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Die Autorin

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Prof. Dr. Angela Gosch, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, ist Professorin an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München. Ihre Lehre und ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf Themen wie Gesundheit und Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter, Entwicklungspsychologie und Beratung.

Angela Gosch

Gesundheit und Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032731-3

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-032732-0

epub:      ISBN 978-3-17-032733-7

mobi:      ISBN 978-3-17-032734-4

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Einleitung
  2. 1 Gesundheit im Kindesalter
  3. 1.1 Recht auf Gesundheit
  4. 1.2 Definition von Gesundheit
  5. 1.3 Modelle und Theorien zur Gesundheit
  6. 1.3.1 Salutogenetisches Modell von Antonovsky
  7. 1.3.2 Subjektive Theorien der Gesundheit
  8. 1.3.3 Schutzfaktoren, Ressourcen und Resilienz
  9. 1.3.4 Capability- /Verwirklichungschancen-Ansatz
  10. 1.4 Determinanten von Gesundheit
  11. 1.4.1 Soziale Ungleichheit
  12. 1.4.2 Familienform
  13. 1.4.3 Migrationshintergrund
  14. 1.5 Epidemiologische Daten zur Gesundheit von Kindern im Vorschulalter
  15. 1.6 Zusammenfassung und Diskussion
  16. 2 Gesundheitsförderung und Prävention
  17. 2.1 Begriffsbestimmung von Gesundheitsförderung und Prävention
  18. 2.2 Internationale Entwicklungen – Gesundheitsförderung aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation
  19. 2.3 Nationale Entwicklungen
  20. 2.3.1 Das Präventionsgesetz
  21. 2.3.2 Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit
  22. 2.3.3 Gesundheitsförderung auf Landesebene
  23. 2.3.4 Kommunale Präventionsketten
  24. 2.3.5 Beschreibung von Gesundheitszielen und Stand der Umsetzung
  25. 2.4 Zusammenfassung und Diskussion
  26. 3 Gesundheitsförderung und Prävention in der Kita
  27. 3.1 Gesundheitsförderung und Kooperation mit Kitas aus Sicht der Eltern
  28. 3.2 Gesundheitsförderung aus Sicht der Kinder
  29. 3.3 Gesundheitsförderung aus Sicht des pädagogischen Fachpersonals
  30. 3.4 Programme zur Gesundheitsförderung in Kitas
  31. 3.4.1 JolinchenKids – Fit und gesund in der KiTa
  32. 3.4.2 »Komm mit in das gesunde Boot – Kindergarten«
  33. 3.5 Gesundheitsförderung als Qualitätsentwicklung in Kitas
  34. 3.6 Zusammenfassung und Diskussion
  35. 4 Ernährungsförderung
  36. 4.1 Bedeutungen von Essen
  37. 4.2 Elterliche Ernährungsziele
  38. 4.3 Kindliches Ernährungswissen
  39. 4.4 Ernährungsempfehlungen
  40. 4.4.1 Ernährungsempfehlungen auf internationaler und nationaler Ebene
  41. 4.4.2 Ernährungsempfehlungen für das Kindesalter
  42. 4.4.3 Ernährungsempfehlungen für Kitas
  43. 4.5 Daten zum aktuellen Ernährungsverhalten und zu Übergewicht und Adipositas im Vorschulalter
  44. 4.5.1 Daten zur aktuellen Ernährungssituation von Kindern im Vorschulalter
  45. 4.5.2 Epidemiologische Zahlen zu Übergewicht und Adipositas im Vorschulalter
  46. 4.6 Ernährungsförderung in Kitas
  47. 4.7 Zusammenfassung und Diskussion
  48. 5 Körperliche Aktivität und Bewegungsförderung
  49. 5.1 Begriffsklärung und Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung
  50. 5.2 Entwicklung der kindlichen Motorik
  51. 5.3 Zusammenhang von Bewegung und körperlicher Aktivität mit Entwicklungsaspekten in der Kindheit
  52. 5.3.1 Studien zu Zusammenhängen zwischen Entwicklungsbereichen
  53. 5.3.2 Physische Fitness und der Zusammenhang zur psychosozialen und mentalen Gesundheit
  54. 5.4 Epidemiologische Daten zur Bewegung und physischen Aktivität sowie zur Mediennutzung
  55. 5.5 Gesundheitsförderung der motorischen Fähigkeiten
  56. 5.5.1 Bewegungsprogramme und Einbezug von Kriterien
  57. 5.5.2 Bewegter Kindergarten
  58. 5.5.3 Hinweise für pädagogische Fachkräfte und deren Ausbildung
  59. 5.6 Zusammenfassung und Diskussion
  60. 6 Förderung der psychischen Gesundheit
  61. 6.1 Definition und Bedeutung psychischer Gesundheit
  62. 6.1.1 Streben nach Lustgewinn und Vermeidung von Unlustzuständen
  63. 6.1.2 Bedürfnis nach Bindung
  64. 6.1.3 Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
  65. 6.1.4 Bedürfnis nach Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung
  66. 6.2 Entwicklungsaufgaben von Kindern im Vorschulalter
  67. 6.3 Epidemiologische Daten zur psychosozialen Gesundheit von Kindern
  68. 6.4 Programme zur Förderung psychischer Gesundheit
  69. 6.4.1 Förderung der emotionalen Kompetenz und Empathie
  70. 6.4.2 Förderung der sozialen Kompetenzen
  71. 6.4.3 Förderung der Resilienz
  72. 6.5 Zusammenfassung und Diskussion
  73. 7 Kooperation zwischen Kita und Eltern
  74. 7.1 Bedeutung der Eltern für gesunde kindliche Entwicklung
  75. 7.2 Pädagogische Vorgehensweisen in der Kooperation mit Eltern
  76. 7.3 Elternprogramme mit Fokus auf Gesundheitsförderung in der Kita
  77. 7.3.1 wir2 – Das Elterntraining für Alleinerziehende
  78. 7.3.2 EFFEKT
  79. 7.4 Zusammenfassung und Diskussion
  80. 8 Gesundheit des pädagogischen Fachpersonals
  81. 8.1 Rahmenbedingungen für Gesundheitsförderung im Arbeitsleben und Bedeutung der Gesundheit des pädagogischen Fachpersonals
  82. 8.2 Daten zum Arbeitsbereich Kita und zur Gesundheit des pädagogischen Fachpersonals
  83. 8.2.1 Strukturelle Arbeitsbedingungen
  84. 8.2.2 Organisatorische Rahmenbedingungen
  85. 8.2.3 Arbeitsressourcen
  86. 8.2.4 Arbeitsbelastungen
  87. 8.2.5 Gesundheit und Krankheit vom pädagogischen Fachpersonal
  88. 8.3 Maßnahmen der Gesundheitsförderung
  89. 8.4 Gesundheitsförderung in Kitas
  90. 8.4.1 Strukturbezogene Interventionen
  91. 8.4.2 Individuumsbezogene Maßnahmen
  92. 8.5 Zusammenfassung und Diskussion
  93. 9 Abschließende Diskussion und Fazit
  94. Literatur

