Jarosch, Lisbeth Last Haven – Über alle Grenzen

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© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Favoritbüro, München
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Redaktion: Theresa Schmidt-Dendorfer

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

 

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1. Kapitel

Es dämmert noch, aber ich bin längst hellwach. Genau wie Romulus, der neben mir sitzt und gedankenversunken aus dem Fenster des Helikopters nach unten blickt.

Die Sichtverhältnisse könnten kaum besser sein, das Wetter ist sommerlich und man könnte es fast als herrlich bezeichnen – wenn nicht alle auf Regen hoffen würden. Von oben erkennt man erschreckend deutlich, dass der Fluss nur noch ein klägliches Rinnsal ist. Selbst wenn er nicht vergiftet wäre, könnte er die Felder kaum noch bewässern. Durch das Absinken des Wasserspiegels finden auch immer weniger Frachtschiffe ihren Weg nach Last Haven. Sie drohen auf Grund zu laufen.

Die Mauer taucht vor uns auf und mit ihr der ausgebrannte Turm 135 West.

Die Grenze zum ehemaligen God’s Acres wird zwar nicht mehr durch Selbstschussanlagen und Drohnen geschützt, trotzdem erfüllt das Bauwerk weiterhin einen Zweck und wird daher noch nicht eingerissen. Jetzt sorgt die Mauer dafür, dass niemand ohne Registrierung rüberkommt und sich irgendwo niederlässt.

Die Milizen sind nach den Säuberungen in ihre alte Heimat zurückgekehrt, bis Last Haven bereit ist, die neuen Bürger aufzunehmen. So hatte es Chester mit King Joy abgesprochen. Der Zusammenschluss unserer beiden Länder ist erst wenige Tage alt und bis jetzt eher formaler Natur. Obwohl aus God’s Acres inzwischen »Zone E« und damit ein Teil Last Havens geworden ist, leben beide Bevölkerungsgruppen nach wie vor räumlich voneinander getrennt.

Jemand aus dem großen Camp meldet sich per Funk und unser Pilot erhält Landeinstruktionen. Er ist einer der wenigen, die noch einen Hubschrauber fliegen können, nachdem die Wächter vertrieben wurden. Auch etliches an militärischer Ausrüstung ist während der Kämpfe zerstört worden.

Wir steuern das Lager vor der Stadt an, die in unmittelbarer Nähe vor der alten Grenze liegt. Es ist der Ort, an dem Chester Fields und King Joy die Milizen versammelt und darauf gewartet haben, dass wir das Tor nach Last Haven öffnen. Die Gebäude – Hochhäuser, Lagerhallen, Wohnblöcke, mit Wellblech bedeckte Hütten, die sich am Horizont abzeichnen – sehen so aus, als würden sie jeden Moment einstürzen. Ruinen über Ruinen, die wahrscheinlich trotzdem bewohnt waren, weil ein löchriges Dach über dem Kopf immer noch besser war als gar keins.

Ich taste nach Romulus’ Hand. Mein angeknackster Arm mit dem abheilenden Schnitt steckt in einer Schiene. Mit dem starken Schmerzmittel, das ich mir spritze, fühle ich nicht allzu viel. Romulus wendet seinen Blick vom Geschehen unter uns ab und schaut stattdessen zu mir.

»Bist du nervös?«, fragt er über das Dröhnen der Rotoren hinweg und ich nicke. Und wie ich das bin! Jetzt werde ich mit eigenen Augen sehen, was ich bisher nur aus den Nachrichten kenne: God’s Acres. Nein, Zone E. Wir sind jetzt ein Land, oder zumindest werden wir es bald sein.

Das Lager erstreckt sich so weit, dass ich Gänsehaut bei dem Anblick bekomme. Hunderte grauer Zelte, akkurat in Reih und Glied aufgebaut, zwischen denen kleine schwarze Punkte umherhuschen und wieder verschwinden. Wie Ameisen auf der Flucht vor Regen. Nur dass es keine Insekten, sondern Menschen sind, die sich nichts sehnlicher als Regen wünschen.

Romulus drückt sachte meine Hand. Es soll wohl ein Versuch sein, etwas von seiner Ruhe auf mich zu übertragen, aber es klappt nur bedingt. So viele Menschen! Hat Chester nicht gesagt, dass die Bevölkerungszahl von God’s Acres eher gering ist, weil viele während der letzten Jahre Hunger, Durst oder Kriegen zum Opfer gefallen sind? Meine innere Stimme ruft zur Vernunft auf. Es sieht nur deshalb nach so vielen aus, weil alle auf einem Haufen versammelt sind. Keine Panik!

Den Landeplatz kann man nicht verfehlen, denn er ist einer der wenigen freien Plätze unter uns. Heil und sicher kommen wir auf dem Boden auf.

Mit einem mulmigen Gefühl verschränke ich die Hände im Schoß. Romulus und ich wechseln einen Blick.

»Unser Neustart«, sage ich mit belegter Stimme, sobald der Lärm der Rotoren verstummt ist. Romulus nickt ernst und ich weiß, dass er gerade dasselbe denkt wie ich: Hoffentlich war es das wert!

Schon wird von außen die Tür aufgerissen und ein griesgrämig dreinblickender Mann, der Handschuhe, Mundschutz und einen Einwegkittel über seiner Zivilkleidung trägt, steckt den Kopf herein und ruft: »Dr. Henderson?«

Romulus lächelt und steigt aus dem Hubschrauber, ich folge ihm.

Der Pilot macht sich umgehend wieder auf den Weg. Er kann nicht auf uns warten, dafür ist das Personal mit seinen Fähigkeiten derzeit zu knapp.

Der mürrische Mann, der uns begrüßt hat, stellt sich uns als Burgess vor und stutzt, als er mich sieht. »Mit Ihnen habe ich aber nicht gerechnet, Miss Green.«

Es war auch ursprünglich nicht angedacht, dass ich Romulus begleite, aber Chester hat diesen Vorschlag gemacht und ich habe ihn gerne angenommen. Bin ich doch für das Chaos, das hier herrscht, mitverantwortlich. Ich hoffe, dass ich die Beklemmung, die ich beim Anblick der Menschenmassen auf ihrem Weg über die Mauer verspürt habe, loswerde, wenn ich mich davon überzeuge, dass der Zusammenschluss in geregelten Bahnen verläuft und die Situation unter Kontrolle ist.

Ich murmele nur einen höflichen Gruß, halte mich im Hintergrund und schaue mich um. Vor einem großen Zelt in unserer Nähe steht eine Reihe verhärmt aussehender Menschen, alle bereits mit Mundschutz. Die Schlange ist so lang, dass das Ende außerhalb unserer Sichtweite liegt. Wahrscheinlich lassen sie sich registrieren und Termine für die Gesundheitsprüfung geben.

Burgess reicht uns ebenfalls Einwegkittel, Handschuhe und Mundschutz, die ich mit einem unangenehmen Gefühl entgegennehme, weil sie mir vor Augen führen, dass wir uns hier in ständiger Gefahr befinden, uns mit irgendwas anzustecken. Nur eine Vorsichtsmaßnahme, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Aber die latente Furcht lässt sich nur schwer abschütteln. Wer weiß schon, welche Krankheitserreger durch das Lager schwirren? Es gibt Epidemien, gegen die auch das MediOffice nichts ausrichten kann.

