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Deutsche Erstausgabe (ePub) Mai 2019

 

Für die Originalausgabe:

© 2008 by Z.A. Maxfield

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»St. Nacho's«

Published by Arrangement with Z.A. Maxfield

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische

Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

 

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN-13: 978-3-95823-758-2

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

 


 

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Aus dem Englischen von Susanne Ahrens


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Seit drei Jahren läuft Cooper vor seiner Vergangenheit davon, reist von Stadt zu Stadt und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Sobald er sich irgendwo – oder bei irgendwem – heimisch fühlt, zieht er weiter. Die einzige Sprache, die er noch spricht, ist die seiner Musik. Ironischerweise ist der Mann, bei dem er endlich wieder das Bedürfnis zum Reden verspürt, gehörlos. Shawn zeigt sein Interesse an Cooper recht eindeutig, doch während Cooper nur auf Sex ohne Intimität aus ist, macht sich Shawn daran, seine Schutzwälle einzureißen. Und als Cooper von seiner Vergangenheit eingeholt wird, ist es Shawn, der ihm zeigt, wie Liebe alte Wunden heilen kann…


 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist für Mom und Dad. Adoptierte Kinder sind

wie eine Wundertüte mit den Genen fremder Menschen.

Das wurde mir wahrscheinlich erst bewusst, als meine

eigenen kleinen Äpfel nicht weit vom Stamm fielen.

 

Danke, dass ihr euch das Gute erhofft

habt, mit dem Schlechten zurechtgekommen

seid und mich trotzdem geliebt habt.

 

 

 


 

Kapitel Eins

 

 

Ursprünglich hatte ich nicht vor, länger in Santo Ignacio zu bleiben. Das winzige Küstenstädtchen schien einfach nur ein guter Ort zu sein, um von der Straße abzubiegen und sich auszuruhen. Daher rollte ich meine Decke im Sand neben einer Mauer aus, die an die Strandpromenade angrenzte, und machte ein Nickerchen.

Dass niemand mich weckte und fragte, was ich hier trieb, oder mir das Leben schwer machte von wegen Durchreise, obdachlos oder Landstreicher, war der erste Hinweis, dass ich vielleicht mehr als ein verschlafenes Stündchen hier verbringen würde.

Als ich wieder zu mir kam, dämmerte es und ich musste so dringend pinkeln, dass ich wagte, Nacho’s Bar an der Strandpromenade zu betreten. Es war eine schläfrige kleine Spelunke mit einer Art Kantinenflair, vor der bereits die ersten Männer auf der Veranda in der milden Meeresbrise saßen und an ihren Coronas nippten. Sie entspannten sich in ihrer Strandkleidung, leckten sich das Salz von den gebräunten Händen und bissen in Limetten, bevor sie ihren Tequila in sich hineinkippten.

Das waren genau meine Leute.

Dass ich nicht länger zu ihnen gehörte, irritierte mich kurz, als ich den Barkeeper fragte, ob ich die Toilette benutzen dürfte. Er ruckte mit dem Kopf, als wollte er sagen »Geh nur«, auch wenn er mich mit geübtem Blick musterte. Ich gab vermutlich ein merkwürdiges Bild ab in meinen alten Jeans und der noch älteren Motorradjacke mit dem Clublogo auf dem Rücken. Letztere war ein Geschenk von einem Mann gewesen, der inzwischen nicht mehr mit mir redete, weil ich ihn bestohlen hatte. Entsprechend war ich in seinem Club nicht mehr willkommen und ich war nicht allzu optimistisch, dass es hier anders sein würde.

Der Mann starrte mich an, musterte meine Piercings und das Tattoo auf meinem Hals. Ich war den ganzen Tag lang unterwegs gewesen und sah sicher auch so aus, und ich hatte einen abgewetzten Geigenkasten bei mir. All das ließ mich eigenartig wirken, besonders an einem Ort, an dem alle so gesund und entspannt wirkten und deutlich weniger Kleidung trugen als ich. Unwillkürlich presste ich mein Instrument fester unter meinen Arm, um es etwas unauffälliger zu machen. Von wegen.

Ich sah aus, als hätte das Motorrad mich hergebracht statt anders herum.

Ich ging ins Bad, benutzte die Toilette und versuchte anschließend, den gröbsten Schmutz von meinem Gesicht und meinen Händen zu waschen. Die Erlaubnis, das Bad einer Bar zu benutzen, obwohl ich nichts bestellt hatte, war eine unerwartete Freundlichkeit. Sorgfältig reinigte ich das Waschbecken, bevor ich den Raum verließ.