Einleitung

 

 

 

Gesundheit wird von Menschen als hohes Gut angesehen. Nach ihren Zukunftswünschen befragt, wird an erster Stelle der Wunsch nach Freunden und Familie und an zweiter Stelle der nach einem »langen und gesunden Leben« angegeben. Dies gilt je nach Studie für ungefähr 87 % der Erwachsenen (Birkner, 2016, Hinz et al., 2010, Pokorny, 2017) und 69 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Köcher, Hurrelmann & Sommer, 2015). Auch die Gesundheit von Kindern wird als bedeutsam eingeschätzt, und die meisten Eltern beschreiben für ihre Kinder eine positive Gesundheit. Somit kann diese Altersgruppe als gesündeste Bevölkerungsgruppe gelten. Gleichzeitig nehmen seit Jahren vor allem »neue Belastungen«, wie Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, Übergewicht und Adipositas, im Kindes- und Jugendalter zu (Hölling, 2013). Damit stellt sich die Frage, wie die Gesundheit von Kindern schon ab einem frühen Alter an sinnvoll gefördert werden kann.

Eine solche Förderung muss aus einer biopsychosozialen Perspektive, d. h. unter Einbeziehung der individuellen, familiären und sozialen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten, betrachtet werden. Neben der Prävention von Gesundheitsrisiken sind die körperliche und geistige Entwicklungsförderung von Kindern sowie die ihrer psychischen Gesundheit sowohl im familiären als auch sozialen Umfeld zentral. Walter, Minne und Borutta (2013) beschreiben, dass Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung als »gesellschaftliche Querschnittsaufgabe zu verstehen« sind (S. 7). Damit sind die Familien als erste Sozialisationsinstanz als auch Einrichtungen der Kindertagesbetreuung angesprochen.

In ihren Familien erwerben Kinder erste alltägliche gesundheitsbezogene Gewohnheiten. Diese können durch den Besuch einer Kita weiter geführt oder auch modifiziert und ergänzt werden. Kindertageseinrichtungen haben den Auftrag, die »soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes« (§22 Abs. 3, SGB VIII) zu fördern, sodass es sich zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann. Im Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention wird zudem das Recht von Kindern auf ein Höchstmaß an Gesundheit beschrieben. In allen Bildungs- und Entwicklungsplänen der 16 Bundesländer wird das Thema der Gesundheit und Gesundheitsförderung aufgegriffen.

Mittlerweile besucht mit knapp 94 % die Mehrzahl der Kinder in Deutschland eine Kindertageseinrichtung (Kita) oder eine Kindertagespflege (Bertelsmann-Stiftung, 2018).

Damit kann Kindern in Kitas schon ab einem frühen Alter ein gesunder Lebensstil mit einer gesunden Ernährung, Bewegung und der Förderung der psychosozialen Gesundheit (z. B. Regulation von Emotionen, auch im Beisammensein mit anderen Kindern, etc.) vermittelt werden. Das kann im Alltag durch ein spielerisches Handeln und einen spielerischen Wissenserwerb erfolgen. Dafür sind Wissens- und persönliche Kompetenzen des pädagogischen Personals zum Beispiel bezüglich der Ernährung, Bewegungsaktivitäten und der (Selbstfür-)Sorge um die eigene Gesundheit sowie der Gestaltung von sozialen Beziehungen mit anderen von grundlegender Bedeutung.

In den Kitas werden gesundheitsfördernde Maßnahmen (z. B. Händewaschen, Zähneputzen, Obstkorb, etc.) regelhaft und laut Steenbock et al. (2015) in 97 % der Kitas Aktionen im Bereich der Bewegung durchgeführt. Manche dieser alltäglichen Handlungen (z. B. Händewaschen) werden von pädagogischen Fachkräften teilweise nicht unter dem Begriff »Gesundheitsförderung« eingeordnet. Vielmehr nehmen die pädagogischen Fachkräfte in ihrem Gesundheitshandeln »auf ein unklares und diffuses Gesundheitsbild Bezug« (Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung, BeKi, 2016, S. 29), sie gehen eher trainingsorientiert und belehrend vor und können weniger als im Bildungsbereich an den Gesundheitsthemen, die Kinder interessieren, anknüpfen und eine ressourcenorientierte und partizipative Lernumgebung gestalten (BeKi, 2016, S. 27ff.). Daher plädieren die Autor*innen dafür, »Konzepte zur frühkindlichen Gesundheitsbildung« zu entwickeln, die wie in anderen Bildungsbereichen die aktive Beteiligung der Kinder und Familien einbeziehen (BeKi, 2016, S. 27).

Während im letzten Jahrzehnt in Kitas oftmals einzelne Gesundheitsprojekte (z. B. zur Ernährung) durchgeführt wurden, wurde bemängelt, dass diese langfristig weder personell noch finanziell gesichert waren. Daher ergibt sich mittlerweile die Forderung nach einer nachhaltigen Gesundheitsförderung in Kitas, bei der die Kooperation mit Eltern1 und Einrichtungen, Institutionen oder anderen Akteuren im Gemeinwesen und somit deren Expertise bei der Gesundheitsförderung einbezogen wird. Zusätzlich hat die Gesundheit und Gesundheitsförderung des pädagogischen Fachpersonals in den letzten zwei Jahrzehnten angesichts erhöhter Qualitätsanforderungen und dem Ausbau der frühkindlichen Kinderbetreuung an Bedeutung gewonnen. Aktuell wird die Forderung nach einer gesunden Kitas für alle gestellt. Damit wird die Gesundheit von Kindern, dem pädagogischen Personal und auch die von Eltern ins Zentrum gerückt, und es wird von einem »Paradigmenwechsel zu einer gesunden Kita« (Stiftung Kindergesundheit, 2015) gesprochen.

In diesem Buch werden in den folgenden Kapiteln aktuelle Themen der Gesundheit und Gesundheitsförderung in Kitas beleuchtet. Insbesondere wird auf für Kitas relevante Themen der Gesundheitsförderung, wie die der Ernährungs- und Bewegungsförderung, die Förderung der kindlichen psychischen Gesundheit, die Zusammenarbeit mit Eltern und die Förderung der Gesundheit vom pädagogischen Fachpersonal, eingegangen.