»Am besten kommen Sie gleich mit, Dr. Henderson. Die Leute vom Seuchenscreening erwarten Sie bereits«, sagt Burgess wie aufs Stichwort.

Ich mustere ihn unauffällig, während ich genau wie Romulus meine Schutzkleidung anlege. Stammt er aus Last Haven? Bestimmt tut er das, er sieht so normal aus. Sein Blick fällt auf mich und er zieht fragend die Augenbrauen hoch. Rasch schaue ich woandershin.

Ich darf Romulus nicht begleiten, das hat er bereits angekündigt. Nicht, dass ich das überhaupt wollen würde. Aber Rumstehen und Warten ist auch nichts.

»Kann ich irgendwo helfen?«, frage ich Burgess. »Es gibt sicher mehr als genug zu tun.«

»Bei den Familien wird jede Unterstützung gebraucht.« Burgess deutet hinter sich. »Ist ein ganzes Stück, kann man aber laufen.« Ein kurzer Ruck mit dem Kopf. »Ab Zelt 46. Melde dich bei Laura.«

Familien. Zu meiner bisherigen Nervosität gesellen sich leichte Bauchkrämpfe. Bedeutet das auch kleine Kinder, womöglich Babys? Ich denke an die Reproduktionslabore, die Melody und ich in Brand gesteckt haben – die winzigen Lebewesen in den Glaszylindern, verbrannt, bevor sie leben durften. Wir waren uns alle einig bei diesem Plan, aber wohl hat sich trotzdem keiner damit gefühlt. Ich schwitze immer mehr. Trotzdem zwinge ich mich zu einem knappen Nicken, weil ich ja schlecht »Nein, Danke« sagen kann, nachdem ich gerade meine Hilfe angeboten habe.

Wenn ich mich weigere, muss ich mein Verhalten erklären, und das kann ich nicht. Also füge ich mich in mein Schicksal.

»Klar«, sage ich mit einem gekünstelten Lächeln. Nichts lieber als das.

»Wir sehen uns später!«, raunt Romulus mir zu. Mit einem Anflug von Sorge schaut er in die Richtung, die mir gerade gewiesen wurde. Dann wieder zu mir. Als hätte er die Befürchtung, mich im Gewimmel zu verlieren.

»Ich komme zurecht«, versichere ich ihm leise. Ganz allein. Umgeben von lauter fremden Menschen. Meine Magenschmerzen werden stärker und mein falsches Lächeln wird mir einen Muskelkater einbringen, wenn ich es nicht bald abstelle.

»Dr. Henderson?« Burgess wirkt genervt. Er hat es offensichtlich eiliger als ich. Genau wie Romulus, der hier so viel zu erledigen hat, dass er gar nicht sicher war, ob er heute alles schaffen würde. Vor dem Abend geht es nicht zurück.

»Bis dann!«, sage ich und warte, bis die beiden aus meinem Sichtfeld verschwunden sind.

Tja, hier stehe ich. Allein. Nein, nicht wirklich, denn um mich herum befinden sich Tausende von Menschen aus dem ehemaligen God’s Acres und zusätzlich ein paar Leute aus Last Haven, die versuchen, Ordnung in das ungeheure Chaos zu bringen. Niemand kümmert sich um mich, also setze ich mich in Bewegung und marschiere los, um selbst wenigstens einen bescheidenen Teil beizutragen.

Ich laufe an Zelten entlang, entschuldige mich, wenn ich wieder eine der langen Schlangen kreuze, statt außenrum zu gehen. Schiebe mich an einer Gruppe fremder Männer vorbei, die lebhaft diskutieren und meinen Weg versperren. Ich werfe unauffällig einen Blick auf sie und merke sofort, dass es sich um Menschen aus God’s Acres handelt. Man erkennt es an den ausgemergelten Körpern, der schmutzigen Kleidung und den ungepflegten Haaren. Die Männer unterbrechen ihr Gespräch und ich spüre, dass sie mir argwöhnisch hinterherstarren. Automatisch beschleunige ich meinen Schritt.

Ich orientiere mich an den Nummern auf den Zeltplanen. Dass ich richtig bin, merke ich aber auch daran, dass ich unter den fremden Leuten immer mehr Kinder wahrnehme.

Da ist es. Eine Ansammlung von weiteren kleinen Zelten in einem Bereich, der mit neongelben Bändern abgesperrt ist. Hinter den Bändern sitzen Menschen aus Last Haven an langen Tischen, vor denen sich die Neuankömmlinge drängen, ihren Nachwuchs im Schlepptau. Genau durch dieses Gedränge muss ich also, wenn ich Laura finden will.

Die Vorstellung, den Fremden so nah zu kommen, jagt mir Angst ein. Aber es ist der kürzeste Weg, also rücke ich meinen Mundschutz zurecht und gehe mit angehaltenem Atem los. Ich zwänge mich zwischen ungewaschenen Körpern durch, werde angerempelt und beschimpft, weil alle glauben, dass ich mich vordrängeln möchte. Manche sprechen eine mir fremde Sprache, aber obwohl ich die einzelnen Worte nicht verstehe, kann ich eine Beschimpfung problemlos als solche erkennen. Ich widerstehe dem Drang, jedes Mal den Kopf wegzudrehen, wenn mich jemand anspricht, aus Furcht, mich zu infizieren. Ich trage ja einen Mundschutz, wie alle um mich herum auch. Nichts wird passieren.

Irgendwann habe ich es geschafft und melde mich bei den Leuten hinter den Tischen. Ich bin erleichtert, wieder Menschen aus Last Haven zu sehen, in sauberer Kleidung, gepflegt und mit souveränem Auftreten. Ich frage mich zu Laura durch.

»Ich bin hier, um zu helfen«, sage ich zu dem Mädchen, das etwa in meinem Alter sein dürfte. Vielleicht auch jünger. Sie mustert mich skeptisch, als wüsste sie nicht, was sie mit mir anfangen soll.

»Burgess schickt mich«, füge ich hinzu.

»In Ordnung«, sagt das Mädchen irritiert. Dann steht sie auf, lässt mich durch die Absperrung und führt mich ein Stück weg von den Tischen, dahin, wo es ruhiger ist.

»Wie kann ich euch unterstützen?«, frage ich höflich.

»Die Eltern bringen ihre Kinder hierher, bevor sie selbst zum Seuchenscreening müssen«, erklärt Laura und schaut mich an, als wäre sie meine Lehrerin und ich ihre Schülerin. Bestimmt ist sie schon ein paar Tage hier und hat Überblick über alles, was im Camp los ist.

»Die Familien werden registriert und ein paar Daten aufgenommen. Die Vorarbeit für die Ärzte, damit die sich nicht mit so was aufhalten müssen.«

Ich nicke verständnisvoll. Ob Laura normalerweise als Erzieherin arbeitet?

»Du machst das nicht alleine, keine Sorge«, fährt das Mädchen fort. »Du bleibst einfach bei mir und gehst mir zur Hand. In Ordnung?«

»Ja.« Mein Mund ist trockener als sonst.

