Pehov, Alexey; Bychkova, Elena; Turchaninova, Natalya Turm des Ordens - Die Beschwörer 1

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Übersetzung aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann

 

© Alexey Pehov, Elena Bychkova und Natalya Turchaninova 2014
Titel der russischen Originalausgabe: »Lovuška dlja ducha« bei Al’fa-kniga, Moskau 2014
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Billy Christian

 

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1 – Es werden ihrer drei sein

Vor dem Tor des Palastes vom Statthalter der Provinz Yugora gab es nie viele Bittsteller. Alle wussten, dass Akeno Ishiro die Tradition seiner Vorfahren nicht pflegte und folglich weder regelmäßig Streitigkeiten unter einfachen Untertanen klärte noch Almosen an Bedürftige verteilte oder allein durch Handauflegen Sieche heilte.

Zu dieser frühen Stunde drückte sich hier erst recht kaum jemand herum. Die Sonne war erst vor Kurzem hinter den Dächern der Häuser hervorgekrochen. Wie üblich war sie den Himmel nicht langsam und gleichmäßig emporgeklettert, um die nächtliche Kühle durch morgendliche Wärme zu verdrängen, sondern hatte sich mit einem einzigen Satz ans Firmament katapultiert und schickte nun ihre sengenden Strahlen zur Erde hinunter. Am Abend würde sie dann ebenso rasch am Horizont versinken und dem Tag regelrecht das Licht ausblasen.

Das Anwesen der Ishiros lag mitten in der Stadt. Sämtliche Häuser der Umgebung schienen voller Furcht vor diesem Bau zurückzuweichen. Der Statthalter selbst wähnte sich offenbar völlig sicher: Der Graben, der das Gelände säumte, war nicht sehr breit, unmittelbar an der Steinmauer wuchsen Kiefern, sodass man mit ein wenig Kletterei jederzeit auf das Grundstück gelangen konnte. Doch noch nie hatte irgendwer den Wunsch danach verspürt.

Wie es hieß, hatte der erste Herr dieses Anwesens, Odoro Ishiro, befohlen, sämtliche Bäume in der Umgebung zu fällen, da die niederfallenden Blätter ihm, der ewig zu leben gedachte, den Tod in Erinnerung rufen würden. Deshalb hatten einst ausschließlich Steingärten mit versponnenen Umrissen und Hinokis, die heiligen Zypressen, den Schmuck des weitläufigen Geländes gebildet.

Die Nachfahren dieses legendären Gründers der Dynastie hatten in Sachen Unsterblichkeit jedoch einen deutlich geringeren Anspruch und legten wieder einen herrlichen Garten an.

Im grünen Wasser des Grabens trieben denn auch weder die Köpfe von Feinden, noch ragten darin Piken auf. Blutdürstige Geister waren ebenfalls nirgends zu entdecken, einzig gewöhnliche Karpfen zogen träge ihre Bahn.

Der Palast selbst lag auf einer Anhöhe, von der es hieß, sie sei von Hand aufgeschüttet worden, wobei die geknechteten Arbeiter, ausgezehrt von dieser Pein, allesamt den Tod gefunden hätten. Der heutige Kirschgarten war also über ihren Gebeinen angelegt worden. Da es in Yugora ansonsten keine Berge oder Hügel gab, war dieser beeindruckende Bau schon aus weiter Ferne auszumachen. Seine Form erinnerte an einen liegenden Drachen, die Dächer der einzelnen Flügel bildeten die roten Schuppen dazu.

Verschlungene Wege zogen sich zwischen wuchtigen Felsbrocken und grünen, hüfthohen Hecken dahin. Diese verliehen dem Garten nicht nur Schönheit, sondern hätten einen etwaigen Gegner auch gezwungen, die eigenen Reihen aufzulösen, sodass die Feinde von den in Wachtürmen positionierten Bogenschützen der Residenz einzeln abgeschossen worden wären.

Die kleine Menge, die in der brütenden Hitze vor dem Gittertor ausharrte, geriet allmählich in Unruhe. Zwei hagere, braun gebrannte Bauern blickten sich immer wieder um und traten von einem Bein aufs andere. Die Missernte hatte sie hergetrieben, beide wollten ein wenig Geld für den Ankauf neuen Saatguts erbitten.

Sie wurden von einem grimmig aussehenden Waffenschmied beäugt. Der Mann trug drei sorgsam in einen ölgetränkten Lappen gewickelte Schwerter bei sich, die er ohne Frage dem Statthalter verehren wollte. Insgeheim hoffte er wahrscheinlich, dass dieser, von der meisterlichen Arbeit überwältigt, umgehend neue Klingen in Auftrag geben oder ihn gar vom Fleck weg in seinen Dienst nehmen würde.

Ein hoch aufgeschossener Greis erteilte einem zehnjährigen Jungen halblaut kluge Ratschläge. Er gedachte anscheinend, seinen aufgeweckten Enkel beim Statthalter unterzubringen. Der Kleine wiederum litt unter der Hitze ebenso wie unter seinem neuen Gewand, in das man ihn eigens für diesen Besuch gesteckt hatte.

Bei der letzten Bittstellerin handelte es sich um eine dralle Milchfrau, die sich in einem fort den Schweiß von ihrem rotwangigen Gesicht wischte und einen Krug an ihren ausladenden Busen presste. Vermutlich träumte sie von Arbeit in der Küche des Herrn Akeno oder zumindest davon, ihm fortan Milch und Butter zu liefern. Ihr stand auf die Stirn geschrieben, dass sie furchtbar gern ein Schwätzchen gehalten hätte, sich jedoch nicht traute, das Wort als Erste zu ergreifen.

Das tat irgendwann einer der beiden Bauern.

»Was für eine Glut«, stöhnte er und fuhr sich mit der faltigen Hand über die von der Sonne dunkelbraun gefärbte Glatze. »Dabei haben wir noch nicht mal Mittag!«

»Im vorvorigen Jahr war es genauso«, bemerkte die Milchfrau, hochzufrieden angesichts des nun endlich gebrochenen Schweigens. »Da mussten die Beschwörer sogar einen Nabenisho-djoto herbeirufen, damit er die Ratten fängt, die uns damals geplagt haben.«

»Unsere Ernte haben die Herren mit ihren Geistern trotzdem nicht gerettet«, knurrte der andere Bauer, ein buckliger Kerl, der sich den breitkrempigen Hut tief in die Stirn geschoben hatte.

»Posaunt besser nicht in die ganze Stadt hinaus, was ihr von Beschwörern haltet«, warnte ihn der Waffenschmied.

»Angeblich ist der Sohn vom Statthalter ja auch einer«, warf der Greis ein und strich seinem Enkel die Falten der Jacke glatt. Der Blick des Jungen wanderte traurig in die Ferne.

»Wie man hört, ist er ja tot«, sagte die Milchfrau und klimperte mit den Wimpern. »Soll schon im Frühjahr gestorben sein.«

Nach diesen Worten breitete sich Stille aus. Die Menschen sahen sich scheu um. Offenbar befürchteten sie, jemand könnte die Bemerkung in den falschen Hals bekommen haben. Tatsächlich trat nun aus dem dichten Schatten einer alten Alatane ein Mann hervor, den zuvor niemand bemerkt hatte. Oder hatte er sich etwa dort versteckt?

