Erikson, Steven Rejoice

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Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andreas Decker

 

© Steven Erikson 2018
Titel der englischen Originalausgabe:
»Rejoice« bei Gollancz, London 2018
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Guter Punkt, Kim Hoang unter Verwendung von Motiven von Gettyimages

 

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Widmung

Für Mark Karasick, der die erste Fahrt auf dem Triumphwagen geteilt hat.

Personen

Fiktiv:

Samantha (Sam) August – Autorin von Science-Fiction-Romanen
Dr. Hamish Drake – ihr Ehemann
Ronald Carpenter – ebenfalls Autor von Science-Fiction-Romanen

 

Raine Kent – Präsident der Vereinigten Staaten
D(iana) K(imberly) Prentice – Vizepräsidentin
Dr. Ben Mellyk – Wissenschaftsberater des Präsidenten
Daniel Prester – Sicherheitsberater, Heimatschutzbehörde
Kenneth J. Esterholm – Direktor der CIA
Adam Riesling – Astronaut

 

Konstantin Milnikow – Präsident der Russischen Föderation
Anatoli Petrow – Kosmonaut im Ruhestand

 

Xin Pang – Staatspräsident der Volksrepublik China
Liu Zhou – Direktor des chinesischen Raumfahrtprogramms
Hong Li – Astronaut der Luna-Mission
Hauptmann Shen – Kommandant der Luna-Mission

 

Lisabet Carboneau – Premierministerin von Kanada
Alison Pinborough – Wissenschaftsberaterin der Premierministerin
Mary Sparrow – Ministerin für Nationalparks
Will Camden – Minister für natürliche Ressourcen
Marc Renard – kanadischer Astronaut

 

Joey Sink – Blogger und Verschwörungstheoretiker (Kitchen Sink News)
Annie Mouse – Whistleblower beim Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA
King Con – (Aliasname) Verschwörungstheoretiker

 

Joakim Malleat – Kardinal im Vatikan, Büro für öffentliche Kommunikation
Ira Levy – Rabbi in New York City
Richard Fallow – Televangelist
Abdul Irani – Imam

 

Simon Gist – Selfmademan und Industrieller, Kepler Industries
Jack Butler – Chefingenieur, Kepler Industries
Mary Lamp – PR-Direktorin bei Kepler Industries
Douglas Murdo – Medientycoon
Chrystal Murdo – seine Ehefrau
Maxwell Murdo – sein Sohn
James Adonis – Milliardär
Jonathan Adonis – Milliardär
Lois Stanton – Privatsekretärin der Adonis-Brüder

 

Kolo – Kommandant einer Todesschwadron in der Republik Kongo
Neela – Kolos Sklavin
Ruth Moyen – Soldatin bei den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF)
Casper Brunt – Waffenhändler
Anthony »Tony« – Bürger von L.A.

 

»ADAM« – KI Kommunikationsbeauftragter der Interventionsdelegation

Nichtfiktiv (laut eigener Aussage):

Robert J. Sawyer

Einleitung

Auf der Erde gibt es keine außerirdische Präsenz und es gab sie auch nie.

Es ist wichtig, dass man das auch weiterhin glaubt.

Aus folgendem Grund:

Prolog …

Der Weltraum war in Bewegung. Im Asteroidengürtel auf seiner Bahn zwischen Mars und Jupiter erschienen kleine Objekte wie Mückenschwärme, die aus einem verborgenen Teich aufstiegen. Keines davon war größer als ein durchschnittlicher SUV, aber im Lauf der Zeit vermehrten sich diese Maschinenwolken. Es dauerte nicht lange, dann gab es Hunderte dieser Schwärme mit Zehntausenden Objekten.

Diese Wolken, die größtenteils im Dunkeln lagen, wenn sie nicht gelegentlich das Licht der fernen Sonne reflektierten, strebten vom Punkt ihres Ursprungs fort. Mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit setzten sie sich zwischen den Asteroiden in Bewegung. Andere verließen schnell das relativ dicht gedrängte Geröllfeld des Gürtels. Einige rasten in Richtung Mars.

Im Verlauf der nächsten Stunden und Tage ließen sich die Maschinenwolken auf ausgewählten Felsbrocken nieder, von denen einige reiche Metallvorkommen aufwiesen; andere waren kometenähnlich und verfügten über große Mengen von gefrorenem Wasser, Methan, Ammoniak und eine kohlenstoffhaltige Hülle aus Weltraumstaub. Auf jedem dieser Asteroiden drängten sich die Objekte allein auf einer Seite. Sie fuhren Fasern aus, mit deren Hilfe sie sich verbanden. Ein Dutzend weitere Wolken strömten zu dem größten Asteroiden in der unmittelbaren Umgebung. Auch sie verbanden sich miteinander, nur um dann kleinere Maschinen auszuspucken. Diese Maschinen fingen an, Felsen zu verschlingen.

Jenseits des breiten Geröllstreifens, den die Geburt und der Tod von Planeten, die Totgeburt von Monden sowie Einschläge und Zusammenstöße von vier Milliarden Jahren hinterlassen hatten, eilten einsame Maschinenwolken durch die Dunkelheit und jagten Kometen.

Die Wolken aus der der Sonne zugewandten Seite des Asteroidengürtels näherten sich dem Mars und dann Deimos, dem kleineren der beiden Monde des Planeten. Wie ihre Artgenossen landeten sie auf der staubigen, kraterübersäten Oberfläche, sammelten sich auf einer Seite des unförmigen Mondes und verbanden sich miteinander.

Nichts auf der Erde oder in ihrem Orbit verfügte über die Möglichkeiten, diese Geschehnisse zu bemerken.

Das geschah erst später, als die Maschinen damit anfingen, die Mechanik von Umlaufbahnen auseinanderzunehmen, und Asteroiden und Kometen von ihren uralten Pfaden abwichen, um mit beträchtlicher Geschwindigkeit auf das Herz des Sonnensystems zuzuhalten. Und als Deimos den Orbit veränderte, um langsam und stufenweise mit Phobos zu kollidieren.

Allerdings erregte das auf der Erde nur bei wenigen Aufmerksamkeit.

Phase eins

Zählt bis fünfzig

(Zündung)

Kapitel eins

Victoria, British Columbia, Kanada, 19. Mai, 14:19 Uhr

Vor der Bar in der Cook Street standen drei Raucher. Eine Frau trug einen Pappkarton mit alter Kleidung zum Secondhandshop. Auf der anderen Straßenseite kamen gerade drei Anstreicher bepackt mit Reparaturmaterial für Trockenmauern aus dem Baumarkt. Ein Mann ging in Richtung Pandora Avenue und dem Gemüseladen an der Ecke.

Die Straße selbst war stark befahren und trotz der mittigen Abbiegespur verstopft. Auf der Spur nach Süden kam der Verkehr nur noch im Kriechtempo voran, da die Wagen vor der Ampel auf grünes Licht warten mussten, bevor sie auf die Pandora abbiegen konnten. Aus der Pandora war gerade ein UPS-Lieferwagen eingebogen und fuhr in nördliche Richtung.

Insgesamt elf Kameras zeichneten den Vorfall in Form von Fotos und Videos auf. Als die Zeugen später von Journalisten und der Polizei befragt wurden, gab es einen außergewöhnlich hohen Grad an Übereinstimmung. Bei Beginn der offiziellen Untersuchung breitete sich der Vorfall bereits im Internet aus.

