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Lars Lienhard

KRAFT
BEGINNT IM
GEHIRN

Lars Lienhard

KRAFT
BEGINNT IM
GEHIRN

Mit Neuroathletik die Kraftentfaltung maximieren

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

info@rivaverlag.de

Wichtiger Hinweis

Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.

Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Marion Schölzke

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildungen vorn: Shutterstock/Admiral, Mihai Blanaru, Everyonephoto Studio, MDGRPHCS, OSTILL is Franck Camhi

Umschlagabbildungen hinten: Nils Schwarz, www.nilsschwarz.com

Layout: Katja Muggli, www.katjamuggli.de

Models: Isabel Carneiro, isabelcarneiro.com, Julian Burger von Elace Sportmodels, München

Satz: Jürgen Winnige, abavo GmbH, Buchloe

Druck: Firmengruppe APPL, aprinta Druck, Wemding

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1135-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0792-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0793-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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Inhalt

1. Was ist Kraft?

Die neuronalen Hintergründe der Kraftentfaltung

Kraft ist Koordination unter Last

Wie Sie dieses Buch nutzen sollten

2. Assessments – kleine Tests zur Qualitätssicherung Ihres Trainings

Überprüfen Sie die Wirkung Ihres Trainings

Die Assessments – gewinnen Sie Informationen über die Trainingswirkung

3. Reflexive Kraft –der stabilisierende Faktor im Hintergrund

Die wichtigsten Komponenten und Aspekte der reflexiven Kraft

Die Gleichgewichtsreflexe

Der zervikozervikale Reflex

Der vestibulozervikale Reflex

Der vestibulospinale Reflex

Trainingsempfehlungen zur Optimierung der Gleichgewichtsreflexe

Stabilität aus dem Hirnstamm

Der Nucleus ruber und der Tractus rubrospinalis

Das Mittelhirndach und der Tractus tectospinalis

Die Formatio reticularis und der Tractus reticulospinalis

Den Vermis aktivieren – für besondere Stabilität

Initiale Bewegungsstrategien

Kleine technische Aspekte mit großer Wirkung

4. Die Fähigkeit, willkürliche Kraft zu erzeugen

Die Komponenten des Neural Drive

Der Frontallappen als Befehlsgeber

Den Parietallappen aktivieren

Der Thalamus

Die Medulla – Kreuzungspunkt der Informationen

Das Kleinhirn

Trainingsempfehlungen zur Verbesserung der willkürlichen Bewegung

5. Isometrie – die Kunst, Spannung zu erzeugen

Bessere Kontraktionskarten schaffen

Isometrische Kontraktionen ausgewählter Muskeln

Positionsspezifische Isometrie mit dem Iso-Rack

Sweet-Spot-Training – Optimieren der Kraftübertragung

Krafttests zur Identifizierung schwacher Kraftvektoren

Trainingsempfehlungen zur Isometrie

6. Loaded-Mobility-Training

Die dynamische Kraft der Gelenke

Loaded-Mobility-Training für ausgewählte Gelenke

Integration in Sternschritte

Durch Loaded-Mobility-Training die »Kraft« der Knochen verbessern

Trainingsempfehlungen für das Loaded-Mobility-Training

7. Unilaterales oder bilaterales Training

Der neuronale Unterschied

Welche Trainingsform ist die richtige?

Unilaterales Training

Bilaterales Training

8. Ausgewählte Aspekte für besondere Anforderungen im Krafttraining

Das Training spezifisch vorbereiten

Anhang

Autorenvita

Weiterführende Literatur und Links

Verwendetes Material

Bildnachweis

Übersicht der Übungen

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Was ist Kraft?

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Die neuronalen Hintergründe der Kraftentfaltung

Krafttraining ist im Sport und in der Sportwissenschaft sicherlich das meisterforschte und am häufigsten studierte Phänomen. Die positiven Wirkungen von Krafttraining sind für nahezu alle Lebensbereiche des Menschen nachgewiesen. Warum also ein neues Buch über Krafttraining schreiben? Tatsächlich mag es stimmen, dass es zu jeder Erscheinungsform der Kraft ausreichend hochwertige Literatur auf dem Markt gibt. Egal ob es um den spezifischen Muskelaufbau im Bodybuilding, das gesundheitsorientierte Fitnesskrafttraining oder Fachbücher für sportartspezifisches Krafttraining geht – der Markt ist ziemlich gesättigt. Mit neuen Büchern verändert sich die Betrachtung meist nur um Nuancen.

Obwohl nun das Spektrum an Kraftliteratur so groß ist, haben fast alle diese Bücher jedoch eines gemeinsam: Sie betrachten Kraft als überwiegend körperliche Erscheinungsform. Das Anliegen des Buches, das Sie gerade in den Händen halten, ist es jedoch, Kraft durch eine neuronale Perspektive zu betrachten und nicht durch eine physisch-biomechanische.

Im Allgemeinen wird Kraft als Eigenschaft eines Menschen verstanden, der mithilfe seiner Muskeln hohe Lasten bewegen kann. Auch im wissenschaftlichen Verständnis wird körperliche Kraft als Fähigkeit eines Nerv-Muskel-Systems beschrieben, mit der durch Muskelkontraktion gegen Widerstände Spannung erzeugt wird – sie wird als dominant körperliche Eigenschaft, also als eine körperliche Fähigkeit beurteilt. Die körperliche Kraft ist in dieser Sichtweise an verschiedene körperliche Voraussetzungen geknüpft und wird von neuronalen, koordinativen oder mentalen Prozessen lediglich beeinflusst. Diese Betrachtungsart hat sicherlich auch dazu geführt, dass es sich bei den heute empfohlenen Methoden, Kraft zu verbessern, nahezu immer um »Muskeltraining« handelt, das zumeist externe Lasten (Gewichte) überwinden, ihnen entgegenwirken oder sie halten soll. So wird allgemein assoziiert, dass Training mit Gewichten – und sei es das eigene Körpergewicht – der Königsweg zur Kraftverbesserung sei.