Der junge Bursche in zerschlissener, staubiger Reisekleidung betrachtete die beiden Drachen, welche die Steinsäulen links und rechts vom Tor zierten und ihn mit ihren Blicken anzufunkeln schienen. Ein völlig unscheinbarer Gesell. Die Lanze mit dem hellen Holzschaft dürfte sich wohl auch kaum mit den Klingen des Waffenschmieds messen können. Sein ausgeblichenes weizenblondes Haar war im Nacken zu einem lockeren Zopf zusammengebunden, das braun gebrannte Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den eingefallenen Wangen und dem kantigen Kinn wirkte ruhig und gelassen, ja, fast unbeteiligt. Nur in den hellen Augen lag ein durchdringender, harter und kalter Ausdruck, der nicht zu seinem Alter passte.

Schweigend musterten die Yugorer ihn, doch der Fremde schien wie gebannt vom Garten jenseits des Tores.

»Was ist das denn für einer?«, fragte der Waffenschmied leise.

»Wie der schon aussieht«, sagte die Milchfrau. »Als ob eine Meute Hunde über ihn hergefallen wäre und sich dann alle im Dreck der Straße gewälzt hätten.« Sie schnaubte verächtlich und wedelte mit dem Saum ihres neuen Rocks, den sie eigens für den Besuch beim Statthalter erworben hatte.

»He, Bursche!«, rief der Waffenschmied nun. »Weshalb willst du zu Herrn Akeno?«

»Weil ich etwas mit ihm zu besprechen habe«, antwortete dieser, ohne sich umzudrehen.

»Das gilt für uns auch«, murmelte der ältere der beiden Bauern, entlockte dem Fremden damit jedoch auch keine weiteren Erklärungen.

Danach breitete sich wieder Schweigen aus, fast als wäre den Yugorern beim Anblick des Fremden der Wunsch nach einer kleinen Plauderei vergangen.

Diesen wiederum schienen die vergoldeten Gitterstäbe des Tores völlig in ihren Bann geschlagen zu haben.

Es gibt hier nicht einmal Wachtposten, hielt er für sich fest. Zuverlässiger als die zähnefletschenden Drachen dürfte allerdings ohnehin niemand den Eingang hüten können.

Auf dem Anwesen leuchteten in der grellen Sonne die roten Dächer verschiedener Pavillons, im Wasser eines Teiches schaukelten sanft rosafarbene Lotusblüten und verströmten ihren Duft. Über allem hing das friedliche Gesumm der Bienen, das beinahe etwas Einschläferndes hatte.

Im Garten hantierten vier Diener, die jedoch überhaupt nicht auf die Bittsteller achteten. Einer kappte die Zweige einer jungen Kiefer, damit der Baum in der gewünschten Form heranwuchs. Die drei anderen krochen, von breitkrempigen Strohhüten gegen die Sonne geschützt, über den Boden, um den Rasen auszudünnen. Wortlos verrichteten sie ihre Arbeit und hielten nicht eine Sekunde inne. Als diese vier dann aber nach einer weiteren Stunde ihr Tun überraschend einstellten und eine ehrfürchtige Haltung einnahmen, war allen klar, dass die Warterei ein Ende hatte.

Einige Bedienstete in rot-weißen Gewändern hielten mit einem flachen Holztisch auf das Tor zu, bauten einen zusammenklappbaren Stuhl auf und befestigten einen Sonnenschirm daran.

Die Yugorer reckten die Hälse. Da erschien endlich in Begleitung von zwei Lanzenträgern ein Mann in einem weiten grauen Gewand, das sich im Vergleich zu dem seiner Diener geradezu bescheiden ausnahm. Auf seinem schmalen, hageren Gesicht mit der langen, feinen Nase, den tief in den Höhlen versunkenen Augen und dem spitzen Kinn lag ein abgespannter Ausdruck. Ein Sonnenstrahl, der sich in einem der Teiche spiegelte, ließ das Schwarz des kurz geschnittenen, grau melierten Haares glänzen.

Der Mann raffte sein Gewand, setzte sich, richtete einen Stapel Papiere aus und bedachte die Wartenden jenseits des Gitters mit einem ausdruckslosen Blick.

»Ist das der Herr Statthalter?«, erkundigte sich die Milchfrau im Flüsterton.

»Der hat Besseres zu tun, als seine Zeit mit Leuten wie uns zu vergeuden«, belehrte sie der Greis, strich seinem Enkel über den Kopf und raunte: »Das ist sein Sekretär, der Herr Nagateru.«

Der Fremde mit der Lanze trat als Erster vor.

»Was willst du?«, erkundigte sich der Sekretär und sah ihn teilnahmslos an. »Fasse dich kurz und leg deine Bitte klar dar!«

»Ich möchte mit dem Statthalter sprechen«, erwiderte der junge Mann in höflichem, aber entschiedenem Ton.

»Ich werde es meinem Herrn mitteilen«, sagte der Sekretär und winkte den nächsten Bittsteller heran.

»Teilt dem Statthalter mit, dass ihn ein Beschwörer zu sprechen wünscht«, fuhr der junge Mann jedoch unbeirrt fort.

»Ein Beschwörer?« Daraufhin nahm der Sekretär den jungen Mann in dem verstaubten Reisekostüm genauer in Augenschein. »Wo ist denn bitte dein Wappen?!«

»Fragt den Statthalter, was ihm wichtiger ist, ein Wappen oder der Beschwörer selbst!«

Der Sekretär verzog die Lippen zu einem Lächeln, sodass diese nur noch eine feine Linie bildeten, während die Stirn mit einem Mal von zwei tiefen Furchen unterteilt wurde.

»Ach ja, wer will nicht alles meinen Herrn sprechen«, brachte er dann heraus, legte eine theatralische Pause ein und lächelte noch verkniffener. »Aber ein Beschwörer? Das ist mir noch nicht untergekommen.«

»Richtet dem Statthalter bitte aus, dass ich Neuigkeiten von seinem Sohn habe!«

»Der Sohn des Herrn Akeno ist tot«, entgegnete der Sekretär kalt und verschränkte die Hände vor der Brust. »Deshalb glaube ich kaum, dass du Neuigkeiten von ihm bringst.«

Nun riss dem jungen Mann doch der Geduldsfaden.

»Unter dem Torbogen wachen zwei Geister, ein weiterer steckt im linken Flügel des einen Drachen«, zischte er und näherte sein Gesicht dem Gitter, das ihn von dem Herrn Sekretär trennte. »Wenn Ihr mein Anliegen nicht vortragt, werde ich alle drei verjagen.«

Nagateru schaute den Frechling einen ausgedehnten Moment lang kalt und befremdet an, dann befahl er einem der beiden Soldaten: »Übermittel Herrn Akeno, dass irgendein Vagabund behauptet, ein Beschwörer zu sein, und den Statthalter von Yugora zu sprechen verlangt.«

Der Soldat machte sich sofort auf den Weg, kehrte aber lange Zeit nicht zurück. Derweil beschäftigte sich der Sekretär ausschließlich mit seinen Schriftstücken. Das Rascheln des feinen Papyrus und das Kratzen des Griffels brachten die übrigen Bittsteller zunehmend gegen den jungen Mann auf.

Dieser schien die Missstimmung allerdings gar nicht zu bemerken, denn erneut hatte er nur Augen für den Garten. Gerade flog ein Reiher auf einen Teich zu, landete auf einem Stein und erstarrte zu einem weißen Standbild.