Eine Frau mittleren Alters war die Cook auf der Seite mit der Bar und dem Secondhandshop hinuntergegangen. Sie war gut gekleidet gewesen, ihr Schritt selbstsicher, die Hände hatten in den Taschen des dunkelgrauen, mittellangen Mantels gesteckt, und ihr rotes Haar war lang genug gewesen, um von dem aus Süden kommenden Wind ergriffen zu werden, andererseits aber nicht lang genug, um hinter ihr herzuwehen. Ihr Gesicht war auf eine seltsame Weise eingängig – wie sich die Zeugen in unmittelbarer Nähe erinnerten. Hohe Wangenknochen, flache Wangen, ein breiter Kiefer, ein Gesicht, das nicht viel Sonne abbekommen hatte.

Am Himmel hatte es ein paar Wolken gegeben, die von Sooke Hills im Westen kamen, darum hatte zuerst niemand dem Schatten, der sich über die Straße senkte, Beachtung geschenkt.

Einer der Raucher, ein Mr. John Allaire, saß im Rollstuhl. Seine Haltung verlieh ihm das Privileg, die erste Person zu sein, die gesehen hatte, wie sich die Wolken am Himmel auflösten und den leicht gekrümmten Umriss von etwas Großem und Massivem freigaben.

»Wie die Unterseite einer Untertasse aus Porzellan«, sagte John. Gemessen am Verlauf seines bisherigen Lebens war das ein entscheidender Augenblick für ihn. Die Dinge waren schon eine ganze Weile ziemlich beschissen gewesen. Das Rauchen zerstörte seine Beine unterhalb der Knie. Das Trinken schadete seiner Leber. Er war dreiundsechzig Jahre alt und lebte von Sozialhilfe. Er hatte noch nie in der Lotterie gewonnen.

»Wie die Unterseite einer Untertasse aus Porzellan. Die fing dann in der Mitte an zu glühen. Genau im Zentrum. Unvorstellbar hell. Ich musste meine Augen beschatten, aber ich konnte trotzdem den Lichtstrahl sehen, der in die Tiefe fuhr. Direkt auf diese Frau zu. Die stand keine sechs Meter von mir entfernt. Sie hat überhaupt nicht mitbekommen, was sie da getroffen hat.«

Margot Revette stimmte ihm zu. »Sie ging einfach nur ihres Weges. Dann kam das Licht und verschluckte sie. Als es erlosch, war sie ebenfalls weg. Ich wollte nur ein paar alte Kleider wegbringen. Und ein altes Paar Stöckelschuhe – unvorstellbar, dass ich die überhaupt jemals gekauft habe. Die sind nicht für menschliche Füße gemacht. Ich muss den Verstand verloren gehabt haben. Aber secondhand? Da besteht immer die Chance, dass die Leute so etwas kaufen.«

»Das Licht blitzte auf«, erzählte Rick Shultz. »Wir kamen gerade aus dem Laden, Jack, Naadi und ich, trugen das ganze Zeugs zum Lastwagen. Das verfluchte Licht zuckte von diesem verfluchten UFO nach unten und – zack! – weg war die Frau. Dann faltete sich das Schiff einfach zusammen und verschwand.«

»Heilige Scheiße, ja«, fügte Jack hinzu. »Als wäre sie eingeäschert worden.«

»Faltete sich zusammen und verschwand«, wiederholte Rick. »Das verdammte Ding ist nicht einmal weggeflogen.«

Wer war die Frau?

Das wusste keiner. Man würde darauf warten müssen, dass jemand als vermisst gemeldet wurde. Das würde möglicherweise einen oder zwei Tage dauern, und falls die Frau allein gelebt hatte, möglicherweise auch viel länger.

Keine der Handyaufnahmen hatte ihr Gesicht gut eingefangen. Das war wirklich bedauerlich, andererseits aber auch nicht überraschend. Jedermann filmte das UFO.

 

Dr. Hamish Drake arbeitete zu viel. Darin waren sich alle einig, die ihn kannten, vor allem seine Frau. In den vergangenen fünf Jahren war Hamish einer von nur drei Allgemeinmedizinern im Großraum Victoria gewesen, der neue Patienten annahm. Es herrschte gewissermaßen eine Ärztekrise.

An diesem Nachmittag stahl er sich gerade ein paar Minuten zwischen zwei Patienten, um sich durch einen Stapel neuer Untersuchungsergebnisse zu kämpfen, als seine Rezeptionistin Nurjehan Aziz sein Büro betrat. Von dem fehlenden Anklopfen überrascht, spähte Hamish über den Rand seiner Lesebrille. Nurjehan war ganz blass, ein Anblick, der ihm vertraut war, vor allem, wenn bei langjährigen Patienten schlechte Ergebnisse reinkamen.

Der Tod hatte eine ganz bestimmte Art, die Lebenden zu verfolgen, etwas, das Nurjehan und Hamish nur zu gut verstanden. Er kündigte sich durch Blässe an, wenn einem das Blut aus dem Gesicht wich. Hamish erkannte den Schatten auf Nurjehans Miene sofort, und aus den Tiefen seines Inneren stieg ein kühles, leidenschaftsloses Entsetzen nach oben, während er in seiner Erinnerung nach jemandem kramte, der in Schwierigkeiten war – jemand, den er vergangene Woche behandelt, bei dem er Untersuchungen angeordnet hatte, jemand …

»Es ist etwas passiert«, sagte Nurjehan.

Hamish runzelte die Stirn. Hier ging es um etwas anderes. Sie zitterte. Er hatte seine Rezeptionistin noch nie so durcheinander gesehen. Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. »Schließen Sie die Tür. Erzählen Sie.«

Sein ruhiger, wohlklingender Tonfall konnte sie nicht beruhigen. Stattdessen zuckte sie zusammen.

»Ich war online … Entschuldigen Sie …«

»Nicht schon wieder. Nurjehan, wenn Sie mir nicht sagen wollen, dass gerade ein Atomkrieg ausgebrochen ist, werde ich …«

»Da war ein UFO. Hier in Victoria. Überall auf Facebook und YouTube gibt es Aufnahmen davon. Ich habe auf der CHEK-Nachrichtenseite nachgesehen. Die Polizei hat das Foto einer Person gepostet, die einfach verschwunden ist.«

»Ein UFO

Nurjehan hielt ihm ihr Handy hin, um ihm das von ihr aufgerufene Bild zu zeigen. Zu nahe. Er konnte kaum mehr als eine verschwommene Gestalt auf einer mutmaßlichen Straße ausmachen. Er setzte wieder die Brille auf und beugte sich vor.

»Das ist Sam.«

Wie aus der Ferne hörte er seine Rezeptionistin sagen: »Dieser Lichtstrahl. Aus dem UFO. Die ganze Sache wurde aufgezeichnet.«

»Das ist doch lächerlich!« Hamish griff nach seinem Handy. Er betätigte die Schnellwahltaste seiner Frau. Sofort kam die Antwort. Verbindung nicht möglich. »Das hat nichts zu bedeuten«, murmelte er und wählte erneut. »Trotz ihrer Onlinepräsenz geht sie nur selten dran. Manchmal vergisst sie sogar, das verdammte Ding anzustellen.« Das gleiche Resultat. Er steckte das Handy in die Tasche und stand auf. »Zeigen Sie mir das Video. Ich kann das nicht glauben.«

 

Das Polizeirevier war keine drei Blocks entfernt. John Scholes legte das Telefon weg. Er ignorierte die blinkenden Lichter der verschiedenen Leitungen, die nun alle auf Warteschleife gestellt waren, stand vom Schreibtisch auf und trat ans Fenster.