Aus neuronaler Sicht ist Kraft jedoch kein überwiegend körperliches Merkmal, sondern die Fähigkeit des Gehirns und Nervensystems, im Muskel Spannung zu erzeugen. Der Muskel ist hier das ausführende Organ und nicht verantwortlich für die Menge an muskulärer Spannung, die erzeugt werden soll. Dem Begriff der »Fähigkeiten« entsprechend, geht es also um die Gesamtheit der individuellen Bedingungen, die das Ausführen einer bestimmten Leistung ermöglichen. Wie stark Fähigkeitsausprägungen individuell vorhanden sind, ist Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels, das über die Lebensgeschichte hinweg entstanden ist.

Das Erzeugen von Kraft beinhaltet alle Prozesse, die an der »Tätigkeit«, muskuläre Spannung zu erzeugen, beteiligt sind. Unabhängig von den individuellen, genetischen und konstitutionellen Voraussetzungen eines Menschen ist dieses Erzeugen von muskulärer Spannung aus neuronaler Sicht eine Fähigkeit des Gehirns und Nervensystems und wie jede andere Fähigkeit ist sie erlern- und trainierbar.

Wir benötigen Kraft, also muskuläre Spannung, um die an uns gestellten Aufgaben über Bewegung zu lösen. Ob es nun das Greifen nach einem Glas ist, das Lesen eines Buches, das Joggen oder das Heben von Gewichten im Fitnessstudio – all diese Aufgaben werden über die Regulierung und Koordination der muskulären Spannung innerhalb der jeweiligen Bewegungsaufgabe gelöst. So geht es also auch im klassischen Krafttraining mit Gewichten um das Lösen einer Bewegungsaufgabe, die hier jedoch unter Last beziehungsweise gegen Widerstand erfolgt. Krafttraining ist quasi Koordinationstraining unter Last und die damit erzeugte Kraft als Fähigkeit das spezifische Endprodukt eines hochkomplexen Zusammenspiels vieler Systeme, die alle von unserem zentralen Nervensystem koordiniert und gesteuert werden.

Kraft ist eine Entscheidung des Gehirns

Um Kraft als Endergebnis vieler Prozesse, die situationsbedingt koordiniert und gesteuert werden müssen, besser zu verstehen, werfen wir zuerst einen Blick auf die Aufgaben und Gesetzmäßigkeiten des Gehirns. Die Hauptaufgabe des Gehirns ist eigentlich ganz einfach: Das Gehirn ist dafür da, den Organismus vor Gefahren zu schützen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss es für eine gute Vorhersehbarkeit sorgen, sodass es in einer bestimmten Situation immer adäquat agieren und schnell reagieren kann. Diese Vorhersehbarkeit erschafft sich das Gehirn mithilfe sensorischer Reize beziehungsweise über deren Analyse und Auswertung. Unser Nervensystem nimmt dabei über sensorische Organe wie die Augen, die Haut oder das Gleichgewichtssystem Informationen aus der Umwelt, dem Körperinneren und den eigenen Bewegungen auf. Die verschiedenen sensorischen Systeme senden dem Gehirn damit ein Abbild der jeweiligen aktuellen Situation. Auf der Basis des jeweiligen Status wird dann die nächste Handlung eingeleitet. Grob vereinfacht kann die Arbeitsweise des Gehirns in drei Phasen eingeteilt werden.

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Der Gefahrenfilter – alle Informationen werden überprüft

Der zweite Schritt, also die Interpretation des sensorischen Inputs, fungiert als eine Art Gefahrenfilter. Hier werden alle eingehenden Informationen integriert, analysiert und abgeglichen. In diesem unbewussten und blitzschnell ablaufenden Prozess beurteilt das Gehirn, ob aufgrund der sensorischen Informationen eine klare Vorhersehbarkeit für die nächste Handlung besteht, am Beispiel des Bankdrückens hieße das: Alle kleinen Gelenke der Hand melden klare Informationen, die Weiterleitung der Informationen erfolgt reibungslos, die Orientierung und Ausrichtung im Raum sowie die Stabilität des Körpers sind hinreichend über die Informationen des visuellen und des vestibulären Systems gegeben, um nur ein paar Aspekte zu nennen. Eine gegebene Situation kann aber ebenfalls, aufgrund der sensorischen Informationen und der Qualität der verarbeitenden Prozesse, als nicht klar vorhersehbar erscheinen und damit aus neuronaler Sicht eine potenzielle Gefahr darstellen.

Was das Wort »Gefahr« in diesem Zusammenhang bedeutet, bedarf allerdings einer Erklärung. Gefahr bedeutet für das Gehirn nicht nur das rationale Wahrnehmen einer realen Gefahrensituation, wie das zum Beispiel bei folgender Einordnung der Fall ist: »Das Auto von rechts fährt viel zu schnell und ich muss mich beeilen, um von der Straße zu kommen.« Eine solche Art von Bedrohung wird im Kraftraum in der Tat selten wahrgenommen. Aus neuronaler Sicht ist jedoch jede Situation, die aufgrund der sensorischen Informationen unklar ist, eine potenzielle Bedrohung. Und solche Gegebenheiten können im Kraftraum nun in der Tat ohne Weiteres oft auftreten. Erinnern Sie sich: Unser Gehirn scannt zu jeder Millisekunde die Umwelt und unseren Körper. Stellen Sie sich dazu vor, Sie wollen eine Kniebeuge machen und Ihr Gehirn nimmt wahr, dass die Gelenke Ihres rechten Fußes kaum Informationen senden. Überdies liefert Ihr Gleichgewichtssystem auf der linken Seite ebenfalls kein klares Bild von der Situation. Ihre Wirbelsäule auf der linken Seite kann hierdurch nicht optimal stabilisiert werden. Zusätzlich sind vielleicht ein Auge und ein Ohr ebenfalls nicht in der Lage, optimale Informationen zu liefern. Es ist naheliegend, dass es aus neuronaler Sicht innerhalb dieser Situation keinen Sinn macht, viel muskuläre Spannung zu erzeugen.