Endlich kehrte der Soldat zurück. Schnaufend und aufgebracht. Er flüsterte dem Sekretär etwas ins Ohr, dieser lehnte sich auf dem niedrigen Stuhl zurück und maß den seltsamen Besucher mit einem durchdringenden Blick.

»Du kannst eintreten«, sagte er schließlich. »Mein Herr erwartet dich.«

Das Tor öffnete sich gerade so weit, dass der junge Mann sich hindurchzuzwängen vermochte. Seine Lanze stieß dabei gegen einen Gitterstab. Ein klirrendes Geräusch schwebte durch die Luft.

Die Yugorer flüsterten erneut miteinander. Verwunderung und Neid lagen in ihren Stimmen. Dass ein Besucher eingelassen wurde, das hatte es noch nie gegeben.

»Die Waffe musst du bei mir lassen«, erklärte der Sekretär.

Ohne Widerspruch händigte der Beschwörer die Lanze aus und ließ sich abtasten.

»Keine Sorge, Junge, auf deine Yari geben wir acht«, versicherte einer der Soldaten, während er dem Besucher die Seiten abklopfte. »Wenn du uns wieder verlässt, holst du sie dir.« Nach diesen Worten drehte er sich dem Sekretär zu. »Alles in Ordnung.«

Herr Nagateru nickte nur und befahl mit einer Geste, den Besucher zum Statthalter zu bringen.

 

Der weitläufige Garten beherbergte zahllose Lauben, die auf kleinen Inseln in den Teichen errichtet worden waren, ferner geräumige Pavillons, die durch offene Gänge miteinander verbunden waren, sowie Steinaltäre, welche die Gesellschaft von Kirschbäumen genossen. Dieser heilige Baum versinnbildlichte die Ewigkeit.

Durch ein schweres Tor gelangten sie in einen quadratischen Innenhof, der mit feinem Sand ausgestreut war. Ihn säumten Kiefern und einige Hausaltäre, sogenannte Butsudan, über deren steinernen Becken feine Säulen duftenden Rauches aufstiegen.

Das Erste, was dem Besucher dann auffiel, war ein gestrecktes, ebenerdiges Haus mit einem flachen Schrägdach, das mit dunkelgrauen, figürlich gearbeiteten Ziegeln gedeckt war. Sie funkelten in der Sonne wie die Schuppen eines Drachen.

Hinter Bäumen erhob sich ein Wachtturm, in dem Bogenschützen postiert waren. Offenbar hatte der erste Eindruck getrogen: So ungeschützt war der Palast des Statthalters gar nicht.

Das Kernstück des Anwesens, der Palast, mutete riesig an. In dem massiven, in Rot und Weiß gehaltenen Steingebäude residierte die Familie Ishiro bereits seit über fünfhundert Jahren.

In all der Zeit hatte es nur einmal Auseinandersetzungen mit Hakata gegeben, und zwar als Akenos Vaters herrschte. Damals war der Statthalter der Nachbarprovinz mit fünfundzwanzigtausend Mann in die Residenz eingefallen, die lediglich von dreitausend Soldaten verteidigt wurde. Ishiro musste abziehen, kehrte jedoch noch in derselben Nacht zurück. Regen und Nebel machten es seinen Kriegern leicht, die Feinde, die an Lagerfeuern ihren Sieg feierten, hinterrücks abzustechen. Sofort brach Panik aus. Offenbar glaubten die Männer aus Hakata, von blutdürstigen Shiisans angegriffen zu werden.

Danach hatte es niemand mehr gewagt, die Ishiros in ihrer Residenz anzugreifen.

 

Als der Beschwörer die kalten, leeren Hallen des Palasts betrat, wehte ihn eisige Luft an, fast als trumpfte hier drinnen der Winter auf. Der Luftzug strich wie ein unsichtbares Gespenst an den endlosen Wänden entlang und fuhr über die weißen Vorhänge, die von geschnitzten Wandfriesen herabhingen. Sämtliche Räume waren herrlich ausgemalt und mit Reliefdarstellungen aus Mahagoni verziert, die Sitzmöbel vergoldet.

Mitunter nahm ein Fenster eine ganze Wand ein, sodass man einen Blick in den Garten hatte, der damit gleichsam zu einer Verlängerung des Hauses wurde. Wann immer der junge Mann zu diesen Fenstern hinausschaute, versuchte er zu begreifen, wo er sich eigentlich befand, meist jedoch vergeblich. Was für ein Labyrinth ...

Der Soldat wies ihm mit knappen Worten den Weg: nach rechts, nach links, geradeaus. Er würde bestimmt nichts über das Anwesen erzählen.

Immer wieder huschten lautlos Diener in rot-weißen Gewändern an ihnen vorbei. Aus unerfindlichen Gründen verliehen die leuchtenden Farben ihrer Erscheinung jedoch nichts Fröhliches, sondern ließen sie wie Gespenster wirken. Da sie sich obendrein lediglich mit Gesten verständigten, fragte sich der Fremde, ob sie vielleicht stumm seien.

An allen Abzweigungen standen bewaffnete Posten, die ihm finstere Blicke hinterherschickten, die geradezu wie Kletten an ihm haften blieben.

Irgendwann liefen die beiden an einer Tür vorbei, die in dem Beschwörer den unbezwingbaren Wunsch weckte, stehen zu bleiben. Sie unterschied sich zwar durch nichts von den anderen, trotzdem wollte er unbedingt das Zimmer dahinter betreten oder wenigstens durch das Schlüsselloch linsen.

»Was ist das für ein Raum?«, erkundigte er sich bei dem Soldaten.

»Das geht dich nichts an.«

Kurz darauf brachte der Soldat ihn in das Empfangszimmer, das von Kerzen hell erleuchtet wurde, und bat ihn zu warten.

Auch dieser saalartige Raum bestach mit seiner Pracht. In den Wandreliefs glitzerten Saphire. An einer Stelle zierte zudem ein Ornament aus Rubinen die Wand. In die schweren Vorhänge vor dem vergitterten Fenster waren Goldfäden und rosafarbene Perlen eingewebt. An den Gerüchten, dass der Herrscher Yugoras unglaublich reich war, musste also etwas dran sein.

Nach einer Weile ging die Tür zum Nebenzimmer auf, und ein Diener in einem purpurroten Gewand forderte ihn auf einzutreten.

Akeno Ishiro saß an einem niedrigen Tisch und ging einige Papiere durch. Sein bis zum Kragen geschlossenes Obergewand erinnerte an einen Offiziersrock, nur dass statt Orden an ihm Edelsteine und Goldstickerei funkelten. Der Beschwörer wurde beinahe geblendet.

Kaum vernahm der Statthalter das Geräusch der Schritte, hob er den Kopf. Er hatte ein strenges, ausdrucksloses Gesicht mit einem schweren Kinn und breiten Wangenknochen. Seine Stirn durchfurchte eine Narbe, die sich in dem dichten, kurzen weizenblonden Haar verlor. Die Nase mit den scharf geschnittenen Flügeln musste irgendwann einmal gebrochen gewesen sein. Seine ganze Erscheinung verströmte geballte Körperkraft, starken Willen und unbedingte Entschlossenheit.

Die grauen Augen ruhten einen ausgedehnten Moment lang mit stahlhartem Blick auf dem Besucher, bevor er ihn mit einem Nicken aufforderte, sich auf einer Schilfmatte niederzulassen.