Unten wälzte sich der Verkehr vorbei; er schien eine neue Dringlichkeit zu haben, aber vermutlich war das nur Einbildung. John schaute auf. Unschuldige Wolkenfetzen trieben vorbei, und ein bedeutendes Stück höher zog ein heller Fleck über ein Stück Himmel. Ein Wasserflugzeug setzte zur Landung im Hafen an.

»Das klang unerfreulich«, sagte eine Stimme hinter ihm.

»Dave«, sagte er anstelle eines Grußes, ohne sich umzudrehen. »Ja, war es auch. Wir haben eine positive Identifizierung. Das war ihr Ehemann am Telefon.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Ich bin überrascht, dass ich es nicht sofort erkannt habe. Die Aufnahme war verschwommen, das ist wahr, aber diese roten Haare …«

Sein Kollege und Partner trat neben ihn. »Trotzdem wird das irgendein Schwindel sein.«

John nickte. »Jetzt vielleicht erst recht.«

»Was meinen Sie?«

»Die Frau. Samantha August. Die Science-Fiction-Autorin. Sie wissen schon, Abgründe, die Vorlage für den Film. Dieser Roman und das andere Zeugs. Eine Vloggerin. Politik. Soziale Gerechtigkeit.«

Dave schnaubte. »Eine SF-Autorin wird von einem UFO zerstrahlt? So etwas kann man nicht erfinden.«

John warf seinem Partner einen mürrischen Blick zu. »Wie ich gerade ihrem Mann erklärt habe, geht es hier um eine vermisste Person und nicht um eine Tote. Es gibt keinerlei Beweise, dass sie in Asche verwandelt wurde.«

»Hören Sie sich selbst eigentlich zu? Beweise? Welche Beweise denn? Darum geht es doch, wenn man etwas verbrennt, oder nicht?« Er deutete auf die Straße. »Ein Windstoß. Puff! Alles weg.«

»Niemand hat sie verbrennen sehen. Sie ist einfach verschwunden. Das Licht verschluckt sie, dann ist es weg und sie mit ihm. Mannomann.« Er hielt inne. »Ich habe mir das verdammte Video schon mindestens tausend Mal angesehen.«

»Noch andere Sichtungen?«, wollte Dave wissen.

»Sichtungen, Entführungen, Analsonden – die kriechen alle aus dem Gebüsch.«

»Aber es gibt nicht mehr auf Video.«

John schüttelte den Kopf. Dann zuckte er mit den Schultern, als wollte er sein Urteil revidieren. »Das Netz ist voll davon.«

»Klar. Körniger, verschwommener Mist im HD-Zeitalter. Primitiv gemachte Photoshop-Scheiße.« Dave überlegte. »Früher oder später wird alles widerlegt.«

John zuckte erneut mit den Schultern. In Wahrheit hatte er zu diesem Thema keine ausgeprägte Meinung. Die Tage waren auch so schon übermäßig gefüllt, und die in seinem Verstand wachsende Dunkelheit machte seine Nächte zur Qual. Ein alter Veteran mit vielen Dienstjahren hatte das mal als »den Weg« bezeichnet, und John hatte ihn nun betreten. Der Weg … er führte fort vom Glauben an das Gute; wenn es um die Menschheit ging, erwartete man nichts mehr, abgesehen vom Schlimmsten. Eine Sammlung der Trauer, als würde man den Wäschesack mit der eingesammelten schmutzigen Kleidung in die Zimmerecke treten. Und in der Zwischenzeit machte man einfach mit dem Alltag weiter.

Am Ende des Weges würde ihm alles egal sein.

Aber vielleicht gab es noch andere Möglichkeiten, wie man das alles bewältigen konnte. Er würde nicht aufhören, danach zu suchen, das war ihm klar, bis er … bis er schließlich aufgab.

»Soll ich ein paar der Anrufe übernehmen?«

John nickte. »Das wüsste ich zu schätzen, Dave.«

»Die Sache hat Ihnen ganz schön zugesetzt.«

Das hatte sie in der Tat. Sie erforderte einen Sinneswandel, den er einfach nicht in sich hatte. Aber ohne ihn hatte er gar nichts. Er wandte sich an seinen Partner. »Ihr Mann war ziemlich durcheinander.«

Aber Dave saß bereits am Telefon und nahm den nächsten hysterischen Anruf entgegen.

 

Ganz egal, welches Zimmer Hamish auch betrat, sie war im Haus. Als würde er ihrer Spur folgen, nur dass seine Frau immer außer Sicht blieb, weil sie gerade um die Ecke bog oder die Tür schloss. Auf der Treppe zu ihrem Dachbüro roch er abgestandenen Zigarettenrauch, aber das war ein alter Geruch, und die kaum wahrnehmbare Wolke über den mit Teppich ausgelegten Stufen war nichts anderes als Staub, erhellt von dem durch das Dachfenster einfallenden Sonnenlicht.

Der Laptop für zu Hause lag zugeklappt auf dem Schreibtisch, eingerahmt von ihren Notizen, einer Tasse mit abgestandenem Kaffee und dem überquellenden Aschenbecher; die blaue Betriebsanzeige des Geräts pulsierte langsam.

Etwas von der Präsenz, zu der sie geworden war, hatte Hamish angesteckt, und er wanderte wie ein im Haus gefangener Geist umher, und das Haus selbst war in einer Erinnerung gefangen, die bereits schal und leblos wurde.

Seit dreiunddreißig Jahren verheiratet, seit neunundzwanzig Jahren eine eigene Arztpraxis. Keine Kinder. Sie war nicht die Art von Frau, die Gewohnheiten und Vergnügungen opferte. Außerdem erforderten Kinder Zeit, Energie und Jugend, das bedeutete lebenslänglich, und man begab sich auch noch freiwillig in diese Zelle. Das hatte sie mit dem üblichen herausfordernden Funkeln in den Augen gesagt, als würde gleich ein raues, vermutlich bitteres Lachen folgen. Trotz seiner ganzen Sensibilität und Ausbildung hatte Hamish immer Probleme gehabt, seine Frau zu deuten. Sie hatte Ecken und messerscharfe Kanten und die Angewohnheit, auf ihnen zu tanzen. Ein Charakterzug, der zu einer professionellen Persönlichkeit entwickelt worden war. Ihr Vlog Here Now wurde geliebt und gehasst, je nachdem, auf welcher Seite des politischen Grabens man stand. Sie war furchtlos, und viele Leute auf der ganzen Welt konnten furchtlose Frauen nicht ausstehen.

Der Festnetzanschluss hatte geläutet, das antiquierte Geräusch überraschte Hamish jedes Mal. Der Laut war beharrlich und seltsam kalt. Vermutlich war es ihr Agent gewesen, und ja, vielleicht hätte er ein paar Worte verdient gehabt, aber Hamish überließ das dem Anrufbeantworter.