Im ersten Kapitel werden Facetten der Gesundheit beleuchtet: Zunächst werden rechtliche Rahmenbedingungen beschrieben, die das Recht von Kindern auf ein Höchstmaß an Gesundheit festlegen. Was unter Gesundheit verstanden wird und welche Modelle dazu existieren, wird in den weiteren Abschnitten dargelegt. Hier werden Modelle, wie das der Salutogenese von Antonovsky (1979, 1997), subjektive Theorien der Gesundheit, Ansätze zu Schutzfaktoren, Ressourcen und Resilienz sowie der Capability-Ansatz zu Verwirklichungschancen von Menschen, dargestellt. Anschließend werden die Gesundheit beeinflussende Faktoren, sprich Determinanten der Gesundheit, wie die soziale Ungleichheit, die Familienform oder auch die Herkunft, aufgegriffen. Darauf folgt eine Darstellung von ausgewählten epidemiologischen Daten zur Gesundheit von Kindern im Vorschulalter und eine zusammenfassende Diskussion schließt das Kapitel ab.

Im zweiten Kapitel werden die Begriffe Gesundheitsförderung und Prävention inhaltlich beschrieben und voneinander abgegrenzt. Auf unterschiedlichen Ebenen lassen sich mittlerweile eine Reihe von Bemühungen zur Gesundheitsförderung und Prävention aufzeigen. Dazu werden zunächst internationale Entwicklungen skizziert, darauf folgen die auf nationaler Ebene. Es wird auf das Präventionsgesetz eingegangen, danach auf Entwicklungen auf landes- und kommunaler Ebene. Schließlich werden die Gesundheitsziele und deren Stand der Umsetzungen präsentiert. Die bisherigen Bemühungen und Erfolge sowie die weiteren Forderungen für die zukünftige Gesundheitsförderung und Prävention werden diskutiert.

Im dritten Kapitel wird analysiert, wie sich die Gesundheitsförderung und Prävention in der Kita darstellt. Zunächst, im Vorfeld dieser Analyse, wird die Bedeutung der Gesundheitsförderung aus Sicht aller Beteiligten, der Eltern, der Kinder und des pädagogischen Fachpersonals, erörtert. Daran schließt sich die Darstellung ausgewählter Programme zur Gesundheitsförderung in Kitas an, bevor auf Gesundheitsförderung als Aufgabe der Qualitätsentwicklung eingegangen wird. Diese verschiedenen Sichtweisen und bereits umgesetzten Maßnahmen werden abschließend zusammenfassend diskutiert.

Darauf aufbauend erkunden die weiteren Kapitel einzelne Themen der Gesundheitsförderung:

Im vierten Kapitel geht es um die Ernährungsförderung von Kindern. Zunächst werden die grundlegenden Bedeutungen von Essen und Nahrung erläutert. Es schließen sich Beschreibungen über elterliche Ernährungsziele für ihre Kinder sowie zu dem kindlichen Ernährungswissen an, bevor dann auf Ernährungsempfehlungen auf internationaler und nationaler Ebene sowie die für das Kindesalter und speziell für Kitas eingegangen wird. Daran schließt sich eine Darstellung epidemiologischer Daten zur aktuellen Ernährungssituation sowie zum Übergewicht und zur Adipositas im Vorschulalter an. Im Weiteren wird auf die Möglichkeiten der Ernährungsförderung in der Kita eingegangen, dann wird das Beschriebene mit einer zusammenfassenden Diskussion abgerundet.

Im fünften Buchkapitel werden zunächst die Begriffe Bewegung und körperliche Aktivität geklärt und Empfehlungen für diese dargestellt. Eine Übersicht zur Bewegungsentwicklung in der Vorschulzeit anhand ausgewählter Beispiele folgt. Danach werden Studienergebnisse zu Zusammenhängen zwischen körperlicher Aktivität und der körperlichen, intellektuellen und sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern präsentiert und anschließend epidemiologische Daten zur Häufigkeit von Bewegung, körperlichen Aktivität sowie zum Mediengebrauch im Vorschulalter vorgestellt. Abschließend werden Möglichkeiten der Bewegungsförderung in Kitas beschrieben und das Beschriebene wird zusammenfassend diskutiert.

Im sechsten Kapitel geht es um die Förderung der psychischen Gesundheit im Kindesalter. Zunächst wird definiert, was unter psychischer Gesundheit zu verstehen ist, und die vier psychischen Grundbedürfnisse wie Streben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, das Bedürfnis nach Bindung, nach Orientierung und Kontrolle sowie nach Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung werden eingehender beschrieben. Es folgt ein Abschnitt über Entwicklungsaufgaben von drei- bis sechsjährigen Kindern. Dem schließt sich ein Überblick über epidemiologische Daten zur psychischen Gesundheit von Kindern unter Einbeziehung von Determinanten der Gesundheit im Vorschulalter an, bevor die Förderung der psychischen Gesundheit in Kitas aufgegriffen wird. Ein Überblick über Programme zur Förderung insbesondere der sozial-emotionalen Entwicklung wird präsentiert, und abschließend wird auch in diesem Kapitel das Dargestellte zusammenfassend diskutiert.

Im siebten Kapitel wird die Zusammenarbeit zwischen pädagogischem Fachpersonal und Eltern thematisiert. Dazu wird zunächst auf die Bedeutung der Eltern für die gesunde Entwicklung ihrer Kinder eingegangen, bevor Möglichkeiten der Kooperation zwischen pädagogischen Fachkräften und Erziehungsberechtigten sowie Gesundheitsförderangebote für Eltern genauer analysiert und diskutiert werden.

Im achten Kapitel wird das Thema der Gesundheitsförderung des pädagogischen Fachpersonals näher beleuchtet. Zunächst wird auf rechtliche Rahmenbedingungen der Gesundheitsförderung und Prävention sowie die Bedeutung der Gesundheit vom pädagogischen Fachpersonal eingegangen. Dann folgen Abschnitte mit Befunden zu strukturellen und organisatorischen Arbeitsbedingungen, zu Ressourcen und Belastungen sowie zur gesundheitlichen Lage des pädagogischen Fachpersonals. Daran schließt sich die Darstellung von Ansätzen der Gesundheitsförderung an, bevor die einzelnen Aspekte zusammenfassend diskutiert werden.

Das Buch schließt mit einem Kapitel, in dem wesentliche, übergreifende Diskussionspunkte aufgegriffen und zukünftige Anforderungen erörtert werden.

1     In diesem Buch wird die Bezeichnung Eltern verwendet, womit allerdings alle Sorge- bzw. Erziehungsberechtigte angesprochen werden sollen.