»Dann komm mal mit!« Laura dagegen klatscht voller Tatendrang in die Hände, nimmt mich am Arm und wir steuern wieder den Platz an, an dem sie vorhin gesessen hat. Kaum erreichen wir den Tisch, erscheint die nächste Familie.

Es handelt sich um einen Mann und eine Frau mit drei Kindern. Das Jüngste ist noch ein Baby. Augenblicklich schnürt sich meine Kehle zu.

Es wird von der Mutter getragen. Sie hält es fest umklammert und ihr schmutziges Gesicht ist verheult und geschwollen, das erkennt man trotz des Mundschutzes problemlos.

Laura begrüßt sie alle freundlich, ich nicke steif.

»Sind das eure leiblichen Kinder?«, fragt Laura den Mann, weil die Frau irgendwie abwesend wirkt. Er bejaht und wuschelt den beiden Jungs, die links und rechts neben ihm stehen und sich an seine Beine schmiegen, durch die gelockten Haare. Sie sind genauso tiefschwarz wie seine eigenen Locken, und auch sonst sind ihm die Jungen wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Haben Sie noch mehr Kinder?«

»Nein.«

»In Ordnung.« Laura lässt die Familie durch die Absperrung treten und wir marschieren zu einem der kleinen Zelte. Drinnen ist es trotz Beleuchtung düsterer als draußen, aber es tut gut, aus der prallen Sonne herauszukommen, die gnadenlos brennt. Ein einsamer Ventilator kämpft mühsam seinen aussichtslosen Kampf gegen die Hitze.

»Nehmt doch bitte Platz.« Laura deutet auf die Stühle, die an einem kleinen Tisch auf dem mit einer Plane bedeckten Boden stehen. Die Familie gehorcht wortlos.

»Aida, würdest du mir die Schachtel mit den Armbändern reichen? Oben links.« Laura zeigt auf eine Box, die in einem provisorischen Regal steht, das beinahe überquillt, so viele Utensilien werden darin aufbewahrt. Verbandszeug, Kanülen, Handschuhe, abgepackte Kleidung. Alles, was man für eine Erstversorgung braucht. Ich greife mir die Schachtel aus milchig-weißem Kunststoff und bringe sie an den Tisch.

»Fünf Bänder«, murmelt mir Laura zu, während sie auf ihrem Rechner rumklickt. Ich öffne die Box, zähle die Armbänder ab und lege sie vor mich hin.

»Zuerst werde ich Sie alle registrieren«, erklärt Laura derweil dem Paar. »Damit erscheinen Sie beide und Ihre Kinder von jetzt an im System und sind offiziell Bürger von Last Haven. Dennoch müssen Sie und Ihre Frau sich noch gesondert melden. Hier bei uns geht es in erster Linie um die Daten Ihrer Kinder.«

Dadurch, dass die Hälfte der Gesichter der beiden vom Mundschutz verdeckt wird, fällt es mir schwer zu sagen, was genau in ihnen vorgeht. Aber Freude ist es nicht. Dabei sind sie doch jetzt in guten Händen, ihre Kinder genau wie sie selbst.

Laura gibt mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich ihnen die Armbänder anlegen soll. Ich bitte zuerst die Frau, mir ihre Hand hinzuhalten. Sie lässt für einen Augenblick von ihrem Baby ab. Es macht sich mit einem Quengeln bemerkbar, das sich sofort wieder legt, als die Hand der Mutter zurück an ihren Platz wandert. Als Nächstes greife ich nach dem pummeligen Ärmchen des Säuglings. Ich versuche, ihm nicht ins Gesicht zu schauen, weil ich Angst vor dem habe, was ich dabei fühlen könnte. Auch so ist die Situation schon schwierig genug für mich.

Nicht an die Reproduktionslabore denken. Nicht an brennende Föten. Diese Mahnung läuft in Dauerschleife durch meinen Kopf und bewirkt damit genau das Gegenteil. Ich hoffe, dass niemandem auffällt, dass ich in Wirklichkeit an dem kleinen Bündel vorbei schiele, während ich ihm hastig das Band anlege. Hinterher merke ich erst, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten habe.

»Wie heißen Sie?«, fragt Laura die Frau höflich.

Erst passiert gar nichts, dann zuckt sie zusammen.

»Margarethe Stein.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

Laura scannt rasch Margarethes Armband und gibt dann die zugehörigen Informationen zur Trägerin in ihren Rechner ein. »Wann ist Ihr Geburtstag?«

»Ich weiß es nicht genau.«

»Wissen Sie das Jahr?«, fragt Laura weiter, als wäre es das Normalste der Welt, dass jemand seinen eigenen Geburtstag nicht kennt.

Margarethe flüstert: »2298, glaube ich.«

Ich lege den restlichen Personen ihre Armbänder an und überlasse Laura das Interview. Der älteste Sohn ist acht Jahre alt, sein Geburtsdatum ist bekannt und er heißt Jeremias. Bei dem jüngeren handelt es sich um den sechsjährigen David und das winzige Mädchen in den Armen der Frau trägt den Namen Anemone.

»Der Name David Stein ist in Last Haven bereits an eine andere Person vergeben«, sagt Laura mit einem prüfenden Blick auf ihren Bildschirm. Dann schaut sie dem Jungen ins Gesicht und lächelt.

»Was meinst du? Möchtest du lieber deinen Vornamen oder deinen Nachnamen behalten?«, fragt sie in einem Tonfall, der klingt, als würde sie von ihm wissen wollen, welche Süßigkeit er lieber mag.

Der Junge kaut mit gelben Zähnen auf seiner Unterlippe herum und wägt stumm ab. »Den Vornamen«, sagt er dann zögerlich. »Ist das in Ordnung?«, fragt er seinen Vater unsicher. »Wir heißen doch alle Stein, oder nicht? Auch du und Mama. Wenn ich als Einziger nicht mehr so heiße, ist das komisch.«

»Aber natürlich ist es in Ordnung«, erwidert der Mann zärtlich und greift nach der Hand seines Kindes. »Stein ist einfach nur ein Wort. Du bleibst unser Sohn, auch wenn du einen anderen Namen trägst als wir.«

Darüber muss David noch mal einen Augenblick nachdenken.

Genau wie ich. Die ganze Szene ist befremdlich für mich, nicht nur, weil das Baby mich daran erinnert, wie Melody und ich das Reproduktionslabor in Brand gesteckt haben. In Last Haven wachsen wir bei Erziehern auf und lernen unsere Erzeuger niemals kennen. Meine leiblichen Eltern haben nichts getan, außer dem MediOffice ihr Genmaterial zu überlassen. Womöglich nicht einmal aus freien Stücken. An manche meiner Erzieher kann ich mich noch erinnern. Sie waren gut zu mir, genauso nett und hilfsbereit wie Laura. Aber das, was sich gerade zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen abspielt, kommt mir anders vor. Da ist etwas, was weit über Freundlichkeit hinausgeht.

»Wenn das so ist, will ich weiterhin David heißen«, sagt der Junge noch einmal abschließend an Laura gewandt. Die durchsucht die Liste mit Vorschlägen für einen neuen Nachnamen, die der Rechner ihr anbietet.

»Was hältst du von David Silverstone? Klingt das nicht gut?«

David sagt den Namen ein paar Mal probehalber leise vor sich hin. Dann grinst er zufrieden. »Ja, das gefällt mir.«

Laura trägt einen David Silverstone als neuen Bürger Last Havens ein.

Anschließend fragt sie, ob die Eltern von bestimmten Krankheiten wüssten, an denen die Kinder während der letzten Jahre gelitten haben. Margarethe zählt tonlos auf: Fieber, Ausschläge, Durchfallerkrankungen. Natürlich gab es nie einen Arzt, der eine Diagnose gestellt hat, deshalb sind die Angaben für das MediOffice wahrscheinlich unbrauchbar. Doch Laura macht sich trotzdem fleißig Notizen. Die Informationen könnten später beim Seuchenscreening von Interesse sein.

Eine Schule hat keines der Kinder besucht, es war im Grunde schon klar, bevor Laura danach fragt. Sie wendet sich an Jeremias, den Ältesten.

»Was hast du denn so den ganzen Tag über gemacht?« Sie lächelt ihm aufmunternd zu.

Schüchtern schaut der Junge hoch zu seinem Vater, der ihm mit einem Nicken zu verstehen gibt, dass er ruhig antworten soll. »Wir haben Werkzeug hergestellt, mein Bruder und ich.«

»Werkzeug?« Laura hebt die Augenbrauen und lehnt sich interessiert vor. »Das ist ja toll! Woraus habt ihr das denn gemacht?«

Der Junge zuckt mit den Schultern. »Aus allem, was wir gefunden haben. Steine, Draht, Schrott eben.«

Laura tippt etwas in ihren Rechner und Jeremias scheint plötzlich das Gefühl zu haben, noch mehr sagen zu müssen. »Wir waren richtig gut!«, fügt er mit stolz gerecktem Kinn hinzu. »Keiner hat bessere Schlingen zum Rattenfangen hergestellt als wir!«

Lauras Gesichtszüge werden umgehend eine Spur weicher, das erkennt man trotz des Mundschutzes. Anerkennend schaut sie auf. Der kleine David nickt beifällig zu dem, was sein Bruder gesagt hat.

»Ist das so?«, fragt Laura freundlich und das Nicken wird heftiger. »Ihr seid also gute Bastler?«

»Das sind sie«, mischt sich jetzt auch der Vater ein. »Alle beide sind sehr geschickt und einfallsreich. Einmal wurde unsere Hütte von einem Sturm weggeweht. Innerhalb von zwei Tagen hatten die Jungs genug Material gesammelt und eine neue Unterkunft gebaut. Und ohne das Werkzeug, das sie tauschen, wären wir längst verhungert.«

»Da haben eure Eltern ja richtig Glück mit euch zweien.« Laura lächelt erst Jeremias an und dann David. Sie strahlen bis über beide Ohren zurück.

Ich stelle mir den Großen in der Werkstatt bei Techraid vor. Er ist im Gegensatz zu seinen Geschwistern alt genug, um direkt ins Berufsleben einzusteigen. Ich male mir aus, wie er sich mit Jaden, dem Auszubildenden, anfreundet und von Chris und Greg unter ihre Fittiche genommen wird. Welche Tätigkeit das MediOffice ihm auch zuweist: Sein Leben wird von jetzt an ein besseres sein. Keine Hütte, sondern eine richtige Unterkunft, warm im Winter und angenehm kühl im Sommer. Mit fließend Wasser und einem Dach über dem Kopf, das nicht beim leisesten Windhauch davonfliegt.

Mein spontaner Optimismus erhält einen Riss, als Laura sich erhebt und zu den Eltern sagt: »Wir lassen Ihnen jetzt fünf Minuten Zeit, um sich von Ihren Kindern zu verabschieden. Um Jeremias, David und Anemone kümmern wir uns von jetzt an.«

Laura stellt eine Uhr auf den Tisch und nimmt mich wieder am Arm.

Die Eltern wussten, dass ihnen dieser Moment bevorsteht, trotzdem bricht die Frau wie auf Kommando in haltloses Schluchzen aus. Ich erschrecke, weil ich nicht mit einem derartigen Gefühlsausbruch gerechnet habe. Wir tun hier doch etwas Gutes! Sieht sie das nicht?

Ich zögere, weil ich den Impuls verspüre, zu ihr zu gehen und sie zu trösten. Der Impuls ist so heftig, dass ich sogar das Baby in ihrem Arm für einen Moment vergesse. Aber Laura schüttelt sachte den Kopf und hält mich zurück.

»Du kannst es nicht leichter für sie machen«, murmelt sie mir zu und schiebt mich mit sanftem Druck nach draußen. »Nichts, was du sagst, würde ihr helfen.«

Wir lassen das Zelt hinter uns und warten. Laura überprüft auf ihrem Rechner, ob sie alles Wichtige notiert hat. Ich selbst stehe nutzlos herum und überlege, was ich von der ganzen Sache halten soll. Die Leute da in unserem Zelt … Sie wirken normaler, als ich erwartet habe. Zwar sind sie abgemagert, schmutzig und man sieht ihnen an, dass sie harte Zeiten hinter sich haben, aber sonst? Sie sind nicht so wild und roh, wie man es uns all die Jahre über im Unterricht oder in den Nachrichten vermittelt hat.

»Die Zeit ist um«, sagt Laura kurz darauf und setzt sich in Bewegung. Ich folge ihr wortlos. Leider bin ich noch immer nicht gewappnet für den Anblick der verweinten Gesichter, die uns entgegenblicken.

»Nur noch eine Minute!«, schluchzt die Mutter und presst ihr Baby so fest an sich, dass es zu schreien anfängt.

Laura schüttelt ruhig den Kopf. »Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.«

»Ihr werdet euch gut um die Kleine kümmern, hab ich recht?«, fragt der Vater mit bebender Stimme und legt einen Arm um seine Frau. Sein flehender Blick geht mir durch Mark und Bein. Es ist das Richtige, sage ich mir. Unsere Erzieher und Ausbilder können den Kindern weitaus mehr bieten als ihre Eltern. Wieso fühlt es sich dann trotzdem so an, als würden wir etwas Falsches tun?

»Natürlich«, versichert ihm Laura freundlich, aber bestimmt. »Darauf können Sie sich verlassen!«

Trotz ihrer an den Tag gelegten Fassung meine ich, ein verdächtiges Glitzern in ihren Augen zu erkennen. Mir selbst laufen längst Tränen übers Gesicht und ich wende mich ab, damit keiner es sieht. Ich komme mir albern vor mit meinem Geheule, weil diese Angelegenheit für die Familie ja offenkundig wesentlich schlimmer ist als für mich.

Ich bekomme aus dem Augenwinkel mit, wie der Mann seiner Frau vorsichtig den Säugling aus den Armen nimmt und ihn an Laura weiterreicht. Das Kind wird still, wahrscheinlich ist es überrascht. Dafür bricht die Mutter auf dem Boden zusammen, schlingt die Arme um sich und wiegt schluchzend ihren Oberkörper vor und zurück.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagt Laura leise zu dem Vater. Der Mann wuschelt den Jungs ein letztes Mal durchs Haar, geht dann zurück zu seiner Frau und zieht sie behutsam auf die Füße. Ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen, führt er sie aus dem Zelt.

Wir warten, bis sie so weit entfernt sind, dass wir das Weinen nicht mehr hören können.

Ich bin fix und fertig mit den Nerven. Völlig aufgewühlt lasse ich mich auf dem nächsten Stuhl nieder und wische mir das Gesicht trocken, während Laura das Baby in ihren Armen wiegt. Jeremias und David beobachten mich schweigend. Umgehend ist es mir noch peinlicher, dass ich es im Gegensatz zu ihnen nicht geschafft habe, Haltung zu wahren.

»So«, sagt Laura. Sie legt das Kind ab und schält es aus den schmutzigen Lumpen. »Jetzt machen wir euch erst mal frisch und dann geht es weiter.« Sie zwinkert den beiden Jungen freundlich zu und macht sich daran, das Baby mit Tüchern abzureiben. »Aida hilft euch dabei, euch zu säubern und etwas Frisches anzuziehen.«

Richtig, ich bin ja hier, um Laura zur Hand zu gehen. Bis jetzt habe ich kaum einen Finger gerührt. Ich muss mich zusammenreißen.

»Schau mal, da in der Schachtel findest du abgepackte Kleidung«, sagt sie zu mir und deutet auf das Regal mit den vielen Boxen. Graue Hosen und T-Shirts, anstelle von Schuhen gibt es Schlappen für die Füße. Zum Glück ist es so warm draußen und die Leute brauchen vorerst nicht viel. Frische Mundschutze und Handschuhe liegen ebenfalls bereit, außerdem Reinigungstücher.

Ich schaue schüchtern zu den Jungs und frage mich, was in ihnen vorgeht. Beide beklagen sich nicht, vielleicht haben sie noch nicht realisiert, dass sie ihre Eltern nie wiedersehen werden. Oder sie begreifen, was wir ihnen für eine Chance bieten, und beißen deshalb so tapfer die Zähne zusammen.

Sie sind schon dabei, sich auszuziehen.

»Wo kommen wir jetzt hin?«, fragt der Große neugierig, während ich nach den Tüchern greife.

Laura antwortet und legt dabei der kleinen Anemone eine Windel an. »Du bist schon acht, das heißt, du wirst nach der Gesundheitsprüfung und dem Eignungstest direkt in einem Betrieb anfangen können. Du, David, wirst in eine Ausbildungsstätte kommen, genau wie eure Schwester. Da werden wir Erzieher uns gut um euch kümmern und euch auf das Arbeitsleben vorbereiten.«

»Ich würde am liebsten irgendwas bauen«, sagt der Große. »Meinst du, das geht?«

Laura nickt zuversichtlich. »Das hoffe ich doch! Gute Bauarbeiter können wir immer gebrauchen.«

Auf einmal öffnet sich die Plane am Eingang und eine fremde Frau steckt den Kopf herein. »Laura, kannst du kurz kommen? Wir bräuchten deine Hilfe.«

Und zu meinem Entsetzen antwortet Laura: »Klar! Aida, nimmst du bitte solange das Baby?«

Nein!, würde ich am liebsten rufen. Das möchte ich nicht. Aber stattdessen höre ich mich mit mechanischer Stimme sagen: »Natürlich.«

Da kommt Laura schon mit großen Schritten anmarschiert und hält mir die kleine Anemone hin, die inzwischen einen schlichten, dafür fleckenfreien Strampelanzug trägt. Ich habe keine Wahl, als sie an mich zu nehmen, obwohl meine Finger dabei ein bisschen zittern.

»Bin gleich zurück«, sagt Laura unbekümmert und lässt mich mit den Kindern allein.

2. Kapitel

Kaum ist Laura weg, spüre ich, wie die Panik in mir hochkocht. Das kleine Wesen in meinen Händen bewegt sich, aber ich schaffe es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Vor meinen Augen flimmern Bilder von großen Glaszylindern mit honigfarbener Nährflüssigkeit. Gekrümmte Körper mit winzigen Händen und Füßen, die in plötzlicher Bewegung zucken. Ich schnappe nach Luft, mir bricht überall kalter Schweiß aus. Ich halte das Baby mit gestreckten Armen von mir weg. Dabei tut es nicht mehr, als hilflos mit den Ärmchen zu rudern und ein leises Glucksen auszustoßen. Ich bin diejenige, die etwas getan hat!

»Du hältst sie nicht richtig«, erklärt mir Jeremias und reißt mich aus meiner Starre. Mit weit aufgerissenen Augen schaue ich ihn an. Geduldig sagt er: »Ich zeige dir, wie man das macht. Es ist ganz leicht.« Er streckt die Hände aus.

Noch bevor ich darüber nachdenken kann, reiche ich ihm seine Schwester. Aber als er mir vorführen will, wie man mit einem Baby umgeht, lasse ich ihn und seinen Bruder stehen. Halbnackt und mit dem Säugling in der Hand.

Ich stürme aus dem Zelt und laufe einfach weg, ignoriere dabei den stechenden Schmerz in meinem Bein. Zelte und Menschen fliegen an mir vorbei, ich nehme sie nur verschwommen wahr. Erst als ich völlig außer Atem bin, bleibe ich stehen. Krümme mich zusammen und halte mir die Hände vor die Augen. Ich muss diese Bilder wieder loswerden! Mein Puls rast und in meinem Schädel hämmert es. Das Brennen seitlich über meinem Knie wird heftiger. Die Schusswunde, die Baker mir zugefügt hat. Bestimmt ist sie wieder aufgerissen und ich habe es in meiner Panik nicht mal bemerkt.

»Hey!« Eine barsche Männerstimme ertönt so nah an meinem Ohr, dass ich aufschaue. Ich zucke zusammen, als ich in ein finsteres, bärtiges Gesicht mit irren Augen blicke, das sich zu mir runtergebeugt hat.

Ich erkenne den Mann sofort, obwohl ich ihm noch nie persönlich begegnet bin. Seit Chesters Pläne für den Pakt mit God’s Acres bekannt wurden, ist sein Gesicht mehr als einmal durch die Nachrichten gegangen. Mir war jedoch nicht bewusst, wie groß er ist. Fast so groß wie Fox, und das will etwas heißen. Das schwarze Haar habe ich kürzer in Erinnerung, und dass seine Augen so verschlagen funkeln, konnte man am Bildschirm auch nur erahnen. Was macht er hier? Und das auch noch allein, ohne Personenschutz?

Zumindest bewirkt die Begegnung mit King Joy, dass meine Gedanken sich nicht länger um brennende Föten drehen.

»Vor wem bist du weggelaufen?«, will er wissen.

Mir fällt auf, dass er keinen Mundschutz trägt. Und auch keine Handschuhe. Dafür saubere Kleidung, die weniger auffällig ist, als ich es bei jemandem vermutet hätte, der sich King Joy nennt.

»Ähm, ich …«, stammele ich. Vor mir selbst und meiner Schuld, wäre die ehrliche Antwort, aber das kann ich ihm ja schlecht sagen. Glücklicherweise besteht King Joy nicht darauf, dass ich den Satz zu Ende spreche.

»Bist du aus irgendeinem Grund hier oder rennst du nur durch die Gegend und stehst anschließend im Weg rum?«, fragt er stattdessen unhöflich und verzieht den Mund zu einem fiesen Lächeln, bei dem meine Wangen vor Wut und Scham gleichermaßen heiß werden.

»Ich bin hier, um zu helfen!«, erwidere ich laut und deutlich und stelle mich etwas gerader hin. Ja, und bis jetzt warst du wirklich eine große Hilfe, Aida!, verspottet mich die Stimme in meinem Kopf. Aber das weiß King Joy nicht und das bleibt auch besser so. Was fällt dem Typen ein, mich so blöd anzureden? Unvermittelt frage ich mich, ob er weiß, wer ich bin.

»Wie ehrenwert von dir!« King Joy lacht leise und verächtlich. »Pass auf, dass du dir dabei nicht deine sauberen Last-Haven-Hände schmutzig machst.« Er zeigt kurz auf meine behandschuhten Finger und die Röte auf meinen Wangen wird bestimmt noch eine Spur intensiver. Bevor ich eine schlagfertige Erwiderung parat habe, lässt er mich stehen und zieht davon.

»Hier bist du also!«

Ich wirbele herum und sehe Laura auf mich zueilen. Sie ist offensichtlich wütend. Kein Wunder, schließlich habe ich nicht nur Hals über Kopf das Zelt verlassen, in dem ich bleiben sollte, sondern auch noch drei kleine Kinder unbeaufsichtigt zurückgelassen. Ich schäme mich richtig für meine Panikattacke.

»Wieso bist du abgehauen?« Laura versucht gar nicht erst, ihren Zorn zu verbergen.

Ich stottere eine Entschuldigung, ohne dabei wirklich eine Erklärung zu liefern.

»Willst du mir jetzt helfen oder nicht?«, fragt sie patzig.

Nein, eigentlich nicht. Zumindest nicht, wenn Babys dabei eine Rolle spielen. Ich öffne den Mund, um nach einer Ausrede zu suchen, komme dann aber zu dem Schluss, dass ich mich unreif verhalte. Weglaufen und wegschauen ist keine Dauerlösung meiner Probleme, das habe ich doch inzwischen begriffen. Ich werde es ja wohl schaffen, für ein paar Minuten die Gesellschaft eines Babys auszuhalten, ohne dabei durchzudrehen!

»Ja, natürlich«, antworte ich verlegen.

Die Skepsis in Lauras Augen ist unübersehbar. Sie mustert mich von oben bis unten, als würde sie überlegen, ob sie meine Unterstützung nach der Nummer überhaupt noch will.

»Na gut, dann komm mit!« Schlecht gelaunt winkt sie mich hinter sich her, zurück zum Zelt.

Ich reiße mich also zusammen. Folge ihr und treffe erneut auf Anemone, David und Jeremias, die während unserer Abwesenheit von der gleichen Frau betreut wurden, die Laura vorhin weggeholt hat. Ich entschuldige mich bei den Kindern für meine kopflose Flucht. Helfe ihnen dabei, sich die verfilzten, dreckigen Haare zu waschen und zu kämmen. Halte den Atem an, als Laura mir den Säugling reicht, weil sie ihm ein Fläschchen zubereiten möchte. Aber ich zwinge mich diesmal dazu, der kleinen Anemone ins Gesicht zu sehen, obwohl mir die Tränen in die Augen steigen, als ich ihr Wimmern höre. Ein heiseres Schluchzen löst sich aus meiner Kehle, was Laura nicht entgeht.

»Wirklich alles in Ordnung?«, fragt sie und berührt mich sanft am Arm. Ihre Wut auf mich ist inzwischen verraucht. Ob sie ahnt, was in mir vorgeht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das begreift, obwohl sie bestimmt meine öffentliche Anhörung verfolgt hat und daher weiß, was ich getan habe. Doch sie spürt auf jeden Fall, dass ich gerade etwas durchmache.

Ich nicke hektisch und beeile mich, die Tränen wegzublinzeln. Wegwischen kann ich sie nicht, weil ich keine Hand freihabe.

»Gib sie mir!« Laura nimmt mir vorsichtig das Baby aus dem Arm und gibt ihm etwas zu trinken.

»Brauchst du eine Pause?« Sie hebt die Augenbrauen.

»Nein, es geht schon«, flüstere ich schniefend.

Und es geht tatsächlich. Die nächsten Stunden verbringe ich damit, weitere Familien hereinzulassen, sie zu registrieren, zu befragen und hinterher zu trennen.

Es sind keine Babys mehr dabei. Wenigstens etwas. Die Kindersterblichkeit ist hoch jenseits unserer Grenze, erklärt Laura mir. Sie nimmt Rücksicht auf mich, aber ich habe mich nach und nach immer besser im Griff. Trotzdem bin ich völlig fertig, als es Zeit wird zu gehen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm für die Leute ist, sich voneinander zu trennen«, vertraue ich Laura an. Sie werden hoffentlich irgendwann einsehen, dass wir ihnen einen Gefallen getan haben, auch wenn es sich im Moment noch nicht so anfühlt. Laura presst die Lippen aufeinander und ich habe den Eindruck, dass für sie im Gegensatz zu mir die emotionalen Szenen keine Überraschung dargestellt haben.

Sie organisiert jemanden, der mich zurückfährt, sodass ich nicht wieder allein durchs Lager laufen muss. Es dauert noch eine gute Stunde, bis auch Romulus seine Arbeit erledigt hat und wir den Helikopter anfordern, der uns zurück in Ring A bringen soll.

»Wie ist dein Eindruck?«, will er von mir wissen, während ich mich an ihn schmiege und versuche, meine Gedanken zu ordnen.

»Ich weiß nicht«, erwidere ich vage und erzähle lieber von meiner Begegnung mit King Joy als von meiner Arbeit mit Laura, bis ich den Knoten in meinem Hirn gelöst habe. So bestürzt ich auch war, als ich erfahren habe, dass ich im Labor gezeugt und nicht geboren wurde, so selbstverständlich war es dennoch für mich, dass die Erziehung andere Leute als meine leiblichen Eltern übernommen haben.

Romulus ist so müde wie ich, das sehe ich ihm an. Trotz Schmerzmitteln leidet er unter seinen zahlreichen Verletzungen. Als wir im Regierungsbezirk ankommen und uns vom Piloten verabschiedet haben, ist es wie erwartet schon spät.

Ich lehne meine Stirn gegen Romulus’ Brust, lege meine Hände auf seine Seite und schließe die Augen. Ein kurzer Moment der Ruhe. Es ist einer der wenigen, die uns vergönnt waren, seit Chester uns gestern von der Farm abgeholt hat.

»Kann ich heute Nacht bei dir bleiben?«, frage ich, weil ich nicht weiß, ob ich alleine einschlafen kann. Romulus’ Nähe ist das beste Mittel gegen meine Anspannung. Zumindest jetzt, wo ich kein Mentalin mehr nehme und wir uns auch nicht mehr bei jeder Gelegenheit streiten. Ich habe ohnehin noch keinen festen Schlafplatz, letzte Nacht habe ich in einem Krankenzimmer geschlafen, während Romulus Arbeit nachgeholt hat. Aber heute will ich nicht allein sein.

Er seufzt und mustert mich. »Kommt drauf an, ob du dir irgendwas von meiner Gesellschaft erwartest«, sagt er gedehnt und ich könnte wetten, dass ich schon wieder rot werde.

»Nein«, versichere ich nachdrücklich und nehme meine Hände von ihm. Romulus lacht leise, greift nach meinen Fingern und legt sie dahin zurück, wo sie waren.

»Dann gerne«, sagt er lächelnd.

3. Kapitel

Meine Hände sind schwitzig, als ich am nächsten Morgen Chester gegenüber Platz nehme. Obwohl der Raum angenehm klimatisiert und bei Weitem nicht so heiß ist wie das Wetter draußen. Und obwohl man das Lächeln, das mir aus dem frühzeitig gealterten Gesicht entgegenleuchtet, nur als herzlich bezeichnen kann.

Ich fächere mir mit den Händen Luft zu und mein Blick fällt auf den Bildschirm, der oben in einer Ecke von Chesters Büro angebracht ist und auf dem ununterbrochen Nachrichten laufen. Der Ton ist abgestellt. Trotzdem weiß ich auf Anhieb, worum es in der Sendung geht, als ich die Maispflanzen sehe, über die die Kamera hinwegfährt. Sie wurden mehrmals genetisch angepasst, damit sie besser mit der Trockenheit und Nährstoffarmut der Böden in Last Haven zurechtkommen. Dennoch wirken die Pflanzen irgendwie mickrig. Genetische Veränderungen haben sich als nützlich erwiesen, doch sie sind kein Allheilmittel. Die Wissenschaftler können die Pflanzen besser anpassen, aber die Nährstoffe fehlen hinterher in den Feldfrüchten und damit in unserer Nahrung. Im Labor kann man leider auch nicht zaubern.

»Wie war es in Zone E?«, will der Präsident von mir wissen, bevor wir uns dem eigentlichen Grund meines Besuchs nähern.

Ich wähle meine Worte mit Bedacht, als ich kurz meine Eindrücke schildere. »Die Familien, die getrennt wurden. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …«

Chester nimmt mir diese Aufgabe ab. »Du hältst es für falsch, den Eltern ihre Kinder wegzunehmen.«

»Ich weiß es nicht, das ist mein Problem«, sage ich ehrlich und lächle entschuldigend.

»Es ist wichtig, dass wir die Neuankömmlinge so behandeln wie den Rest der Bevölkerung«, erklärt Chester mir. »Weil eine Sonderbehandlung zu Missgunst führen wird. Ich kann mir vorstellen, dass sich unsere Politik in diesem Bereich eines Tages verändern wird. Unser Reproduktionsstopp wird nicht ewig andauern, wir werden uns überlegen müssen, welchen Weg wir künftig einschlagen. Aber alles in allem hat sich unser System in dieser Hinsicht bewährt, deshalb hat die Angelegenheit keine Priorität für mich. Im Moment gibt es etliche andere Baustellen, um die ich mich dringender kümmern muss. Das verstehst du sicher.«

»Ja«, sage ich rasch. Wahrscheinlich hat er recht.

Keine Zeit zum Grübeln – das hat Chester mir versprochen, als er Romulus und mich auf der Farm in Ring D abgeholt und zurück in den Regierungsbezirk gebracht hat. Was ich brauche, ist eine neue Beschäftigung. Ich bin gespannt, was genau er mir zu sagen hat und wie es mit mir weitergehen soll.

»Also.« Der Präsident lehnt sich in seinem Stuhl nach hinten und breitet in einer einladenden Geste die Hände aus.

Ich warte darauf, dass er weiterredet und mir seine Pläne eröffnet. Aber da kommt nichts. Fragend schaue ich zurück. »Was soll ich machen?«

Weiter für die Wächter arbeiten? Aber die gibt es ja nicht mehr. King Joys Milizen haben Last Haven überrannt und sie gefangen genommen. Die Gefechte müssen hart gewesen sein, denn die Wächter waren trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit und des überraschenden Angriffs kein leichter Gegner, und ich zweifle nicht daran, dass sie sich erbittert gewehrt haben. Die überlebenden Wächter und die anderen Mitglieder der Liga, die anhand ihrer Armbinde identifiziert werden konnten, wurden verbannt. Große Transporter haben die Gefangenen durch die Tore in der Mauer nach draußen gekarrt und sie dort ausgesetzt. An verschiedenen Stellen, wohlweislich. Dass sie sich jenseits der Grenze zusammenrotten und uns am Ende noch gefährlich werden, wollte Chester nicht riskieren. Etwas Wasser und Nahrung wurde jedem Einzelnen mit auf den Weg gegeben, aber es ist zu wenig, um eine echte Chance aufs Überleben zu haben. Die Verbannung kam einem Todesurteil gleich.

Statt zu antworten, stellt Chester mir eine Gegenfrage: »Was möchtest du denn machen, Aida?«

Verwirrt schüttle ich den Kopf, öffne den Mund einen Spaltbreit, weiß aber nicht so recht, was ich erwidern soll. Ich darf mir also aussuchen, was ich gerne tun würde? In Last Haven gibt es keine Berufswahl. Nach wie vor werden die Menschen entsprechend ihrer Eignung einer Stelle zugeordnet. Die Neuankömmlinge sollen so behandelt werden wie alle anderen. Aber ich nicht?

Meine Verwunderung amüsiert Chester.

»Du hast während des letzten Jahres mehr Positionen durchlaufen, als die meisten Menschen in Last Haven in ihrem ganzen Leben«, sagt er. »Du warst bei Techraid, du warst im Verteidigungsministerium, du warst Wächterin. Da musst du doch allmählich eine Vorstellung davon haben, wo du hingehörst«, sagt er schmunzelnd. »Die Wächter gibt es nicht mehr, aber Fox ist aktiv und baut ein neues Militär auf. Ist diese Art von Tätigkeit etwas für dich? Soll ich dich wieder ihm zuteilen?«

Das hat Chester bereits angesprochen, als wir uns auf der Farm unterhalten haben. Tatsächlich habe ich mich auf dem Flug von Ring D nach Ring A bei der Vorstellung ertappt, wie ich als Ausbilderin aussehen würde, aber das Bild ist irgendwie schief. Ich war eine viel zu schlechte Wächterin. Mit der eingeschränkten Beweglichkeit meiner Finger, meiner Unsportlichkeit und meiner dürftigen Erfahrung werde ich nie mit jemandem wie Fox oder Kim mithalten können. Außerdem wird es noch eine Weile dauern, bis ich mein angeschossenes Bein und meinen angebrochenen Arm wieder voll belasten kann.

»Nein«, sage ich entschieden und auch ein Stück weit erleichtert, weil ich eine Option schon mal mit Sicherheit ausschließen kann. Es kommt mir vor, als würde ich gerade eine Prüfung ablegen.

Chester nickt verständnisvoll. »Was ist mit dem Verteidigungsministerium oder Techraid? Willst du dorthin zurück?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Nein, auch das nicht. Techraid ist Geschichte für mich. Ich würde mich in Ring C abgeschottet fühlen und überhaupt nicht mehr mitkriegen, was hier los ist. Und ich hätte auch keinerlei Einfluss darauf. Früher hat Mike mich für mein mangelndes politisches Interesse regelmäßig geschimpft, aber ich habe mich verändert. Es ist mir nicht mehr egal, was in Last Haven passiert, seit ich die unschöne Erfahrung gemacht habe, dass politische Entscheidungen mich persönlich betreffen können. Ganz unabhängig davon, ob ich die Nachrichten sehe oder nicht.

Also zurück ins Verteidigungsministerium? Dort habe ich zum ersten Mal angefangen, Dinge zu hinterfragen. Aber auch bei dieser Vorstellung ist mir nicht wohl. Es war bereits nach unserem Putsch unerträglich für mich, dort zu sitzen und nicht wirklich an unserem Umbruch mitzuwirken. Und Ben … Beim Gedanken daran, in Clive Newmans Büro zu sitzen und auf seinen leeren Platz zu starren, bis jemand Neues ihn besetzt, wird mir flau im Magen. Ich frage mich umgehend, wie es Ivy gerade geht. Ich habe sie noch nicht wieder getroffen, seit ich hier bin.

Langsam schüttle ich den Kopf und starre auf die Tischplatte vor mir. Ich hoffe, Chester hält mich nicht für undankbar, weil ich alles ablehne, was er mir anbietet.

»Gut«, sagt er jedoch bestimmt. »Ich habe dich dort auch nicht wirklich gesehen.«

Als ich aufschaue, bemerke ich, dass Chester mich aufmerksam mustert. »Obwohl du bewiesen hast, dass du durchaus Stärken besitzt, die im Verteidigungsministerium von Nutzen sein können. Strategisches Geschick, zum Beispiel.«

Meine Eingeweide werden zu Eis. Denn die Momente, in denen ich strategisch aktiv werden musste, waren sehr rar. Er redet von Fairfield und meiner Simulation. Es war mein erfolgreichster Moment in der Probephase, das einzige Mal, dass ich für etwas Lob geerntet habe. Sogar von Rex Jenkins. Und zugleich würde ich diesen Tag am liebsten komplett aus meinem Leben streichen, weil ich so viel Schaden angerichtet habe. Es mag einem unmöglich erscheinen, dass man in einer einzigen Stunde derart viele Menschen ins Unglück stürzen kann. Noch dazu, ohne es zu wissen. Aber das ändert nichts an dem, was passiert ist, und schon gar nichts an meiner Schuld.

Chester belässt es bei dieser Andeutung. Seine Augen leuchten und es kommt mir so vor, als würde ihm dieses Gespräch sehr viel mehr Spaß bereiten als mir. Ich begreife, dass er nicht vorhat, mir weiterhin Vorschläge zu unterbreiten. Er meint es ernst: Ich soll mich selbst dazu äußern.

»Ich würde gerne hierbleiben«, entgegne ich also. Last Haven ist in Bewegung und es wird unendlich viel Arbeit zu verrichten sein, um das System wieder zu stabilisieren. Ich will weiterhin meinen Beitrag dazu leisten.

Chester zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Du meinst, hier bei mir?«, hakt er nach.

Ich suche nach Worten, die besser ausdrücken, was ich sagen möchte, weil mir aufgeht, wie vage das geklungen hat. Aber der Präsident kommt mir zuvor.

»Ja, das halte ich für eine gute Idee. Ich würde dich gerne einstellen«, sagt er im Ton vollster Überzeugung und mit einem Lächeln, als hätte er genau das vorausgesehen oder gar geplant. »Als meine Beraterin, wenn man es so nennen möchte. Ich könnte dich gebrauchen. Nicht für Kleinigkeiten, die so im täglichen Regierungsgeschäft anfallen – dafür habe ich einen Assistenten. Sondern für Wichtigeres. Wenn du das möchtest.«

»Ich … Was …?«, stammele ich ein wenig überfordert. Ich habe ja bisher gar nicht an etwas Konkretes gedacht. »Ich hoffe, du überschätzt mich nicht«, füge ich verunsichert hinzu.

»Und ich hoffe, du unterschätzt dich nicht«, entgegnet Chester gelassen und beugt sich ein Stück zu mir rüber, über den Tisch. »Du solltest inzwischen begriffen haben, dass es nicht nur darum geht, was Menschen hiermit leisten können.« Er hebt seine Hand. »Oder was sie hier drin haben.« Er tippt sich gegen die Stirn. »Weder das eine noch das andere ist wirklich ausschlaggebend, wenn es darum geht, all die Herausforderungen zu meistern, die vor uns liegen. Du hast dich weiterentwickelt, Aida, das kann ich sehen. Du hast deinen Horizont erweitert, dich in gefährlichen Situationen als mutig und treu erwiesen und gezeigt, was in dir steckt.«

Zu hören, dass es etwas gibt, was andere meinen zahlreichen Unzulänglichkeiten zum Trotz an mir schätzen – etwas, das kein Unfall, keine Krankheit mir je nehmen kann – ist Balsam für meine Seele. Ich kann nichts dagegen tun, dass meine Augen zu brennen anfangen.

»Was genau soll ich denn machen?«, frage ich nach.

»Was ich von dir erwarte, ist viel«, gibt Chester unumwunden zu. »Zum einen, dass du mich über die Entwicklungen im Würfel auf dem Laufenden hältst, zumindest in nächster Zeit. Dass du mich repräsentierst. Dass du mir gegenüber immer ehrlich bist und dich nicht scheust, mich darauf hinzuweisen, wenn ich mich deiner Meinung nach abseits vom rechten Weg bewege. Denn das tue ich hin und wieder – manchmal mit Absicht, aber eben nicht immer.«

Wir wechseln einen Blick und ich weiß auf Anhieb, woran Chester gerade denkt, auch wenn er es erneut bei einer Andeutung belässt. Dass er es King Joy und seinen Milizen gestattet hat, die Wächter aus dem Land zu jagen, war ein drastischer Schritt. Er hat es getan, um sie an sich zu binden und die Kontrolle zurückzuerhalten. Aber es sind so viele Unschuldige darunter, die mitbestraft wurden! Nicht jeder Wächter hat zur Liga der Mutigen gehört. Chester Fields hat gute Absichten, daran zweifle ich nicht, und er ist klug und vorausschauend. Ich bewundere ihn, aber manchmal ist er auch … berechnend. Und das unterscheidet ihn – nicht nur von mir, sondern auch von Romulus oder Mike oder Fox.

»Ich kann dir nicht versprechen, dass ich alle Ratschläge und Einwände, die du hast, beherzigen kann«, sagt er leise und ist jetzt auf einmal sehr ernst. Als könnte er meine Gedanken lesen. »Denn ich muss mich nicht nur vor mir selbst rechtfertigen, wenn ich eine Entscheidung treffe. Wenn ich nur die Wahl habe zwischen einem Übel und einem anderen, dann bin ich nicht in der Position, nichts zu tun, um mein Gewissen nicht zu belasten. Ich bin Präsident, ich habe mehr Verantwortung als du. Verstehst du?«

Ich nicke vorsorglich. Soll das eine Art Rechtfertigung sein? Oder ist es nur eine Erklärung?