»Angeblich bist du ein Beschwörer«, brachte er in herrischem Ton hervor.

»Mein Name ist Ray. Ich habe meine Ausbildung an der Seite Eures Sohnes absolviert.«

Daraufhin sah Herr Akeno seinen Besucher noch durchdringender an. Mit einem Nicken hieß er den Diener, den Raum zu verlassen. Sobald der Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, drehte er sich wieder Ray zu.

»Ich erinnere mich an dich«, sagte er. »Ich habe dich schon einmal in der Nähe eures Tempels gesehen.«

»Erinnert Ihr Euch etwa an alle Menschen, denen Ihr irgendwann begegnet seid?«

»Ich habe ein vorzügliches Gedächtnis«, antwortete der Statthalter mit einem angedeuteten Lächeln. »Worüber wolltest du mit mir reden?«

»Ich bringe Neuigkeiten von Eurem Sohn.«

»Mein Sohn gilt offiziell als tot.«

»Aber das stimmt nicht. Er lebt noch.«

»Und was lässt dich vermuten, dass mich diese Nachricht interessieren könnte? Sayunaro hat sich von seiner Familie, seinem Namen und seinem Haus losgesagt. Er hat unser Angebot, nach seiner Ausbildung zu uns zurückzukehren, abgelehnt und uns mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass wir ihn als gestorben zu betrachten haben.«

»Es geht aber nicht nur um Euren Sohn«, antwortete Ray. »Ich habe auch Nachrichten, die für den Turm des Ordens in Warra und damit für ganz Akane von Bedeutung sein könnten.«

»Dann lasse sie mich hören!«

»Um am Ende unserer Ausbildung das Zertifikat des Beschwörers zu erhalten«, holte Ray aus, »sollten wir uns am Tag der Geister durch Warra zum Haupttempel des Ordens schlagen.«

Der Statthalter zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts. Jeder in Akane wusste, was das bedeutete. An diesem Tag fielen sämtliche Geister in die Welt der Menschen ein, und selbst die friedlichsten Geschöpfe aus der jenseitigen Welt verwandelten sich dann in wilde Bestien. Niemand verließ daher am Tag der Geister freiwillig das Haus.

»Sayunaro, ein weiterer Freund und ich haben diese Aufgabe gemeistert«, fuhr Ray fort. »Allerdings sind wir zu spät im Haupttempel erschienen. Unser Lehrer hat nicht auf uns gewartet und Warra nach diesem Feiertag sofort verlassen, um sich, wie wir später herausgefunden haben, nach Agosima zu begeben. Selbst als wir ihn dort gefunden hatten, wies er uns ab. Nur Euren Sohn wollte er noch weiter ausbilden. Nachdem mein Freund und ich unseren Lehrer verlassen hatten, wollten uns die Beschwörer aus Rumung umbringen. Rumung ist die Hauptstadt von ...«

»Ich weiß«, fiel ihm Herr Akeno ins Wort. »Fahre fort!«

»Diese Beschwörer bringen alle Fremden um. Ausnahmslos jeden, der sie besucht. Seitdem habe ich nichts mehr von Sayunaro gehört, obwohl ich ihm einen Uddo geschickt habe, also einen Geist mit einer Nachricht. Aber er ist nicht zurückgekehrt ...«

»Und was erwartest du jetzt von mir? Dass ich eine Armee aussende, um in Erfahrung zu bringen, ob mein Sohn, der sich von mir losgesagt hat, wohlauf ist? Niemand hat ihn gezwungen, in die ferne Provinz Agosima zu gehen oder seine Ausbildung fortzusetzen!«

»Mir gefällt nicht, was da in Agosima vor sich geht«, brachte Ray heraus, ohne auf Ishiros Bemerkung einzugehen. Auf seinem Gesicht lag nun ein finsterer Ausdruck. In Gedanken weilte er wieder in Rumung. »Diese Beschwörer sind unglaublich stark. Sie arbeiten mit Geistern zusammen, schöpfen aus ihnen Kraft ...«

Er sah den Statthalter fragend an, denn er bezweifelte, dass dieser die Tragweite der Aussage ermessen konnte, doch Herr Akeno bedeutete ihm mit einem ungeduldigen Nicken fortzufahren.

»Meiner Ansicht nach töten sie deshalb alle Besucher«, sagte Ray. »Damit niemand davon berichten kann, was sich dort zusammenbraut. Deshalb muss ich dem Turm des Ordens in Warra davon berichten.«

»Der Turm des Ordens ist ausschließlich mit seinen eigenen Ränken beschäftigt und schert sich in keiner Weise um eine so ferne Provinz. Und einen Beschwörer ohne Zertifikat würde ohnehin niemand anhören.«

»Ganz im Gegensatz zu Euch.«

»Was könnte ich den Meistern dort denn sagen?«, fragte Herr Akeno lachend. »Dass mich ein junger Mann aufgesucht hat, der durch die Prüfung gefallen ist und der nun behauptet, ein paar Verrückte hätten sich ihm gegenüber nicht gerade freundlich verhalten ... Im Übrigen solltest du dich keinen falschen Vorstellungen hingeben: Auch ich bin im Turm kein besonders gern gesehener Gast.«

»Das ist mir bekannt. Sayunaro hat mir von Euren Vorbehalten gegenüber dem Orden berichtet. Trotzdem bin ich mir sicher, dass Ihr jemanden kennt, der diese Nachricht weiterleiten könnte. Jemanden, dem auch der Orden vertraut ...«

»Dann lass mich meine Frage wiederholen«, entgegnete Akeno. »Was genau willst du dem Orden mitteilen? Dass ein paar närrische Beschwörer sich in einer fernen Provinz mit geheimem Wissen beschäftigen, Experimente mit Geistern durchführen und Fremde töten? Selbst wenn dir jemand diese Geschichte abnimmt, weißt du, was man dir antworten würde? Dass in Agosima schon immer merkwürdige Dinge geschehen sind, das würde man dir antworten! Deshalb unterhalten wir ja auch kaum Kontakte mit dieser Provinz. Und das schon seit vielen Hundert Jahren nicht. Was glaubst du denn, warum Agosima von der übrigen Welt abgeschnitten ist?! Der Orden wird sich folglich nicht im Mindesten darum scheren, was in einer Provinz vor sich geht, die für uns politisch keine Rolle spielt.«

»Ihr seid doch ein kluger Mann«, brachte Ray voller Eifer hervor. »Euch muss doch klar sein, dass die Beschwörer in Agosima nicht ohne Grund das verbotene Wissen pflegen und jeden Fremden töten, der etwas über ihre ungeheure Macht berichten könnte.«

»Und vermutlich bist du ein recht begabter Beschwörer, denn immerhin hast du deinen Besuch in Agosima überlebt. Von Politik verstehst du allerdings leider nicht das Geringste«, stellte Akeno ruhig und freundlich fest. »Agosima ist weit weg und stellt keine unmittelbare Gefahr dar, Sinora aber schon, und diese Provinz liegt nicht mehr fernab von allem. Stammst du nicht auch von dort?«

»Ja. Aber was hat das für eine Bedeutung?«

»Vielleicht solltest du mir erst einmal beweisen, dass dich niemand zu mir geschickt hat, damit du mit diesem Märchen von den feindlichen Beschwörern in Agosima unsere Aufmerksamkeit von Sinora ablenkst.«

