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Ruprecht Mattig

Wilhelm von Humboldt als Ethnograph

Bildungsforschung im Zeitalter der Aufklärung

Der Autor
Dr. Ruprecht Mattig ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft und Methodologie der Bildungsforschung an der Technischen Universität Dortmund.

Inhalt

Einleitung

„Culadas“

Zur Rekonstruktion eines ethnographischen Suchbildes

Der Gang der Untersuchung

1 Humboldt-Bilder in der bildungs- und kulturtheoretischen Humboldt-Rezeption

Das „klassische“ Humboldt-Bild: Humanistisches Bildungsideal und Bildungsreform

Humboldts Bildungsverständnis als Korrektiv gegenüber utilitaristischen Tendenzen in der Empirischen Bildungsforschung

Humboldt als Theoretiker des Zusammenhangs von Bildung und Sprache

Humboldt als Ahnherr kulturanthropologischer Forschung

Oder doch: Humboldt als Empiriker der Bildung?

2 Humboldts Anthropologie im Kontext der Zeit: Zum geistes-, sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergrund

Theorien des Nationalcharakters: „Ursprünglichkeit“, „Vermischung“ und „Bildung“

Die empirische Seite der Anthropologie im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert

„Bildung“ als doppelte Emanzipation: Die gesellschaftliche und kulturelle Lage im deutschsprachigen Raum zur Zeit Humboldts

3 „Europaeische Aufklärung“ und „Charakterbildung“ – ein Widerspruch? Grundzüge der Anthropologie Humboldts

Aufklärung als freie Entfaltung der geistigen Kräfte

Bildung als Entfaltung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen

Der Charakter als „ursprüngliche“ und „Eine“ Kraft

Charakterbildung und Ideal der Menschheit

Bedingungen der Charakterbildung

Zum Zusammenhang von Bildung, Wechselwirkung und Lage des Charakters

Von „wesentlichen“ und „zufälligen“ Charakterzügen

Charakterbildung als Herausforderung im Zeitalter der Aufklärung

4 „Ursprünglichkeit“ und „Verfeinerung“: Humboldts ethnographischer Blick auf die alten Griechen

Die Bildung der alten Griechen

Die „Umstände“ der griechischen Bildung

Über die Möglichkeit, weitere ursprüngliche und verfeinerte Charaktere zu finden

5 Bildende „Charaktergemählde“: Zur Methodologie der Anthropologie Humboldts

Anthropologische Forschung als „Ausspähen“ des Charakters

Empirische Instrumente der Anthropologie Humboldts: Literaturstudium, „Statistik“, Physiognomie, Vergleich

Das Problem der Absonderung von „wesentlichen“ und „zufälligen“ Charakterzügen

Gütekriterien Humboldt’scher „Charaktergemählde“

6 Aufklärung und Verfeinerung, aber fehlende Charakterkraft und ansteckende Zufälligkeiten: Humboldts ethnographischer Blick auf die Franzosen

Pariser Theater und französischer Nationalcharakter

„Einen gerade vom Ziel abführenden Weg“: Über die fehlende Kraft des französischen Charakters

Das schädliche „Uebergewicht“ Frankreichs in Europa

7 Fehlende Aufklärung, „Edle Phantasiebeschäftigung mit Gefühlen“ und „weniger Unterschied zwischen dem Volk und den höhern Ständen“: Humboldts ethnographischer Blick auf die Spanier

Klerikaler „Druck“ und fehlende Aufklärung

Die Einsiedler vom Montserrat und der spanische Nationalcharakter

Bildung und soziale Separierung – in Spanien, in Deutschland

8 „Reiner Stammcharakter“ und „Volksaufklärung“: Humboldts ethnographischer Blick auf die Basken

Bestimmung und Begriff des baskischen Nationalcharakters

Die Geschichte der Basken: Keine Vermischungen mit anderen Nationen

Die Verfassungen Biscayas: Relative Selbstbestimmung und Gleichheit der Bürger

Das rituelle Leben im Baskenland: Gleichheit und Gemeinschaft in Tanz und Spiel

Patriotismus: Der Nationalstolz der Biscayer

„LocalEifersucht“ und innere Wechselwirkung: Das Baskenland als „Föderativstaat“

Ökonomisches: Zum Zusammenhang von Wohlstand und Nationalcharakter der Biscayer

Die „Originalität“ der baskischen Sprache

Die „Volksaufklärung“ im Baskenland

Erziehung versus Sozialisation: Der baskische Charakter im Wechsel der Generationen

Bildung und soziale Deseparierung: Der bildungstheoretische Ertrag aus Humboldts Beschäftigung mit den Basken

Soziale Gleichheit? – Eine kritische Würdigung der Ergebnisse der Baskenstudie

9 Humboldt, der Reformer: Ethnographische Erkenntnisse in der preußischen Bildungs- und Kulturpolitik

Die Bildung der „Masse der Nation“

Musik als „natürliches Band zwischen den untern und höhern Klassen der Nation“

Zur Bedeutung der „Volksbildung“

Ein Vergleich mit der Bildungstheorie des Neuhumanisten Friedrich Immanuel Niethammer

10 Späte Enttäuschung hinsichtlich der Basken, oder: Humboldts ethnographische Entdeckung der christlichen Mission

Der „katholische Anstrich“: Humboldts Blick auf die Religion in seinen frühen Baskenstudien