Diese beschriebenen neuronalen Prozesse sind unabhängig von Ihrer persönlichen Muskelfaserverteilung, Ihrem Muskelquerschnitt oder der Tatsache, dass Sie vielleicht innerhalb Ihres Muskels oder zwischen den beteiligten Muskeln eine gute Koordination besitzen. Kraft ist eine Entscheidung des Gehirns. Es kann guten Gewissens behauptet werden: Hohe muskuläre Spannungen zu erzeugen, ist für den Organismus als ein auf Sicherheit angewiesenes System zunächst immer eine potenzielle Gefahr. Dieses entscheidenden Faktors müssen wir uns im Krafttraining bewusst werden und danach handeln.

Wie viel Kraft und damit wie viel muskuläre Spannung Sie in einer gegebenen Situation erzeugen können, basiert auf einer zentralnervösen Entscheidung, die auf das Engste mit der Qualität des Inputs und der Interpretation verbunden ist. Das Bewegungsprogramm, das an den Muskel gesendet wird, der Output, wird permanent durch die eingehenden sensorischen Informationen moduliert. In diesem durch sensorische Informationen modulierten Bewegungsprogramm ist festgehalten, wie viele und welche Muskelfasern angesteuert werden und wie stark diese kontrahieren sollen. Dieser Prozess ist dynamisch und wird gegebenenfalls in jeder Millisekunde verändert. Wir können daher die neuronale Betrachtung von Kraft erweitern und sagen, dass optimale muskuläre Spannungen zu erzeugen immer darauf basiert, ein sensorisches und motorisches Problem zu lösen – und zwar sowohl was die reflexive als auch die willkürliche Kraft anbelangt.

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Man kann sich die Integration und Analyseprozesse der sensorischen Informationen als eine Art Gefahrenfilter vorstellen, der zu jedem Zeitpunkt überprüft, ob das, was ich gerade mache, sicher und die nächste Handlung vorhersehbar erscheint.

Reflexive und willkürliche Kraft

Betrachtet man die Neuroanatomie der Bewegungssteuerung, so veranlasst der rechte Kortex (Großhirnrinde) die willkürliche Bewegung Ihrer linken Körperhälfte, also die absichtlich und willentlich veranlassten Bewegungen dort. Außerdem sichert er, vereinfacht gesprochen, diese Bewegung, indem er gleichzeitig die rechte Seite stabilisiert. Umgekehrt initiiert und veranlasst der linke Kortex die willkürlichen Bewegungen der rechten Körperseite und sorgt für eine Stabilisierung der linken Körperhälfte.

Die wesentlich größere Aufgabe, die sich vonseiten des Gehirns zeigt, ist die Stabilisierung der jeweiligen Körperhälfte. Um diese Prozesse zu regulieren, werden 90 Prozent der Kommunikation zwischen Gehirn und Körper genutzt. Es liegt hier also ein Verhältnis von 90 : 10 vor, und zwar zugunsten der stabilisierenden Informationen und der Regulierung der autonomen Funktionen. Aus einer neuronalen Perspektive macht dies natürlich Sinn, da es primär immer um den Schutz des Organismus und die Aufrechterhaltung der lebenswichtigen Funktionen geht. Auch die Stabilisierung des Körpers kommt natürlich durch das Regulieren muskulärer Spannung zustande, hierbei handelt es sich ebenfalls um das Erzeugen von Kraft.

Um im Muskel Spannung und damit Kraft zu erzeugen, werden zwei unterschiedliche Wege beschritten. Zum einen kann das Gehirn die Kraft willkürlich und bewusst erzeugen, zum größeren Teil jedoch steuert es sie reflexiv und unbewusst. Die gängige Kraftliteratur beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem willkürlichen Herstellen von Kraft. Ist jedoch die Fähigkeit, reflexiv muskuläre Spannung – also reflexiv gesteuerte Kraft – zu erzeugen, eingeschränkt, ist dies neuronal betrachtet die größere Bedrohung. Über die reflexiv oder autonom gesteuerten muskulären Spannungen wird der Körper während einer Bewegung stabilisiert, vor allem wird hierdurch die essenzielle Stabilisierung des Kopfes, der Augen und der Haltung gewährleistet.

Im Folgenden stelle ich Ihnen die wichtigsten neuroanatomischen Grundlagen und neuronalen Prozesse dar, die im Hintergrund ablaufen, bevor und während Ihr Muskel anspannt und hierdurch messbar Kraft erzeugt.

Ein erster Blick auf die Neurologie der Kraft

Grob vereinfacht, beginnt die Ausführung einer Bewegung in Ihrem Frontallappen mit der Entscheidung, ein gewisses Vorhaben zu planen und gegebenenfalls umzusetzen.

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90 Prozent des kortikalen Outputs zielen darauf ab, den Körper während einer Bewegung zu stabilisieren und die autonomen Funktionen aufrechtzuerhalten, lediglich 10 Prozent enthalten die Informationen zur Ausführung der willkürlichen Bewegung.

So können zum Beispiel körperliche Signale, die als Durst bewertet werden, zum Ergreifen eines Glases Wasser führen und dass dieses zum Mund gebracht wird.

