eigentlich die Geschäfte?«, fragte Roland.

Sein Schwager tat zwei Züge an seiner Zigarette, ließ sich mit dem Antworten Zeit. »Gut und schlecht«, sagte er dann. »Meine Nummer kursiert gerade bei reichen Urban-Gardening-Heinis. Die gepamperte Abteilung, weißt du.« Vielsagend blickte Christian ihn an. »Es wurde geerbt, oder die Eltern zahlen eine Eigentumswohnung, und jetzt spielen sie ein bisschen punky. Jede Woche ruft einer an, damit ich die nächste Dachterrassenplantage maniküren komme. Bio, bio, bio. Alles muss auf einmal nachhaltig und urgesund sein. Bis vor zwei Jahren haben sie noch von Wodka-Red-Bull gelebt. Und jetzt? Ayurvedische Kraftsuppe und so. Die stehen auf ihrer Terrasse herum und erzählen mir von ihrer Läuterung. Eh keine Ahnung von irgendwas, aber groß blabla, Selbstversorgen und so. Das möchte ich sehen, sage ich denen dann immer. Zieh dir einmal deinen Jahresbedarf an Karotten selber hoch. Viel Spaß dabei. Und warum soll das überhaupt jemand tun, wenn der Sack Biokarotten im Diskonter einen Euro kostet?«

Roland musterte seinen Schwager. »Ich versteh dich gerade nicht, Christian. Das wolltest du doch immer – dass sich die Leute wieder mehr für die Umwelt und die Lebensmittel interessieren. Warum beschwerst du dich also jetzt darüber?«

»Weil mich das Gequatsche der Typen nervt. Die sind so bieder, dass es wehtut. Alle offiziell keine Hallelujafans, aber ihre Kinder lassen sie taufen, selbstverständlich. Ihre Sponsoren erwarten das, verstehst du? Und das erzählen sie dir in einem Deutsch, da glaubst du, du hörst Radio Stephansdom. Am Dach ziehen sie sinnlos Biokarotten hoch, und vor der Tür parkt der SUV. Die Hitze heute … logisch. Das muss alles so kommen. Treibhauseffekt, Roland. Alle fahren und fliegen wie die Irren durch die Gegend, blasen Kohlendioxid in die Atmosphäre, als ob es kein Morgen gäbe. Es hat Jahrmillionen gedauert, damit Biomasse zu Kohle und Erdöl wird – und wir verbrauchen sämtliche fossilen Energieträger binnen weniger Jahrzehnte.«

»Das wird sich schon irgendwie lösen lassen«, wandte Roland ein.

»Aber nie im Leben! Wer bitte soll das lösen?«

»Irgendein genialer Entwickler.«

»Technologie? Da muss ich dich enttäuschen. Dass uns irgendwann eine Erfindung retten wird, ist ein Zukunftsmärchen. Was soll Technologie gegen Ressourcenverbrauch und Bevölkerungswachstum ausrichten?«

»Und die Politik?«

»Roland, Politiker wollen gewählt werden, oder? Die Leute wählen Politiker, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. Mit unbequemen Wahrheiten gewinnst du nur Feinde, aber keine Wahlen. Und auf Einsicht oder guten Willen brauchst du nicht zu hoffen. Alles, was da draußen abläuft, beweist tagtäglich das Gegenteil. Aber das wird sich bald aufhören. Die Welt stößt an ihre Grenzen. Und zwar früher, als die meisten glauben.«

Christian wirkte nicht beunruhigt deswegen. Es glitt im Gegenteil sogar ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, als verspreche er sich langfristig eine Verbesserung davon.

»Mit Tempolimits wird es anfangen«, setzte er fort. »Dann kommen die Fahrverbote. Das ist unausweichlich. Es gibt weltweit zu viele Verbraucher, zu viele Autos, viel zu viele Schadstoffe, und niemand will auf irgendwas verzichten. Aber das wird passieren müssen. In ein paar Jahren liegen die Maximaltemperaturen noch höher als heute. Dann wird man panisch versuchen zu retten, was noch zu retten ist.«