»Diesen Unsinn glaubt Ihr doch selbst nicht!«

»Dieser Unsinn hört sich weit glaubwürdiger an als die Geschichte, die du mir eben aufgetischt hast.«

»Dann werdet Ihr also nichts unternehmen?«

»Doch«, antwortete Akeno da zu Rays Überraschung und deutete ein Lächeln an, als er sah, wie dieser neuen Mut schöpfte. »Mein Sohn verfügt über die Gabe. Wenn er vor einer Gefahr warnt, ist etwas dran. Bei dir dürfte es vermutlich kaum anders sein.«

»Und was schlagt Ihr vor?«

»Nichts zu überstürzen. Wo hast du Quartier genommen?«

»Bisher noch nirgends. Ich bin erst heute in der Stadt eingetroffen und habe mich dann umgehend zu Euch begeben.«

»Dann bleib hier. Ich überlege mir in aller Ruhe, wie wir jetzt am besten weiter vorgehen.« Er zog an einer Schnur, irgendwo bimmelte laut eine Glocke, und unverzüglich trat ein Diener ein. »Dieser junge Mann ist der neue Beschwörer der Familie Ishiro«, teilte der Statthalter ihm in herrischem Ton mit. »Begleite ihn in die Gemächer für unsere Gäste und sorge dafür, dass es ihm an nichts mangelt.«

Ray sah Herrn Akeno leicht befremdet an. Er hatte ihn ja eigentlich nicht um eine Anstellung gebeten ... Trotzdem erhob er keinen Widerspruch. Der Diener verneigte sich vor ihm und bat ihn untertänig, ihm zu folgen.

»Ich habe noch eine Bitte«, wandte sich Ray an Herrn Akeno. »Könnte man mir meine Lanze zurückgeben?«

 

Die Yari lehnte am Türrahmen, daneben lag sein staubüberzogener Reisesack. Ray fiel sofort auf, dass man ihn geöffnet und erneut zugeschnürt hatte. Mit Sicherheit hatte irgendein Posten den Inhalt kontrolliert, um sich zu vergewissern, dass nichts darin war, was eine Gefahr für Leib und Leben des Statthalters darstellte.

Ray sah sich um. Ein großer Raum mit hoher Decke, die mit aufwendigen Schnitzereien verziert war. Die Wände schmückten Reliefdarstellungen aus Ebenholz und Mahagoni, die Ereignisse aus dem Leben von Menschen und Geistern aufgriffen. Deutlich schlichter als die Gemächer des Statthalters, aber für Ray, der an weit kärgere Unterkünfte gewöhnt war, durchaus prachtvoll.

Das Mobiliar aus Mahagoniholz wies ebenfalls prunkvolle Schnitzereien auf. Es wirkte ausgesprochen solide und schwer. In den Ecken standen Kohlebecken, in denen zu dieser Jahreszeit selbstverständlich kein Feuer brannte. Auch einen Waffenständer gab es, der sich allerdings eher wie ein weiterer Ziergegenstand ausnahm. Den Boden bedeckte ein dicker Teppich.

Obwohl sich inzwischen die Mittagshitze über die Stadt gesenkt hatte, war es hier drinnen schummrig und frisch, denn es fielen nur wenige Sonnenstrahlen in den Raum.

Zwei Türen führten in die angrenzenden Zimmer. Das rechte beherbergte ein großes Bett mit Baldachin, im linken fand sich ein rundes Marmorbecken, über dem Dampf aufstieg. Ein Diener musste bereits heißes Wasser eingefüllt haben. Auf Steinbänken entlang der Wand warteten frische Handtücher und Bademäntel in verschiedenen Farben.

Ray ging ins Bad und streifte auf dem Weg dorthin die staubige Reisekleidung ab. Die Blutflecken daran ließen sich nicht mehr herauswaschen. Der Weg aus Agosima war lang und beschwerlich gewesen, die eigentlichen Schwierigkeiten dürften ihm, Ray, allerdings erst noch bevorstehen, da gab er sich keinen falschen Hoffnungen hin. Er mochte einen Kummerbündler vertreiben und sich gegen den blutdürstigen Giharwald zur Wehr setzen können, doch von Politik verstand er nicht das Geringste, das hatte Herr Akeno völlig richtig erkannt. Wie sollte er da den Orden zum Handeln bewegen?

Nachdem er dem Becken wieder entstiegen war, schlüpfte er in den erstbesten Bademantel und ging in das Schlafzimmer. Inzwischen hatte jemand seine alten Kleider fortgebracht und sie durch frische ersetzt. Der glänzende dunkelblaue Stoff des Obergewands war mit feiner Silberstickerei verziert, bei den Knöpfen handelte es sich um kostbar eingefasste Perlen. Die Hosen wiesen an den Seiten weiße Zierleisten auf, Stiefel aus weichem Leder mit metallbeschlagenen Absätzen vervollständigten das Bild.

In einer kleinen Schatulle funkelte zudem ein Anstecker: das Wappen eines Beschwörers.

Ray nahm es heraus. Das war keine Fälschung. Er spürte eindeutig noch den Geist, der darin eingeschlossen war. Wie der Statthalter wohl an dieses Stück gekommen ist?, fragte sich Ray.

Merkwürdig war jedoch, dass er nach all den Mühen, welche er und seine beiden Freunde auf sich genommen hatten, um ihr Zertifikat doch noch zu erhalten, keinerlei Freude empfand. Sicher, sein Weg würde fortan leichter sein, denn nun musste er nicht mehr allen beweisen, dass er kein Scharlatan war. Dies war allerdings ein Kinderspiel – verglichen mit den Aufgaben, vor die er sich mittlerweile gestellt sah.

»Darf ich Euch helfen?«, erklang da eine sanfte Stimme.

Ray fuhr herum. Hinter ihm stand eine junge Frau in einem purpurroten Gewand, um das sie einen weißen Gürtel geschlungen hatte. Das üppige goldene Haar war wie bei allen Frauen aus Yugora hochgesteckt. In ihrem Fall hatte man dafür mehrere purpurne Bänder benutzt, zudem waren rote Blüten eingeflochten, die sich ihre Schläfen hinunterschlängelten und sanft ihre Schultern berührten. Fast wie Blut, dachte Ray, vertrieb diesen Gedanken aber sofort. In letzter Zeit sah er allzu oft Blut vor seinem inneren Auge ...

»Ich bin Yui«, stellte sich die Frau vor und verneigte sich elegant. »Ich stehe ganz zu Euren Diensten, Herr Beschwörer. Ihr könnt mich Tag und Nacht rufen, ich werde Euch jeden Wunsch mit Freuden erfüllen.«

Den letzten Satz brachte sie in leicht zweideutigem Ton heraus. In ihren großen blauen Augen lag jedoch einzig Treuherzigkeit. Wahrscheinlich war ihr selbst gar nicht klar, dass ihre Worte auch anders aufgefasst werden könnten. Oder hatte sie eben das beabsichtigt?

»Und ich bin Ray.«

Yui lächelte ihn an und verneigte sich noch einmal, sodass die Blumen in ihrem Haar schaukelten.

»Erlaubt mir, dass ich Euch beim Ankleiden behilflich bin.«

»Das ist nicht nötig, danke.«

»Gut.« Die Frau beharrte nicht auf ihrem Anliegen. »Aber wenn Ihr etwas braucht, läutet.«

Sie bewegte sich völlig lautlos in ihren weichen purpurnen Schuhen, begab sich ins Bad und hantierte dort herum.