Von Basken, Griechen, indigenen Amerikanern und den „Vätern der Missionen“

Humboldts Erkenntnisgang aus Sicht der Erkenntnistheorie von Charles Sanders Peirce

Ausblick

Zur Humboldt-Forschung

Zur Bildungsforschung

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Culadas“

In Albia, einem kleinen Dorf unweit von Bilbao, findet am 15. Mai 1801 ein Fest zu Ehren der Heiligen Isidora statt. Nicht nur aus Albia, auch aus Bilbao strömen die Menschen herbei. Die Kirche ist mit Fahnen geschmückt, auf dem Dorfplatz gibt es Spiele, Garküchen und Erfrischungen. Das Fest gipfelt in einem Tanz, der zunächst gemächlich beginnt und dann immer ausgelassener wird, bis sich Männer und Frauen schließlich wahllos gegenseitig „Culadas“, Stöße mit dem Hintern, geben. Mitten im Gedränge befindet sich ein Reisender aus Preußen, der regen Anteil an dem Treiben nimmt. Er beobachtet den Ablauf des Festes genau und macht sich Notizen, zum Beispiel über den „Fiel“ (er übersetzt dieses Wort mit „Richter“ bzw. „Schöppe“), der in einer Ecke des Tanzplatzes auf einem rotsamtenen Kanapee sitzt und von dort aus mit einem Stock für Ordnung unter Tänzern und Zuschauern sorgt. Insbesondere interessiert ihn der Tanz, bei dem es so lebhaft zugeht, dass auch er die „Culadas“ zu spüren bekommt. Er notiert:

„Der Tanz ist der natürlichste Ausbruch der Lustigkeit, den ich je gesehen habe, er hat nur im Anfang hierin etwas Feierliches. Eine Reihe von Tänzern gehen nach dem Takt angefaßt im Kreise herum, und nur der Vortänzer macht eine Art mit vielen Kapriolen untermischte Pas. Darauf holt er mit gleicher Langsamkeit und Feierlichkeit zwei Mädchen, eine für den ersten, die andre für den letzten Tänzer. Dann geht jeder und holt sich sein Mädchen nach Gefallen (denn nur jene beiden sind Ehrenplätze) und läuft damit in ausgelassener Lustigkeit zur Reihe zurück. Nun geht es geschwinder, die ganze Reihe zerrt und reißt sich herum, und jeder Tänzer und jede Tänzerin geben sich von Zeit zu Zeit Stöße mit dem Hintern. Diese sind so gewaltsam, daß die Tänzerinnen von ihren beiden Nachbarn manchmal so gestoßen werden, daß sie einen Schritt weit aus der Reihe herausfliegen. Darauf löst sich auf einmal die Reihe, und jeder Tänzer tanzt mit seiner Tänzerin gegeneinander, aber mit allen Possen vermischt, die nur die wildeste Lustigkeit eingeben kann. Die Hauptsache aber sind immer beim ganzen Tanz die Culadas, die Stöße mit dem Hintern. Wenn die Lustigkeit lebhafter wird, so verbreitet sich dieser Geschmack auch unter die Zuschauer, und niemand ist mehr dieser Partie seines Leibes sicher. Mich haben ganz unbekannte Damen im Vorbeigehn mit solchen Stößen beehrt, und es ist eine Art allgemeine Begeisterung, und noch den Abend in der Tertulia, wo ich war, machten die ausgeteilten Culadas einen Teil des Gesprächs aus. […] Wo ich nur hinsehen mochte, unter das Gedränge oder auf den großen mit Bäumen bepflanzten Platz herum, sah ich überall tanzen, springen, lachen, schreien, und vor allen Dingen Culadas austeilen“ (CW 2, S. 102 f.).

Bei dem Reisenden handelt es sich um Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Das überrascht. Denn Humboldt ist bekannt als Staats- und Bildungstheoretiker, Reformer des preußischen Bildungswesens, Freund des Altertums, Diplomat im Dienste Preußens, Privatgelehrter und Sprachforscher. Er gilt zudem als einer der bedeutendsten Begründer des ‚neuhumanistischen Bildungsideals‘, der Idee, dass die freie Entfaltung der individuellen Anlagen des Menschen der Zweck aller Bildung sei. Mitunter wird er auch als ein weltfremder Idealist angesehen, der sich nur für ‚hohe Kultur‘ – die alten Griechen, Goethe, Schiller etc. – interessiert. Manche sehen in ihm gar einen „Geistesaristokraten“ (Roth 1971, S. 293), der für die Belange des ‚schlichten Volks‘ keinen Sinn habe. Was macht ein so gelehrter und kulturbeflissener, gar staatstragender Mann im Getümmel eines baskischen Dorffestes, was gibt er sich so ‚niederen Vergnügungen‘ wie den Culadas hin? Weshalb notiert er so eifrig seine Beobachtungen über die Basken – ein Volk, das zu seiner Zeit keine Literatur in der eigenen Sprache hervorgebracht hat, das von seinen Zeitgenossen sogar als ‚roh‘ und ‚unkultiviert‘ angesehen wird?