1          Gesundheit im Kindesalter

 

 

 

In diesem Kapitel werden zunächst rechtliche Rahmenbedingungen zum Thema Gesundheit dargestellt, anschließend wird auf die Begriffsklärung und Definitionen von Gesundheit eingegangen. Es folgen verschiedene Ansätze und Modelle, die sich mit Bedingungen von Gesundheit, deren Herstellung und Aufrechterhaltung beschäftigen. Zu den Einflussfaktoren, die sich auf den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden von Menschen auswirken, gehören Determinanten wie beispielsweise der sozioökonomische, der familiäre Status oder auch der Migrationshintergrund. Die Bedeutung ausgewählter Determinanten auf die gesundheitliche Lage wird unter Heranziehung von Studienergebnissen präsentiert. Es folgt ein kurzer Überblick über die allgemeine gesundheitliche Lage von Kindern im Vorschulalter und abschließend wird das Beschriebene zusammenfassend diskutiert.

1.1       Recht auf Gesundheit

In Artikel 25 der Menschenrechte wird das Recht eines jeden Menschen »auf eine Lebensführung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet«, formuliert.

In der 1989 verabschiedeten UN-Kinderrechtskonvention verpflichten sich Staaten dazu, alles zu tun, um Kindern menschenwürdige Lebensbedingungen zu ermöglichen. Das grundlegende Recht auf Leben umfasst dabei das Überleben von Kindern, ihr körperliches und seelisches Wohl sowie ihr gesundes Aufwachsen. So wird in Artikel 3 Abs. 1 festgehalten, dass das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen vorrangig zu berücksichtigen ist und in Artikel 6 Abs. 2, dass die Vertragsstaaten das Überleben und die Entwicklung des Kindes in größtmöglichem Umfang gewährleisten. Das Recht des Kindes auf ein Höchstmaß an erreichbarer Gesundheit wird in Artikel 24 der Kinderrechtskonvention aufgegriffen:

»Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird« (§24 Abs. 1).

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit in Artikel 2 beschrieben. Es schützt Menschen vor Eingriffen, welche die Gesundheit beeinträchtigen.

Daneben wird der Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Büchern des Sozialgesetzbuches und in weiteren Rechtstexten festgehalten. Zum Beispiel wird im Kinder- und Jugendhilfegesetz das Recht von Kindern auf Förderung ihrer Entwicklung (SGB VIII §1) aufgezeigt, und Aufgaben der Jugendhilfe sind die Förderung von Kindern und Jugendlichen in »ihrer individuellen und sozialen Entwicklung« (Abs. 3 S. 1), die Vermeidung und der Abbau von Benachteiligungen sowie der Schutz »vor Gefahren für ihr Wohl« (§1 Abs. 3 S. 3).

Es besteht somit ein Regelwerk von rechtlichen Rahmenbedingungen, mit deren Hilfe die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gefördert, aufrechterhalten, Risiken vermieden oder gemindert (s. auch Präventionsgesetz in Kapitel 2.3.1 in diesem Buch) sowie bei Vorliegen von physischen und psychischen Beschwerden, Krankheiten und Störungen eine Heilung oder Linderung bewirkt werden soll.

1.2       Definition von Gesundheit

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als einen »Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen« (WHO, 1946). Gewinnbringend ist an dieser Definition der WHO, dass Gesundheit als eigenständiger positiver Zustand und das subjektive Wohlbefinden von Menschen bezogen auf körperliche, geistig-seelische Aspekte in der sozialen Einbettung betrachtet werden. Es wird also keine reine Negativdefinition, die Abwesenheit von Krankheit, formuliert. Zu kritisieren ist, dass der Anspruch eines vollkommenen Wohlbefindens illusionär und zugleich auch deterministisch ist, da neben der Annahme des Zustandes völligen Wohlbefindens impliziert wird, dass es diesen statischen Zustand anzustreben gilt (Klotter, 2009). Darüber hinaus ist das »völlige Wohlbefinden« nur schwer zu definieren beziehungsweise zu operationalisieren. Im Gegensatz zu einem statischen Zustand muss Gesundheit als ein dynamischer Prozess verstanden werden, den es immer wieder von einem aktiven, über Regulations-, Adaptions- und Bewältigungsmechanismen verfügenden Menschen herzustellen gilt (vgl. Antonovsky, 1997).

Konsequenterweise modifizierte die WHO die Gesundheitsdefinition und fasst sie nun zusammen als »ein positiver funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen biopsychologischen Gleichgewichtszustands, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss« (WHO, 1986). In dieser Beschreibung wird Gesundheit als ein Pol auf einem Kontinuum gesehen, auf dem Menschen sich körperlich, geistig-seelisch und sozial mehr oder weniger wohl fühlen und sich hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung sowie ihrer Selbstverwirklichung unterscheiden.

In anderen Gesundheitsdefinitionen gewichten Autoren Aspekte wie die Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung, Flexibilität und Anpassung sowie Gesundheit als Gleichgewichtzustand unterschiedlich (Franke, 2012).

Eine konsensfähige Definition stammt von Hurrelmann und Richter (2013). Danach bezeichnet Gesundheit

»den Zustand des Wohlbefindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich psychisch und sozial in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts von Risikofaktoren und Schutzfaktoren, das eintritt, wenn einem Menschen eine Bewältigung sowohl der inneren (körperlichen und psychischen) als auch äußeren (sozialen und materiellen) Anforderungen gelingt. Gesundheit ist ein Stadium, das einem Menschen Wohlbefinden und Lebensfreude vermittelt«.

In der Definition von Hurrelmann und Richter (2013) wird deutlich, dass Menschen ihre Gesundheit kontinuierlich aktiv herstellen, indem sie innere und äußere Anforderungen bewältigen und in Einklang zu bringen versuchen. Die individuelle (Bewältigungs-)Leistung des Individuums angesichts von Risiken unter Heranziehung von Ressourcen und unter Einbeziehung der gesellschaftlichen und sozioökonomischen Faktoren wird betont. Damit wird sowohl eine positive Sichtweise auf Gesundheit (Wohlbefinden und Lebensfreude) präsentiert und ebenfalls die interagierenden inneren und äußeren Bedingungsfaktoren zur Herstellung und Aufrechterhaltung dieser beschrieben.

1.3       Modelle und Theorien zur Gesundheit

Gesundheit ist ein hypothetisches Konstrukt, dessen Bedeutung anhand von theoretischen Modellen analysiert werden soll. Dazu werden im Folgenden Modelle vorgestellt, die Gesundheit mit ihren gesellschaftlichen Bezügen erklären und einzubetten versuchen, die die empirische Forschung angeregt haben und aus denen sich Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention ableiten lassen. Es handelt sich um das salutogenetische Modell, subjektive Theorien von Gesundheit, den Schutzfaktoren-, ressourcenorientierten und Resilienzansatz sowie den Capability- oder Verwirklichungschancen-Ansatz, der als Erklärungsansatz über die genannten Gesundheitsmodelle hinausgeht.