Ray schlüpfte in die Hosen, die ihm wie angegossen passten, zog die Stiefel an und legte den Gürtel mit der Silberschnalle um. Gerade als er das Gewand überstreifen wollte, vernahm er Yuis feine Stimme.

»Was habt Ihr denn da auf Eurem Rücken?!«

Unwillkürlich warf er einen Blick über die Schulter, vermochte die drei Narben jedoch nicht zu sehen. Die Wunden hatten sich vor Kurzem geschlossen, brachten sich aber noch mit einem stechenden Schmerz in Erinnerung.

»Da hat mich ein Dantaru mit seiner Hacke erwischt«, antwortete Ray. »Er war flinker als ich.«

»Wie schrecklich!«, stieß Yui aus. »Was für eine entsetzliche Arbeit Ihr habt!«

Sie huschte an ihm vorbei, schnappte sich das Gewand vom Bett und knöpfte es auf.

»Mit diesen Verletzungen solltet Ihr jede heftige Bewegung vermeiden.«

»Bei uns Beschwörern heilen Wunden sehr schnell«, erwiderte Ray mit einem Lächeln, während er Yuis ernstes Gesicht mit den vollen Lippen und der Stupsnase betrachtete.

Ihr stand auf der Stirn geschrieben, dass sie ihm nicht glaubte, weshalb sie Ray nun beim Ankleiden half, ob er wollte oder nicht. Dann schloss sie die Perlknöpfe, entnahm der Schatulle das Zeichen des Beschwörers und befestigte es mit penibler Sorgfalt an dem Gewand. Sie strich mit beiden Händen über seine Schultern, um nicht vorhandene Falten zu glätten. Ray musste sich eingestehen, dass ihm diese zarten, unaufdringlichen Berührungen durchaus angenehm waren.

»Hervorragend«, bemerkte Yui, während sie ihr Werk in Augenschein nahm. »Das Gewand steht Euch ausgezeichnet. Seht nur selbst.«

Sie fasste ihn sanft beim Oberarm und drehte ihn dem Spiegel zu.

Ray erblickte einen blondhaarigen Mann in kostbarer Kleidung und mit kaltem, verschlossenem Gesicht. Vor ihm stand ein Unbekannter.

»Wie es scheint, höre ich inzwischen sogar auf den Schwarzen Kodsu«, murmelte er. »Wie hat er es doch ausgedrückt? Lerne endlich, die alte Haut abzuwerfen und dir eine neue zuzulegen

»Was habt Ihr eben gesagt, Herr Ray?«

»Gar nichts, Yui.«

Lächelnd zupfte diese an einem Ärmel die Kordel zurecht.

»Braucht Ihr noch etwas?«

»Ja«, antwortete Ray. »Einen Plan vom Palast, vom Garten und von allen Wirtschaftsbauten.«

Yui sah ihn so erstaunt an, dass ihre Augenbrauen fast unter dem dichten Stirnhaar verschwanden, ging jedoch mit keinem Wort auf die seltsame Bitte ein. »Aber sicher. Sonst noch etwas?«

»Ich würde mir gern alles ansehen.«

»Alles?«

»Alles. Vorratskammern, Keller, Dachböden und dergleichen inbegriffen.«

»Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen«, erklärte Yui, und in ihrer Stimme schwang Stolz auf das weitläufige Anwesen mit, in dem zu arbeiten sie das Glück hatte.

»Das spielt keine Rolle.«

»Dann werde ich Herrn Shirey, den Leiter der Wache, davon in Kenntnis setzen. Die Schlüssel muss ich von der Herrin Fiola besorgen.«

»Aha«, brummte Ray. Als Yui sich nicht rührte, fügte er hinzu: »Das sollten wir am besten gleich erledigen.«

»Ja wollt Ihr denn nicht erst etwas essen?«, fragte sie fassungslos. »Auf Eurem Zimmer oder zusammen mit dem Herrn Statthalter?«

»Nein danke, ich bin nicht hungrig.«

Yui schob die Unterlippe etwas vor, um eine ihrer goldenen Haarsträhnen aus der Stirn zu pusten. Offenbar brachte sie damit größtes Unverständnis zum Ausdruck. Ob ich gegen irgendeine Regel verstoße, die hier für Gäste gilt?, schoss es Ray durch den Kopf. Schließlich drehte Yui sich abrupt um und ging zur Tür. Dort blieb sie noch einmal stehen.

»Dann werdet Ihr auch nicht ...?«

»Was werde ich nicht?«

»Ach nichts«, sagte sie lächelnd. »Es wird ein wenig dauern, bis ich den Plan besorgt habe, fasst Euch also bitte in Geduld. Außerdem ...« Sie stockte, und ihr Blick wanderte zu Rays großem Reisesack, der neben der Tür auf dem Boden lag. Sie beugte sich vor und nahm ihn mit spitzen Fingern auf. »Gehört der Euch?«

»Ja.«

»Ist darin etwas, das für Euch von besonderem Wert ist? Oder kann ich diese Tasche wegwerfen, ohne sie vorher auszupacken?«

»Darum brauchst du dich nicht zu kümmern«, erklärte Ray. »Das mache ich schon selbst.«

»Wie Ihr befehlt, Herr«, erwiderte Yui sofort und verließ nun derart schnell das Zimmer, dass ihr purpurnes Gewand wie ein Fuchsschwanz wirkte.

Ray seufzte schwer. Plötzlich wurde ihm in dem riesigen Raum die Luft knapp. Er trat ans Fenster, das sich jedoch nicht öffnen ließ, denn das Gitter war an die Mauer genagelt.

Anschließend brachte er seinen Reisesack im Schrank unter, in dem bereits jede Menge neuer Kleidung auf ihn wartete. Kaum war das erledigt, fand sich ein weiterer Gast ein.

Durch die Wand betrat ein etwa siebenjähriger Junge das Zimmer. Seine Kleidung schlotterte an ihm und wies ihn als Burschen vom Lande aus, sein Haar war schon lange nicht mehr gestutzt worden und stand nach allen Seiten ab. Auf seinem ungewaschenen Gesicht lag ein mürrischer, unzufriedener Ausdruck. Der Junge tapste barfuß zum Fenster und spähte hinaus, schien jedoch nichts zu entdecken, was ihn gefesselt hätte.

»Ich dachte schon, die geht nie«, spie der Yarudo aus. »Werden jetzt etwa ständig irgendwelche Menschen um dich herumschwirren?«

»Ausschließen würde ich das nicht«, antwortete Ray, während er den Waffenständer ins Schlafgemach hinübertrug und neben das Bett stellte.

»Du bist kaum wiederzuerkennen«, murmelte der Yarudo. »Diese Kleidung ...«

»Am Hofe des Statthalters sollte ich wohl besser nicht in meinen abgetragenen Sachen herumlaufen.«

»Mir gefällt es hier nicht«, erklärte der Yarudo unumwun-
den.

»Mir auch nicht.«

»Auf Dauer kannst du dich hier jedenfalls nicht verstecken.«

»Ich habe auch gar nicht die Absicht, mich zu verstecken«, versicherte Ray und brachte die Yari im Waffenständer unter.