Humboldt reist auch in andere Länder – insbesondere Frankreich und Spanien – und beobachtet auch dort das tägliche Leben. Seine Beobachtungen hält er in Tagebucheinträgen, Briefen und auch Berichten fest. In der Humboldt-Forschung haben diese mitunter sehr ausführlichen Texte bislang allerdings kaum Aufmerksamkeit erhalten. Die wenigen hierzu vorliegenden Untersuchungen bleiben zudem punktuell. In der Sprachwissenschaft wird zum Beispiel herausgestellt, dass Humboldt im Baskenland von den Besonderheiten der baskischen Sprache beeindruckt ist und in der Folge sein Interesse für die Vielfalt der Sprachen entwickelt, die dann das bestimmende Thema seines Alterswerkes wird (vgl. Zabaleta-Gorrotxategi 2006, S. 193 ff.). In der Sprachwissenschaft geht es also vor allem um Humboldts Baskentexte, seine Arbeiten über Frankreich und Spanien bleiben außen vor; außerdem wird der Fokus eben auf Humboldts Erforschung der Sprache gelegt – die Frage, weshalb Humboldt sich beispielsweise für Culadas interessiert, bleibt dabei offen. Auch zu seinen Texten über Frankreich und Spanien gibt es einzelne Studien, die beispielsweise seine Reflexionen über das französische Theater interpretieren oder auf die Landschaftsbeschreibungen eingehen, die er in Spanien verfasst (vgl. Oesterle 1991; Benz 1972, S. 45 f.). In vielen Humboldt-Biographien schließlich werden seine Reisen nach Frankreich, Spanien und ins Baskenland zwar erwähnt, teilweise auch analysiert, aber nicht in ihrem Zusammenhang gesehen (vgl. z. B. Konrad 2010; Gall 2011; Maurer 2016; Nolte 2017). So konnte die Bedeutung von Humboldts Reisetexten im Rahmen seines Gesamtwerkes noch nicht ausreichend erhellt werden, weshalb auch die Szene mit den Culadas auf den ersten Blick so rätselhaft erscheint.

Anders als die bereits vorliegenden Studien nimmt dieses Buch die verschiedenen Reisetexte Humboldts gemeinsam in den Blick und fragt dabei nach ihrem inneren Zusammenhang. Dabei wird die These entwickelt, dass Humboldt auf seinen Reisen Forschungen durchführt, die nach heutigem Sprachgebrauch mit dem Begriff der empirischen Sozialforschung oder, genauer, der Ethnographie bezeichnet werden können. Als Ethnographien gelten Forschungen, bei denen die Forscherinnen oder Forscher eine spezifische Lebenswelt oder Kultur teilnehmend beobachten und ihre Erkenntnisse dann in entsprechenden Texten niederlegen. Als grundlegende Darstellung der ethnographischen Methode gilt die Einleitung des 1922 veröffentlichten Buches „Argonauten des westlichen Pazifiks“ von Bronislaw Malinowski. Malinowski postuliert darin, dass es in der Ethnographie darum gehe, die Perspektiven der „Eingeborenen“ zu erfassen und die fremde Kultur – also die Riten und Gebräuche, die sozialen Strukturen, die Sprache etc. – systematisch zu erforschen (vgl. Malinowski 1922/1984, S. 1–25; zur Ethnographie vgl. z. B. Geertz 1973/2000; Wulf 2009, S. 118 ff.; Breidenstein et al. 2013; zur empirischen Sozialforschung vgl. z. B. Diekmann 2014).

Humboldt geht, wie es für ethnographische Studien charakteristisch ist, in fremde Länder und untersucht Sitten, Lebensart und Sprachen der dort lebenden Menschen. Er selbst bezeichnet seine Forschungen zwar nicht als Ethnographien, ihm geht es eigentlich in einem weiteren Sinne um „Anthropologie“. Die teilnehmende Beobachtung, das zentrale methodische Instrument der Ethnographie, spielt in seiner Anthropologie aber eine wichtige Rolle. Er bezeichnet sie allerdings als „Statistik“ – ein Wort, das heute (und eigentlich auch schon zu Humboldts Zeit) irreführend ist, weshalb hier der Begriff der Ethnographie vorgezogen wird.1 Humboldt betreibt in der Tat Feldforschung, er führt teilnehmende Beobachtungen durch und macht dabei Entdeckungen in sozialer Hinsicht: Beim Tanz auf dem Dorffest in Albia beeindruckt ihn beispielsweise besonders, dass alle Anwesenden – sowohl die Tänzer als auch die Zuschauer, vor allem aber die „Vornehmen“ genauso wie die „Geringen“ („zwischen denen so hier, zumal bei Tanz und Ballspiel, aller Unterschied wegfällt“) – so enthusiastisch an dem Fest teilhaben und sich bei den Culadas „aus Grund der Seele amüsieren“ (CW 2, S. 103). Derartige Festivitäten kennt er aus seiner deutschen Heimat, wo die „Vornehmen“ und die „Geringen“ eine viel größere Distanz zueinander haben, nicht. Und so paradox es auch klingen mag: Letztlich gewinnt Humboldt aus seinen ethnographischen Beobachtungen bei dem ‚unkultivierten‘ Volk der Basken sogar weitreichende theoretische Einsichten über die Bildung des Menschen, die er dann sogar auf seine Heimat, auf die ‚Kulturnation‘ Deutschland, überträgt.