1.3.1     Salutogenetisches Modell von Antonovsky

In seinem Modell zur Salutogenese bzw. zur Gesundheitsentstehung beschäftigt sich Antonovsky (1979, 1997) mit der Fragestellung, was Menschen trotz vieler gesundheitsgefährdender Einflüsse, auch unter schwierigen Lebensbedingungen gesund erhält. Er setzt sich mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit auseinander und geht von einem Kontinuum von Gesundheit und Krankheit aus. Krankheiten, Leiden und Tod sind dem menschlichen Leben inhärent, und jeder Mensch ist andauernd vielfältigen Stimuli ausgesetzt, die eine kontinuierliche Anpassung und aktive Bewältigung erfordern. Von Antonovsky (1997) werden die beiden Endpunkte des Kontinuums Gesundheit und Wohlbefinden (Health-Ease) und Krankheit bzw. körperliches Missempfinden (Dis-Ease, HEDE-Kontinuum) unterschieden, auf dem sich die Menschen als mehr oder weniger gesund einordnen können. Das bedeutet, dass selbst schwer kranke Menschen über gesunde Anteile verfügen. Wichtig ist somit die Verortung auf dem HEDE-Kontinuum und nicht eine dichotome Unterscheidung in gesund oder krank. In Abbildung 1.1 wird das Modell nach Antonovsky (1997) dargestellt.

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Abb. 1.1: Modell der Salutogenese nach Antonovsky (1997)

Die Einordnung auf dem Kontinuum hängt von der Wahrnehmung und dem Umgang mit Stressoren ab. In Anlehnung an das Stressmodell von Lazarus (1966, Lazarus & Folkman, 1984) werden Stressoren nicht per se als belastend angesehen, sondern es wird davon ausgegangen, dass Individuen Reize und Situationen subjektiv unterschiedlich wahrnehmen und einschätzen. Erst wenn ein Reiz oder eine Situation als herausfordernd, gefährdend angesehen wird, kann von Stressoren gesprochen werden, und es werden Strategien zur Bewältigung herangezogen. Deren Bewältigung kann auch dazu führen, dass sich eine Person auf den Health-Ease Pol des HEDE-Kontinuums hinbewegt.

Für den konstruktiven Umgang mit und zur Bewältigung von Stressoren sind generalisierte Widerstandsressourcen (Generalized Resistance Resources, GRR) von Bedeutung, die in der Abbildung 1.1 auf der linken Seite aufgeführt sind. Antonovsky (1997) unterscheidet zwischen gesellschaftlichen (z. B. politische, gesellschaftlich stabile und funktionierende Sozialstrukturen), individuellen (kognitive wie Wissen oder Intelligenz, psychische wie z. B. Selbstvertrauen und Ich-Identität, physiologische Ressourcen wie Konstitution, u. a.) sowie ökonomischen und materiellen Ressourcen. Verfügen Menschen über ausreichende externe und interne Widerstandsressourcen, dann können die gesundheitsschädigenden Wirkungen von Stressoren abgemildert werden. Und die Person kann die Erfahrung machen, dass sie ihnen nicht hilflos gegenübersteht. Diese Lebenserfahrung führt dazu, dass für die Menschen ihre Umwelt mit den Anforderungen verstehbar wird, sie sie meistern können und ihnen ein Sinn innewohnt. Diese drei Komponenten der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit bilden das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, SOC) einer Person, ein Gefühl des inneren Zusammenhangs und der Stimmigkeit. Es ist der grundlegende Parameter für die Einordnung auf dem Gesundheitskontinuum.

Für Antonovsky (1997) ist es bedeutsam, dass Menschen die Erfahrung der Kontinuität (z. B. in Beziehungen) und Konsistenz machen, was sich positiv beim Aufbau des Kohärenzsinns auswirkt. Gleichzeitig schafft ein hohes Kohärenzgefühl eine kognitiv-emotionale Voraussetzung, die eine flexible Aktivierung von Widerstandsressourcen und eine flexible Bewältigung von Stressoren ermöglicht. Das bedeutet, dass es nach Antonovsky nicht die richtigen Bewältigungsstrategien (Copingstrategien) gibt, sondern ein Mensch mit einem hohen Kohärenzsinn in der jeweiligen Anforderungssituation flexibel auf die Situation bezogene Bewältigungsstrategien einsetzen kann.

Mittlerweile liegt eine Vielzahl an Studien vor, die den Zusammenhang des Kohärenzgefühls (SOC) mit Gesundheits- und Krankheitsparametern geprüft haben. Während für Antonovksy (1997) im Zentrum seines Ansatzes die physische und weniger die psychische Gesundheit stand, weisen Studien, auch Metaanalysen, regelhaft auf einen engen korrelativen Zusammenhang zwischen dem SOC und der psychischen Gesundheit beziehungsweise psychischen Störungen hin (Bengel, Strittmacher & Willmann, 2001, Cohen & Savaya, 2003, Eriksson & Lindström, 2006, 2007), aber es lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Kohärenzgefühl und der physischen Gesundheit belegen (Flensborg-Madsen et al., 2005). Bengel und seine Mitarbeiterinnen zweifeln daher den direkten Einfluss von dem Kohärenzgefühl auf die physische Gesundheit an und fragen, ob die SOC-Skala mehr oder anderes misst als Verfahren, die Aspekte der psychischer Gesundheit beziehungsweise Krankheit (z. B. Depressivität) erfassen (Bengel, Strittmacher & Willmann, 2001, Bengel & Lyssenko, 2012).

Zusätzlich wird kritisiert, dass Antonovsky auf die Entwicklung des Kohärenzgefühls in der Kindheit und Jugendzeit wenig eingeht und formuliert, dass deren Entwicklung im frühen Erwachsenenalter abgeschlossen ist. Studien belegen jedoch Veränderungen des Kohärenzgefühls im Erwachsenenalter je nach Lebenssituation (Bengel & Lyssenko, 2012).

Franke (2012, S. 171ff.) bemängelt, dass es sich bei den SOC-Komponenten um reaktive handelt, um mit Anforderungen und Stressoren umgehen zu können.

»Persönliche und soziale Ressourcen, die nicht im Zusammenhang mit aktiver Bewältigung stehen, sondern eher im Sinne positiver Gefühle, Motivationen und Bedürfnisbefriedigungen Entwicklungen ermöglichen – wie etwa die Fähigkeit, ein positives Lebensgefühl und Wohlbefinden herzustellen, Zielgerichtetheit, Selbstaktualisierungstendenz, Motivation zum Lernen und zur Weiterentwicklung –, finden keinen Eingang in das Modell« (S. 171).