»Immerhin etwas«, erwiderte der Yarudo, setzte sich aufs Bett und ließ die Beine baumeln. »Der Schwarze Kodsu findet dich nämlich sowieso.«

»Das ist mir klar.«

»Weißt du was?«, flüsterte der Yarudo. »Ich habe Angst vor ihm.«

»Und ich verstehe nicht, was er eigentlich will.«

»Ihr hättet niemals nach Agosima gehen dürfen.«

»O doch, das mussten wir«, widersprach Ray. »Obendrein hätten wir sonst nie erfahren, was dort ...«

»Obendrein habt ihr euch jede Menge Schwierigkeiten eingefangen, meinst du wohl. Man hätte euch beinahe umgebracht, und du hast jetzt den Schwarzen Kodsu am Hals.«

Ray hüllte sich in Schweigen. Er würde mit dem Yarudo nicht erörtern, wie gefährlich für ganz Akane das war, was sich in der fernen Provinz Agosima zusammenbraute. Mit Sayunaro hätte er gern darüber gesprochen, doch sein Gefährte war ebendort.

Das Letzte, woran sich Ray erinnerte, war der Kampf am Zehngeistertempel. Dann war ein gewaltiger Schatten aufgetaucht. Der Schwarze Kodsu. Er hatte ihn und Grizzly vor den Beschwörern in Rumung gerettet, die ihnen beiden nach dem Leben getrachtet hatten.

Als Ray wieder zu sich gekommen war, hatte er sich allein im Zirkus des Schwarzen Kodsu befunden, in der Arena ...

Trockenes Laub raschelte unter seinen Füßen, auch ein paar spröde Äste brachen. Sie mussten durch einen Riss in die Manege gelangt sein. Wind fuhr über die leeren Steinbänke. In der Luft baumelten abgerissene Seile von einem Trapez. Sie bewegten sich sanft, fast als würden unsichtbare Gestalten daran herabgleiten. Durch den Spalt drang zudem ein wenig fahles Mondlicht herein, das die Dämmerung jedoch nicht vertrieb.

Auf den Plätzen für die begüterten Gäste saß jemand im dichten Schatten. Im Dunkel machte Ray nur die Augen, eine bleiche Hand, eine Schulter und ein spitzes Knie aus.

»Bist du das, Schwarzer Kodsu?«, fragte er leise.

»Das war dumm«, erklang daraufhin eine Stimme, die den Raum bis hoch zur Zirkuskuppel erfüllte. »Warum musstet ihr unbedingt nach Rumung?«

»Was haben diese Beschwörer vor?«

»Oh, sie haben sich durchaus anspruchsvollere Ziele gesteckt als ihr gewöhnlichen Beschwörer, die ihr euch damit begnügt, gute Geister aus der jenseitigen Welt in diese zu zitieren. Sie wollen nämlich mit den Geistern verschmelzen. Wenn sie könnten, würden sie sogar mit ihnen Kinder zeugen.«

»Aber wozu?«

»Das Übliche. Macht und Reichtum«, antwortete der Geist. »Diese beiden Hebel setzen alles Tun der Menschen in Gang. Mitunter kann auch der Wunsch nach Zufriedenheit ein solcher Hebel sein, diese setzt aber in der Regel Macht und Reichtum voraus.«

»Wo ist Grizzly?«, wollte Ray nun wissen. »Du hast doch uns beide aus Rumung herausgebracht.«

»Stimmt. Aber wo er abgeblieben ist, weiß ich nicht«, sagte der Schwarze Kodsu in gleichgültigem Ton. »Ich habe ihn irgendwo unterwegs rausgeschmissen, schließlich interessiert er mich nicht.«

»Und Sayunaro ...« Ray fühlte sich, als wäre er mit eiskaltem Wasser übergossen worden. »Er sitzt jetzt in Rumung in der Falle! Und ich habe ihn auch noch gedrängt, dort zu bleiben!«

»Falls du die Absicht hast, ihn zu befreien, möchte ich dich daran erinnern, dass du in dieser herrlichen Stadt beinahe deinen letzten Atemzug getan hättest. Wenn ich nicht gewesen wäre ...«

»Wir hätten ihn niemals im Zehngeistertempel zurücklassen dürfen!«

»Steh endlich auf!«, verlangte der Schwarze Kodsu, um dann, als er sah, dass Ray nicht gehorchte, deutlich sanfter hinzuzufügen: »Und beruhige dich bitte!«

»Diese Beschwörer bringen ihn um ...«

»Das werden sie ganz gewiss nicht tun. Im Gegenteil, sie werden ihn hüten wie ihren Augapfel, denn ein größeres Glück könnte es für sie gar nicht geben. Endlich haben sie einen Beschwörer in ihren Reihen, der von einem Shiisan besessen ist. Sie werden einen sehr starken Krieger aus ihm machen.«

»Dann muss ich ihn warnen.«

»Das kannst du dir getrost sparen, schließlich hat dein Freund bereits einen erstklassigen Beschützer!«

In der Tat. Sharh, der Gebieter aller Shiisans, würde es nicht zulassen, dass irgendjemand sich an seinem Geschöpf vergriff.

Trost spendete Ray dieses Wissen nicht.

»Kommen wir jetzt zu uns beiden«, fuhr der Schwarze Kodsu fort. Seine Stimme hallte wie ein Donnerschlag im Zirkus nach. »Du hast mich gerufen, also gilt unser kleiner Handel.«

»Ich habe dich nicht gerufen.«

»Du hast an mich gedacht.«

»Eben! Damit habe ich dich nicht gerufen!«

»Du bist ein Beschwörer. Du weißt genau, welche Kraft deine Gedanken haben.«

Dem konnte Ray nicht widersprechen.

»Unser Handel gilt also«, fuhr der Schwarze Kodsu fort, als Ray keinen Einwand vorbrachte. »Vergiss das niemals!«

»Das werde ich nicht.«

Damit war ihr Gespräch beendet. Die Dunkelheit, in der sich der Schwarze Kodsu verborgen hatte, schwappte aus der Loge in die Manege, ergoss sich über die Sitzbänke, entrollte sich wie eine endlose Stoffbahn schwarzer Seide und türmte sich im Zirkusrund auf. Ray wich zurück. Weicher Stoff berührte seine Knie, zumindest fühlte es sich so an, aber eigentlich war es der Schwarze Kodsu selbst. Der Zirkus verschwamm vor Rays Augen.

Das nächste Mal war er am Ufer eines Flusses zu sich gekommen. Allein. Ebenso allein hatte er seinen langen Rückweg angetreten, nur der Yarudo war gelegentlich aufgetaucht ...

Ein zartes Klopfen an der Tür riss ihn jetzt aus seinen Erinnerungen.

Der Yarudo verschwand sofort. Als Ray die Tür öffnete, stand ein Diener vor ihm, der nicht mehr ganz so jung war.

»Herr Beschwörer, entschuldigt die Störung«, sagte er und verbeugte sich. »Herr Akeno bittet Euch zu sich.«

»Jetzt?«

»Ja. Ich werde Euch zu ihm bringen.«

Ray erinnerte sich zwar ausgezeichnet an den Weg, erhob jedoch keinen Widerspruch. Vermutlich durfte er sich durch dieses Anwesen nur in Begleitung bewegen.

Der Diener brachte ihn zu einer hohen Tür, die mit Vögeln und Blumen bemalt war, öffnete einen Flügel, ließ Ray eintreten und entfernte sich.

Ray fand sich in der Bibliothek wieder.