Ich kehrte an den Tresen zurück und bat um einen Becher Kaffee. Der Barkeeper servierte ihn mir in einer weißen Porzellantasse mit Untertasse – ganz wie in einem Diner – und reichte mir Milchdöschen und ein paar Päckchen Zucker dazu.

»Auf der Durchreise?«, fragte er und ich kehrte innerlich in tausend andere Bars zurück. An die meisten erinnerte ich mich kaum und doch waren alle irgendwie gleich gewesen.

»Ja«, sagte ich, während ich meinen Kasten neben dem Stuhl absetzte. Ich zog meine Jacke aus und machte es mir gemütlich. Ich wusste, wie es in Bars zuging. »Nett hier. Ich brauchte eine Pause.«

»Ist ein guter Ort dafür«, erwiderte er und musterte mich scharf. »Fällt dir irgendwas Ungewöhnliches auf?«

»Nö«, sagte ich und rührte meinen Kaffee um. »Sollte es?«

Der Barkeeper wirkte belustigt. Er lehnte sich zu mir hinüber, die Ellbogen auf eine Weise auf den Tresen gestützt, die ich als provokativ empfand. Vermutlich wollte er mich schockieren. »Es sind keine Frauen hier«, sagte er abwartend. »Keine einzige.«

»Worauf willst du hinaus?«, erkundigte ich mich, auch wenn ich bereits wusste, um was es ihm ging. Im Ernst, ich war weder darauf aus, mir ein Etikett anzukleben, noch wollte ich mich großartig mitteilen. Ich konnte aber erkennen, worauf er anspielte. Wahrscheinlich wollte er den harten Biker ein bisschen schocken, aber mir war nicht danach mitzuspielen.

»Das ist eine Schwulenbar, Kumpel«, erklärte er. Seine Augenbrauen verschwanden unter den Fransen auf seiner Stirn.

Fransen. Den Ausdruck hatte ich von Neville, dem bösen Buben aus Oxford, der mir zum ersten Mal die Nase gebrochen hatte, nachdem ich an der Juilliard rausgeflogen, aber noch bevor ich in Schande zu meinen Eltern nach Hause zurückgekehrt war. Ein ganzes Jahr lang, das sicher sehr denkwürdig gewesen wäre, wenn ich je nüchtern genug gewesen wäre, um mich daran zu erinnern, hatte ich in New York gelebt. Dort hatte ich mich einer erbärmlichen Ansammlung dessen hingegeben, was ich für kultivierte Vergnügungen hielt; unter anderem einen Monat als Liebling einer Gruppe Kids mit dicken Treuhandfonds, gefolgt von einer Faszination für BDSM-Schuppen, einer kurzen Zeit als Haustier einer Motorradgang und Obdachlosigkeit. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass irgendetwas in diesem Laden mich noch schockieren konnte.

»Kumpel«, begann ich. Es tut mir leid, zugeben zu müssen, dass ich ihn aufzog, obwohl er so nett zu mir gewesen war. Ich war müde. Shit happens. Ich sah mich nach der angeheiterten Runde Gäste um. »Ich könnte jedem einzelnen dieser Jungs einen blasen – und zwar durch ein fünfzehn Meter langes Regenrohr hindurch –, aber wie die Dinge liegen, suche ich heute nicht nach Liebe.«

Er warf den Kopf zurück und lachte. Ich konnte einen netten, kleinen Knutschfleck rechts unterhalb seines Kiefers erkennen. »Der Kaffee macht zwei Dollar, Nachschenken geht aufs Haus«, erwiderte er.

Dann verabschiedete er sich, um sich um einige andere Gäste zu kümmern, aber ich konnte spüren, dass sich das Gleichgewicht im Raum verschoben hatte. Es war, als ob die Tatsache, dass ich ihn zum Lachen gebracht hatte, die Anspannung gedämpft hätte und das Leben wieder seinen normalen Gang ginge.

Ich stopfte die letzte Portion Milch und den Zucker in die Tasche und verzog mich mit meinem Kaffee in eine Ecke der Veranda, in der ich hoffentlich rauchen durfte. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich überhaupt noch wusste, was Normalität bedeutete.

Die Veranda war von hohen Plexiglas-Wänden umgeben und wurde von zwei großen Propangasöfen fürs Freie beheizt. Es war dort so gemütlich, dass ich einen jener heftigen emotionalen Augenblicke durchlebte, die mich von Zeit zu Zeit überkamen, wenn ich es am wenigsten erwartete. Ich wandte das Gesicht von den anderen Kunden fort, um meinen Zustand zu verbergen.

Zittrig entzündete ich meine Zigarette mit dem Zippo, das ich letzten Monat einem Typ in San Diego geklaut hatte, und dachte, dass das noch eine weitere verdammte Sache war, für die ich Abbitte leisten musste. Scheiße. Die Liste war bereits jetzt tausend verfickte Kilometer lang und ich schaffte es keine zwei Tage, nichts Neues hinzuzufügen.

Ich erinnerte mich, dass ich das Feuerzeug an mich genommen hatte, bevor wir hinter das kleine Restaurant gegangen waren, um uns miteinander zu beschäftigen. Es hatte dort auf dem Tisch gelegen und ich hatte gedacht, dass ich hinterher sicher eine rauchen wollen würde. Damit ich meinen Mund geschlossen hielt, statt etwas zu sagen, was ich gar nicht sagen wollte. Als es vorbei gewesen war, hatte er das Kondom zugeknotet und es mir ins Gesicht geworfen. Und ich hatte irgendwie ein wenig heftiger darauf reagiert, als unbedingt notwendig gewesen wäre. Danach hatte ich zusehen müssen, dass ich Land gewann, bevor der Restaurantmanager herauskam und uns beiden die Polizei auf den Hals hetzen konnte.

Romantik ist schon was Tolles. Ich hatte nichts dagegen, mich an die Wand einer Gasse gelehnt vögeln zu lassen, aber deshalb musste ich mich noch lange nicht schlecht behandeln lassen.

Ich rückte meinen Stuhl zurecht, sodass ich gleichzeitig rauchen, meinen Kaffee trinken und so tun konnte, als wäre ich allein am Strand, abgesehen von dem ein oder anderen Spaziergänger, der die Promenade entlangschlenderte. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß. Bevor es mir bewusst wurde, war es auch schon dunkel.

Der Aschenbecher, den ich mir geschnappt hatte, war schon halb voll, als die schönste Hand, die ich je gesehen hatte, eine Kaffeekanne über meine Tasse hielt. Lange, elegante und sich wunderschön verjüngende Finger, die von einer Reihe silberner Ringe geschmückt wurden.

Ich starrte sie an, fasziniert von dem entspannten und leichten Griff der großen Hand, bis mir dämmerte, dass ihr Besitzer sicher darauf wartete herauszufinden, ob ich nachgeschenkt haben wollte. Ich sah auf und in das Gesicht eines jungen Mannes, das so viel Lebensfreude ausstrahlte, dass ich mich geblendet fühlte. Ich nickte ruckartig, zwang mich in die Realität zurück, wich dem Blick goldbrauner Augen aus, die ich später als eindringlich bezeichnen würde, und beobachtete, wie der hübsche Junge meine Tasse füllte. Einen Augenblick lang sah ich die Welt beinahe in Farbe. Beinahe.

Gegen zehn Uhr hatte ich so viel Kaffee in mir, wie ein Mann trinken konnte, und außerdem einen Teller der wirklich erstklassigen Nachos verspeist, für die die Bar berühmt war. Daher ging ich an den Tresen, um meine Tasse zurückzubringen und meinen guten Willen zu demonstrieren, und erkundigte mich, ob es irgendwo in Santo Ignacio einen Ort gab, an dem man günstig übernachten konnte. Ich hatte Geld, nicht viel, aber ich sehnte mich seit drei Tagen nach einem Bett und einer Dusche.

»Wenn dich der Krach nicht stört…«, setzte der Barkeeper an, »im ersten Stock ist eine kleine Wohnung. Als ich den Laden gekauft habe, habe ich dort gewohnt, aber inzwischen bin ich zu meinem Lebensgefährten gezogen und benutze sie mehr als Lager als alles andere. Es gibt dort nichts außer einem Bett, dem Bad und ein paar Kisten mit Akten.« Er betrachtete mich nachdenklich. »Du siehst aus, als hättest du Ärger hinter dir.«

Erneut senkte ich den Blick. Wie es aussah, war ich der demütigste aller Demütigen geworden. Ich hatte keine Ahnung, wie zum Teufel ich aussah – abgesehen davon, dass ich drei Tage nicht richtig geschlafen hatte und dreckig war. »Ich wüsste das für heute Nacht zu schätzen. Ich kann zahlen, arbeiten oder es abvögeln.« Es schadete nicht, die Dinge beim Namen zu nennen.

Er beugte sich wieder über die Bar und stützte das Kinn in die Handfläche.

»Du kannst mir nichts anbieten, was ich brauchen könnte«, sagte er. Es klang beinahe nach einem Seufzen. »Ich versuche nur zu helfen.« Er streckte mir die Hand entgegen. »Jim.«

»Danke.« Ich nahm die Hand und schüttelte sie kräftig. »Cooper. Tut mir leid, wenn ich…«

»Ist schon in Ordnung, Cooper. Nett, dich kennenzulernen. Versuch nur nicht, hier runterzugehen und dir was zu trinken zu holen, nachdem geschlossen ist. Der Laden hat eine Alarmanlage und Kameras.«

»Ich trinke nicht«, erklärte ich. Tue ich wirklich nicht. Nie wieder.

Er warf mir einen Blick zu, der mir verriet, dass er das alles schon mal gehört hatte. Aber nicht von mir. Ich trinke nicht. Eher würde ich mich umbringen.

Ich nahm die Geige und ging hinaus zu meinem Motorrad, um meine Tasche zu holen. Als ich zurückkam, ging ich auf die Treppe zu, die Jim mir gezeigt hatte. Sie befand sich am anderen Ende des Tresens und am Anfang eines langen Flurs, von dem aus der wunderschöne Kaffee-Junge mit den bernsteinfarbenen Augen mich schweigend beobachtete. So leise ich konnte, stieg ich die hölzernen Stufen hinauf und betrat eine Wohnung, die in ihrer Winzigkeit fast wie ein Schrank wirkte. Doch es gab ein Schloss an der Tür und als ich das Wasser aufdrehte, kam es heiß aus der Leitung geschossen. Pure Glückseligkeit.

Lange bevor die Bar unten schloss, war ich eingeschlafen und ich regte mich erst wieder am Nachmittag des nächsten Tages. Wenn ich zu einem Gott betete – falls ich das tat –, dann die halbe Zeit über zu Hypnos, dem Gott des Schlafs, und den Rest der Zeit zu seinem Zwillingsbruder Thanatos, dem Gott des friedlichen Todes. Die verdammten Griechen wussten, wie man lebte.

 

***

 

Als ich aufstand, zog ich mir nur die Jeans an, die ich am Vortag getragen hatte. Aufgrund der Umstände reiste ich mit leichtem Gepäck. Meine Tasche enthielt nur ein paar Jeans, einige T-Shirts, Socken und zwei Paar Unterhosen, die eine Art Hommage an meine Mutter darstellten. Ich wollte nach meinem Motorrad sehen und polterte die Treppen hinunter und halb aus der Tür hinaus, bevor ich auch nur richtig registriert hatte, dass jemand in der Bar war. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass Jim, seine Belegschaft und einige weitere Leute ungeklärter Herkunft – insgesamt acht Personen – an zusammengeschobenen Tischen saßen und in familiärer Runde etwas aßen, das nach Reis, Bohnen, Carnitas und Tortillas aussah. Es machte nicht den Eindruck, als wäre die Bar bereits geöffnet.

Ich nickte ihnen zu, um sie zu begrüßen, und ging nach draußen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mein Motorrad noch dort stand, wo ich es zurückgelassen hatte, intakt war und auch kein Knöllchen trug, ging ich zurück. Alle starrten mich an.

»Komm und iss was, Sohn«, sagte Jim.

»Cooper«, berichtigte ich. Ich konnte spüren, wie sie meinen Körper musterten mit seinem Netz aus Narben, Tattoos und dem Zickzack an Peitschennarben, die wie verblasste weiße Risse auf fleischfarbenem Erdboden wirkten. Früher hätte ich in einem solchen Moment mein reueloses Grinsen gezeigt, doch heute hätte ich selbst dann nicht den Blick über die Knie hinaus der Anwesenden zwingen können, wenn mein Leben davon abgehangen hätte.

»Das ist Alfred, mein Lebensgefährte«, erklärte Jim. Er deutete auf einen attraktiven Mann in den späten Dreißigern, der mich aus haselnussfarbenen Augen neugierig betrachtete.

Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin nur auf der Durchreise«, sagte ich wachsam.

»In Ordnung«, meinte er, nahm meine Hand in seine beiden und tätschelte sie kurz. »Frühstück doch mit uns«, wiederholte er Jims Einladung.

»Danke. Lasst mich nur was anziehen«, erwiderte ich, doch um den Tisch herum hob ein Murmeln an.

»Für uns musst du dich nicht anziehen. Die meisten genießen die Aussicht.« Jim zwinkerte.

Ich zog eine Grimasse. »Hab eine Menge Meilen auf dem Tacho.« Sie lächelten zurück.

Es war ein Vergnügen, sich zum Essen hinzusetzen, und das Frühstück selbst war so perfekt, dass es einem auf der Zunge zerging. Dicke, weiche, selbst gemachte Tortillas mit Schweinefleisch aus der Schulter, das so lange in Fett und Gewürzen gekocht worden war, bis es fast auseinanderfiel. Grob gewürfelter Salat, der die perfekte Balance zwischen Geschmack und Schärfe besaß. Reis und Bohnen, für die jede mexikanische Großmutter getötet hätte, um sie so auf den Tisch bringen zu dürfen.

Jim stellte mich Oscar und Tomas war, die offensichtlich die verantwortlichen Köche waren, und ich ließ sie wissen, für wie großartig ich ihr Essen hielt. Sie schienen vor Stolz förmlich anzuschwellen.

Jemand reichte mir einen großen Glaskrug mit etwas, das ich für eine Bloody Mary hielt. Daher wollte ich ihn weiterreichen, bis Jim sagte: »Es ist zwar ein Cocktail, aber ohne Alkohol. Ich mag ihn einfach zum Frühstück.«

Ich lächelte ihm zu, um mich für seine Rücksichtnahme zu bedanken, doch ich war mir nicht sicher, wie es mir damit ging, dass nun jeder am Tisch wusste, dass ich nicht trank. Oft entstanden daraus ganz eigene Probleme, besonders mit Männern, die nicht gern allein tranken.

Ich sah mich um. Niemand schien sich um den Austausch zwischen Jim und mir zu scheren, daher nahm ich den Krug und füllte mein Glas. Ich nahm einen großen Schluck, der mir fast den Kopf wegblies. Tabasco verstärkt von einer rauschigen Explosion, die nur von Habanero-Chili stammen konnte.

Oh verdammt, ich war in Tränen aufgelöst, mein Gesicht war bestimmt knallrot und für eine Sekunde konnte ich nicht atmen. Ich liebte es, verdammt noch mal! Kulinarischer Kitzel war einer der wenigen Wege für mich, auf harmlose Weise das Abenteuer zu suchen, und wohin immer es mich in diesen Tagen trieb, fand ich eine Möglichkeit, ihm nachzugehen.

Eine Hand klopfte mir auf den Rücken, und einige der Männer lachten.

Das Gelächter verstummte allerdings, als sie sahen, dass ich keine Skrupel hatte weiterzutrinken, nur um erneut aufzubranden, als ich ihnen anbot, ihnen einen zu blasen, damit sie die Schärfe selbst fühlen konnten. Das brachte mir einen milden Tadel von Jim ein, der offensichtlich recht feurige Erfahrungen aus erster Hand in dieser Angelegenheit hatte. Sobald alle das Lachen eingestellt hatten, neigte er sich zu mir, um vertraulich mit mir zu sprechen.

»Also, bleibst du für eine Weile in Santo Ignacio?«, fragte er.

Ich antwortete: »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich war nur auf der Durchreise, aber es scheint hier… nett zu sein.« Ich wollte nicht zu sehnsüchtig erscheinen. Es war nett in Santo Ignacio und ich empfand seit dem Vortag etwas – sowohl bezogen auf die Stadt als auch auf die Bar –, das ich lange Zeit nicht gespürt hatte. Vielleicht Akzeptanz oder einfach nur Frieden.

»Ich kann hier immer Hilfe gebrauchen, gegen Kost und Logis«, meinte Jim. »Und wenn du Geige spielst, kannst du dir sicher zusätzlich etwas Trinkgeld verdienen. Der Sommer rückt näher, und dann kommen die Touristen. Auf der Promenade sind immer ein paar Straßenkünstler, und solange du kein ausgemachter Bettler bist, gibt es da kein Gesetz gegen.«

Ich dachte darüber nach. »Ja. Das wäre… das könnte ich schon machen. Bei was genau brauchst du denn Hilfe? Ich hab schon bedient, geputzt und den Springer gemacht. Ich ziehe es nur vor, nicht an der Bar zu arbeiten.« Ich wusste, wie das klang. Als könnte man mich in Versuchung führen. Aber darum ging es nicht. Der Geruch von hartem Stoff machte mich krank und Betrunkene, die mir ins Gesicht atmeten… Das konnte ich nicht.

»Ich verstehe«, sagte Jim. Nein, das tat er bestimmt nicht, aber das würde ich ihm nicht sagen. »Genau genommen brauche ich zwischendurch einen Kellner – und jemanden, der darauf achtet, dass Oscar und Tomas sich in der Küche nicht gegenseitig umbringen. Hast du Erfahrung in der Küche?«

Hatte ich jemals…

»Ja«, erwiderte ich. »Ich kann gut mit dem Messer umgehen.« Oscar und Tomas wechselten einen Blick. »In der Küche! Schneiden, würfeln, hacken… Die Grundlagen der Zutatenvorbereitung.« Sie nickten erleichtert.

»Gut«, entgegnete Jim. »Dann muss ich den ganzen Kram für die Bar nicht selbst schneiden.« Er hatte sich entschieden, obwohl für mich noch nicht das Gleiche galt.

Nach dem Frühstück bereitete ich mich auf den ersten Tag vor, an dem ich mir meine Unterkunft verdienen würde. Zu dem Zeitpunkt war ich bereit, der Angelegenheit ganze drei Tage zu geben. Ich blieb selten irgendwo länger. Drei Tage reichten immer, um herauszufinden, dass ich nicht weit und schnell genug geflohen und meine Vergangenheit mir dicht auf den Fersen war.

Ich rief die Treppe hinunter und fragte Jim, ob es in Ordnung sei, wenn ich auf meiner Geige übte. Er stimmte zu und versicherte mir, dass die Bar erst in einer Stunde öffnen würde. Falls ich etwas Mariachiartiges im Kopf hätte, sollte ich mich darauf konzentrieren.

Ich kannte Las Mañanitas, Cielito Lindo, De Colores und La Bamba. Notfalls konnte ich mir immer noch eine entsprechende CD anhören und mehr einstudieren. Ich nahm meine Geige aus dem Kasten und machte mich wieder mit ihrem Gewicht und dem Gefühl von ihr an meiner Haut vertraut. Es war eine Woche her und ich hielt sie für eine Weile wie ein Liebhaber, bevor ich sie stimmte und dazu brachte, für mich zu singen.

Sobald ich zu spielen begann, überkam mich das innige Verlangen, in der Musik zu versinken, die Treppen hinunter, in den Keller, falls es einen gab, mich so tief in die Erde hineinzuspielen wie möglich, doch ich zwang mich stattdessen, mich an die Arbeit zu machen. Ich ließ es nicht mehr zu, dass es mich zur Gänze zerriss, solange ich mir nicht sicher war, dass keine lebende Seele in der Nähe war, die mich hören konnte. Ich spielte sanft, beinahe behäbig, wo ich doch früher gespielt hatte, als wäre ich besessen. Jedenfalls bis meine Lehrer mich damit aufgezogen hatten, dass meine Saiten noch Feuer fangen würden.

Das war das schwerwiegendste meiner Verbrechen und wann immer ich spielte, spürte ich die Vergeltung in meinem Nacken wie einen Atemhauch. Mir war von den Göttern eine wahrhaftige und anscheinend auch dauerhafte Gabe verliehen worden, und ich hatte sie weggeworfen. Auch wenn ich meine Geige immer bei mir hatte, war sie nicht mehr als eine Erinnerung an das, was hätte sein können.

Meine Finger flogen durch die erste von mehreren Etüden, gefolgt von einigen klassischen Stücken und anschließend den Mariachi-Weisen.

Wenn ich meine Gabe verloren hätte, wäre es ein Akt der Gerechtigkeit gewesen. Wenn ich meine Seele verloren hätte, hätten meine Schuldgefühle mich nicht länger quälen können. Doch ich hatte beides noch. Mir war lediglich meine Menschlichkeit abhandengekommen und mit ihr auch alles andere, was mir jemals etwas bedeutet hatte. Und Santo Ignacio war so gut wie jeder andere Ort, um mich in diesem Wissen zu suhlen.