Bei dem Wort »panisch« war Roland kurz zusammengezuckt. Dass Christian der Menschheit panische Reaktionen voraussagte, bezog ihn doppelt mit ein, schreckte ihn auf. Überhaupt: Je länger sein Schwager redete, umso hitziger wurde er dabei. Mittlerweile war er bei Verteilungskämpfen und Klimakriegen angelangt. In der warmen, sauerstoffarmen Luft schnürten Christians schnell vorgetragene, nach Schwefel riechende Sätze Roland zunehmend den Atem ab. Sein Brustkorb hob und senkte sich blasebalgartig. Christian merkte das nicht. Versonnen strich er sich nach seiner ausgiebigen Schwarzmalerei über die Bartstoppeln. In hohem Bogen warf er dann den Stummel der fertig gerauchten Zigarette zu einem Stapel verkrusteter Teller ins Spülbecken.

Roland war über die Vortragspause froh. »Kann ich noch ein Mineralwasser haben?«

»Sicherlich.« Christian stand auf und ging zum Kühlschrank. »Mit Kohlensäure oder ohne?«

»Mit.«

»Naturtrüben Apfelsaft gäbe es auch.«

»Danke, nein.«

»Oder lieber doch ein kaltes Bier? Ich habe Bio-Zwickl. Wenn du eines trinkst, trinke ich auch eines.« Erwartungsfrohes Grinsen.

Roland überlegte. Reizvolles Angebot. Aber nein, lieber keinen Alkohol. Das würde bei Christian nur noch mehr Öl ins Feuer gießen. »Wasser ist fein, wirklich.«

Enttäuscht von Rolands Wahl stellte Christian eine Flasche Römerquelle auf den Tisch. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und begann genussvoll zu rauchen.

»Wo ist Hanna eigentlich heute?«

»Mit den Kindern drüben im Jörgerbad«, brummte Christian.

»Und da bist du gar nicht dabei?«

»Nein, ich bin allergisch gegen Chlor, vergessen?«

»Stimmt. Wärt ihr halt gemeinsam zur Alten Donau gefahren.«

Christian hustete heiser. »Viel zu weit. Haben wir schon ausprobiert. Dauert eine Dreiviertelstunde, bis wir dort sind. Da kriege ich Schweißblattern vorher. Nein, wir haben beschlossen, dass wir morgen bis zum Ende der Hitzewelle aus der Stadt abhauen. Nach Losenstein, zu meinen Leuten.«

»Klimaflüchtlinge!«, scherzte Roland.

»Ja, so weit sind wir schon.«

»Hör mal, tut mir wirklich noch einmal sehr leid, das mit deiner Astschere. Ich … du weißt ja, mir ging es einfach länger nicht so gut.«

»Kein Thema, passt schon«, sagte Christian. Mit angestrengter Miene verfolgte er, wie eine aus seinem Mund entfleuchte Formation Rauchkringel langsam zur Decke hochstieg. Der neue Qualm machte das Zimmer noch stickiger. Roland rang um Luft. Oft gingen seine Unruhezustände davon aus. Eingebildete Atemnot, Erstickungsangst. Er wurde unruhig. Demonstrativ schaute er auf die Uhr. »Ich muss jetzt los«, sagte er. Und weil der Schwager ihn mit zusammengekniffenen Augen zu fragen schien, wohin so plötzlich, fügte er an: »Schwimmen.«

»Ah ja? Ins Kongo, oder? Deine tägliche Waschung.«

»Richtig.«

Christian zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Chlorwasser. Selber schuld«, sagte er und erhob sich lässig vom Stuhl. »Ich halte hier die Stellung und kühle mich von innen.« Als er diesmal in den Kühlschrank langte, griff er zum Bier.

MONA

Die zähen Stunden nach der Mittagspause. Schon an normalen Tagen verschlug es in dieser Zeit kaum jemanden in die Filiale von Reprocopy. Wieso sollten also ausgerechnet heute die Kunden angerannt kommen? In den Uni-Ferien, bei über vierzig Grad? Untätig verweilte Mona am Rain elektromagnetischer Felder und blickte – die Gedanken anderswo – nach draußen. Das getönte Schaufenster gaukelte ihr Sepiafarben vor, ein Effekt, der den angejahrten Zinshäusern auf der anderen Straßenseite gut zu Gesims stand. Sie hatte die Straße im Blick. Alle paar Minuten zogen stark schwitzende Fußgänger schwere Nachmittagsschatten an der Auslage vorbei. So wenig Autoverkehr wie heute hatte die Schönbrunner Straße zuletzt während der Ölkrise neunzehnhundertdreiundsiebzig gesehen.

Neunzehnhundertdreiundsiebzig. Das Jahr, in dem Ingeborg Bachmann mit siebenundvierzig in Rom starb und Elvis Presleys Konzert in Honolulu via Satellit als bis dahin größtes weltumspannendes TV-Ereignis in über vierzig Länder übertragen wurde.

Mona hatte Presleys daraus hervorgegangenes Doppelalbum »Aloha from Hawaii«, einen Flohmarktfund, zu Hause im Regal stehen, ebenso einen abgegriffenen Band mit Bachmann-Gedichten, besaß aber keine eigenen Erinnerungen an diese Zeit. Nicht weiter verwunderlich, ihre Eltern schoben sie damals noch im Kinderwagen durch die engen Gassen des schönen Donaustädtchens Krems. Bei dem angenehmen Gerumple über historisches Kopfsteinpflaster verschlief Mona die Höhen und Tiefen ihrer Frühgeschichte. Manches dabei Versäumte schien sich jedoch nun als Farce in ihrem gegenwärtigen Leben zu wiederholen, oder wie sollte ihr die eigene Ölkrise sonst vorkommen? Ihr Atelier verwaiste. Angeschaffte Leinwände blieben weiß. Die Staffelei war nur noch nutzloses Gestänge. Schon länger fand sie weder Zeit noch Muße, an ihrem aktuellen Bild weiterzumalen – einer gewundenen, sich perspektivisch verengenden Landstraße, auf der zwei Menschen spazierten, deren Köpfe von der schwarzen Linie des Horizonts abrasiert wurden. Blasse, weichgezeichnete Farben, nebelige Grundstimmung. Als Bildtitel schwebte ihr dafür »Am Rand der Welt« vor. Doch wie lange dauerte dieser Schwebezustand eigentlich schon an? Zu lange sicherlich. Ihr erging es wie den zwei Personen auf dem Bild. Sie kam auf ihrem Weg nicht voran. Und mit jedem brachliegenden Tag wuchs sich die Untätigkeit im Atelier zur Infragestellung ihrer Lebensführung aus.

Eine ins Innere des Copyshops geratene Fleischfliege lief langsam die Scheibe entlang. Mona sah ihr dabei zu, wie sie vergebens ein Schlupfloch in der gläsernen Barriere suchte. Spätestens morgen Früh würde die Fliege tot auf dem Fußboden beim Fenster liegen, zur Strecke gebracht vom Elektrosmog, das wusste Mona von zahllosen vorangegangenen Fällen. Die Lebenserwartung eingeschlossener Fluginsekten betrug bei Reprocopy maximal zwanzig Stunden. Dem hier tätigen menschlichen Personal, inklusive ihr selbst, erging es vergleichsweise besser. Es bekam vierzehn Gehälter, war kranken-, unfall- und pensionsversichert, Essensbons für die benachbarten Lokale gab es auch. Ein Klima zum Klebenbleiben. Eine menschliche Fliegenfalle. Obwohl selbst diese Idylle kleine Farbfehler aufwies. Über eine mögliche biologische Wirkung von Elektrosmog auf den Menschen stritten die Fachleute ohnehin. Mona ignorierte diese schleichende Bedrohung aber aus gewohnt draufgängerischen Gründen. Für sie bildete der Elektrosmog den letzten Risikofaktor in ihrer gepolsterten Existenz. Eine letzte Rückkoppelung früherer Drahtseilakte, als auf ihrem Girokonto noch ein vierstelliges Minus klaffte – und das bei Überziehungszinsen im zweistelligen Bereich. Habenseitig hatte sie in jener Urzeit als Künstlerin oft nur die blanke Zuversicht anzubieten, befeuert von der Hoffnung, jeden Tag den Brief des Ministeriums im Postkasten zu finden, der ihr Ansuchen auf ein Auslandsstipendium positiv beschied. Trotz des existenzialistischen Blindflugs und der politischen Großwetterlage im kleinen Österreich dachte sie sehr gerne an die Nullerjahre zurück. Die permanente Bankrottdrohung jagte ihr dazumal keine Angst ein, nein, um ehrlich zu sein: Der Nimbus des Prekären verlieh ihrem Dasein zwischen Gemeinschaftsatelier, Vernissagen und mitternächtlichen Thekenflirts sogar eine verführerische Note. Alle lebten damals so, mehr oder weniger. Zumindest in ihrer Liga, dem Laissez-faire-Championat. Die Bösen ihrer Altersgruppe begannen sich gerade häuslich einzurichten und sich in bedeutungslose Berufstätige zu verwandeln, während Mona und ihre Clique nach Ende des Studiums einfach mit dem »Bitte noch ein Bier«-Refrain an den üblichen Orten weitermachten. Die Bedingungen dafür waren jetzt sogar besser denn je, wo sich die angehenden Betriebswirte und Juristen doch endlich als solche offenbart hatten und, angezogen vom Licht gut entlohnter Posten, die schummrigen Halbwelten ihrer Studentenzeit zu meiden begannen. Mona weinte diesen Abgängen keine Träne nach. Ciao, Fallobst. Wer am Wirtshaustisch sitzen geblieben war, meinte es hingegen ernst. Dem fehlte tatsächlich der Plan. Der lebte die Musik, die er hörte. Der klopfte nicht jede neue Bekanntschaft zuerst auf Beziehungsfähigkeit ab, der wollte wirklich nur Spaß. Für Monas ins Kraut schießende Kunstproduktion war dieser Sumpf ein fruchtbarer Boden. Die atelierfrischen Bilder ihrer Diplomausstellung verkaufte sie en gros an einen in sie verschossenen Mäzen. Von der erzielten Summe ließ es sich eine Weile gut existieren. Hinterher war sie zwar wieder zahlungsunfähig, aber unbesorgt. Wenn sie bei Heimatbesuchen in Krems von ihren Eltern gefragt wurde, wie sie später zu leben gedachte, verscheuchte sie die überflüssige Frage mit einem Lachen und antwortete: »Na, so wie jetzt.« Später blieb aber auch ihr eine Erfahrung nicht erspart, die jeder Absolvent einer Kunstuniversität kennt. Die ersten Jahre nach dem Studienabschluss sind ein schmerzhafter Filterprozess. Von den zweiundvierzig Absolventen ihres Jahrgangs gaben fast alle den Traum vom Künstlersein auf. Weil sich niemand für sie interessierte. Mona forderte das heraus. Sie beschloss, das durchzustehen.

Das Telefon läutete. Sollte es doch. Mona ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Betont langsam schlich sie zum Ladentisch zurück. Der Anrufer blieb hartnäckig, es musste schon um die siebzehnmal geläutet haben, ehe Mona endlich den Hörer von der Gabel nahm.

»Ja? … Sind fertig, ja. Sie können sie jederzeit abholen. Wiederhören.«

Der Stimme nach ein älterer Mann. Er würde heute Nachmittag wegen seiner Kopien vorbeikommen. Sie hatte im Ausgabefach nachgesehen. Der Packen lag schon bereit. Den Auftrag musste Jan gestern entgegengenommen und gleich erledigt haben, ihr heutiger Arbeitstag hatte sich, der Aufgaben ledig, bislang auf das Ausheben von Luftlöchern beschränkt. Vom Kraftaufwand her kein großer Unterschied zu geschäftigeren Tagen, wo sie auch nicht mehr als einen Finger zu rühren brauchte, um die ihr anvertrauten Maschinen in Gang zu setzen. Copy und Pest, dachte Mona. Jetzt erlaubte sich das Schicksal tatsächlich diesen Streich mit ihr und ließ sie an vier Tagen der Woche für jeweils fünf Stunden Kopien anfertigen. Dabei war ihr genau das Gegenteil dessen an der Kunstuniversität als erstrebenswert vermittelt worden. Fünf Jahre ging es dort nur um Originale, um originelle Ideen und Sichtweisen. Original, originell, gerne auch umgesetzt in Origami … Egal was, Hauptsache Ori, niemals Copy.

Und jetzt das: Teilzeitkraft in der Vervielfältigungsbranche! Kopistin. Sie. Mona. So ein Elend.

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