Herr Nagateru saß an einem Schreibtisch vor einem Bücherschrank, der bis hoch zur Decke reichte, und tupfte sich erschöpft mit einem schneeweißen Tuch die schweißbedeckte Stirn ab. Vor ihm lagen allerlei Papiere.

»Ah, unser neuer Beschwörer«, begrüßte er Ray. »Warum brauchst du einen Plan des Anwesens?«

»Damit ich mir über seinen Aufbau klar werde.«

Hier werde ich wohl keinen Schritt tun können, dachte Ray, ohne dass gleich das ganze Haus darüber Bescheid weiß.

»Und warum willst du dir sämtliche Räumlichkeiten ansehen?«, setzte der Mann das Verhör fort.

»Um sicher zu sein, dass sich nicht irgendwo ein gefährlicher Geist eingenistet hat. Außerdem müssen möglicherweise einige Schutzzauber erneuert werden.«

»Was für ein löblicher Eifer«, giftete Herr Nagateru. »Kaum im Haus, stürzt er sich in die Arbeit.«

»Gibt es daran etwas auszusetzen?«, fragte Ray barsch zurück, während er ohne Aufforderung auf dem Stuhl vorm Schreibtisch Platz nahm.

»Wir sind bisher bestens ohne dich ausgekommen«, erwiderte der Sekretär kalt und nahm sich erneut seine Papiere vor.

»Trotzdem werde ich mich davon überzeugen, dass alles seine Ordnung hat.«

»Mein Junge«, brachte Herr Nagateru daraufhin mit größter Anstrengung heraus, »man hat dich in dieses Haus aufgenommen, dir Wasser für ein Bad und frische Kleidung zukommen lassen, obendrein hast du eine äußerst aparte Dienerin erhalten. Verbringe deine Zeit also bitte mit unbeschwerten Dingen, statt uns mit deinen sonderbaren Ansprüchen das Leben schwer zu machen!«

»Ich bin ein Beschwörer, kein Schoßhündchen«, erwiderte Ray unumwunden. »Deshalb werde ich mich bestimmt nicht dazu hergeben, diesem Haus als weitere Zierde zu dienen.«

»Es steht dir jederzeit frei, dorthin zurückzukehren, wo du hergekommen bist«, sagte Herr Nagateru und knetete seine Nasenwurzel, ehe er sich über das nächste Schriftstück beugte. »Vergiss dann bloß nicht, vorher das Zeichen des Beschwörers wieder abzugeben!« Grinsend blickte er auf das goldene Stück, das an Rays Obergewand prangte. »Es ist deutlich wertvoller als du und deine Gabe.«

Am liebsten hätte Ray das Wappen nun abgerissen und auf den Schreibtisch geknallt, mitten auf all die Papiere, die der Herr Sekretär so angelegentlich durchging.

»Ein Wappen macht noch längst keinen guten Beschwörer aus«, erwiderte er stattdessen ruhig. »Das brauche ich Euch doch nicht zu erläutern, oder?«

»Und ich brauche dir wohl nicht zu erläutern, dass nur Taten zählen«, stieß Nagateru aus und ließ sich gegen die Lehne des Stuhls zurücksacken. »Soweit mir bekannt ist, kannst du dich bisher aber nicht mit Heldentaten brüsten.«

»Das liegt schlicht und ergreifend daran«, hielt Ray mit kaltem Lächeln dagegen, »dass niemand zu würdigen weiß, was ich bereits getan habe.«

In dieser Sekunde wurde die Tür aufgerissen, und der Statthalter stürmte mit ausgreifendem Schritt herein.

»Zwei gute alte Bekannte ...«, bemerkte er spöttisch, »... im trauten Gespräch vereint.«

»Gestattet mir«, sagte Ray, während er sich voller Ehrfurcht erhob, »Euch für das Wappen des Beschwörers zu danken.«

»Es stammt von deinem Vorgänger«, erklärte Herr Akeno sorglos und bedeutete Ray, sich wieder zu setzen.

»Ihr hattet einen Beschwörer in Euren Diensten?«

Das war nichts Ungewöhnliches. Beschwörer verdingten sich häufig als eine Art Leibwache für reiche Menschen.

»Wundert dich das?«, erkundigte sich Akeno von oben herab, während er ebenfalls in einem Lehnstuhl Platz nahm. Die Edelsteine an seiner Kleidung sprühten dabei Funken.

»Nicht im Geringsten. Allerdings widerspricht es den Gesetzen des Ordens, denn wir sollen eigentlich nicht in den Diensten weltlicher Herrscher stehen.« Ray dachte kurz an Rekar, der für den Bruder des Statthalters in Datido gearbeitet hatte, und auch an Soburo, der angedeutet hatte, wie sehr adlige Herrschaften die dauerhaften Dienste eines Beschwörers zu schätzen wüssten. Und er selbst war nun auch bei Hofe gelandet ... »In meinem Fall ist es ja auch nur möglich, weil der Orden mir mein Zertifikat verweigert.«

»Dein Orden dürfte dir nicht nur in dieser Frage einen Bären aufgebunden haben«, behauptete Herr Nagateru und setzte einen schwungvollen Schnörkel unter ein weiteres Papier.

»Man kann jedes Gesetz umgehen, also auch die, welche der Turm des Ordens erlassen hat«, versicherte Akeno und wechselte mit seinem Vertrauten einen wissenden Blick.

»Ich könnte mich beispielsweise an deinen Orden wenden und erklären, dass der Statthalter von Yugora umgehend einen Beschwörer benötigt, der einen gefährlichen Geist vertreibt«, trällerte Nagateru. »Dann würde Warra jemanden schicken, aber wie lange der Mann braucht, um mit der Aufgabe fertig zu werden, steht nirgends geschrieben. Vielleicht zieht sich das ein Jährchen hin, vielleicht aber auch zwei oder drei.« Er lächelte durchtrieben. »Glaub mir, nicht einmal der Turm würde ihn drängen, wenn es um das Leben eines Statthalters geht. Obendrein ist auch der Orden dem Geld gegenüber nicht gleichgültig, und selbstverständlich zahlen wir gut.«

Macht und Reichtum, rief sich Ray innerlich grinsend die Worte des Schwarzen Kodsu in Erinnerung.

»Möglicherweise lägen die Dinge bei uns allerdings doch ein wenig anders«, räumte Herr Nagateru unvermittelt ein. »Wir haben offen gegen den Orden gehetzt, deshalb wird er vermutlich selbst dann keinen Finger krumm machen, wenn hier ein ganzes Shiisanenheer einfällt.«

»Das bereitet mir keine Sorge«, erwiderte Akeno gelassen, zog zwei kristallene Kugeln aus der Tasche und ließ diese derart geschickt durch seine Finger gleiten, dass eine feine Melodie entstand. »Doch zurück zu unserer Sache! Ich habe die Absicht, mich nach Warra zu begeben.«

»Wann hast du diese Entscheidung denn getroffen?«

»Nach dem Gespräch mit Ray. Sein Inhalt ist dir bekannt.«

»Das ist Wahnsinn«, zischte Nagateru. »Der Orden wird dir ins Gesicht lachen. Und mit gutem Grund. Obendrein wird er behaupten, du habest den Verstand verloren oder wollest, schlimmer noch, Zwist unter den Beschwörern säen.«

»Nagateru, ich bitte dich«, erwiderte Akeno. »Du kannst doch nicht allen Ernstes von mir verlangen, die Hände in den Schoß zu legen.«