Nach Bengel und Lyssenko (2012) liegen Stärken des salutogenetischen Ansatzes darin, dass auf die Gesundheit und Gesundheitserhaltung (und nicht auf die Krankheit) fokussiert wird, dass eine Vielzahl von Einflussgrößen auf die Gesundheit einbezogen und integriert wird und dass das Modell positive Auswirkungen insbesondere auf die Gesundheitsförderung und Prävention hatte beziehungsweise hat. Allerdings kommen die Autoren nach der ausführlichen Diskussion positiver Aspekte in ihrer kritischen Zusammenschau des aktuellen Forschungsstandes zu dem Schluss, dass das Modell der Salutogenese in den Sozialwissenschaften »meist nur noch als heuristisches Rahmenmodell oder als historischer Impulsgeber gewürdigt« wird (S. 21ff.).

Trotz dieser Kritik wird das Kohärenzgefühl als personale Ressource weiterhin bei der Resilienz- und Schutzfaktorenforschung als relevant angesehen.

1.3.2     Subjektive Theorien der Gesundheit

Gesundheit umfasst objektive und subjektive Phänomene. Der Zugang zu objektiven Phänomenen erfolgt zumeist medizinisch-naturwissenschaftlich über den Organismus und seine Störungen. Der Zugang zu subjektiven Phänomenen vollzieht sich über die Menschen, die ihren gesundheitlichen Zustand wahrnehmen und erfahren, zum Beispiel über ein physisches und psychisches Wohlbefinden oder durch Beschwerden und Krankheiten. Gesundheit wird subjektiv erfahren und hergestellt, muss aber auch in seiner sozialen Einbettung und Bestimmung gesehen werden (Faltermaier, 2016).

Gesundheit wird von Menschen alltäglich hergestellt, das bedeutet, sie haben durch ihre Sozialisation und Erfahrungen Vorstellungen und subjektive Theorien darüber entwickelt, wie sie ihre Gesundheit aufrechterhalten beziehungsweise wie sie Beschwerden und Krankheiten vermeiden oder bewältigen können. In anderen Worten: Menschen entwickeln komplexe Annahmen und Überzeugungen über die Einflussfaktoren auf Gesundheit und über deren Zusammenwirken. Diese subjektiven Theorien werden auf der Basis von Alltagswissen und durch Erkenntnisse und Wissensbestände von Expertinnen und Experten gebildet.

Die Erforschung dieser subjektiven Theorien von Gesundheit und Krankheit erfolgt erst seit wenigen Jahrzehnten. Dabei lassen sich bei Menschen eine Vielfalt an subjektiven Vorstellungen und Modellen von Gesundheit differenzieren (Faltermaier & Kühnlein, 2000, Franzkowiak, Homfeldt & Mühlum, 2011). Unter anderem kann Gesundheit als Reservoir oder als Gleichgewicht angesehen werden, aber auch als funktionale Fitness und als Selbstzwang. Bei den Modellvorstellungen werden das Schalter- (ein Schalter wird an- oder ausgeschaltet, d. h. Menschen fühlen sich entweder gesund oder krank), das Batterie- (die sich im Laufe des Lebens entleert, d. h. dass mit dem Älterwerden die Gesundheit abnimmt und Krankheiten zunehmen), das Akku- (Gesundheit ist regenerierbar, kann durch ein gesundheitsförderliches Verhalten wiederhergestellt werden) und das Generator-Modell (im Laufe des Lebens nimmt die Gesundheit unter optimalen Bedingungen zu) voneinander unterschieden.

Mithilfe von qualitativ-biografischen Interviews mit berufstätigen Erwachsenen haben Faltermaier, Kühnlein und Burda-Viering (1998) zum Teil darüberhinausgehende Modellvorstellungen identifiziert. Sie unterscheiden vier Typen von Gesundheitstheorien: die Risiko-, Ressourcen-, Ausgleichs- bzw. Balance- und Schicksalstheorien.

Den Risikotheorien liegt die Annahme zugrunde, dass die Gesundheit sowohl durch externe Risiken (z. B. Schadstoffe am Arbeitsplatz, in der Umwelt) als auch durch ein individuelles riskantes Verhalten beziehungsweise einen riskanten Lebensstil (z. B. Rauchen, Ernährung, u. a.) gefährdet wird.

Die Ressourcentheorien beschreiben, dass Gesundheit durch interne und externe Ressourcen beeinflusst wird. Wenn interne Ressourcen wie eine beispielsweise körperliche Widerstandfähigkeit und ein gesunder Lebensstil und externe Ressourcen wie hilfreiche soziale Beziehungen und Netzwerke vorhanden sind, können sie zum physischen und psychischen Wohlbefinden beitragen und die Gesundheit kann erhalten bleiben. Sind diese Ressourcen nur unzureichend verfügbar, kann die Gesundheit gefährdet sein.

Ausgleichs- und Balancetheorien beschreiben eine Wechselwirkung von physischen, psychischen und sozialen Risiken und ihrer Bewältigung. Menschen sollten eine Balance zwischen Anforderungen, den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten herstellen, damit die Gesundheit gefördert und aufrechterhalten werden kann.

Schließlich gehen Schicksalstheorien davon aus, dass die Gesundheit vom Schicksal bestimmt wird, es kann eine Krankheit schicksalhaft auftreten.

Mittlerweile wurden subjektive Gesundheits- und Krankheitstheorien auch für bestimmte Krankheiten (z. B. AIDS, Neurodermitis) und von bestimmten Gruppen (z. B. Kinder- und Jugendliche) untersucht. Nach Franke (2012) bestehen folgende Gruppenunterschiede: Danach betonen Frauen vermehrt das Wohlbefinden, während Männer mehr Wert auf die Leistungsfähigkeit legen und darauf, dass sie ihren Körper nicht negativ spüren (also keine Beschwerden und Symptome haben). Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status kommt es mehr auf das Funktionieren und die Leistungsfähigkeit des Körpers an und älteren Menschen auf das Vorhandensein weniger Funktionseinschränkungen.

Während von Kindern im (Grund-)Schulalter Gesundheit eher als Abwesenheit von Krankheit angesehen wird, beschreiben Jugendliche vermehrt positive Aspekte von Gesundheit.