Ihre Genre-Kameraden würden auf ihrer Facebook-Seite sein, würden ihren Twitter-Feed mit endlosen unbeantworteten Fragen und Bitten um Informationen füllen, egal von wem. Sie würden hektisch an der Tür von Here Now klopfen. Sollten sie miteinander reden. Abgesehen von der nüchternen Verlautbarung der Polizei und den vielen aufgenommenen Interviews mit den Zeugen gab es eigentlich nichts mehr zu sagen. Sie war weg, aber weg war jetzt ein Wort mit tausend möglichen Bedeutungen.

Die Dämmerung war hereingebrochen, und da im Haus keine Lampe eingeschaltet war, kroch das Zwielicht in alle Ecken und ließ jedes Detail im Wohnzimmer, in dem er sich schließlich zusammengesunken in seinem Ledersessel wiedergefunden hatte, grobkörnig erscheinen. Er hatte sich die Videos angesehen, die das Verschwinden seiner Frau dokumentierten. Die Entführung? Die Vernichtung? Es hätte eine Szene aus Dutzenden SF-Filmen und Fernsehserien sein können. Eine dieser wackeligen Handaufnahmen, die vor ein paar Jahren so in Mode gewesen waren und nun ein Comeback geschafft hatten.

Sie hätte mittlerweile angerufen. Sich zu melden war wichtig, wo es nur sie beide gab; aber nicht mit besitzergreifender Leidenschaft. Es war mehr die vertraute Berührung wohlbekannter Leben, was man üblicherweise miteinander teilte: drollige Tiefstapelei, sardonische Kommentare und eine Handvoll ehrlich gemeinter Phrasen. Ihre private Sprache.

Eine Sprache, die er mit niemandem teilen konnte. Nicht mehr, vielleicht nie wieder.

Hamish Drake saß im verblassenden Licht im Wohnzimmer und hatte keine Ahnung von dem Chaos auf den Online-Fanseiten. Da waren die verbissene Ungläubigkeit und der Schock bei vielen ihrer Schriftstellerkollegen sowie die frohlockenden religiösen Fundamentalisten, die sich über den Zorn Gottes und den einer Frau zustehenden Platz in der Welt ausließen. Im Äther hatte ein Krieg begonnen, in dessen Mittelpunkt eine Frau stand, die nicht länger da war.

Und natürlich war da die weitverbreitete hartnäckige Überzeugung, dass die ganze Angelegenheit ein Schwindel war, eine PR-Aktion – schrieb sie nicht gerade an einem UFO-Roman?

Davon wusste ihr halbes Dutzend Testleser aber nichts – sie hatte ungefähr ein Drittel von einem dystopischen Thriller fertig, der in einer weit entfernten Zukunft spielte. Die Arbeit war langsamer geworden, aber ein paar Seiten tröpfelten noch immer ein. Man war (untereinander) der Meinung gewesen, dass sie müde geworden war, vielleicht sogar die Nase voll hatte. Dreißig veröffentlichte Romane, drei Filmadaptionen, zwei Fernsehserien, von der eine noch lief. Ein Vlog, das berüchtigt dafür war, für Aufruhr zu sorgen. Ihre Geschichten waren stets bösartig, die Worte so scharf wie ein Skalpell; man bemerkte nie, dass man blutete, bis man sah, wie sich die Haut teilte und die Eingeweide herausquollen. Ihre Vlogs waren genauso, und alles wurde präsentiert mit einem süßen Lächeln.

Mit anderen Worten: der übliche brillante, wütende Scheiß. Sam August, Feministin, Humanistin, gelegentliche Satirikerin und Essayistin, niemand, mit dem zu spaßen war – und nein, sie schrieb keinen dämlichen UFO-Roman.

Weg. Verschwunden, entführt, verbrannt, vermisst, tot, lebendig, tot, lebendig, tot …

In dieser Nacht blieben die Lampen im Haus aus. Die Morgendämmerung fand einen Mann, der zusammengesunken in seinem Ledersessel saß, das Gesicht in den Händen vergraben, und dessen Körper von stummer Trauer geschüttelt wurde.

Kapitel zwei

»Was ist an der Zukunft schon zu fürchten – mal abgesehen vom Unbekannten, dem wir völlig schutzlos und verletzlich gegenüberstehen?«

Samantha August

Als Kind war sie über die Abdeckung des Swimmingpools gelaufen und ausgerutscht. Einen Tag später war sie im Krankenhaus ohne jede Erinnerung an den Vorfall aufgewacht. Das Bewusstsein hatte einen Seitenschritt gemacht. Wo es hingegangen war, diese länger andauernde Statik, dieses weiße Rauschen oder, genauer gesagt, sein Fehlen, blieb ein Geheimnis. Die Neurologen sprachen später von Kompartimentierung. Das Bewusstsein, so ihre Erklärung, braucht Erinnerung, braucht die Struktur, auf der Erfahrung aufgebaut ist, denn Erfahrung ist der Muskel unseres Ichs. Eine Gehirnverletzung lässt sich damit vergleichen, dass man einem dieser alten Fernsehapparate einen Tritt versetzt. Das Bild flackert und baut sich neu auf. Vielleicht gibt es eine Lücke zwischen der letzten empfangenen Szene und der neuen. Aber wenn alles gut geht, läuft der Betrieb nahtlos weiter.

Sie wollte eine Zigarette. Ein tief sitzendes Verlangen, sämtliche körperlichen Alarmsignale schlugen an. Die erniedrigende Realität der Sucht war eine lohnende Investition in Demut. Daran glaubte sie fest. Der Großteil der Kommunikation zwischen Körper und Geist blieb verschwommen und trieb in den unbewussten Tiefen autonomer Notwendigkeiten. Das Bedürfnis zu atmen definierte sich selbst in jedem Augenblick. Hunger meldete sich mit Magenknurren, der Gedanke an ein perfektes Schinkensandwich ließ Speichel fließen. Bei grellem Licht oder einem unvermittelt auf einen zurasenden Gegenstand in unmittelbarer Nähe schlossen sich sofort die Augen. Eine Liste der offensichtlicheren Arten von Reizaustausch. Andere hingegen waren viel subtiler.

Bewusst nicht wahrzunehmen.

Aber Koffeinentzug verursachte Kopfschmerzen. Nikotinentzug war so etwas Ähnliches wie ein Kratzen im Hals. Beide hatten allgemeine Gereiztheit zur Folge, das wortlose Verlangen wartete darauf, artikuliert zu werden. Demut war nützlich, vor allem für einen Schriftsteller. Sie half dabei, die Welt auf völlig andere Weise zu sehen oder sie sich so vorzustellen, und machte die Erfahrung allgemein weniger unerfreulich.

Alle diese gegensätzlichen Ansichten, wie die Welt bei diesen vielen launischen Mechanismen menschlicher Interaktion funktionierte: Überzeugungen, Politik, Glaube, Gesinnungen, Meinungen. Für den Süchtigen war Rücksichtnahme die erste Selbsttäuschung, die gehen musste. Das riss einem den Stock aus dem Arsch.

Also da war das Verlangen. Nach einer Zigarette. Vermutlich zerrte sie das zurück ins Bewusstsein und war da, bevor sie die Augen öffnete, die sie für den Moment geschlossen hielt. Ihre erwachenden Sinne vermittelten ihr nur wenig anderes. Keine Geräusche, kein besonderer Geruch. Die Fläche unter ihrem Rücken war weder hart noch weich. Sie war fraglos vorhanden, hatte aber keinerlei störenden Einfluss auf die Formen ihres Körpers. Sie passte sich einfach an.