Wilhelm von Humboldt als Ethnograph – das passt nicht zu manchen der gängigen Vorstellungen über den entrückten Gelehrten ‚hoher‘ Kultur. Es gilt also, ein bislang weitgehend unbekanntes Bild von ihm zu zeichnen. Dabei erscheint er gerade nicht als ein politik- und ökonomieferner „Geistesaristokrat“, sondern, im Gegenteil, als ein Freund des Volkes, als Anhänger der Demokratie, der Technik und auch der Wirtschaft. Seine ethnographischen Studien weisen ihn nicht als weltfremden Idealisten aus, sondern als einen Empiriker, der die Breite des gesellschaftlichen Lebens mit klarem Blick erfasst.2

Zur Rekonstruktion eines ethnographischen Suchbildes

Die leitende Idee des Buches ist, dass Humboldt bei seinen Feldforschungen einen spezifischen, theoretisch orientierten ‚Blick‘ hat, dass er auf seinen Reisen nach etwas sucht. Mit dem pädagogischen Anthropologen Johannes Flügge kann (in heuristischer Absicht) gesagt werden, dass Humboldt ein spezifisches „Suchbild“ hat. Flügge greift Uexkülls biologischen Begriff des Suchbildes auf und arbeitet heraus, dass Menschen, anders als Tiere, Suchbilder entwickeln, die nicht an Instinkte gebunden sind. Demnach lässt jeder Mensch entsprechend seiner (bewussten oder unbewussten) Begehrungen, Hoffnungen oder auch Befürchtungen spezifischen Dingen des Sehfeldes besondere Aufmerksamkeit zukommen. Menschen entwickeln im Laufe ihrer Biographie individuelle Suchbilder, sie suchen nach bestimmten „Sehdingen“:

„Wenn Tausende über einen steinigen Grund hinweggehen, kann Einer beim Anblick eines Steines stutzen, weil es seinem Suchbild eines vorgeschichtlichen Artefaktes entspricht. Man kann an zahllosen Menschen in einem Bahnhof vorübergehen, ohne daß das aufmerksame Sehen in Anspruch genommen wird, bis der Anblick eines einzelnen die jähe Hoffnung erweckt, einen verschollenen Freund wiedergefunden zu haben. Jeder Beruf, jede Liebhaberei und Sammelleidenschaft induziert Suchbilder, alles Forschen und Ausziehen auf Entdeckungen ist von Suchbildern geleitet“ (Flügge 1963, S. 43 f.).

Für unseren Zusammenhang ist Flügges Bemerkung von Bedeutung, dass auch Forschungen und wissenschaftliche Entdeckungen durch Suchbilder orientiert sind. Das können, wie Flügge weiter ausführt, auch Suchbilder sein, die auf elaborierten theoretischen Überlegungen basieren. Der Begriff des Suchbildes verweist also auf eine Verknüpfung von theoretischen Konzepten mit empirischen (also auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden) Untersuchungen.

Auch ethnographische Feldforschungen haben eine theoretische Basis, wie Christoph Wulf herausstellt:

„Im Mittelpunkt steht die ‚Beobachtung‘; sie besteht nicht in einem einfachen ‚Hinschauen‘, sondern ist theoriegeleitet, d. h. der Feldforscher hat ein Vorwissen, einen durch seine Ausbildung entwickelten Referenzrahmen und Fragestellungen, die seine Beobachtungen leiten, ohne sie jedoch zu determinieren“ (Wulf 2009, S. 118).

Es versteht sich, dass ein ethnographisches Suchbild nicht auf das Visuelle beschränkt ist; das Charakteristische der teilnehmenden Beobachtung ist ja, dass die Forscherin oder der Forscher mit allen Sinnen forscht. Dies ist auch der Grund, weshalb Flügges Begriff des Suchbildes hier in heuristischem Sinne verwendet wird.

In der Ethnographie kann das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie zwei unterschiedliche Formen annehmen: Zum einen können theoretische Konzepte die empirische Forschung so leiten, dass neue Gegenstandsbereiche erschlossen werden. So kann man beispielsweise unter Zugrundelegung des Begriffes der Sitten die Sitten eines bestimmten Volkes untersuchen, wodurch neues Wissen über dieses Volk hervorgebracht wird. Zum zweiten können Theorie und Empirie auch so verknüpft sein, dass nicht nur neue Gegenstandsbereiche erschlossen, sondern auch die theoretischen Konzepte weiterentwickelt werden. Das wäre der Fall, wenn die Erforschung der Sitten eines Volkes dazu führt, dass auch der Begriff der Sitten selbst modifiziert oder differenziert wird.3

Wenn es also darum geht, das Suchbild zu rekonstruieren, das sich in Humboldts Reisetexten ausdrückt, dann muss dementsprechend danach gefragt werden, ob und in welcher Weise Humboldts Reisebeobachtungen theoretisch geleitet sind. Darüber hinaus muss aber auch gefragt werden, ob und in welcher Weise Humboldt seine theoretischen Konzepte durch seine empirischen Beobachtungen verändert.

Hier aber stellt sich ein grundlegendes Problem ein, das auch der Grund dafür sein mag, dass Humboldts Reisetexte bislang so wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Denn Humboldts Werk zerfällt aus dieser Perspektive gleichsam in zwei Bereiche: Zum einen finden sich die Reisetexte, die zwar zahlreiche empirische Beobachtungen, aber kaum theoretische Bezugnahmen enthalten, zum anderen gibt es theoretische und forschungsprogrammatische Schriften, in denen aber der Bezug zur empirischen Welt meist vage bleibt. Bevor Humboldt auf seine ethnographischen Reisen geht, schreibt er verschiedene theoretisch orientierte Texte, in denen er eine umfassende anthropologische Fragestellung entwickelt. So entsteht schon im Jahr 1789 eine Abhandlung mit dem Titel „Über Religion“, in der er aus staatstheoretischer Sicht argumentiert, dass das „Studium des Menschen“ nötig sei, um alles zu erforschen, „was nur irgend Bezug auf Menschenbestimmung und Menschenglükseligkeit hat“ (GS 1, S. 54). Es folgen weitere theoretische Arbeiten, in denen zwar immer wieder verschiedene Themen behandelt werden, in denen aber letztlich immer die Frage nach dem Menschen, nach der Menschenbildung und nach den Möglichkeiten anthropologischer Forschung leitend ist. In der Abhandlung „Plan einer vergleichenden Anthropologie“ aus dem Jahr 1795 entwickelt Humboldt sogar ein methodisches Forschungskonzept für sein anthropologisches Projekt. Seine eigentlichen ethnographischen Arbeiten entstehen erst später. Ende 1797 zieht er mit seiner Familie nach Paris, wo er den „Nationalcharakter“ der Franzosen studiert. 1799 bricht er von Paris aus mit der Familie zu einer mehrmonatigen Spanienreise auf, bei der er sich mannigfaltige Notizen über die Spanier macht. Und 1801 reist er dann (diesmal ohne Familie) für zwei Monate ins Baskenland, um die Basken genauer zu erforschen. Seine Arbeiten über die Basken stellen dann auch das Ende seines eigentlichen ethnographischen Forschens dar, da er sich anschließend den Sprachstudien widmet, wobei er sich das empirische Material über verschiedene Sprachen nun von anderen Personen geben lässt und es nicht mehr durch teilnehmende Beobachtungen selbst erhebt. Doch seine bildungstheoretischen und anthropologischen Reflexionen kommen damit keineswegs an ihr Ende. Er entwickelt nicht nur eine anthropologische Sprachforschung, in den Jahren 1809 und 1810 ist Humboldt für die Reformen des preußischen Bildungswesens verantwortlich, in deren Rahmen er vielbeachtete bildungspolitische Konzepte entwickelt.

Ob Humboldt bei seinen ethnographischen Studien dem anthropologischen Konzept, das er in seinen theoretisch orientierten Schriften entwirft, folgt, und ob seine ethnographischen Studien auch Auswirkungen auf sein theoretisches Denken haben, kann vor diesem Hintergrund nur mit einer Lesart beantwortet werden, die diese verschiedenartigen Texte aufeinander bezieht. Eine solche Lesart erlaubt die Aussage, dass Humboldt die unterschiedlichen Nationen tatsächlich in einer bestimmten, theoretisch strukturierten Hinsicht beobachtet, ja, dass er bei den Völkern und Nationen geradezu nach bestimmten Merkmalen sucht und dass er zudem wichtige theoretische Lehren aus seinen Beobachtungen zieht. Bei Humboldt sind Theorie und Empirie also auf eine solche Weise verbunden, dass er nicht nur bestimmte Gegenstandsbereiche erschließt, sondern auch die Theorie weiterentwickelt.

Wie lässt sich Humboldts Suchbild nun charakterisieren? Was im Verlauf des Buches en détail herausgearbeitet wird, lässt sich in einer ersten Annäherung auf folgende Formel bringen: Humboldt geht es um die Erforschung der Möglichkeiten der Bildung bei gleichzeitiger Förderung der Aufklärung. Wenn er die verschiedenen Nationen und Völker beobachtet, hat er dabei immer die Bildung oder die Aufklärung, eigentlich aber insbesondere die Verbindung von Bildung und Aufklärung in diesen Nationen und Völkern im Blick.

Humboldt hat bei seinen ethnographischen Erkundungen also nicht einfach nur ein folkloristisches Interesse, sein Anspruch ist vielmehr eminent modern. Er lebt in einer Zeit gewaltiger Umbrüche: Neue politische Vorstellungen kommen auf, neue philosophische Ideen werden entwickelt und diskutiert. Im Jahr 1784 hatte der Philosoph Moses Mendelssohn festgestellt, dass Worte wie Aufklärung, Bildung und Kultur „in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge“ (Mendelssohn 1784/2000, S. 3) seien. Im selben Jahr hatte Immanuel Kant seine bekannte Definition entwickelt, wonach Aufklärung bedeute, dass die Menschen lernen, sich ihres Verstandes ohne die Leitung anderer zu bedienen (vgl. Kant 1784/2000a). Es ist eine Zeit, in der Gedanken und Fragestellungen entstehen, die uns teilweise auch heute noch umtreiben (auch wenn wir uns natürlich in einer anderen politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lage befinden): Wie ist bürgerliche Selbstbestimmung möglich, wie soll eine auf Vernunft basierende Gesellschaft aussehen, welche Bildung ist in einer solchen Gesellschaft nötig, wie soll mit kultureller Vielfalt umgegangen werden? Humboldt nimmt rege an dem Diskurs seiner Zeit teil. Dabei ist er einerseits ein begeisterter Anhänger der Aufklärung.4 Gleichzeitig entwirft er aber ein Bildungsideal, das die Individualität – auch die Individualität der verschiedenen Nationen – betont und damit in ein Spannungsverhältnis zu manchen Ideen der Aufklärung gerät: Zentrales Ziel seiner Bildungsvorstellungen ist es, dass jede Nation ihren eigenen kulturellen Charakter bewahrt und höherentwickelt. Die Aufklärung sieht er dagegen als ein transnationales Projekt an, dem die Gefahr inhärent ist, die kulturellen Traditionen zu zerstören. So entwickelt er eine Fragestellung, die dann im Hintergrund seines ethnographischen Forschens steht: wie es gelingen kann, die Aufklärung so zu verbreiten, dass die ursprüngliche Kultur der Völker eben nicht zerstört, sondern, im Gegenteil, erhalten und sogar weitergebildet wird.

Humboldt sucht in den 1790er Jahren lange nach ursprünglichen „Nationalcharakteren“, zunehmend verzweifelt, weil er keine findet. Nur in den alten Griechen sieht er ein ursprüngliches Volk – doch die antike Kultur ist ja schon lange untergegangen. Weder in Frankreich (dem Land der Aufklärung!) noch in Spanien oder Deutschland findet er die Ursprünglichkeit, die er sucht. An den Völkern und Nationen Europas kritisiert Humboldt, dass sie sich zunehmend aneinander angleichen (wobei viele Nationen vor allem Frankreich nachahmen) und damit ihre ursprünglichen Charaktere verlieren. Umso begeisterter ist er dann, als er schließlich die Basken kennenlernt, denn diese haben seiner Auffassung nach nicht nur ihren ursprünglichen Charakter erhalten, sie schaffen es darüber hinaus auch, sich die neuen Ideen der Aufklärung anzueignen, ohne ihren Charakter aufzugeben. Humboldts Kritik an Nationen wie Frankreich, Spanien und Deutschland einerseits und seine Begeisterung für die Basken andererseits lassen sich also vor dem Hintergrund seines ethnographischen Suchbildes verstehen.

Diese Ausführungen deuten an, dass es sich lohnt, Humboldts Reiseaufzeichnungen in Verbindung mit seinen theoretischen Überlegungen zu lesen. Es wird sich zeigen, dass diese Lesart ein neues Verständnis nicht nur dieser Reisetexte, sondern letztlich auch seiner theoretischen Überlegungen hervorbringt. Das betrifft einerseits verschiedene Details seiner Bildungstheorie (wie die Begriffe von den „sinnlichen Kräften“, der „Ursprünglichkeit“ oder der „Lage“ eines Charakters). Andererseits schält sich bei dieser Lesart aber auch heraus, dass Humboldt bei seinen ethnographischen Beobachtungen eine neue bildungstheoretische Einsicht gewinnt, die auch sein späteres Denken prägt: Er erkennt die Bedeutung der sozialen Dimension der Bildung. Vor allem im Baskenland stellt er fest, dass eine „fortlaufende und gegenseitige Berührung“ der verschiedenen gesellschaftlichen Stände für die Bildung und die Aufklärung einer Nation von fundamentaler Bedeutung ist (eine „Berührung“, wie er sie im Baskenland unter anderem bei dem Dorffest in Albia beobachtet). Im Vergleich dazu bemerkt er allerdings, dass in Deutschland eine allzu große „Kluft“ zwischen den gesellschaftlichen Ständen existiere, die der Bildung der Nation abträglich sei. Auf dem Weg der ethnographischen Beobachtungen in fremden Ländern stellt Humboldt also eine soziale Separierung (wie ich sagen möchte) in Deutschland fest. Dieser Begriff verweist darauf, dass die gesellschaftlichen Stände sich in Sprache und Alltagspraxis voneinander „absondern“ (wie Humboldt selbst sagt). Humboldt zieht aus seinen Beobachtungen den Schluss, dass diese Separierung in Deutschland überwunden werden müsse, um dort Bildung und Aufklärung zu fördern. Er fordert also ein bildungspolitisches Gegensteuern im Sinne einer sozialen Deseparierung ein. Dies ist dann auch ein zentrales Anliegen seiner späteren Tätigkeit im Rahmen der preußischen Reformen in den Jahren 1809 und 1810. Auch das bildungstheoretische Denken Humboldts und seine Entwicklung erscheinen vor dem Hintergrund seiner Reisetexte also in einem neuen Licht.

Wenn in diesem Buch der Zusammenhang von Humboldts theoretischen und ethnographischen Studien herausgearbeitet wird, dann werden immer wieder auch konkrete Aussagen und Urteile Humboldts über die verschiedenen Nationalcharaktere zitiert. Es sei ausdrücklich gesagt, dass es dabei nicht um den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen und Urteile geht. Genauso wenig geht es darum, zu prüfen, inwiefern die theoretischen Überlegungen Humboldts ‚stimmen‘ oder nicht. Der Geltungsanspruch von Humboldts empirischen Analysen und theoretischen Aussagen wird also eingeklammert. In diesem Sinne ist die vorliegende Untersuchung durch Studien inspiriert, die im Zuge der Debatte über die „Krise der ethnographischen Repräsentation“ in der Ethnographie entstanden sind (vgl. Clifford/Marcus 1986; Geertz 1973/2000; 1988/2007). Eine Erkenntnis dieser Debatte ist, dass ethnographische Studien zwar immer etwas über die beschriebenen Völker, vielleicht mehr noch aber über ihre Autorinnen und Autoren aussagen – über ihre spezifische Perspektive, ihren ‚Blick‘ auf die soziale Welt, oder auch: über ihr ethnographisches Suchbild.

Der Gang der Untersuchung

Im ersten Kapitel werden verschiedene Humboldt-Bilder aus der bildungs- und kulturtheoretischen Humboldt-Forschung rekonstruiert und in ein Verhältnis zu der Vorstellung von Humboldt als einem empirischen Sozialforscher gesetzt. Dabei zeigt sich: Es ist nicht nur so, dass Humboldts ethnographische Studien bislang kaum beachtet wurden, darüber hinaus passt das Bild von Humboldt als eines empirischen Sozialforschers nicht zu gängigen Humboldt-Bildern, steht zu manchen von ihnen sogar in Widerspruch.

In Humboldts ethnographischem Suchbild spiegeln sich die intellektuellen, sozialen und kulturellen Entwicklungen seiner Zeit wider. Um seinen Blick auf die zeitgenössische Welt zu verstehen, ist es deshalb notwendig, den historischen Kontext, in dem er lebt und forscht, zu skizzieren. Dies wird im zweiten Kapitel unternommen. Dabei wird der anthropologische Diskurs der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts betrachtet und untersucht, wie über Nationalcharaktere nachgedacht wird und mit welchen Methoden nationale Charakteristika erforscht werden. Es wird zudem herausgearbeitet, dass der für Humboldts Denken so zentrale Begriff der Bildung, der sich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum verbreitet, mit einer doppelten Emanzipationsbewegung im Zusammenhang steht.

Im dritten Kapitel werden dann die ersten Überlegungen Humboldts zu dem Spannungsverhältnis von Aufklärung und Charakterbildung dargestellt. Dieses Kapitel bezieht sich vor allem auf Humboldts frühe Schriften und zeigt, wie er seine Fragestellung in verschiedenen Anläufen entwickelt. Dabei wird deutlich, wie differenziert er vor allem über die Charakterbildung nachdenkt.

Noch bevor Humboldt auf seine eigentlichen ethnographischen Reisen geht, verfasst er eine für sein weiteres ethnographisches Denken wegweisende Studie über die alten Griechen, die im vierten Kapitel betrachtet wird. Die alten Griechen gelten ihm als Vorbild einer gebildeten Nation, sie haben seiner Auffassung nach ihre Ursprünglichkeit bewahrt, gleichzeitig aber auch ihre Kultur in höchstem Grade verfeinert. Humboldt arbeitet mehrere Merkmale der griechischen Bildung heraus, die sein ethnographisches Suchbild prägen werden.

Für seine empirisch-ethnographischen Untersuchungen entwickelt Humboldt mit der Zeit ein komplexes methodologisches Forschungskonzept, das Thema des fünften Kapitels ist. Es wird gezeigt, dass es Humboldt bei seinen ethnographischen Studien darum geht, den „wesentlichen“ Charakter einer Nation möglichst umfassend zu beschreiben, wofür er unterschiedliche empirische Verfahren zur Anwendung bringen will.

Das sechste Kapitel widmet sich dann den ethnographischen Studien Humboldts, die er während seines Aufenthaltes in Paris durchführt. Dabei wird untersucht, inwiefern die Franzosen seinem ethnographischen Suchbild entsprechen. Es zeigt sich, dass Humboldt, der zu Beginn der Französischen Revolution noch so begeistert war von dem Freiheitsdrang der Franzosen, letztlich enttäuscht ist von den Entwicklungen im Frankreich Ende der 1790er Jahre. Selbst von Napoleon hält er nicht viel. Insgesamt wird deutlich, dass die Franzosen seinem ethnographischen Suchbild nicht entsprechen.

Das siebte Kapitel widmet sich dann Humboldts Beobachtungen in Spanien. Auch wenn Humboldt bei den Spaniern einen ganz anderen Charakter als bei den Franzosen feststellt, zeigt sich letztlich doch, dass auch die Spanier nicht in sein ethnographisches Suchbild passen: Bei ihnen findet er weder Aufklärung noch einen ursprünglichen Charakter vor. Allerdings bemerkt Humboldt in Spanien eine auffällig geringe Distanz zwischen den gesellschaftlichen Ständen. Da er von der Bildung des spanischen Nationalcharakters insgesamt aber eher enttäuscht ist, führt ihn diese Beobachtung allerdings noch nicht zu weiterreichenden bildungstheoretischen Schlussfolgerungen wie dann bei den Basken.

Im achten Kapitel gilt die Aufmerksamkeit schließlich Humboldts Baskenstudien und den bildungstheoretischen Entdeckungen, die er bei den Basken macht. Es wird systematisch herausgearbeitet, dass und inwiefern die Basken Humboldts ethnographischem Suchbild entsprechen. Da Humboldts Arbeiten über die Basken sehr viel umfangreicher und detaillierter sind als die über die Franzosen und die Spanier, nimmt dieses Kapitel den größten Raum in diesem Buch ein. Anhand von vielen detailreichen Beobachtungen Humboldts wird gezeigt, inwiefern er in den Basken einerseits einen „ursprünglichen“ Charakter sieht und inwiefern er bei den Basken andererseits eine verbreitete „Volksaufklärung“ feststellt. Vor diesem Hintergrund wird dann der zentrale bildungstheoretische Ertrag, den er bei den Basken gewinnt, herausgestellt (und kritisch gewürdigt). Das achte Kapitel beendet damit den Durchgang durch Humboldts ethnographische Arbeiten, da er sich nach seiner Baskenstudie auf die Sprachforschung konzentriert und keine eigenen ethnographischen Studien im engeren Sinne mehr durchführt.