Die Kenntnis von diesen subjektiven Theorien ist nach Faltermaier (2016) grundlegend, weil sie das eigene Gesundheitshandeln bestimmen. Das gilt für die Aufrechterhaltung von Gesundheit (Gesundheitsförderung), die Vorbeugung von Krankheiten (Prävention) und die Bewältigung von Krankheiten. Faltermaier (2016) beschreibt neben dem offiziellen Gesundheitssystem ein »Laiengesundheitssystem«, in dem notwendige unterstützende gesundheitsfördernde Leistungen für die Gesellschaft erbracht werden. Darunter ist unter anderem die Unterstützung und Pflege von Mitmenschen und Familienangehörigen zu verstehen, aber auch im weiteren Sinne die Betreuung und (Gesundheits-)Förderung in Kindertagesstätten (Kitas). Hier ist die Kenntnis der subjektiven Theorien vom pädagogischen Personal, welche Faktoren die Gesundheit im Alltag fördern (z. B. Ernährung, Bewegung, Ruhephasen, u. a.) oder auch beeinträchtigen, notwendig, weil sie das Gesundheitshandeln im Umgang mit den Kindern bedingt.

1.3.3     Schutzfaktoren, Ressourcen und Resilienz

Bei Ressourcenmodellen geht es darum, den Einfluss von Schutzfaktoren, auch protektive Faktoren genannt, als grundlegende Ressource für eine gelingende Entwicklung und Gesundheit zu beschreiben und empirisch zu prüfen. Personale (im Kind angesiedelte Faktoren), familienbezogene und umweltbezogene Schutzfaktoren stellen generell förderliche Bedingungen für die Entwicklung in verschiedenen Bereichen dar, und sie können bei bestehenden Entwicklungsrisiken mögliche abträgliche Folgen im Sinne eines Puffers kompensieren. So kann ein starker Schutzfaktor, z. B. eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson, Risiken wie eine psychische Störung der Eltern abfedern oder gar aufheben. Des Weiteren kann die positive Bewältigung von Entwicklungsanforderungen (z. B. Entwicklungsaufgaben, s. Kapitel 6.2 in diesem Buch) auch auf lange Sicht einen weiteren konstruktiven Entwicklungsverlauf fördern. Die erworbenen Bewältigungsmechanismen können an neue Anforderungen angepasst werden und somit kann ein Repertoire an Bewältigungsmöglichkeiten aufgebaut werden.

Noecker und Petermann (2008) haben protektive Faktoren auf vier Ebenen differenziert, die bei widrigen Lebensbedingungen eine resiliente Entwicklung begünstigen. In der folgenden Tabelle 1.1 werden die von verschiedenen Autoren (Bengel Meinders-Lücking & Rottmann, 2009, Bettge, 2004, Lohaus & Vierhaus, 2015, Noecker & Petermann, 2008, Petermann & Schmidt, 2006, Werner, 2007) genannten Schutzfaktoren entsprechend der vier Ebenen aufgeführt.

Tab. 1.1: Schutzfaktoren für eine resiliente Entwicklung1

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Bei dieser Zusammenstellung handelt es sich um häufig genannte und laut Autoren um empirisch geprüfte Schutzfaktoren.

Es gilt jedoch, dass Schutzfaktoren nicht global einheitlich wirken. Sie sind abhängig von bestimmten Alters- und Entwicklungsstufen, dem kindlichen Geschlecht, ihrer Ausprägung und ihrer Wechselwirkung mit anderen Schutz- oder Risikofaktoren und der Situation. Je nach Kontext können sie auch Risikofaktoren darstellen (»Kehrseite-der-Medaille«- Problematik, Laucht, Esser & Schmidt, 1998). Zum Beispiel wirkt sich ein feinfühliges mütterliches Verhalten bei frühgeborenen Säuglingen positiv aus, während dieser Effekt bei weniger risikobelasteten Kindern weniger relevant ist (Laucht, Esser & Schmidt, 1998). Es werden verschiedene Modelle zur Erklärung der Wirkung von Schutz- und Risikofaktoren diskutiert (Petermann & Schmidt, 2006). Unter anderem werden Schutzfaktoren als Kompensationsfaktoren angesehen, d. h. sie wirken beispielsweise interaktiv als Puffer, um die Wirkungen von Risiken und gefährdenden Entwicklungseinflüssen abzumildern.

Nach wie vor fordern Petermann und Resch (2013) allerdings, dass die multiplen Interaktionen von Risiko- und Schutzfaktoren im Entwicklungsverlauf unter Berücksichtigung ihrer Wirkweise zukünftig intensiver analysiert werden sollten.

Resilienz

In der Entwicklungspsychologie bzw. -psychopathologie wurden verschiedene Längsschnittstudien durchgeführt, um zunächst den Einfluss von Risiko-, dann zunehmend den von Schutz- beziehungsweise protektiven Faktoren zu untersuchen. Eine frühe, wegweisende Studie stammt von Emily Werner und ihrem Team, die seit 1955 auf der Hawaii-Insel Kauai 698 Kinder von der Geburt bis zum Erwachsenenalter (40 Jahre) in regelmäßigen Abständen untersucht haben. Bei einer kleinen Gruppe von circa 30 % der Kinder lagen mehr als vier Risikofaktoren vor, d. h. es bestanden beispielsweise geburtsbedingte Komplikationen bei den Kindern, und sie wuchsen in sehr armen oder Familien, in denen massive Konflikte, Alkoholprobleme oder psychische Störungen der Eltern vorhanden waren, auf. Von diesen 201 Kindern entwickelten zwei Drittel im Laufe der Zeit Verhaltensauffälligkeiten, hatten Lernschwierigkeiten oder wurden straffällig. Ungefähr ein Drittel dieser Kinder (n=72), die unter schwierigen familiären und sozioökonomischen Bedingungen aufwuchsen, zeigten jedoch eine positive und gesunde Entwicklung. Sie entwickelten sich zu »leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen« (Werner 1999, S. 26). Hier wird von Resilienz gesprochen, und Werner (1993) identifizierte eine Reihe von personalen Ressourcen, sozialen und gesellschaftlichen Resilienzfaktoren, die diese positive Entwicklung angesichts widriger Entwicklungsbedingungen fördern.

Der Begriff Resilienz (re-salire [lat.], zurück-springen) stammt aus der Materialwissenschaft und beschreibt die Fähigkeit von Material, nach starken Verformungen die anfängliche Form erneut anzunehmen (z. B. beim Fußball). Übertragen auf Menschen bedeutet das, dass diese sich trotz widriger Lebensumstände, Krisen und Katastrophen nicht »aus der Form« (vgl. Franke, 2012) bringen lassen, sondern im Gegenteil eine positive Entwicklung nehmen. Bisher liegt keine allgemein gültige Definition von Resilienz (Franke, 2012) vor, daher soll folgend auf verschiedene Aspekte von Resilienz näher eingegangen werden.