Also eine vernünftige Matratze.

War das Licht auf ihren noch immer geschlossenen Lidern? Ja, aber es war nicht aufdringlich.

»Ach, scheiß drauf«, murmelte sie, öffnete die Augen und setzte sich auf.

Der Raum war klein und allem Anschein nach ohne Tür. Das einzige Möbelstück war das Bett unter ihr. Das Licht war gedämpft und allgegenwärtig. Sie konnte seine Quelle nicht entdecken, und es warf auch keine Schatten.

Keine der offensichtlichen Erklärungen passte zu der Umgebung. Das war kein Krankenhauszimmer. Es fehlte die Schmuddeligkeit eines mit zu geringen Mitteln ausgestatteten Ortes, an dem man leidende Menschen sammelte, um sich um sie zu kümmern. Sie hatte keine Infusion. Da war kein billiger Fernseher in einer Metallhalterung hoch oben an der gegenüberliegenden Wand. Das Bett hatte keine Laken, und sie war noch immer bekleidet. Allerdings fehlte ihr Mantel. Und vor allem war es viel zu still.

»Hallo?«

»Willkommen, Samantha August.« Die Stimme war männlich und wohlmoduliert. »Wie fühlen Sie sich?«

Sie konnte die Quelle der Stimme nicht entdecken. Also blickte sie sich im Raum um und suchte nach einem Lautsprechergitter. Die weißen Wände enthüllten nichts; nicht an der Decke und, soweit sie sehen konnte, auch nicht auf dem Boden. »Wo ist meine Laptoptasche? Wo ist mein Mantel?« Und ich brauche eine verfluchte Zigarette, war sie versucht hinzuzufügen, aber diese Haltung brachte einem heutzutage nur wenig Mitgefühl, also wartete sie erst einmal damit.

»Gespannte Aufmerksamkeit sowie die Vorfreude auf einen bescheidenen Endorphin-Ausstoß.«

»Bitte?«

»Ihre Laptoptasche und der Mantel liegen unter dem Bett, und in der rechten Manteltasche finden Sie Ihre Zigaretten. Sie dürfen Ihrem Bedürfnis gern nachkommen.«

»Wenn ich in einem Krankenhaus rauchen kann, muss ich in Osteuropa sein.« Samantha rutschte vom Bett und ging in die Hocke, um ihre Laptoptasche und daneben den ordentlich zusammengefalteten Mantel zu entdecken. »Aber Ihr Akzent stimmt nicht.« Sie fand ihre Zigaretten und das Feuerzeug. »Tatsächlich kann ich Ihren Akzent nicht deuten.«

»Dann passt er ja zu Ihrem.«

Sie erlaubte sich ein trockenes Lächeln, während sie sich wieder aufrichtete. »Touché. Ist hier irgendwo ein Aschenbecher?«

»Nehmen Sie den Boden.«

»Der ist zu sauber«, protestierte sie.

»Und so wird er auch bleiben.«

Sie zündete die Zigarette an und setzte sich wieder aufs Bett. »Latexschaum? Irgendeine Art Gel? Ich spreche von der Matratze. Ich habe Hüftprobleme. Sie hasst die meisten Matratzen. Aber die ist wirklich etwas Besonderes. Ich will eine.«

»Ihr Wunsch wird selbstverständlich erfüllt. Fühlen Sie sich besser?«

»In meinem Kopf dreht sich alles, was bedeutet, dass ich eine Weile bewusstlos war. Was ist passiert?«

»Sie wurden auf dem Weg zu dem Sportstudio, in dem Sie zweimal in der Woche mit einem Trainer arbeiten, von Aliens entführt.«

Am Ende der Zigarette wuchs die Asche, und es widerstrebte ihr, darauf zu klopfen. »So etwas geschieht nicht jeden Tag … oder?«

»Nein.«

»Wenn ich auf dem Weg zum Studio war, dann war es früher Nachmittag.«

»Das ist korrekt.«

»Es muss Zeugen gegeben haben.«

»Es gab sogar viele Zeugen.«

»Wann ist das passiert?«

»Vor zwei Tagen.«

Sie stand auf. »Und mein Mann …«

»Ja, seine Sorge tut uns leid …«

Aber sie hörte nicht länger zu. Das plötzliche Aufstehen hatte die Dinge für sie entschieden. Die Asche war abgefallen und landete auf dem Boden. Der sie augenblicklich verschlang und sich im nächsten Moment zurückbildete. Sie starrte auf die Stelle und blinzelte heftig. »Sie erzählen mir hier keinen Mist.«

»Nein, natürlich nicht. Wir bedauern die Sorgen und die Verwirrung, die wir Ihrem Mann und Ihren vielen Freunden bereitet haben. Allerdings hielt man angesichts der kommenden Ereignisse eine öffentliche Entführung für vielversprechend.«

»Befinden wir uns im Orbit?«

»Ja.«

»Ich will es sehen.«

»Das haben wir erwartet.«

»Und dann will ich meinen Mann anrufen.«

»Ihr Handy funktioniert nicht länger. Dafür entschuldigen wir uns. Es war nicht ausreichend von der Energiequelle abgeschirmt, mit der man Sie aufs Schiff brachte. Allerdings haben wir eine Alternative, die Ihnen zur Verfügung steht.«

Sam hatte ihre Zigarette aufgeraucht. Ganz bewusst ließ sie die Kippe auf den Boden fallen und sah zu, wie sie dort einfach verschwand. »Vergessen Sie die Matratze«, sagte sie. »Ich will diesen Fußboden.«

 

Man bat sie, etwas zu erstellen, das im Grunde eine SMS für das Handy ihres Mannes war. Sie hielt sie kurz, und als die Stimme sie darüber informierte, dass die Nachricht gesendet worden war, tadelte sie sich in Gedanken für die Leichtigkeit, mit der sie jegliche Sorge um Hamish von sich schob, um sich stattdessen auf ihre Gegenwart zu stürzen, auf die Dringlichkeit dieser unmöglichen Umstände.

Im nächsten Augenblick starrte sie auf ihren Heimatplaneten.

Sie hatte sich nie für eine sentimentale Frau gehalten, aber Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen und liefen ihr über die Wangen. Doch das war ihr völlig egal. Die von weißen und blauen Schlieren umgebene Erde lag mitten in einem Reich aus Dunkelheit, das sie von allen Seiten umgab. Auf der sonnenwärts gelegenen Seite berührte das Funkeln und Glitzern im niedrigen Orbit befindlicher Satelliten und anderer Objekte den oberen Atmosphärenrand wie Insekten, die um eine Lampe summten.

»Wir befinden uns in einem cislunaren Orbit«, stellte sie fest.

»Das ist korrekt.«

»Und niemand sieht uns?«

»Lange Erfahrung hat uns gelehrt, dass es besser ist, nicht gesehen zu werden.«

»Abgesehen von offensichtlichen Entführungen auf einer belebten Straße.«

»Ja. Abgesehen davon.«

Sie befand sich noch immer in dem Raum, in dem sie aufgewacht war, aber jetzt war eine Wand entweder ein Fenster oder ein Bildschirm.

»Haben Sie einen Namen?«, fragte Sam. »Und wann zeigen Sie sich mir?«

»Für diese Iteration hat man mich Adam genannt. Was das Zeigen angeht – da gibt es nichts zu zeigen. Ich bin ein Konstrukt, das Äquivalent einer künstlichen Intelligenz, so wie Sie sie verstehen würden. Im Augenblick nehme ich in meiner ausgedehnten Form in diesem Sonnensystem viele Blickpunkte ein. Zu guter Letzt, trotz dieser von mir geäußerten Worte manifestiert sich mein Bewusstsein in einer Dimension, die Ihrer Technologie noch unbekannt ist. Was übrigens für alle empfindungsfähigen Wesen gilt.«

»Ich kenne ein paar Neurologen, die da widersprechen würden.«

»Sie würden sich irren.«

Sam wischte sich die Augen ab, dann die Wangen. Sie holte tief Luft. Noch immer starrte sie die Erde an, die in ihrem schwarzen Teich funkelte, und deutete mit dem Kopf darauf. »Das könnte ein einfaches Bild aus dem Archiv der NASA sein, Teil eines aufwendigen Täuschungsmanövers. Oder eine Wahnvorstellung, hervorgerufen von einem psychotischen Schub, was wahrscheinlicher wäre. Sie müssen wissen, dass ich diese Aufnahme schon zuvor gesehen habe. Zugegeben, die Realzeiteffekte sind beeindruckend.« Sie verstummte, dann schüttelte sie den Kopf. »Wissen Sie, wie oft ich davon geträumt habe, dass mir so etwas passiert? Da unsere ganze verfluchte Zivilisation in völligen Schwachsinn abdriftet, überlege ich mir, wie es wohl wäre, wenn … Ach egal, was spielt es schon für eine Rolle, was ich denke? Auf jeden Fall war es der Fußboden, der mich überzeugt hat.« Wieder wies sie mit dem Kopf auf den Planeten. »Das da ist real. Ich bin tatsächlich hier.«

»Wir sind davon ausgegangen, dass Sie die Beweise Ihrer Sinne nicht übermäßig in Zweifel ziehen würden«, erwiderte Adam. »Vorstellungskraft ist eine essenzielle Eigenschaft eines flexiblen, anpassungsfähigen Verstandes.«

»Ich habe Fragen«, sagte Sam. »Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Beginnen Sie mit dem Offensichtlichen.«

Sie dachte nach. »Also gut. Warum ich? Nein, warten Sie! Bin ich die Einzige, die Sie entführt haben?«

»Für unsere unmittelbaren Zwecke, ja.«

»Wie groß ist dieses Schiff?«

»Von bescheidener Größe.«

»Wer befindet sich sonst noch an Bord?«

»Sonst ist niemand an Bord, Samantha August.«

Ihr Herz pochte schneller. Verärgert über diese plötzlich aufsteigende Panik zündete sie eine weitere Zigarette an. »Also zurück zu meiner ersten Frage. Warum ich?«

»Die Interventionsdelegation hat Sie für ihre Zwecke als brauchbar eingestuft.«

»Okay. Zuerst einmal, wer oder was ist die Interventionsdelegation?«

»Ein Triumvirat außerirdischer Zivilisationen, die gerade das Interventionsprotokoll durchführen.«

»Wobei intervenieren sie?«

»Der fortlaufenden Evolution der Erde als lebensfähiges Biom.«

»Adam, eine ›Intervention‹ könnte man als Eroberung betrachten.«

»Das ist es nicht.«

»Was ist es dann? Auf welche Weise ›intervenieren‹ Sie, und was viel wichtiger ist, welche Art von Beziehung wollen Sie mit der dominanten Spezies – also uns – aufnehmen? Denn um es gleich zu sagen, wir können nicht gut damit umgehen, wenn man uns vorschreibt, was wir zu tun haben.«

Ein langer Augenblick der Stille trat ein, dann sagte Adam: »Dessen sind wir uns bewusst. Das hat mit Hybris zu tun …«

»Wessen? Ihre oder unsere?«

»Beide. Allerdings wird in diesem Fall nur eine herausgefordert.«

Sam runzelte die Stirn und löste dann mit einer bewussten Anstrengung die Aufmerksamkeit von der fernen Erde. Sie fing an, auf und ab zu gehen. »Ich glaube, ich verstehe. Wegen Ihrer gewaltigen technischen Überlegenheit spielt Ihre Anmaßung keine Rolle, denn im Endeffekt können Sie tun, was Sie wollen, und wir können nicht das Geringste daran ändern.«

»Das ist korrekt.«

»Und unsere Hybris?«

»Sie gehen von der Annahme aus, dass die Menschheit das Hauptziel unserer Intervention wegen ihres planetarischen Bioms ist.«

Sie setzte sich wieder auf das Bett. Ihre Zigarette war aufgeraucht. Sie warf sie zu Boden und sah zu, wie sie verschwand. »Sie würden lieber mit den Walen reden.«

»Es gab einige Diskussionen über Ihr Schicksal. Entweder neutralisieren wir Ihre Spezies, oder wir schließen sie als Teil des originären Bioms und darum als innerhalb der Parameter der Rettung befindlich mit ein. Obwohl ihre Umgestaltung eine zusätzliche Last ist, entschied man sich dafür, sie mit einzubeziehen.«

Sam stieß ein Lachen aus, lehnte sich zurück und stützte sich auf die Hände. »Last? Sie haben nicht die geringste Ahnung, worauf Sie sich einlassen, Adam.«

»Wir machen das nicht zum ersten Mal.«

»Hier? Mit uns? ›Verfechter der Prä-Astronautik behaupten …‹ Etwas in der Art?«

»Mit anderen dominanten Spezies auf anderen Welten. Vergessen Sie nicht, jeder Planet muss spezifische kritische Grenzwerte erreichen. Eine weitaus größere Anzahl von Welten haben die nötigen Kriterien nicht erfüllt, darum wurden sie von der Intervention ausgeschlossen.«

»Und ihr Schicksal?«

»Die meisten starben oder existieren nun in einem massiv eingeschränkten Zustand. Die Maschinerie der Evolution arbeitet ständig durch Innovationen, aber eine Welt mit verarmten Ressourcen schränkt eine derartige Vielfalt ein.«

»Aber die Erde hat Ihren Test bestanden.«

»Der zurzeit stattfindende Extinction Event Ihrer Welt, der durch Ihre Spezies herbeigeführt wird, nähert sich einem kritischen Punkt. Wenn man sie nicht daran hindert, wird sie das meiste Leben auf der Erde vernichten, sich selbst natürlich mit eingeschlossen. Aber das allein reicht für eine Intervention nicht aus. Der Planet ist im mittleren Alter. Wegen der erschöpften Ressourcen wird die neue Lebensform, die der Zusammenbruch des Bioms hervorbringen wird, ausgesprochen limitiert und auf die einfachsten Formen beschränkt sein. Komplexität wird sich nicht wieder mit der Vitalität einstellen, die für die Nachwehen früherer Extinction Events charakteristisch war. Glücklicherweise ist noch genug Zeit, um eine Heilung einzuleiten.«

Samantha nickte. Ein ausgelaugter Planet, dem die am einfachsten zugänglichen Ressourcen ausgegangen waren. Etwas Ähnliches hatte James P. Lovelock in seinem bahnbrechenden Buch Das Gaia-Prinzip postuliert. Aber solche Details waren jetzt nur hinderlich. Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. »Gehen wir noch einmal ein paar Schritte zurück, Adam. Sie haben mich vor Zeugen entführt. Sie haben mit einer ›Intervention‹ begonnen, die die Erde retten und uns nebenbei in eine neue Weltordnung schleifen wird. Und mit ›schleifen‹ meine ich, wild um sich schlagend.«

»Auch wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es einigen Widerstand geben wird.«

Sie schnaubte. Dann beugte sie sich vor und rieb sich das Gesicht. »Und wo passe ich da rein? Was soll ich für Sie tun, zu dem sonst niemand fähig ist? Warum reden Sie nicht mit … keine Ahnung … dem Präsidenten der Vereinigten Staaten?«

»Das mag jetzt für viele Menschen eine Überraschung sein«, antwortete Adam, und in der körperlosen Stimme lag nun ein neuer Ton, »aber die Annahme, dass eine außerirdische Zivilisation daran interessiert sein könnte, die künstliche Hierarchie zu bestätigen, die Ihre Spezies sich selbst auferlegt hat, ist unweigerlich das Erste, das einer Neujustierung bedarf.«

»Etwas sagt mir, dass Sie viele Leute verärgern werden.«

»Darum haben wir Sie als unsere Vermittlerin ausgewählt.«

»Entschuldigung, wie bitte?«

»Zwischen uns und Ihrer Spezies wird es keinen direkten Kontakt geben. Wir wünschen, dass Sie in unserem Namen sprechen. Von einem Ort, der die umfassendste Vermittlung von Informationen gestattet. So soll die Menschheit über die Fortschritte der Intervention unterrichtet werden.«

»Möchten Sie dazu nicht lieber einen Diplomaten nehmen?«

»Noch nicht.«

Sam stand wieder auf und ging auf und ab. »Okay, sehen wir uns die üblichen Verdächtigen an. Sie sind nicht daran interessiert, einen Präsidenten anzurufen, oder einen Premierminister, ein Staatskomitee oder Politbüro. Warum? Weil Sie keine Lust haben, unsere kleinlichen Autoritätsinstitutionen anzuerkennen. Und das ist nicht die Zeit für die UN, wie Sie bereits gesagt haben. Okay. Warum keinen Astronauten?«

»Technisches Wissen ist nicht relevant.«

»Ein Exobiologe?«

»Wir sind nicht hier, um über die unzähligen Lebensformen in der Galaxis zu diskutieren.«

Eine trockene, amüsante Erwiderung, die eine gewisse Verachtung andeutete. Sam fand das merkwürdig, entschied sich aber, es im Augenblick nicht weiter zu beachten. »Okay. Aber jede Regierung muss eine geheime Abteilung haben, ein ausgesuchtes Team, das für genau diese Möglichkeit zusammengestellt wurde.«

»Tatsächlich?«

»Man wäre verrückt, wenn man es nicht getan hätte. Sie wissen schon, die Männer in Schwarz.«

»Und ihre Aufgabe wäre?«

Sie dachte nach. »Vermutlich sollen sie die Interessen der Menschheit beschützen.«

»Warum sollte eine bestimmte Abteilung einer einzigen Regierung daran interessiert sein, Interessen der gesamten Menschheit zu schützen? Wäre sie stattdessen nicht ausdrücklich damit beschäftigt, nationale Interessen zu beschützen, erst recht die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und Sicherheit?«

»Es gibt keine internationale Gruppe?«

»Und wenn eine solche Gruppe bereits kompromittiert wäre?«

Sie blieb stehen und warf einen Blick auf die Erde. »Soll heißen?«

»Der Schutz der Menschheit besteht worin genau?«

»Also gut, ich spiele mit. An erster Stelle steht, die Ordnung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Das Verhindern von Panik in den Straßen. Von ökonomischem Chaos. Aber da sind auch die grundsätzlichen Menschenrechte angesichts der Existenz unbekannter galaktischer Fremdrassen zu bedenken. Protokolle für den Übergang zu fortschrittlicher Technologie und neuen Methoden, die Dinge zu erledigen.«

»Und wenn Ihre derzeitigen sozialen und ökonomischen Strukturen mit dieser galaktischen Präsenz inkompatibel sind, genauer gesagt, für sämtliche zukünftige Mitwirkung an besagter Gemeinschaft?«

»Ah.«

»Mit anderen Worten, was ist, wenn der festgelegte Auftrag dieses globalen Kontaktteams in seinen moralischen Grundsätzen fundamentale Fehler aufweist?«

Sam schwieg eine Weile. Dann seufzte sie. »Ich verstehe. Vermutlich würden sie höflich ablehnen.«

»Diese Option steht nicht zur Verfügung. Aus diesem Grund haben wir einen anderen Erstkontakt gewählt mit dem Ziel, diese potenzielle Sackgasse zu umgehen.«

»Mit anderen Worten, darüber wird nicht verhandelt werden.«

»Letztlich ist es eine Frage der Wertesysteme, Samantha August.«

»Sprechen Sie weiter.«

»Technologie, politische Strukturen, kulturelle und soziale Eigenschaften sind in der Galaxis Konstanten«, sagte Adam. »Es gibt nur geringe Variationen und nur sehr wenige Fälle echter Innovation. Dementsprechend ist das einzige Wertesystem von Bedeutung, das empfindungsfähige Spezies teilen – die von jeder Zivilisation hervorgebrachte Kunst. Die Anerkennung besagter Kunst bleibt sowohl sprunghaft wie auch vergänglich, und der Wert ist hochgradig unbeständig. Bei unserem Triumvirat werden die künstlerischen Errungenschaften der Menschheit sehr geschätzt, Samantha August. Das schließt natürlich auch Ihre Arbeiten ein.«

»Dann warten Sie, bis mein Agent davon hört. Ganz zu schweigen die Rechtsabteilungen meiner Verleger.«

»Darüber hinaus haben Sie eine weitreichende öffentliche Präsenz, was wir günstig finden.«

»Es tut mir leid. Ich denke noch immer über die Legalität galaktischer Raubkopien nach.«

»Sehr bald wird Reichtum, so wie Menschen ihn bemessen, irrelevant sein.«

Sie grunzte. »Nun ja, da kriegt vermutlich kein Anwalt auf dem Planeten mehr den Mund zu.« Mit einem Seufzen trat Sam näher an das Bild der Erde heran. »Ich sehe die Raumstation«, murmelte sie. Nach einem Moment sprach sie wieder laut: »Adam, wann fängt Ihre Intervention denn an?«

»Samantha August, sie hat bereits begonnen.«

Kapitel drei

»Im Weltraum kümmert sich niemand darum, ob man raucht.«

Samantha Augusts erste Nachricht an ihren Mann

Westlich von Djambala, Republik Kongo, Lager des Kriegsherrn, 22. Mai, 06:18 Uhr

Kolo war neun gewesen, als die bösen Männer ins Dorf gekommen waren und ihn mitgenommen hatten. Jetzt war er einer der bösen Männer. Der tiefe Dschungel des Kongo war nicht der Dschungel seiner Jugend. Damals waren die Äste voller Leben gewesen. Affen, Schlangen, Echsen, Fledermäuse. Die Tiere hatten hauptsächlich Wildpfade genutzt, meistens in der Nacht, und überall ihre Spuren hinterlassen, die von jener anderen Welt kündeten. Einer Welt, in der Menschen nichts zu suchen hatten. Jetzt lag der Dschungel still da, war stumm und leer.

Die Währung dieser neuen Welt war der Hunger; Waffen, Kugeln und Macheten das Handwerkszeug des Arbeiters. Kolo hatte achtzehn Anhänger, die alle gut bewaffnet und blutdürstig waren. Sein Lager befand sich sechs Kilometer von der nächsten Straße entfernt, sieben vom nächsten Dorf. Elf Kinder lebten bei ihnen, ein paar waren auf bestem Wege, Krieger zu werden, andere waren bereits Sklaven und willens, den Befehlen eines Mannes zu gehorchen.

Der Morgen begann wie jeder andere auch. Kolo löste sich aus Neelas dürren Armen und schob sie auf die andere Seite der Pritsche. Dann setzte er sich auf.

Sie hatte sich vor ihrem Sex in der vergangenen Nacht einen Schuss gesetzt und war noch immer tot für die Welt. Er betrachtete sie kurz unter den gesenkten, schlafverklebten Lidern, um sich zu vergewissern, ob sie noch atmete. Das tat sie.

Süchtige waren stets kooperative Sklaven, solange die von ihnen erwarteten Dienste einfach waren und wenig Mühe erforderten. Als er sie vor zwei Jahren aus den Armen ihrer toten Mutter gerissen hatte, hatte sie ihm ihr Alter verraten. Damals war sie elf gewesen, jetzt war sie dreizehn. Diese Sklaven starben jung, aber es gab einen nie versiegenden Vorrat. Zwar war es nicht mehr so einfach wie früher – sämtliche Dörfer in der Nähe lagen nun verlassen da, die Bewohner waren vor den endlosen Überfällen und den willkürlichen Morden geflohen. Also fiel es schwerer, an Lebensmittel zu kommen.

Und an Sklaven.

Bald würde er einen Läufer zu dem Bergarbeiterlager schicken müssen – dieses Lager, das nichts an dem Ort zu suchen hatte, an dem es stand. Ein paar Waldbewohner waren noch übrig und standen für gewöhnlich im Weg, wenn wieder Bäume gefällt oder neue Gruben gegraben werden mussten. Eine Woche oder so Arbeit für die Bergbaugesellschaft, bei der er sie entweder abschlachtete oder vertrieb, und er konnte sein Lager wieder eine Weile ernähren. Er zog ein zerlumptes Split-Enz-T-Shirt an.

Er hatte nur wenige Erinnerungen an die Zeit, in der sein Land keine offene Wunde gewesen war, und er machte sich keine Illusionen über die Blutsauger, die es in diesem Zustand hielten. Schließlich war er einer von ihnen. Aber die Waffen kamen aus China, und das Geld kam von Konzernen aus der ganzen Welt. Es gab niemanden mit sauberen Händen.

Er schlüpfte in die alte Armeehose, legte den Netzgürtel an und überprüfte die schwere Armeepistole vom Kaliber .45 in ihrem abgenutzten Segeltuchholster. Er nahm seine Baseballmütze mit dem Exxon-Logo und verließ die Hütte.

Es waren noch nicht viele Leute auf. Die Wachposten kamen aus dem Busch, da der Sonnenaufgang das Ende ihrer Wache verkündet hatte. Die Kinder waren bereits unterwegs in den leblosen Wald und träumten von einer fetten Echse oder einem Affen, waren aber bereit, sich mit Insekten und Raupen zufriedenzugeben.

Dinge, die kaputtgingen, blieben kaputt. Die Welt wollte, dass dieser Ort kaputt blieb, und nichts würde das ändern. Aber Kolo hatte jetzt seinen eigenen Stamm, und er würde tun, was nötig war, um ihn zu ernähren. Loyalität wurde aus Notwendigkeit geboren, und der Magen war eine Brieftasche, und Reichtum bedeutete nicht, was man besaß, sondern was man noch in einer Woche besitzen würde.

Maniok wurde geröstet, eine geschwärzte Kanne mit Kaffee kochte, in der Nähe lag ein nackter Junge. Das Stück Chirurgenschlauch war noch fest um den blutleeren Arm geschlungen. Kolo ging zu ihm und stieß die dürre Gestalt mit dem Fuß an. »Joak! Du hast ihm gestern Abend zu viel gegeben, jetzt ist er tot.«

Joak war von gewaltiger Statur; zusammengesunken hockte er am Feuer und hielt einen Kaffeebecher in den riesigen vernarbten Händen. Er hob den Blick und sah Kolo mürrisch an. »Aus dem wäre nie ein guter Krieger geworden.«

»Nein. Er war Sklave.«

Joak zuckte mit den Schultern. »Ein Esser weniger. Das Pulver wird knapp.«

Die letzte Bemerkung rief bei Kolo eine finstere Miene hervor, die dazu führte, dass sich Joak nervös die Lippen leckte.

Kolo trat an ihn heran und sprach mit gesenkter Stimme: »Halt dein verdammtes Maul. Willst du Ärger im Lager? So etwas herumzubrüllen.«

Joak mied seinen Blick und zuckte erneut mit den Schultern. »Es nicht zu sagen, ändert es doch nicht, Captain.«

»Wir bekommen eine neue Lieferung. Sie wird jeden Tag eintreffen.«

»Ja, Captain.«

»Und jetzt bring die Leiche weg. In die Grube.«

Joak runzelte die Stirn. »Ich mag diesen Ort nicht.«

»Den mag niemand«, erwiderte Kolo, »aber wenn du es umgebracht hast, entsorgst du es auch, so lautet die Regel.«

Eine plötzliche Bewegung im Busch zu seiner Linken ließ Kolo herumwirbeln; mit einer fließenden Bewegung zog er die .45er aus dem Holster.

Die Kinder kamen zurückgeeilt. Auf ihren Gesichtern spiegelten sich Verwirrung und Furcht.

Kolo trat vor. »Sind es Soldaten? Du da!« Er packte ein Mädchen am Arm und wirbelte sie herum, damit sie ihn ansah. »Ob Soldaten kommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Buschgeister!«

Seine Krieger waren nun wach und holten ihre Waffen. Sie scharten sich um ihren Captain. Kolo ließ das angsterfüllte Mädchen los. »Du und du« – er zeigte mit dem Finger –, »ihr seht nach, wer da kommt.«

Er hatte zwei seiner jüngsten Krieger ausgesucht, die noch eifrig waren und noch immer die Gewohnheit hatten, ihre AK-47 zu streicheln, und in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit eines Mädchens zu erregen, an den Sklaven vorbeimarschierten. Ohne Fragen zu stellen, eilten sie los. Kolo registrierte Joaks abgestumpften Blick, mit dem er den Weg der Späher in den Busch verfolgte.

Er würde ihn bald umbringen müssen. Manche Dinge ließen sich eben nicht ändern. »Der Rest von euch lädt alles auf. Joak, treib die Sklaven zusammen. Robbie, du holst die Drogen. Henry …«

Die plötzliche Rückkehr der Späher ließ ihn verstummen. Einer von ihnen hatte eine blutige Nase.

»Was ist los, Mann? Bist du gestürzt? Wer kommt?«