Im Kraftraum kann die Absicht, eine Kurzhantel mit der linken Hand zu heben, in die Tat umgesetzt werden, indem der Frontallappen dieses Vorhaben zunächst den Basalganglien mitteilt. Die Basalganglien erstellen daraufhin einen exakten Bewegungsplan für das Vorhaben. Dieser Bewegungsplan wird in zweiter Instanz von dem Thalamus feinjustiert und im Anschluss zurück an den rechten Frontallappen gesendet. Von hier aus wird eine Kopie des Bewegungsplans über eine Stammhirnstruktur der Medulla zum linken Kleinhirn und eine zweite Kopie über eine weitere Stammhirnstruktur, den sogenannten Pons, ebenfalls an das Kleinhirn gesendet. Das Kleinhirn verfügt nun also über zwei Kopien des Bewegungsprogramms. Der Bewegungsbefehl für die geplante Bewegung wird nun durch den Tractus corticospinalis über die spinalen und peripheren Nerven an die Muskulatur gegeben. Indem Muskelspannungen erzeugt werden, wird die Bewegung dann ausgeführt. Die durch die Bewegung entstandenen Signale werden anschließend zum Kleinhirn gesendet. Dieses vergleicht die eingehenden Bewegungsinformationen mit den beiden ihm vorliegenden Kopien des Bewegungsentwurfs und überprüft, ob die Informationen aus der Bewegung deckungsgleich mit der ursprünglich geplanten Bewegung sind. Liegt für das Gehirn alles im grünen Bereich, läuft die Bewegung normal weiter. Sollten die Informationen zwischen der realen Bewegung und dem Plan nicht übereinstimmen, beantragt das Kleinhirn eine Bewegungskorrektur beim Frontallappen und der Prozess startet erneut. Dies alles geschieht in Bruchteilen von Sekunden und wird permanent moduliert und beeinflusst.

Zeitgleich werden durch die sensorischen Informationen, die die Grundlage des Bewegungsprogramms bilden, auch die zugehörigen Stabilisationsleistungen mitkoordiniert. Ein großer Teil der für diese autonome reflexive Stabilisierung notwendigen Informationen laufen über kortikoretikuläre Projektionen vom Frontal- und Parietallappen sowie den supplementär-motorischen Arealen in die Formatio reticularis im Hirnstamm. Diese hat großen Anteil an der autonomen Regulierung der Haltung und der Bewegung. Sie sorgt dafür, dass wichtige autonome Körperfunktionen während der Bewegung aufrechterhalten werden. Parallel dazu werden aufgrund der aktuellen sensorischen Informationen aus dem Körper, den Augen und dem Gleichgewichtssystem mittels Stammhirnreflexen der Körper, die Wirbelsäule, die Augen und der Kopf stabilisiert und der Bewegung angepasst. So vereinfacht dies auch dargestellt wurde, zeigt diese Beschreibung schon, dass das Erzeugen von Kraft ein komplexer Vorgang ist, an dem zahlreiche Systeme beteiligt sind. Jedes der genannten Systeme und jede involvierte Struktur haben Einfluss auf Ihre Fähigkeit, Spannung im Muskel zu erzeugen.

Betrachtet man Kraft isoliert als Endergebnis, so können aus dieser Perspektive nur selten die optimalen individuellen Trainingsempfehlungen erschlossen werden. Ist eine Struktur in ihrer Fähigkeit, Spannung zu erzeugen, reduziert, ist es leider in der Regel nicht ausreichend, sich auf das Krafttraining zu konzentrieren – dies gilt für einzelne Muskeln ebenso wie für Muskelgruppen. Allzu oft gibt es in den neuronalen Komponenten, die für das Zustandekommen der muskulären Spannung verantwortlich sind, eine Schwachstelle. Diese muss mit Blick auf die neuronalen Zusammenhänge zuerst aufgearbeitet werden, erst dann ist es sinnvoll, das Training der schwachen Muskeln oder Muskelgruppen zu beginnen. Oder um es technisch zu formulieren: Es ist häufig ein Softwareproblem, das unser Gehirn daran hindert, die bestmögliche Spannung zu erzeugen.

Kraft ist Koordination unter Last

Die adäquate Regulierung und Koordination der autonomen Prozesse und Reflexe können als Rahmenbedingungen bezeichnet werden, die notwendig sind, damit sich das Gehirn sicher genug fühlt, viel muskuläre Spannung zuzulassen. Sie bilden die Voraussetzungen der willkürlichen Bewegung und sind somit auch die Grundlage optimaler Muskelkontraktionen. Das Endergebnis ist von der Qualität der sensorischen Informationen und der zentralnervösen Steuerung jedes dieser Prozesse abhängig. Damit Sie in der Lage sind, bestmöglich muskuläre Spannung (Kraft) zu erzeugen, muss Ihr Gehirn also sowohl die willkürliche Bewegung ausführen und permanent korrigieren als auch die Voraussetzungen der Stabilisierung optimal koordinieren.

Die meisten Trainingsansätze, Methoden und Strategien im Krafttraining konzentrieren sich jedoch nur auf den Output, sprich: die am Ende resultierende und messbare Erscheinung der Kraft. Deren Zustandekommen wird dagegen nicht ausreichend beachtet. Die komplexe Wirklichkeit, in der verschiedene Systeme interagieren, wird auf wenige Parameter reduziert, ausgehend von diesen werden dann oft langfristige Trainingspläne erstellt. Dieses Prinzip hat selbstverständlich Grenzen, denn im Krafttraining geht es immer darum, ein aktuell bestehendes sensomotorisches Problem zu lösen.

Kraft ist spezifisch

Alle eben beschriebenen Abläufe geschehen immer absolut situationsspezifisch und sind von den individuellen Bedingungen der jeweiligen bewegungssteuernden Systeme des Sportlers und der aktuellen Situation abhängig. Das heißt, sobald ich meine Position ändere oder beginne, mich zu bewegen, gelten neue Bedingungen. Es werden andere sensorische Informationen an das Gehirn gesendet und es bestehen andere Stabilisationsanforderungen – das Erzeugen muskulärer Spannung wird also in neue Rahmenbedingungen gesetzt. Es ist, plakativ gesprochen, eine andere Software, die jetzt abläuft.

Jedes Equipment und Hilfsmittel, das Sie nutzen, hat Einfluss auf Ihren Körper, Ihr Nervensystem und Ihre Bewegungen, es formt diese in einer spezifischen Weise. Sobald Sie ein Gewicht heben, werden unzählige sensorische Informationen aufgenommen und verarbeitet. Muskeln, die sonst in Bewegungsaufgaben einbezogen werden, können dabei etwa zur Stabilisierung des Gewichts »gezwungen« werden. Gelenke, die im Sport eigentlich eher explosive und verschraubte Bewegungen vollziehen, können eventuell in einer fixen Position gehalten werden. Ihre Atmung wird dem Krafttraining angepasst, der Blutdruck erhöht sich und es werden besondere Anforderungen an Ihr visuelles System oder Ihr Gleichgewicht gestellt. Das Equipment bestimmt das Kontraktionsverhalten und die Kontraktionsspezifik der Muskulatur in hohem Maße.

Daher ist die Fähigkeit, muskuläre Spannung zu erzeugen, immer situationsabhängig und an die jeweiligen Bedingungen geknüpft, in denen sie erzeugt werden. Hier herrscht das Prinzip der Spezifität der Anpassung: Neuronen, die zusammen feuern, verbinden sich. Dies ist ein grundlegendes Prinzip neuroplastischer Adaptation und bildet die Basis aller Anpassungsvorgänge unseres Organismus und somit auch der Anpassungen auf externe Lasten. Letztlich ist Anpassung das Grundprinzip des Lebens und der Entwicklung. Muss Ihr Gehirn durch eine spezifische Kraftübung die Spannung eines Muskels den Anforderungen entsprechend spezifisch regulieren, bewirkt dies, dass das Gehirn neuronale Muster in und für diese gegebene Situation erzeugt. Diese gilt es durch gezieltes Training zu verbessern, um so die Kraftentfaltung zu maximieren, denn es herrschen allgemeine neuronale Rahmenbedingungen zur Kraftentfaltung, die individuell optimiert werden können und müssen. Diesem Aspekt widmet sich die erste Hälfte dieses Buches.

Das Wichtigste für optimale Kraftentfaltung – die Rahmenbedingungen

Wie im Verlauf dieses Kapitels schon beschrieben, ist als wichtigster Aspekt zu bedenken, dass das Gehirn immer nach Sicherheit und Vorhersehbarkeit verlangt. Dem sollte daher auch Ihr Krafttraining Rechnung tragen. Letztlich werden Sie immer nur Kraft in dem Umfang entfalten können, in dem sich Ihr Gehirn sicher fühlt – und zwar unabhängig von den individuellen, konditionellen und konstitutionellen anatomischen Voraussetzungen. Eine der effizientesten Methoden, mit der die Fähigkeit, viel muskuläre Spannung erzeugen zu können, angesprochen und gleichzeitig für Sicherheit gesorgt wird, ist daher, die verschiedenen Komponenten der reflexiven Stabilität und der unbewusst ablaufenden Regulierung der muskulären Spannungen zu verbessern. Um hierfür das Verständnis zu schärfen, lohnt sich ein Blick auf das Modell des pyramidalen motorischen Systems.

Das Modell des pyramidalen motorischen Systems veranschaulicht das Grundprinzip der menschlichen Bewegungssteuerung. Grob vereinfacht, haben wir – wie im Laufe des Kapitels schon angeschnitten – zwei verschiedene motorische Systeme, die sich natürlich ergänzen und ineinandergreifen: eines, mit dem die willkürlichen Ziel- und feinmotorischen Handlungen ausgeführt werden, das sogenannte pyramidale motorische System. Das zweite ist das sogenannte extrapyramidale motorische System. Dieses System ist für alle motorischen Prozesse verantwortlich, die nicht der willkürlichen Ziel- und Feinmotorik zuzuordnen sind – das System reguliert also alle autonom ablaufenden motorischen Prozesse und schafft den Rahmen, in dem die Ziel- und Feinmotorik und somit auch die willkürliche Kontraktion des Muskels stattfinden kann.

Der größte Teil des Buches widmet sich der Testung und dem Aufarbeiten wichtiger Komponenten der reflexiven Stabilisierung. Über diese Systeme werden die muskuläre Spannung und die Stabilität reguliert, während Sie sich bewegen. Es finden sich hier der Sitz der reflexiven Kraft sowie die Grundlage, auf der sich die Fähigkeit, willkürlich Kraft zu erzeugen, aufbaut.

Klarheit erzeugt Kraft

Unser Gehirn schafft über die eingehenden sensorischen Informationen innere Repräsentationen der Umwelt, des eigenen Körpers und der eigenen Bewegung. Die Qualität dieser Repräsentationen bestimmt zu nicht unerheblichen Anteilen die wahrgenommene Sicherheit immer mit. Sie können sich diese inneren Repräsentationen wie eine Art dreidimensionale Landkarte vorstellen. Es gibt also im Gehirn eine dreidimensionale Karte Ihrer eigenen Bewegung, die beständig durch die Informationen der bewegungswahrnehmenden Sensoren aktualisiert wird. Die dafür notwendigen Informationen stammen überwiegend aus den Bereichen der Gelenke und der gelenkumgebenden Strukturen. Das Kräftigen dieser Strukturen ist ein essenzieller Aspekt, den Ihr Gehirn braucht, um Kraft zu erzeugen.

Das Gehirn besitzt weiterhin eine Repräsentation der einzelnen Muskeln und registriert die Kontraktionsfähigkeit ihrer verschiedenen Abschnitte. Ihr Gehirn besitzt ähnlich der »Bewegungslandkarte«, die über die Gelenke bestimmt wird, auch so etwas wie eine Landkarte der Kontraktionsfähigkeit Ihrer Muskeln. Kann der Muskel nicht mit allen Anteilen kontrahieren, kann es für die Bewegung, in die der Muskel involviert ist, keine klare Vorhersehbarkeit erzeugen. Die Fähigkeit, Spannung in diesem Muskel zu erzeugen, muss dann aus Sicherheitsgründen reduziert werden. Es ist wichtig, zuerst zu lernen, alle Muskelbereiche in die Kontraktion zu integrieren, bevor man Krafttraining ausführt. Ist die »Kontraktionsrepräsentation« nicht ausreichend und umfassend, wird Ihr Gehirn im Krafttraining nur diejenigen Fasern in den Kontraktionsvorgang miteinbeziehen, die gut repräsentiert sind.

Grundlagenarbeit – für bessere Ergebnisse

Durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen holen Sie das Beste aus Ihrem Krafttraining heraus – unabhängig von den jeweiligen Methoden oder Konzepten, die Sie hierbei nutzen – und optimieren die Fähigkeit, das Kraftpotenzial situationsunabhängig zu entfalten. Sie verbessern die Fähigkeit, die muskuläre Spannung besser zu koordinieren und schneller in jeder von Ihnen gewünschten Art zu nutzen. Das Buch zeigt Ihnen Wege und Möglichkeiten, diese Rahmenbedingungen zu optimieren und Ihre Kraft unabhängig von der Methode und Form Ihres Trainings zu verbessern, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. Zusätzlich werden Ihnen Anwendungsbeispiele vorgestellt, wie Sie Ihre Kraft bewegungs- und positionsspezifisch trainieren können.

Wie Sie dieses Buch nutzen sollten

Sie haben nun die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, nach denen Gehirn und Nervensystem arbeiten, kennengelernt. Diese Gesetzmäßigkeiten bilden die Grundlage des Trainings. In Kapitel 3 ab Seite 35 erfahren Sie, wie Sie die verschiedenen Komponenten der reflexiven Stabilität testen und trainieren können. Dies bildet den grundsätzlichen Rahmen für das weitere Training. Es folgt ein Kapitel über die neuronalen Hintergründe Ihrer Fähigkeit, willkürlich Kraft zu entwickeln. Hier lernen Sie, wie Sie diese Aspekte gezielt ansteuern und verbessern können.

Nach den Kapiteln, die sich den neuronalen Rahmenbedingungen widmen, folgen zwei Kapitel, die sich mit den Fähigkeiten, in den Muskeln und Gelenken Spannung zu erzeugen, befassen: Kapitel 5, Isometrie – die Kunst, Spannung zu erzeugen und Kapitel 6, Loaded-Mobility-Training. Ziel dieser Kapitel ist es, durch spezifisches isometrisches Kontraktionstraining und durch Loaded-Mobility-Übungen eine Verbesserung der Repräsentation des Muskels und der Gelenke im Gehirn zu erzeugen. Das Gehirn produziert über die sensorischen Informationen dreidimensionale Abbildungen Ihres Körpers. Hier lernen Sie, Ihren Muskel zu kontrahieren und die an der Bewegung beteiligten Gelenke unter Last zu kontrollieren.

Im Anschluss folgt in Kapitel 7 ein neuronaler Einblick in unilaterales und bilaterales Training und wie Sie dieses gezielt für sich nutzen und neuronal vorbereiten können. Zusätzlich wird Ihnen anhand leichter Tests gezeigt, wie Sie herausfinden können, welche Trainingsform für Sie derzeit die meisten Vorteile bringt und wie Sie die jeweiligen Trainingsformen bestmöglich umsetzen können.

Das abschließende Zusatzkapitel können Sie nutzen, um mit den verschiedenen Aspekten in diesem Buch Ihre individuellen Trainingsziele besser zu erreichen. Das Kapitel unterstützt Sie auch, Anforderungen, die das Training an Sie stellt, neuronal vorzubereiten. Hier werden Möglichkeiten aufgezeigt, mit denen Sie Ihr exzentrisches Training, Ihr Schnellkrafttraining und vieles mehr gezielt vorbereiten können.

Am Ende jedes Kapitels beziehungsweise zu jedem Aspekt finden Sie konkrete Trainingsempfehlungen und Anwendungsbeispiele sowie weitere Informationen. Zusätzlich ist dem Training ein Kapitel zum Thema Assessments vorangestellt, das Ihnen ermöglicht, gezielt die Wirkungen der Übungen auf Ihr individuelles Nervensystem zu überprüfen.

Die Struktur des Buches erfolgt nach einer neuronalen Hierarchie – jedes Kapitel baut aufeinander auf. So helfen Ihnen die in Kapitel 2 ab Seite 25 vorgestellten Assessments und in den nachfolgenden Kapiteln aufgeführten Tests, die bestmöglichen Startpunkte für Ihr Training zu finden. Ich empfehle Ihnen, dieses Buch von vorn nach hinten durchzuarbeiten und nicht, wie es bei Sport- und Fitnessratgebern häufig gemacht wird, direkt zu bestimmten Übungen zu springen.

Selbstverständlich kann jeder Aspekt gesondert und isoliert betrachtet werden, jedoch holen Sie so bei Weitem nicht das Beste aus Ihrem Training heraus. Individuelle Schwierigkeiten sollten tatsächlich von Kapitel zu Kapitel aufgearbeitet werden, so schaffen Sie sich eine solide Grundlage für das weitere Vorgehen – schließlich sind wir alle an die Gesetzmäßigkeiten des Gehirns und des zentralen Nervensystems gebunden. Nehmen Sie sich die Zeit, Ihre individuellen Schwachstellen zu identifizieren und aufzuarbeiten, denn diese sind der limitierende Faktor in Ihrem Trainingsfortschritt. Zusätzlich zeigen Ihnen die Assessments auch, welche Übungen bei Ihnen als Leistungsbooster wirken. Und genau diese können Sie dann zu einer schnellen Leistungsverbesserung einsetzen.

Dieses Buch steht für sich und kann ohne weitere Vorkenntnisse des neurozentrierten Trainings verwendet werden. Es ist jedoch immer möglich, dass durch Vorerkrankungen, Verletzungen sowie einseitiges Training oder Belastungen individuelle Schwierigkeiten vorhanden sind. Sollten daher aufgrund besonderer individueller Voraussetzungen einige Übungen nicht gut umsetzbar sein, bitte ich dies zu entschuldigen.

Das Gute jedoch ist, dass es möglich ist, jedes System, das hier in dem Buch adressiert wird, individuell und progressiv aufzubauen und zu optimieren. So holen Sie das Bestmögliche aus dem vorliegenden Buch heraus. Das Gehirn besitzt eine unglaubliche neuroplastische Anpassungsfähigkeit bis ins höchste Alter. Das bedeutet, dass auch die Fähigkeit, muskuläre Spannung zu erzeugen, bis ins höchste Alter optimiert und verändert werden kann. Freuen Sie sich auf den Weg, der vor Ihnen liegt!

Bleiben Sie locker und entspannt

Jede neuroplastische Verbindung, die wir im Gehirn erzielen, hat auch immer eine kognitive und emotionale Komponente. Daher ist es grundsätzlich ratsam, aber vor allem viel einfacher und nachhaltiger, jede Übung so entspannt, locker und fokussiert wie möglich anzugehen. Leider glauben viele Menschen immer noch, um hohe Leistung zu erbringen, müsse ihr Training sich hart und anstrengend anfühlen. Nein, das ist keine optimale Bewegung. Dies kann man sich bei den besten Sportlern der Welt abschauen – selbst wenn diese in extremen Stresssituationen sind. Genau diese Haltung sollte auch schon im Training immer wieder geübt werden. Genießen Sie jedes Training, arbeiten Sie clever und nach den Gesetzen und Prinzipien des Nervensystems – und große Dinge können passieren.

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Assessments – kleine Tests zur Qualitätssicherung Ihres Trainings

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Überprüfen Sie die Wirkung Ihres Trainings

Generell ist es wichtig, die Wirkungen der Trainingsinhalte zu überprüfen. Um das Training jedoch bestmöglich zu gestalten, ist es notwendig, den Einfluss der verschiedenen Übungen auf Ihr Gehirn und das zentrale Nervensystem direkt zu überprüfen. Beim Krafttraining hat dies noch mal besondere Bedeutung, da Sie hier Ihr System meist mit externen Lasten konfrontieren und Ihr Gehirn viel muskuläre Spannung erzeugen muss. Die Wirkung der einzelnen Übungen zu überprüfen und einzuordnen, hat daher eine spezielle Wichtigkeit.

Das zentrale Nervensystem reagiert unmittelbar auf jeden gegebenen Reiz – also auch auf jede Übung, die Sie ausführen. Eine Übung ist, vereinfacht gesprochen, als eine Veränderung des sensorischen Inputs anzusehen. Erinnern Sie sich? Ihr Gehirn erhält Informationen aus dem Körper und der Umgebung (Input), wertet diese aus und integriert sie (Integration). Auf der Basis dieser Auswertungs- und Integrationsvorgänge erfolgt dann der Output der Handlungsbefehle an die verschiedenen Systeme (siehe Kapitel 1, Seite 10). Diesen Output können Sie nun einfach über kleine Tests, sogenannte Assessments, überprüfen.

Der Ablauf ist denkbar einfach. Wählen Sie eines oder mehrere der in Folge vorgestellten Assessments und führen Sie diese vor und nach Ihrem Training aus. Über die Veränderung im Assessment können Sie die Wirkungen des jeweiligen Trainings beziehungsweise der Übung beurteilen. Das erste Assessment gibt Auskunft über den aktuellen Stand, wie er vor dem Training festzustellen ist; das zweite (Re-Assessment) erfasst die Auswirkungen, die durch die Übungen entstanden sind. Eine positive Veränderung des Assessments bedeutet, dass die Übung zu mehr Sicherheit und Vorhersehbarkeit geführt hat, die Leistungsfähigkeit wird hier also positiv beeinflusst. Ist das Re-Assessment jedoch schlechter, so hat der sensorische Input der Übung zu keiner verbesserten Vorhersehbarkeit geführt, das Gehirn reduziert aus Sicherheitsgründen die Leistungsfähigkeit.

Zur Leistungsoptimierung und um Ihrem Gehirn mehr Sicherheit zu geben, sollten Sie sich auf die Übungen konzentrieren, die ein positives Re-Assessment haben, beziehungsweise die Übungen so anpassen, dass Sie ein positives Re-Assessment erhalten. Variationsmöglichkeiten hierfür finden Sie in den verschiedenen Kapiteln.

Die Assessments – gewinnen Sie Informationen über die Trainingswirkung

Assessments dienen dazu, Informationen zu erhalten, wie das Gehirn und das zentrale Nervensystem auf einen Stimulus reagieren. Assessments beurteilen nicht die Qualität einer Übung, sondern nur deren Wirkung auf Ihr Gehirn und Ihr zentrales Nervensystem zum jetzigen Zeitpunkt. Dadurch helfen sie Ihnen, Ihr Training zu optimieren.

Es ist von essenzieller Bedeutung, wenn Sie wissen, ob eine Übung, die Sie eigentlich für wichtig und förderlich erachteten, tatsächlich in der beabsichtigten Weise wirkt. So hoffen Sie zum Beispiel vielleicht, dass eine Übung die Muskelgruppen beansprucht, die für Ihr Trainingsziel wichtig und hilfreich sind, stellen dann aber fest, dass sie negative Effekte auf Ihre Leistungsfähigkeit hat. Eigentlich sollten weder Übungen noch Bewegungen oder ganz natürliche sensorische Informationen negative Auswirkungen auf Ihr zentrales Nervensystem haben. Grundsätzlich sollte keine Muskel-, Gelenk-, Kopf- oder Augenbewegung dazu führen, dass Ihr Gehirn diese Informationen als unvorhersehbar einstuft und Ihre Leistungsfähigkeit einschränkt.

Assessments dienen zum Vergleich. Daher sollten Sie dafür sorgen, dass Ihre Assessments immer die jeweils gleichen Ausgangsbedingungen haben und Sie die Bewegung jeweils identisch ausführen. Kleine Veränderungen der Augenposition oder der Kopfstellung können die Ergebnisse bereits deutlich variieren. Nutzen Sie den im Folgenden vorgestellten neutralen Stand als die Grundstellung, in der Sie die meisten Assessments – und Übungen – beginnen. Durch den neutralen Stand schaffen Sie die Voraussetzung für bessere Trainingsergebnisse, denn er ist wichtig für eine gute Signalübertragung über das Rückenmark. Außerdem sorgt er als gemeinsame Grundbedingung für eine Vergleichbarkeit der Assessmentergebnisse.

Durch Assessments bekommen Sie immer nur Momentaufnahmen. Die Effekte des Trainings beziehungsweise der Übungen können variieren. Wie Gehirn und Nervensystem auf Reize reagieren, hängt von vielen Komponenten ab und ist situativ und veränderbar. Eine Übung, die gestern noch positiv gewirkt hat, kann sich morgen leistungsmindernd auswirken. Und umgekehrt kann ein Trainingsreiz, der heute noch zu schlechten Ergebnissen geführt hat, nächste Woche leistungsfördernd werden. Daher sollten Sie die Wirkung Ihres Trainings regelmäßig überprüfen. Mithilfe der Assessments kann das Training stets der jeweiligen Situation angepasst werden. Das ist eines der wichtigsten Gesetze, die Sie im Training beachten sollten. Sie trainieren immer nur optimal, wenn Sie wissen, wie Ihr Gehirn an diesem Tag auf das Training reagiert.

Neutraler Stand

Stellen Sie sich hüftbreit hin, die Fußspitzen zeigen nach vorn, Ihre Wirbelsäule ist entspannt und lang nach oben aufgerichtet. Rollen Sie das Kinn leicht ein. Der Blick ist entspannt nach vorn gerichtet. Ihr Atem fließt normal.

Hinweis: Halten Sie den neutralen Stand während der Ausführung immer mit so wenig Spannung wie möglich.

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Assessment 1 – Beweglichkeit testen

Wenn innerhalb einer Übung etwas als unsicher wahrgenommen wird, gehört es zu den ersten Schutzmaßnahmen des Gehirns und zentralen Nervensystems, die Beweglichkeit einzuschränken. Beweglichkeitstests bieten sich daher an, um festzustellen, welche neuronalen Effekte Übungen haben.

Im Folgenden finden Sie drei Assessments, mit denen Sie Ihre Beweglichkeit vor und nach einer Übung testen können: die Rumpfbeuge, die Ganzkörperrotation sowie die Innen- und Außenrotation der Schulter. Sind Sie nach der Ausführung einer Übung im Assessment beweglicher und hat sich Ihre muskuläre Spannung verbessert, bedeutet dies, dass die ausgeführte Übung einen positiven Effekt hat. Im Umkehrschluss zeigen eine vermehrte Spannung und eine reduzierte Beweglichkeit, dass Ihr Gehirn »Schutzmaßnahmen« getroffen hat. Die Übung hat sensorische Informationen produziert, durch die – beziehungsweise durch deren unzureichende Integration und Verarbeitung – das Gehirn keine klare Vorhersehbarkeit der Situation entwickeln konnte.

Rumpfbeuge

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  1. Nehmen Sie den neutralen Stand ein, Ihre Wirbelsäule ist entspannt und locker, der Blick ist geradeaus gerichtet.

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  2. Beugen Sie sich jetzt mit dem Oberkörper aus der Hüfte heraus nach vorn und versuchen Sie, mit den Fingerspitzen den Boden zu berühren. Führen Sie diese Bewegung zu Beginn 2- bis 4-mal hintereinander aus, um ein Gefühl für die Spannung im gesamten Körper und die Tiefe Ihrer Bewegung zu bekommen. Merken Sie sich die empfundene Spannung und die Bewegungsweite.

Ganzkörperrotation

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  1. Nehmen Sie den neutralen Stand ein und halten Sie Ihre Arme gestreckt auf Schulterhöhe vor sich, die Handflächen liegen aneinander.

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  2. Rotieren Sie nun 3- bis 4-mal mit dem ganzen Körper nach rechts und wieder in die Mitte. Merken Sie sich, wie weit Sie Ihren Körper nach rechts rotieren können, indem Sie sich den Gegenstand merken, auf den die Finger am weitesten Punkt der Drehung ausgerichtet sind. Achten Sie während der Ausführung auf die Spannung im Körper.

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  3. Wechseln Sie nun die Seite und rotieren Sie nach links. Vergleichen Sie die Rotation nach rechts und links miteinander. Die Seite, auf der Sie unbeweglicher sind, eignet sich besonders gut zur Überprüfung des Trainings.

Hinweis: Wichtig ist, dass Ihre Handflächen aneinander und die Füße parallel nach vorn ausgerichtet und fest auf dem Boden bleiben, während Sie rotieren.

Schulterbeweglichkeit

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