Das neunte Kapitel fragt dann, inwiefern Humboldt auch später noch an seinen bildungstheoretischen Einsichten aus seinen ethnographischen Erkundungen festhält. Hier wird seine Tätigkeit im Rahmen der preußischen Reformen untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass Humboldt als Leiter der „Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht“ insbesondere auf seine Einsichten über die soziale Dimension der Bildung zurückgreift, die er in Spanien und im Baskenland gewonnen hatte: Ihm geht es um eine soziale Deseparierung.

Auch wenn Humboldt also an den Einsichten über die soziale Dimension der Bildung festhält, entwickelt er später aber doch eine neue Haltung zur vermeintlichen Ursprünglichkeit der Basken, wie im zehnten Kapitel gezeigt wird. Als Humboldt beginnt, sich mit den indigenen Sprachen Amerikas auseinanderzusetzen, bemerkt er, dass er in dem Material, das er von Missionaren erhält, den nationalen Charakter der indigenen Völker nicht auffinden kann. Er erkennt das Problem, dass die christliche Mission die ursprünglichen Charaktere „zerstört“ habe. Vor diesem Hintergrund bewertet er dann auch die Basken neu.

In einem Ausblick wird schließlich einerseits diskutiert, was das entwickelte Bild von Humboldt als eines Ethnographen für die Humboldt-Forschung bedeutet, andererseits werden aktuelle Bezüge hergestellt, wobei sich zeigt, dass Humboldt auch dem heutigen Nachdenken über Bildung und die Erforschung von Bildung noch wichtige Impulse geben kann.

Das vorliegende Buch bringt also in mehreren Hinsichten Neues über Wilhelm von Humboldt hervor. Zum ersten wird eine neue Lektüre von Humboldts Reisetexten vorgelegt, deren Besonderheit darin besteht, über den ‚Umweg‘ seiner anthropologisch-bildungstheoretischen Schriften einen inneren Zusammenhang dieser Texte zu rekonstruieren. Zum zweiten erscheint auch Humboldts Bildungstheorie vor dem Hintergrund dieser Reisetexte in einem anderen Licht, was, zum dritten, auch einen neuen Blick auf seine Reformtätigkeit als Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht in Preußen anregt. Insgesamt entsteht in diesen Untersuchungen ein neues Bild Wilhelm von Humboldts: Er wird als bildungstheoretisch orientierter, sozialpolitisch engagierter Ethnograph portraitiert, der insbesondere der Frage nachgeht, wie das Projekt der Moderne ohne den Verlust wertvoller Traditionen gelingen kann.

Statue Wilhelm von Humboldts in Gernika

1 Humboldt-Bilder in der bildungs- und kulturtheoretischen Humboldt-Rezeption

Über Wilhelm von Humboldt und seine Bildungsvorstellungen ist schon viel geschrieben worden. Der Bezugnahmen auf seine Arbeiten sind dabei viele: Es werden seine frühen staatstheoretischen und anthropologischen Überlegungen ebenso herangezogen wie die Texte aus seiner Zeit als Leiter der „Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht“ sowie seine späten sprachphilosophischen Studien. Im Laufe der Zeit haben sich dabei unterschiedliche, teilweise auch widersprüchliche, Interpretationen von Humboldt und seinem Bildungsverständnis herausgebildet. Und doch ist die Humboldt-Rezeption aus der hier eingenommenen Perspektive gesehen einseitig. Humboldt erscheint nämlich fast durchweg als Theoretiker der Bildung. Dass er sich aber auch empirisch mit Bildung auseinandergesetzt hat, dass er ein empirischer Bildungsforscher war, wird bislang nur ansatzweise wahrgenommen.

In der aktuellen Bildungsforschung wird seit einigen Jahren lebhaft über das richtige Verhältnis von Theorie und Empirie gestritten. Thorsten Fuchs beschreibt die Situation in diesem Zusammenhang so, dass sich zwei Lager diametral gegenüberstehen: auf der einen Seite sind die Empiriker, die darauf bestehen, dass Bildung mithilfe empirischer Verfahren untersucht werden muss. Auf der anderen Seite finden sich Theoretiker, die den Konzepten der empirischen Bildungsforschung fehlende bildungstheoretische Tiefe vorwerfen. Empirie und Theorie der Bildung fallen also gleichsam auseinander (vgl. Fuchs 2012).5 Der Name Humboldt spielt in diesem Zusammenhang eine gewisse Rolle, wird dabei aber immer nur im Sinne der Theorie der Bildung erwähnt. Der in diesem Buch zu entwickelnde neue Blick auf Humboldt zeigt dagegen, dass bereits Humboldt in seinen ethnographischen Studien eine enge und konzeptionell wohldurchdachte Verknüpfung von Theorie und Empirie zur Erforschung von Bildung entwickelt.

Wenn im Folgenden verschiedene Humboldt-Bilder aus der bildungs- und kulturtheoretischen Humboldt-Rezeption skizziert werden, ist damit keine umfassende Rekonstruktion des aktuellen Forschungsstandes in der Humboldt-Rezeption intendiert. Vielmehr finden insbesondere solche Positionen Beachtung, in denen das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie der Bildung virulent wird. Vor diesem Hintergrund kann erst deutlich werden, welchen Beitrag dieses Buch zur Humboldtinterpretation leistet.