Nach Rutter (1990) ist Resilienz die Fähigkeit einer Person oder eines sozialen Systems (z. B. Familie), sich trotz widriger Lebensbedingungen in einer sozial akzeptierten Weise positiv zu entwickeln. Kernstücke von Resilienz sind damit die Widerstandsfähigkeit gegen die Verletzung der eigenen Integrität bei äußerem Druck und die Fähigkeit, unter widrigen Lebensumständen ein positives Leben aufzubauen. Damit wird nicht nur eine Adaptation an Situationen verstanden, sondern eine darüber hinausgehende positive Bewältigung und aktive Gestaltung des Lebens. Ursprünglich wurde Resilienz ausschließlich angesichts aversiver Lebensbedingungen (z. B. Traumata, familiäre Armut oder Gewalt) gefasst. Mittlerweile vertreten Autoren wie Schär und Steinebach (2015) die Ansicht, dass es bei der Resilienz auch um die konstruktive Bewältigung von Herausforderungen des Alltags geht.

Bei der Beschreibung von Risiken unterscheidet Wustmann (2004) biologische, psychische und psychosoziale Entwicklungsrisiken. Es müssen jedoch noch weitere, wie gesellschaftliche (z. B. Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem), kulturelle (z. B. Akkulturationsdruck nach Migration und Flucht), ökonomische (z. B. Konsequenzen von Finanz- und Wirtschaftskrisen) und umweltbezogene Risiken (z. B. mit Klimaveränderungen einhergehende Naturkatastrophen), einbezogen werden.

Resilienz wird zudem als dynamisches Konzept im Kontext der Umweltbedingungen verstanden. Zum Beispiel können sich Kinder in gewissen Entwicklungsabschnitten resilient verhalten, während sie in anderen Entwicklungsabschnitten gegenüber Risiken oder belastenden Lebensumständen vulnerabel sind (Lohaus & Vierhaus, 2015). Resilienz muss auch über die Lebensspanne hinweg betrachtet werden. Einerseits lernen Kinder in der Auseinandersetzung mit frühen Entwicklungsaufgaben Bewältigungsmechanismen und können auf diese bei der Lösung späterer Probleme zurückgreifen (Lohaus & Vierhaus, 2015), andererseits bringt jede Lebensphase neue Entwicklungsaufgaben mit sich, die zu bewältigen sind (und somit Risiken mit sich bringen können).

Zu Determinanten der Resilienz werden nach Southwick et al. (2014) genetische, epigenetische, entwicklungsbezogene, demographische, kulturelle, ökonomische und soziale Variablen genannt. Für die Einschätzung der Bedeutung der einzelnen Variablen und deren Zusammenwirken sind laut Autoren weitere multiperspektivische Studien notwendig. Wenn mehr Kenntnisse zu den Determinanten von Resilienz vorliegen, können Ansätze zur Unterstützung der Resilienz für Individuen, Familien, Organisationen, Gesellschaften und Kulturen vorangetrieben werden (Southwick et al., 2014).

Zu dem Resilienzkonzept muss angemerkt werden, dass der Begriff mittlerweile einen hohen Bekanntheitsgrad mit einer positiven Konnotation besitzt, was auch zu einem »inflationären« Gebrauch führt. Es fehlt nach Franke (2012) eine Operationalisierung des Konzeptes und auch theoretische Überlegungen, zum Beispiel zu den grundlegenden Dynamiken und der Interaktion mit weiteren Faktoren. Der Zusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit ist durch verschiedene Längsschnittstudien (vgl. Bengel et al., 2009) gut belegt, der zur körperlichen Gesundheit weniger. Die Forschung befasst sich vorwiegend mit der Förderung von Resilienz, und mittlerweile existieren eine Reihe von Programmen zur Resilienzförderung verschiedener Alters- oder weiterer Zielgruppen.

Bei diesen Programmen besteht die Gefahr, dass vor allem personale oder auch familiäre Faktoren gefördert und die komplexen Interaktionen zwischen Individuum und Gesellschaft beziehungsweise die sozial-gesellschaftliche Einbettung vernachlässigt werden. Das kann zur Folge haben, dass diese letztgenannten Risiko- und Schutzfaktoren nicht genügend bei der Förderung oder Veränderung einbezogen werden. Franke (2012) schließt:

»Individuelle Gesundheit braucht gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Gesundheit ermöglichen. Da, wo Menschen das Recht auf Gesundheit verwehrt wird, halte ich einen Forschungsansatz, der sich ausschließlich auf das individuelle Verhalten konzentriert, für reduktionistisch und ethisch fragwürdig« (S. 260).

1.3.4     Capability- /Verwirklichungschancen-Ansatz

In dem Capability-Approach oder Ansatz der Verwirklichungschancen geht es um die Frage, welche Bedingungen für ein gutes, gelingendes Leben von Menschen vorhanden sein müssen (Nussbaum, 2003, Sen, 2000). Damit geht der Ansatz über ein Erklärungsmodell von Gesundheit hinaus, bezieht sie jedoch ein.

Der Ansatz wurde vom Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Sen in der Auseinandersetzung mit der Überwindung von Armut und Ungerechtigkeit entwickelt, und er schreibt:

»Letztlich ist das individuelle Handeln entscheidend, wenn wir die Mängel beheben wollen. Andererseits ist die Handlungsfreiheit, die wir als Individuen haben, zwangsläufig bestimmt und beschränkt durch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, über die wir verfügen. Individuelles Handeln und soziale Einrichtungen sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist sehr wichtig, gleichzeitig die zentrale Bedeutung der individuellen Freiheit und die Macht gesellschaftlicher Einflüsse auf Ausmaß und Reichweite der individuellen Freiheit zu erkennen« (Sen, 2000, S. 9f).

Sen (2000) verwendet den Begriff der »Verwirklichungschancen« und beschreibt damit die umfassenden Fähigkeiten und Freiheiten von Menschen, ein für sie wünschenswertes Leben zu führen. Das bedeutet beispielsweise, frei von vermeidbaren Krankheiten zu leben, soziale Kontakte pflegen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Das Wohlergehen und die Gesundheit von Menschen sind vom Einkommen, dem Zugang zu materiellen Gütern, von der Bildung und den sozialen Zugehörigkeiten abhängig (Sen, 2000). Es werden Dimensionen der Verwirklichungschancen wie individuelle Potenziale und gesellschaftlich bedingte Chancen (auch instrumentelle Freiheiten) unterschieden. Zu den individuellen Potenzialen gehören finanzielle Potenziale (z. B. Einkommen, Güterausstattung) und nichtfinanzielle Potenziale (z. B. Bildung, Gesundheit, Behinderungen, Alter, Geschlecht). Bei den gesellschaftlich bedingten Chancen handelt es sich um soziale (z. B. Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem,