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Susanne Scholl

Die Damen
des Hauses

Roman

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Wir danken für die Unterstützung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

ISBN e-Book: 978 3 7017 4618 7

Inhalt

1. ELLA

2. RADA

3. MAGGIE

4. LUISE

5. ZUSAMMENLEBEN

6. DISKUTIEREN

7. TANZEN

8. ALT WERDEN

9. VERGESSEN

10. WEITERLEBEN

1. ELLA

»Endlich allein«, denkt Ella und lässt sich auf das graue Sofa fallen, das das Wohnzimmer dominiert.

Frau Liese faucht empört und bringt sich mit einem Satz in Sicherheit.

»Mausi, verzeih, hab dich nicht gesehen, komm her, lass dich streicheln!«

Frau Liese ist beleidigt.

Wehe, Ella würde Frau Liese in Gegenwart ihrer Schwester Maggie Mausi nennen.

Ella streckt sich genüsslich und schaltet den Fernseher ein.

Nachrichten.

Ella schaltet schnell wieder aus. Sie kann sie nicht leiden, diese Nachrichten aus aller Welt, die ihr Angst machen.

Frau Liese nähert sich vorsichtig. Mit einer Pfote berührt sie leise Ellas Oberschenkel, setzt dann die zweite hinterher und lässt sich schließlich leise schnurrend auf Ellas Schoß nieder.

»Na, siehst du, Mausi, bist ja doch nicht beleidigt«, sagt Ella und krault der Katze den Nacken.

Zum ersten Mal seit vielen Monaten hat sie nicht nur die Wohnung, sondern auch die Katze ganz für sich. Seit wann, kann sie nicht mehr genau sagen.

Es war alles überwältigend. Nachdem Heinz gestorben war, waren sie plötzlich da, die anderen. Die sie getröstet haben und nicht mehr gegangen sind.

Heinz hatte lange gebraucht, um zu sterben. Auch wenn er immer behauptete, sich mit seiner Krankheit abgefunden zu haben. Und Ella hatte ihn nicht gehen lassen wollen.

Vierzig Jahre lang waren sie aneinandergeklebt. »Ihr seid siamesische Zwillinge«, hatte Maggie immer gelästert. »Man kann euch nicht auseinanderschneiden. Furchtbar! Ich hab keine Schwester mehr, sondern nur noch eine Schwester mit Mann«, worauf Ella ihr vorgeworfen hatte, sie sei auf ihre glückliche Ehe ja nur neidig.

Dabei war es manchmal auch Ella zu viel gewesen. Wenn Heinz sie beschuldigt hatte, den Kindern mehr Zeit zu widmen als ihm. Und wenn sie ihn gehasst hatte, weil er mit Tommy stundenlang schwierige Kreuzworträtsel löste, statt mit ihr das begonnene Puzzle weiter zusammenzusetzen.

»Ihr seid so kindisch«, hatte Lilli den Eltern dann oft vorgeworfen.

Lilli, die jetzt irgendwo in Indonesien unterwegs war und sich nur alle paar Monate kurz bei Ella meldete. Lilli, die die Mutter getröstet hatte während des langen Sterbens des Vaters und danach fast ganz aus ihrem Leben verschwunden war. Sehr zum Zorn von Nelly. Nelly war Ellas Nichte. Maggies späte Tochter und Ellas engste Vertraute. Die, bei der sie sich ausweinte über ihre eigenen großgewordenen Kinder Lilli und Tommy, über Maggie und Luise und Rada. Der sie von den Streitereien in ihrer völlig überraschend entstandenen Wohngemeinschaft erzählte. An den Sonntagen, wenn Nelly zum Essen kam. Sonntag für Sonntag, das ganze Jahr lang.

Doch jetzt war Nelly auf Urlaub – ausnahmsweise einmal gemeinsam mit Maggie – und ihre anderen Wohnungsgenossinnen hatten sich für ein langes Wochenende in alle Windrichtungen zerstreut.

»Endlich allein«, seufzt Ella noch einmal und krault Frau Lieses schmalen, schwarzen Kopf mit dem weißen Fleck über dem linken Auge.

Sie würde aufstehen, wann es ihr passte, sie würde den ganzen Tag im Nachthemd herumlaufen und schon zu Mittag Unsinn im Fernsehen ansehen. Sie würde gehen und sich Ungesundes beim größten Fast-Food-Hersteller der Welt kaufen und den fetttriefenden Papiersack mit den giftigen Köstlichkeiten nach Hause tragen und diese mit Frau Liese teilen. Sie würde sich die süßesten Süßigkeiten leisten, die sie sich nur ausdenken könnte, und mindestens eine Tafel Schokolade pro Tag essen, und sie würde keine einzige Nachrichtensendung ansehen.

Sie würde mit einem Wort alles tun, was Maggie verachtete, Luise missbilligte und Rada schlicht und einfach nicht verstehen konnte.

Ella sieht zufrieden auf die laut schnurrende Frau Liese hinunter.

Dabei fällt ihr Blick auf die Uhr. Erst halb neun?

Der Tag hat also erst begonnen. Wieso ist sie dann schon auf? Wieso haben sie und Frau Liese schon gefrühstückt? Wieso sitzt sie dann jetzt hier auf dem Sofa und weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll?

Sie könnte sich anziehen, in die Meierei im Volksgarten schlendern und dort die traditionelle saure Milch trinken. Sie könnte ein Buch mitnehmen und sitzen und schauen, wer da so vorbeigeht im Park.

Sie könnte durch die Stadt spazieren und gleich neuen Kaffee besorgen. Kaffee kann sie ohnehin nie genug zu Hause haben.

Auch ein Streitpunkt mit Maggie, die darauf besteht, nur schwarzen Tee mit Milch zu trinken, und Ellas Kaffeegier spießig nennt.

Doch nichts von all dem reizt sie.

Als Heinz noch da gewesen war, waren ihre Tage genau eingeteilt gewesen. In den letzten Monaten seines langsamen Sterbens hatte sie ihm jeden Vormittag und jeden Abend lange vorgelesen. Da hatte er schon nicht mehr die Kraft gehabt, selbst zu lesen.

Sie hatte ihm die gesamte »Herr-der-Ringe«-Trilogie vorgelesen und dabei gedacht, dass dieser Tolkien schon ein ziemlicher Nazi gewesen sein musste mit seinen blonden, blauäugigen Reiterkriegern und den kleinen, buckligen, schwarzen Bösewichtern. Heinz hatte diese ihre Zweifel nicht gelten lassen. Er hatte Fantasy-Romane geliebt und sich keine Gedanken über ihren tieferen Sinn machen wollen. »Wenn ich Tiefsinn brauche, lese ich Handke oder Sartre«, hatte er auf ihre Vorhaltungen hin gesagt. Und Ella hatte sich ihr Teil gedacht und ihm den »Herrn der Ringe« vorgelesen, während er immer wieder zwischendurch eingenickt war, aber sofort wieder wach wurde, wenn sie aufhörte zu lesen.

Manchmal hatten Lilli oder Tommy ihr das Vorlesen abgenommen. Dann war sie ein paar Minuten spazieren gegangen oder hatte sich einfach in den Liegestuhl auf dem Balkon gelegt und in die Luft geschaut.

Heinz hatte sie beim Studium kennengelernt. Er war fünf Jahre älter als sie und schon Assistent an der Germanistik gewesen, als ihm die Erstsemestrige Ella über den Weg gelaufen war. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, hatte er immer behauptet. Ella hatte dagegen immer behauptet, er habe sie zunächst gar nicht wahrgenommen, sie habe ihm erst eine ganze Weile lang nachlaufen müssen, bevor er sie erhört habe.

»Aber Lali, du weißt doch, dass ich damals noch mit der Elfie zusammengelebt hab«, hatte Heinz bei solchen Diskussionen immer gesagt, und Ella, die er Lali nannte, zärtlich über den Arm gestrichen. »Die hab ich ja nicht einfach so von einem Tag auf den anderen sitzen lassen können …«

»Die Kuh, die«, hatte Ella dann immer in völlig ungerechter Eifersucht gebrummt. Schließlich hatte Heinz »die dumme Kuh« ja doch ihretwegen verlassen.

Manchmal denkt Ella jetzt an diese Elfie, mit der sie nie ein Wort gewechselt hatte. Die Verlassene hatte später Heinz’ größten Rivalen auf der Germanistik, Professor Rudolf, geheiratet, was Heinz unglaublich beleidigt hatte, und Ella immer wieder zu der Bemerkung veranlasste, Männer seien eben doch vor allem Kleinkinder mit totalem Besitzanspruch bis über den Tod hinaus.

Elfie war vor einigen Jahren von ihrem Professor verlassen worden und hatte sich danach zu Tode gesoffen. Und Ella verspürte so etwas wie Schuldgefühle. Auch wenn sie sich sagte, dass man ja nicht wissen könnte, was aus Elfie und Heinz geworden wäre, wenn Ella ihm damals nicht in den Korridoren des Germanistik-Institutes über den Weg gelaufen wäre.

Siamesische Zwillinge – das waren sie tatsächlich gewesen. Als Heinz sie endlich erhört und ihr seine Liebe gestanden hatte, waren sie unzertrennlich geworden. Vierzig Jahre lang waren sie keinen Tag getrennt gewesen, hatten keine Nacht in getrennten Betten geschlafen.

Dann war Heinz krank geworden.

Während ihrer Schwangerschaften war Ella oft Tage lang zu ihrer Mutter übersiedelt. Und Heinz war jeden Abend gekommen, um bei ihr zu sein.

Die Mutter hatte jeden neuen Enkel wie ein Geschenk betrachtet.

Die Tochter wurde zur Heiligen, der man jeden Wunsch von den Augen ablesen musste, und Ella hatte es genossen, sich plötzlich wieder zu fühlen wie damals als Kind, wenn ihr etwas wehgetan und die Mutter sie einfach in den Arm genommen und gewiegt hatte.

Maggie war damals im Ausland gewesen und nur ab und zu auf Besuch nach Wien gekommen. Wenn sie die ältere Schwester dann ganz unter der Fuchtel der Mutter vorgefunden hatte – mit Heinz immer in der Nähe –, hatte sie sich oft angewidert abgewandt. Manchmal hatte sie ihrer Mutter und der Schwester sogar vorgeworfen, sie völlig vergessen zu haben, nur weil sie nicht Tag und Nacht anwesend war.

»Sie fehlen mir«, sagt Ella zu Frau Liese, die sie verständnisvoll mit ihren tiefgrünen Augen ansieht und dann mit der feuchten Schnauze anstupst, weil Ella unvorsichtigerweise aufgehört hat, sie hinter den Ohren zu kraulen. »Sie fehlen mir so, die Mama und der Heinz, und ich weiß ja, dass das absurd ist. Und nie hat die Mama gesagt, dass die Oma ihr fehlt. Na ja, die war ja auch eine Hexe, die Oma. Aber wieso fehlen sie mir so? Der Heinz, das ist ja klar, der war ja mein Lebensmensch, mein Fels in der Brandung! Und die Mama? Ich will einfach jemand haben, der mir nicht dauernd erklärt, was ich alles falsch mache. Ich komm mir vor wie im Sandwich zwischen Maggie und Luise …«.

Als Heinz noch lebte, hatte sie Maggie nur selten gesehen. Ihre Schwester war mit ihrem Mann, einem Diplomaten, Jahre lang in der Weltgeschichte herumgereist. Ella hatte sie oft darum beneidet. Allerdings war die Ehe in die Brüche gegangen, als Maggie erst Mitte dreißig und Nelly gerade einmal vier Jahre alt gewesen war. Von da an hatte sich Maggie allein durchgeschlagen. Immer irgendwo auf der Welt. Manchmal hatte sie ihre Tochter monatelang bei Ella zurückgelassen. Und Ella hatte die Nichte, die Jüngste in der Familie, mit ihrer Mutter geteilt. Ellas Mutter, die »Oma Gerti«, hatte ihre jüngste Enkelin mehr bemitleidet als geliebt, weshalb Nelly es vorzog, bei Ella zu leben. Oma Gerti war deshalb oft böse gewesen, und manchmal hatte sie Ella Vorhaltungen gemacht. Sie verwöhne die Nichte mehr als ihre eigenen Kinder, sie dürfe Maggie nicht immer nachgeben, diese solle gefälligst ihre Verantwortung gegenüber ihrer Tochter wahrnehmen. »Und was ist mit dem Vater, dem Trottel? Der hat eine bezaubernde Tochter und vertreibt sich die Zeit lieber mit irgendwelchen Flitscherln«, hatte Ella dann geantwortet.

Heinz hatte die Anwesenheit seiner Nichte Nelly akzeptiert, auch wenn er ein wenig eifersüchtig gewesen war. Er hatte Lilli und Tommy geliebt und Nelly auch gernegehabt, den Eifer jedoch, mit dem seine Frau sich ihrer Nichte annahm, hatte er nie so ganz begriffen.

Bevor die nächste Generation ins Leben getreten war, hatten Ella und Heinz versucht, die Welt neu zu erfinden. Sie waren 1968 in der ersten Reihe der Studentenproteste gegangen und hatten ihre Eltern mit der Frage genervt, wieso sie nicht aufgestanden waren gegen die Verbrecher, damals in der Nazi-Zeit. Ellas Mutter hatte dann immer geantwortet, dass das nicht so leicht gewesen sei, wie sie, Ella, es jetzt habe. Ihr könne ja nichts geschehen, wenn sie auf die Straße gehe, damals aber hätte jeder Akt des Widerstands Lebensgefahr bedeutet. »Ich hätte dich sehen wollen, damals, weißt du? Wenn schon ein blöder Witz einen ins KZ bringen konnte«, hatte sie wütend gesagt.

Ellas Vater hatte geschwiegen. Was Ella über seine Erlebnisse im Krieg wusste, hatte die Mutter ihr erzählt. Kurt war als 16jähriger noch im letzten Kriegsjahr eingezogen worden und ganz bald davongelaufen. Ein Bauer im Waldviertel hatte ihn versteckt, »bis der Spuk vorbei war«. Die junge Gerti war mit ihrer Mutter, der Hexe, die aus dieser Gegend stammte, vor den Bomben auf Wien ins Waldviertel geflüchtet. Gertis Vater war in Russland gefallen. So hatten Kurt und Gerti sich kennen gelernt. »Im Heustadl«, hatte Oma Gerti unter dem Johlen ihrer Enkelkinder oft erzählt, und Ella war das immer ein bisschen peinlich gewesen. »Die Mama hat ihn ja nicht wollen«, hatte Gerti auch erzählt. »Der Opa Kurt war ja ein Vaterlandsverräter, hat sie gesagt. Weil er sich als halbes Kind nicht hat totschießen lassen wollen!« Ella und Maggie waren sehr stolz gewesen auf ihren Papa, den Deserteur. Kurt war ein außerordentlich sanftmütiger Mensch gewesen, hatte sich von Gerti herumkommandieren lassen und seine Töchter mit einer gewissen Scheu betrachtet, als ob er nicht glauben könne, dass das wirklich seine Kinder sein sollten. Er hatte seine Frau, die vier Jahre älter war als er, vergöttert. Die Töchter allerdings behaupteten immer, er habe sich vor allem unglaublich gefürchtet vor ihr und ihren Wutausbrüchen.

Kurt war noch jung gewesen, als der Krebs ihn geholt hatte, und Ella und Maggie hatten ihn auch deshalb sehr betrauert, weil die herrschsüchtige Mutter nun noch mehr Zeit hatte, sie zu tyrannisieren. Maggie hatte sich kurz danach mit ihrem Damals-noch-Ehemann nach Peru verabschiedet. Ella war geblieben und hatte das Unglück der Mutter und ihre damit zusammenhängende Unleidlichkeit jahrelang aus nächster Nähe miterlebt.

Als dann aber die Enkelkinder kamen und die Mutter alterte, hatte sich das Verhältnis umgekehrt. Die Mutter wurde weicher, und manchmal war es Ella, die sie jetzt anbrüllte in dem Bewusstsein, dass sie jetzt die Stärkere war. Und dann, als Lilli und Tommy erwachsen und auch Nelly kein Baby mehr war, war Oma Gerti gestorben. Ganz plötzlich und ganz schnell.

Und plötzlich hatte Ella sich bei dem Gedanken ertappt, dass sie jetzt in die erste Reihe vorgerückt war. Was ihr Angst machte. Hinzu kam, dass ihre tägliche Routine plötzlich ins Leere lief. In den letzten zehn Jahren war es ihr zur Gewohnheit geworden, die Mutter jeden Tag gegen fünf Uhr nachmittags, wenn sie aus der Schule zu Hause und ein wenig erholt war, anzurufen. Die Mutter erzählte ihr dann, was sie erlebt hatte an diesem Tag, und Ella beschwerte sich über ihre unbelehrbaren Schüler, die nicht einmal mehr wussten, wer Heinrich Böll war. Als Ella gerade erst vier Jahre in Pension war, war die Mutter gegangen. Keine täglichen Telefonate mehr. Keine Schuldgefühle, weil sie die Mutter vernachlässigte. Kein wöchentlicher Sonntagsbesuch mehr. All das hätte eine Erleichterung sein können, fehlte Ella jetzt aber ganz unvermutet. Ein Teil ihres Lebens war ihr plötzlich abhandengekommen, und diesen Teil konnte auch Heinz nicht ersetzen.

Heinz, der sie gelegentlich gerne daran erinnerte, wie sehr sie unter »Oma Gerti« gelitten hatte, vor allem, wenn diese wieder einmal mit gnadenloser Direktheit in ihrer beider Leben eingebrochen war. Wenn sie ihr vorhielt, sich nicht genug um sie, die arme, alte, einsame Großmutter zu kümmern. Wenn sie sie beschuldigte, die geliebten Enkelkinder gegen sie aufzuhetzen, weil diese mit zunehmendem Alter immer weniger Lust zeigten, die etwas raunzige Oma zu besuchen.

»Ich bin frei«, sagt Ella laut zu Frau Liese und drückt der sich sträubenden Katze einen Schmatz auf die rosa Nase. Frau Liese pfaucht leise und springt auf den Couchtisch, der ihr eigentlich verboten ist. Aber was ist für eine Katze schon verboten …

»Na gut, und was mach ich jetzt mit der Freiheit?«

Heinz war eines Tages müde und ungeduldig geworden. Er hatte aufgehört zu lesen, war Stunden lang vor dem Radio gesessen und hatte sich Opern angehört.

»Der Wessely hält einen Vortrag über Paul Celan, gehen wir hin?«

»Keine Lust«, hatte Heinz geantwortet, obwohl Paul Celan sein ureigenstes Thema war, er selbst ein Buch über ihn veröffentlicht hatte und immer der Überzeugung gewesen war, sein Kollege Walter Wessely wolle ihn nur provozieren, indem er sich ebenfalls zum Celan-Experten aufspielte.

»Was? Dazu hast du keine Lust? Heinz, du bist krank!«, hatte Ella voller Schrecken gerufen und einen Termin beim Arzt vereinbart.

Sie war tatsächlich sicher gewesen, dass Heinz krank sein musste, wenn er sich die Gelegenheit entgehen ließ, den Wessely vor Publikum herunterzumachen. Und das wäre ihm durchaus gelungen, denn niemand wusste so viel über Celan wie er!

»Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Widerwillen gegen Fleisch, Interesselosigkeit an allem, was ihn früher brennend begeistert hat«, erklärte Ella dem Arzt, während dieser die Nadel in Heinz’ Vene stieß und ihm Blut abnahm. Und Heinz ließ sie reden – ihr Heinz, der sonst immer das große Wort geführt hatte und ihr nie erlaubt hätte, dem Arzt von ihm zu erzählen.

Die Diagnose ließ Ella in tiefste Depressionen verfallen. Heinz aber nahm ihre Hand und sagte: »Lali, Liebes, sei nicht traurig, ich hab doch ein wunderbares Leben gehabt mit dir und den Kindern. Da kann ich jetzt auch leicht gehen, ohne traurig zu sein. Und du kannst dein Leben noch eine Weile länger genießen und es dir gut gehen lassen. Das ist für mich der schönste Trost, dass es dir auch ohne mich gut gehen wird.«

Da hatte Ella geweint. Lange und bitterlich und Heinz hatte sie im Arm gehalten und getröstet.

Noch am selben Abend hatte Ella Tommy und Lilli angerufen und ihnen gesagt, dass der Vater todkrank sei. Lilli, die gerade von einer Studienreise aus dem Jemen zurückgekommen war und schon die nächste vorbereitete, war am folgenden Tag gekommen und hatte der Mutter versichert, sie werde ihr und dem Vater beistehen. Tommy wiederum hatte die Eltern mit der Nachricht zu trösten versucht, er werde seine langjährige Freundin Silvia heiraten, sie erwarteten nämlich ein Kind.

Ella war hin und hergerissen gewesen zwischen ihrer Sorge um Heinz und der Freude über das erste Enkelkind. Heinz aber schien sich einfach nur zu freuen und blödelte mit Tommy über die möglichen Namen für Mädchen und Buben.

Doch unterdessen wurde Heinz immer schwächer. Immer öfter verbrachte er den ganzen Tag auf dem Sofa liegend. Frau Liese, die damals noch eine sehr junge Dame war, versuchte hie und da, ihn zu einem Spiel zu animieren, aber Heinz brachte die Kraft nicht auf.

Tommys Hochzeit allerdings ließ er sich nicht entgehen. Obwohl ihm sein bester Anzug schon so zu weit war, dass er aussah wie eine Vogelscheuche und Ella sich neben ihm wie ein Walross vorkam. Er hielt eine wunderbare Rede auf Tommy und Silvia und das kommende neue Menschlein und schien aufzuleben.

Nur Ella beunruhigten die roten Backen ihres abgemagerten Mannes, denn die verhießen gar nichts Gutes.

»Mama, schau nur, wie er sich freut, lass ihn einfach«, sagte Lilli und streichelte Ellas Hand. Lilli, die Textilkunde studiert hatte und jetzt in die entlegensten Ecken der Welt fuhr auf der Suche nach besonderen handgewebten Stoffen, hatte ihre Reisetätigkeit stark eingeschränkt, weil sie, wie sie sagte, weder die Mutter noch den Vater in dieser Lage allein lassen wollte.

Marianne, genannt Nanni, kam kurz vor Heinz’ Tod auf die Welt. Und der Schwerkranke ließ es sich nicht nehmen, Mutter und Kind zu besuchen, sobald sie zu Hause angekommen waren.

»Sie schaut dir ähnlich, Lali, so ein Glück! Stell dir vor, sie wär so hässlich geworden wie ich …«, sagte er, als er das Baby in seiner Wiege betrachtete, und lächelte Ella zu. »Besser so schön wie ich und so gescheit wie du als umgekehrt«, hatte Ella lachend geantwortet.

Später, zu Hause, im Bett, sagte Heinz, er sei glücklicher, als er je zu träumen gewagt habe, und denke, dass er nun leichten Herzens gehen könne.

Ella schimpfte mit ihm und verbat ihm solche Gedanken.

Aber sein Zustand verschlechterte sich nun von Stunde zu Stunde. Ella kämpfte. Sie bekochte ihn, las ihm vor, erzählte von Nannis Fortschritten im Menschsein und tat so, als sei er noch ihr Heinz, der große Professor, ihr Vorbild in allen intellektuellen Fragen, ihr Mann, ihr Geliebter und ihr Fels in der Brandung.

Lilli kam jeden Tag und schickte die Mutter aus dem Haus.

»Geh einkaufen, du brauchst sicher wieder ein neues Sommerkleid, ich hab in der Stadt solche gesehen, wie du gerne hast, geh, spazier einmal über die Kärntner Strasse und tu dir was Gutes!«

Aber Ella, die Eitle, die nichts mehr liebte, als sich mit schönen Dingen – auch Kleidern – zu umgeben, hatte den Spaß am Einkaufen ganz plötzlich verloren.

Sie traf sich manchmal mit Maggie, wenn diese in Wien war. Hie und da ging sie mit ihrer Nachbarin Luise ins Kaffeehaus und hörte sich deren Ehetragödie an. Was sie von Heinz’ Dahinsiechen ablenkte. Aber meistens rannte sie spätestens nach einer Stunde wieder nach Hause, getrieben von der unbestimmten Angst, Heinz könnte verschwunden sein, sich in Luft aufgelöst haben.

Lilli brachte eines Tages Valentin mit. Valentin war einen guten Kopf größer als sie, kräftig, aber nicht dick, und hatte ein verschmitztes Lächeln in den Augenwinkeln. Lilli, die Ella manchmal im Spaß »mein Quecksilber« nannte, tanzte förmlich um Valentin herum, und Ella bemerkte, dass dieser ihre Tochter so verliebt ansah, wie Heinz es damals mit ihr gemacht hatte. Damals, als sie Hand in Hand demonstrieren gegangen waren.

»Jetzt bin ich also alt«, hatte Ella bei sich gedacht und sich gleichzeitig gefreut, weil ihre Tochter noch nie so glücklich ausgesehen hatte. Valentin war Arzt und Lilli hatte ihn auf einer ihrer Reisen kennengelernt, weil er zur gleichen Zeit, als sie auf der Suche nach unbekannten Textilweberinnen war, auf einer Mission für Ärzte ohne Grenzen in Afrika unterwegs gewesen war. »Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel, Mama, wir waren uns in allen wichtigen Dingen einig, uns interessieren die gleichen Sachen, und wir lieben beide die weite Welt. Besser geht’s gar nicht. Er ist wie ein Geschenk!«

Ein Geschenk, hatte Ella gedacht. War Heinz ein Geschenk gewesen? Oder doch nur das, was alle von ihr erwarteten? Allen voran Omi Gerti? Sie liebte Heinz und hatte Angst um ihn, aber ein Geschenk? So hätte sie das nie gesehen.

Tommy kam mit Silvia und Nanni zu Besuch, und Valentin fragte, ob er das Baby wohl halten dürfe. Silvia, eine etwas überängstliche Mutter, zögerte und blieb dann direkt neben ihm stehen, bereit, ihm ihr Kind beim ersten Anzeichen von Unmut zu entreißen. Aber Nanni patschte Valentin ihre dick gepolsterten Babyhändchen fröhlich ins Gesicht, zog ihn an den Haaren und biss ihn voller Liebe in die Wange. Silvia war sprachlos, Tommy lachte und Ella und ihre Tochter betrachteten diesen Valentin wie ein Wunder. Als er das Baby in die Luft warf und Nanni vor Vergnügen jauchzte, hielt die versammelte Familie die Luft an. Nur Heinz klatschte ganz leise Beifall und streckte Nanni dann eine Hand entgegen. Valentin verstand die Geste und setzte das Baby Heinz, der auf dem Sofa saß, eine Decke über den abgemagerten Beinen, auf den Schoss. Heinz strich über die seidigen, dunklen Locken des Babys, während Nanni quietschte und Valentin die Ärmchen entgegenreckte.

»Also du hast die ganze Familie in die Tasche gesteckt«, sagte Lilli lachend und ein wenig stolz, und Valentin sagte genau das, was alle hören wollten: »Ihr seid ja auch eine Familie zum Verlieben!«

Von da an vergötterte Ella Valentin, und wenn Lilli sie ohne ihn besuchen kam, fürchtete sie sogleich, dass die Beziehung kaputt gegangen sein könnte, was sie als Katastrophe für Lilli, aber auch für sich und Heinz betrachtete. Wenn sie dann aber Lilli gegenüber derlei Andeutungen machte, wies die Tochter ihre Befürchtungen nicht nur entschieden zurück, sie warf der Mutter auch noch vor, sich allzu sehr einzumischen, so wie das Omi Gerti ja auch schon bei ihr und Heinz getan habe, und sie, Lilli, denke nicht daran, sich das bieten zu lassen.

Nachdem Valentin die Familie im Sturm erobert hatte, kam er jetzt manchmal auch alleine, um bei Heinz zu sitzen, mit ihm über alles Mögliche zu reden und hie und da auch Ella in medizinischen Fragen beizustehen.

In den letzten zehn Tagen ihres Mannes verließ Ella sein Zimmer nur noch, wenn es sich gar nicht verhindern ließ. Tommy kam jeden Nachmittag für ein paar Minuten vorbei, Lilli und Valentin aber nahmen sich frei, verköstigten die Mutter und versuchten auch dem Sterbenden Nahrung einzuflößen. Heinz starb, als Ella für kurze Zeit aus dem Zimmer gegangen war, um sich eine frische Bluse anzuziehen, weil sie sich bei dem Versuch, Heinz etwas Tee zu geben, ganz nass gemacht hatte.

Lilli saß beim Vater und hielt seine Hand. Und als Ella zurückkam, hatte er aufgehört zu atmen.

Beim Begräbnis hatte Ella zwischen Tommy und Lilli gesessen und war unfähig gewesen zu weinen. Heinz’ Kollegen von der Universität hatten einen viel zu großen Kranz gespendet, Professor Wessely hatte eine viel zu kalte Rede gehalten. Professor Rudolf hatte geschluchzt, als sei sein bester Freund gestorben, was Ella dazu zwang, sich sehr zu beherrschen, um nicht schallend herauszulachen. Nelly hatte geweint und davon gesprochen, dass Heinz ihr mehr Vater gewesen war, als ihr eigener Vater. Dann war Valentin aufgestanden und hatte vorgelesen, was Lilli und Tommy ihm diktiert hatten. »Lilli und Tommy, deine Kinder, und Ella, deine große Liebe. Sie können heute nicht sprechen, weil sie keine Worte haben. Aber sie haben mich gebeten, der ich dich ja leider nur so wenig gekannt habe, auszusprechen, was ihnen in der Seele brennt, was sie selbst aber nicht herausbringen in diesem Moment«, hatte er gesagt und dann von Heinz als Vater und Ehemann gesprochen, als Mensch mit Ecken und Kanten, und Lilli und Tommy hatten die Mutter fest im Arm gehalten.

Als alles vorbei war, waren sie gemeinsam nach Hause zurückgegangen. In die große Wohnung, die Ella plötzlich schrecklich leer erschienen war. An diesem Abend hatte sich Lilli zu ihrer Mutter ins Bett gelegt und sie im Arm gehalten, bis sie eingeschlafen war.

In den folgenden Wochen waren die Kinder so rücksichtsvoll gewesen, wie Ella es gar nicht für möglich gehalten hatte, und hatten sich dabei abgewechselt, ihr Gesellschaft zu leisten, dafür zu sorgen, dass sie regelmäßig aß und spazieren ging. Nach und nach aber war der Alltag wieder eingekehrt. Lilli hatte ein neues Forschungsprojekt in Burkina Faso und verließ Wien für mehrere Monate, gefolgt von Valentin, der sich unbezahlten Urlaub nahm, um ebenfalls in Burkina Faso in einem Krankenhaus zu arbeiten, wo dringend Ärzte gesucht wurden. Tommy war mit seiner Arbeit als Ingenieur, mit Silvia und Nanni beschäftigt. Manchmal durfte Ella das Baby hüten, während die Eltern ins Kino gingen oder Freunde trafen.

»Sie fehlen mir, Frau Liese, sie fehlen mir. Aber nicht, weil ich einsam bin. Sondern weil es mit ihnen halt irgendwie anders war. Einsam bin ich ja nicht, war ich nie …«

Sie war allein gewesen und sie hatte getrauert. Lange und bitter. Um ihren Mann, um ihre Mutter, um ihre Jugend. Aber sie hatte sich nicht einsam gefühlt. Nelly kam sie nach Heinz’ Tod oft besuchen und sie redeten. Über Heinz und Oma Gerti und auch über Maggie. Die hatte sich in Rom niedergelassen, nachdem sich ihre und die Wege ihres Mannes Leo genau dort getrennt hatten. Nelly war der festen Überzeugung, dass die Mutter dort unglücklich war. Sie arbeitete als Dolmetscherin bei der FAO, verdiente auch viel Geld, war aber irgendwie nie so recht angekommen in der chaotischen italienischen Hauptstadt. »Und außerdem hat sie eine blöde Männergeschichte nach der anderen«, erzählte Nelly ihrer Tante an einem verregneten Samstag im November, drei Monate nach Heinz’ Tod. »Oh je, wieso?«

»Na, weil sie sich dauernd irgendwelche italienischen Machos aufreißt, die sie dann gleich heiraten und am liebsten zu Hause einsperren wollen, so wie der Leo auch schon …«

»Das ist dein Vater, ich mag das nicht, wenn du so über ihn sprichst«, wies Ella die Nichte zurecht, aber insgeheim gab sie ihr Recht. Leo hatte aus Maggie eine brave Diplomatengattin machen wollen, Maggie aber war eine lebenslustige, neugierige Frau, die die Welt sehen wollte und der der befohlene diplomatische Lebensstil gar nicht behagt hatte. Sie war nie eine großartige Hausfrau gewesen, hatte sich nicht dafür interessiert, wie man so wenig Geld wie möglich für den größtmöglichen Empfang ausgab, und sich bei den verschiedenen gesellschaftlichen Notwendigkeiten fürchterlich gelangweilt. Sie hatte überall Freundschaften geschlossen, die laut Leo alles andere als »standesgemäß« gewesen waren, und schließlich irgendwann begonnen, Leo zu betrügen. Nicht, weil sie ihn nicht geliebt hätte, sondern weil er ihr zunehmend auf die Nerven ging mit seinem gezwungenen Gehabe, als wäre er ein englischer Lord.

In Rom war es zum endgültigen Bruch gekommen, als Maggie Leo eröffnet hatte, sie habe eine Affäre mit einem seiner Kollegen an der Botschaft. Leo war damals Gesandter. Der Kollege war strafversetzt worden und Leo und Maggie hatten sich scheiden lassen. Leo war bald darauf Botschafter in London geworden, Maggie aber hatte bei der FAO angeheuert und die vierjährige Tochter ihrer Mutter und ihrer Schwester in Wien anvertraut.

Jetzt nahte die Zeit, in der Maggie bei der FAO in Pension gehen würde – und Nelly fand, die Mutter sollte nach Wien zurückkommen, wo sie Familie hatte und vielleicht auch noch ein paar Freunde aus ihrer Jugend. »Ihre einzige wirkliche Freundin in Rom ist ihre Friseurin, kannst du dir das vorstellen? So kann sie doch nicht leben!«

»Wieso nicht?«, fragte Ella vorsichtig.

»Na, bisher war sie die Karrierefrau von der FAO, aber wenn’s damit vorbei ist, ist sie dort niemand mehr, und bei diesen internationalen Organisationen wechseln die Leute so rasch, da erinnert sich bald keiner mehr an sie, und dann bleibt? Giulia, ihre Friseurin …«

Im Jänner kam Maggie zu Besuch nach Wien und fragte Ella, wie es ihr so gehe, jetzt, wo sie allein sei. »Frei«, antwortete Ella, »frei auch!«

»Ja, frei, schon, aber eben auch allein«, meinte Maggie, und Ella fragte sie geradeheraus, ob sie Angst davor habe, mit der Arbeit aufzuhören.

»Ja«, antwortete Maggie ebenso frei heraus.

»Dann komm zurück und zieh bei mir ein!«, sagte Ella plötzlich, ohne lange nachzudenken.

»Wirklich?«, fragte Maggie?

»Ja, klar«, wiederholte Ella, obwohl sie sich gar nicht sicher war. »Schau dir diese Wohnung an, die hat 250 Quadratmeter. So viele Zimmer kann ich allein gar nicht bewohnen. In dem kleinen wohnt die Rada. Du kannst das große Zimmer hinten haben, da siehst und hörst du mich gar nicht, wenn du nicht willst …«

Maggie erbat sich Bedenkzeit und reiste wieder ab.

Als Nelly von Ellas Versuch erfuhr, Maggie zu sich zu nehmen, war sie begeistert.

»Ihr macht’s eine Seniorinnen-Wohngemeinschaft, wie geil …«, rief sie, was Ella zu der empörten Antwort veranlasste, weder fühle sie sich als Seniorin, noch habe sie vor, eine Wohngemeinschaft zu gründen. Davon habe sie in ihrer Jugend mehr als genug erlebt.

»Wirklich? Erzähl!«, forderte Nelly begeistert.

Bevor sie Heinz begegnet war, habe sie »sich herumgetrieben«, meinte Ella daraufhin. Bei Oma Gerti sei sie mit 18 ausgezogen, weil sie deren kleinbürgerlichen Lebensstil – »ihr verstaubtes Spießertum« – nicht mehr ertragen habe. Sie sei damals mit einem strammen jungen Maoisten zusammen gewesen – »also, ich hab mit ihm geschlafen und er hat mir was von freier Liebe erzählt und dass Heirat und Zweierbeziehung etwas für die alten Nazis aus der Generation unserer Eltern seien«, sagte Ella und erzählte Nelly dann auch, mit wie vielen anderen Frauen sie diesen Max in ihrem Bett in der Wohngemeinschaft erwischt habe, in der sie mit ihm und einem anderen Paar lebte. Max hatte zwar sein eigenes Zimmer, aber Ellas Bett war größer und bequemer gewesen, erwiderte sie auf Nellys empörte Frage, warum er die Frauen nicht wenigstens in sein eigenes Zimmer mitgenommen habe.

»Wenn ich ihm Vorwürfe gemacht hab, hat er mir erklärt, ich solle meine kleinbürgerliche Eifersucht ablegen«, sagte Ella und merkte, wie die Bitterkeit in ihr aufstieg, die sie damals Monate lang hinuntergeschluckt hatte, weil sie eben nicht kleinbürgerlich und eifersüchtig sein wollte.

»Und wie lang hast du das ausgehalten?«

»Drei Jahre!«

»So lang? Ich wär nach dem ersten Mal gegangen oder hätte ihn rausgeschmissen!«

»Na ja, ich wollte nicht zurück zur Oma Gerti, eine eigene Wohnung hab ich mir nicht leisten können, und dann haben dort ja auch die Ruth und der Jakob gewohnt, und die Ruth war damals meine beste Freundin und hat mich immer getröstet und gesagt, das geht vorbei, der Max muss sich selbst was beweisen, das hat gar nichts mit mir zu tun, mich liebt er wirklich, die anderen rennen ihm halt so nach, weil er ja so ein großes Tier in der Studentenbewegung ist, und da könne er halt oft nicht Nein sagen.«

Als aber eine der angeblich unwichtigen Bettgenossinnen von Max bei Ella um dessen Hand anhielt – »also besser gesagt, sie hat sich vor mir aufgebaut und gesagt, ich solle mich doch damit abfinden, dass Max sie liebe und ihrem Glück nicht länger im Weg stehen, er sei ja nur aus Mitleid noch bei mir«, habe sie, Ella, die Notbremse gezogen und Max aufgefordert, auszuziehen.

Kurz danach hatte Ella Heinz getroffen. Als sie zum ersten Mal Hand in Hand mit ihm zu einer Demonstration gekommen war, hatte Max ihr sehr zu ihrer Zufriedenheit eine Eifersuchtsszene gemacht und war sogar in Tränen ausgebrochen.

»Aber weißt du – ich kann immer nur mit einem Menschen zusammensein«, erklärte Ella ihrer Nichte. »Und nach allen Kränkungen ist mir die Liebe zu Max ganz und gar abhandengekommen. Ich hab ihn plötzlich in seiner ganzen Eitelkeit gesehen und mich gefragt, was ich denn an ihm gefunden hab. Und da war Heinz, der hat Max so von oben bis unten gemustert, mich dann um die Taille genommen, geküsst und weggezogen. Also eine bessere Revanche für all die Betrügereien hätte ich mir gar nicht wünschen können!«

Nelly sah nachdenklich in ihre Kaffeetasse und sagte dann:

»Ich wollte, ich würde so einen Heinz finden. Oder meinetwegen auch eine Heinzine.«

»Bist du lesbisch?«, fragte Ella und bemühte sich, Nelly ihre Verwirrung nicht spüren zu lassen.

»Bi«, sagte Nelly kühl. »Ist das ein Problem für dich?«

»Nein, es ist mir nur nie aufgefallen … weiß das deine Mama?«

»Fragst du mich jetzt, ob die Mama weiß, dass ich heute schon drei Eis gegessen habe?«, erwiderte Nelly spitz.

»Nelly, meine Süße, jetzt sei doch nicht so beleidigt, ich frag ja nur …«

»Du fragst wie die Leute, die glauben, lesbisch sein ist eine Krankheit …«

»Aber nein, so hab ich das doch nicht gemeint, ich wollte es ja einfach nur wissen …«

»Die Mama weiß das nicht, aber es interessiert sie ja auch nicht, wie ich leb …«, sagte Nelly bitter.

»Aber nein, Schatzi, das stimmt doch nicht, die Mama liebt dich und natürlich will sie alles über dich wissen …«

»Geh hör auf, ich weiß doch, wie sie ist, und du weißt das auch. Sie ist so mit sich selbst beschäftigt, dass es ihr gar nicht auffällt, wenn es mir schlecht geht. Du weißt tausend Mal mehr von mir als sie …«

Ella schwieg lange, bevor sie sich neuerlich in die Verteidigung ihrer kleinen Schwester stürzte. Allerdings ohne Erfolg. Nelly war unversöhnlich und wollte nichts hören über Maggies Probleme und Anstrengungen. Und Ella dachte, was sie damals schon gedacht hatte, dass das Kind – Nelly war für sie immer das Kind gewesen, das Kind, das ihr gebracht worden war, als Lilli und Tommy schon keine Babys mehr waren – dass das Kind also nicht ganz unrecht hatte.

Damals. »Es war alles so schwierig damals«, sagte Ella und dachte dabei an ihre Zeit mit Max, der ihr nicht aus dem Kopf gegangen war, als sie schon lange mit Heinz lebte. »Die Mama war frisch geschieden und der Papa hat sich überhaupt nicht um dich gekümmert, und die Maggie war allein und weit weg und hat irgendwie gar nicht gewusst, wie sie das mit dir machen soll, und ich war da in Wien mit Mann und Kindern, und die Oma Gerti war sowieso verwitwet, und wir haben dich alle so lieb gehabt – also ich lieb dich nach wie vor so – und haben gefunden, dass es für dich viel besser ist, wenn du bei uns bist. Für Lilli und Tommy warst du ja eh auch die kleine Schwester, und es ist dir doch gut gegangen bei uns, oder? Das hat doch nicht geheißen, dass sich die Mama nicht für dich interessiert hat, oder dass sie sich jetzt nicht um dich sorgt. Sie hat jeden Tag angerufen und du wolltest oft gar nicht mit ihr reden, weil du gerade was gespielt oder gelesen hast, und da hat sie sich sehr gekränkt. Und sie hat sich jedes Jahr vier Wochen Urlaub genommen und hat den mit dir verbracht, und wie du älter warst, hast du immer aussuchen dürfen, wohin ihr fahrt …«

Aber während Ella ihre Rede an Nelly hielt, dachte sie an Max. An die Demonstrationen gegen die Faschisten in Griechenland und den amerikanischen Feldzug in Vietnam. Sie erinnerte sich, wie sie mit Tränen in den Augen Mikis Theodorakis gehört hatten, oder auch Victor Jara oder die Inti-Illimani. Wie sie demonstriert hatten gegen die chilenischen Putschisten, und geweint um Salvador Allende. Sie erinnerte sich an Freunde von Max, die aus Chile nach Österreich gekommen waren und bei Wien in einer Siedlung gewohnt hatten, die sie Klein-Macondo nannten, und wie sie zum ersten Mal »Hundert Jahre Einsamkeit« gelesen hatte. Und wie Max ihr einmal mehr erklärt hatte, sie sei eine Tochter aus bürgerlichem Haus, die lieber Romane lese, als sich mit Marx auseinanderzusetzen. Und sie hatte Max trotzig geantwortet, dass sie aus einem Roman tausend Mal mehr erfahre als bei der Lektüre des »Kapitals«. Und wie sie eines Nachts geträumt hatte, dass sie als Krankenschwester nach Vietnam gehe und Max sie zum Flughafen bringe und bitterlich weine, weil sie weggehe und so mutig sei, auf der Seite des Vietcong zu kämpfen. Sie war damals schweißgebadet aufgewacht und hatte sich gewundert, dass sie sich selbst im Schlaf so mutig gemacht hatte, wo sie sich doch so oft und vor so vielem fürchtete.

Mit Heinz hatte sie nie darüber gestritten, was sie gerade lesen sollte oder nicht. Er hatte sie zwar manchmal dazu angehalten, »als Germanistin immer auf dem Laufenden zu sein, was die deutschsprachige Literatur betreffe«, aber auch das war halb im Scherz gesagt.

Als sie mit Lilli schwanger war, hatte sie trotzig ausschließlich Kriminalromane gelesen – vorwiegend die schwedischen von Sjöwall und Walöö –, was Heinz ihr auch deshalb zugestanden hatte, weil die damals unter den selbsternannten Revolutionären der 1968er durchaus modern waren. Weil Lilli aber ein unruhiges Kind war und Oma Gerti behauptete, das komme von der beunruhigenden Lektüre ihrer Mutter, hatte sie sich in der zweiten Schwangerschaft für Märchen aus aller Welt interessiert – wobei Lilli ihr kaum Zeit zum Lesen gelassen hatte.

»Ich weiß ja, dass die Mama es nicht so leicht gehabt hat«, sagte Nelly mürrisch, »aber ich hab sie ja schließlich nicht gebeten, mich auf die Welt zu bringen …«

»Nelly, meine Süße, was Besseres hätte der Mama gar nicht passieren können, als dich zu kriegen. Das weiß sie auch und sie sagt es auch immer …«

»Dir vielleicht, mir sagt sie das nie …«, murrte Nelly abschließend.

Ella dachte wieder an ihre Zeit in der Wohngemeinschaft. Und daran, wie sie mit Ruth und Jakob zum Standesamt gegangen waren. Ruth war damals im sechsten Monat schwanger, und Jakob hatte darauf bestanden, zu heiraten – »damit das Kind einen Namen hat. Meinen Namen hat …«, hatte er gesagt. Man heiratete damals nicht, oder jedenfalls nur, wenn eben ein Kind unterwegs war. Ruth trug ein weites, dunkelrotes, afghanisches Kleid und einen Blumenkranz im Haar, und Jakob hatte sich von seinem Großvater ein Sakko ausgeborgt, unter dem er ein weißes T-Shirt trug. Ella hatte das damals alles sehr revolutionär gefunden und war stolz gewesen, Ruths Trauzeugin sein zu dürfen.

Bald danach hatte sich die Wohngemeinschaft allerdings aufgelöst. Ruth und Jakob hatten beschlossen, nach Kärnten zu Jakobs Eltern zu ziehen. Jakob hatte dort einen Job in seiner ehemaligen Schule gefunden, und Ruth war froh, Hilfe mit dem Kind zu haben. Und Max war ohnehin schon nicht mehr da gewesen. Also war Ella kurzerhand bei Heinz eingezogen. In diese riesige Wohnung, in der damals auch noch Heinz’ Vater lebte. Die Mutter war so früh gestorben, dass sich Heinz kaum noch an sie erinnerte. Heinz’ Vater war ein zurückhaltender, ruhiger Mann gewesen, der das junge Paar sein Leben leben ließ und bald nach Lillis Geburt ganz leise starb.

Heinz hatte Karriere an der Universität gemacht, Ella in der Schule. Es hatte sie nicht gestört, dass Heinz in ihrem gesamten Freundeskreis als großer Intellektueller galt, aber dass man mit ihr nur über Kinder, Kochrezepte oder höchstens manchmal über den neuesten Roman sprach, das hatte sie natürlich schon geärgert. Wenn Maggie zu Besuch kam oder Ruth sich ein paar Tage aus Kärnten loseisen konnte und zu ihr nach Wien flüchtete, hatte Ella sich bitterlich beschwert. Darüber, dass sie trotz all ihrer revolutionären Erfahrungen jetzt eben doch als »Frau« behandelt würde. Ruth verstand sie gut, Maggie aber warf ihr vor, dass sie diese Aufteilung ihres Lebens einfach so hinnehme. »Wehr dich halt!«, schrie sie die große Schwester an, die ihr vorwarf, keine Ahnung zu haben, was es heiße, mit zwei kleinen Kindern zu leben. Neben einem anstrengenden Job. Denn die Arbeit in der Schule sei sehr anspruchsvoll und vor allem wisse man ja, wie wichtig es sei, die Kinder schon im zartesten Alter zu prägen, damit sie später wertvolle Mitglieder der Gesellschaft würden.

»Du redest großartig daher, aber selber lebst du wie die ärgste Spießerin«, hatte Maggie gegiftet, und sich im Gegenzug von Ella anhören müssen, sie solle ganz ruhig sein, sie lebe ja wie eine Großaristokratin mit ihrem reichen Diplomatenmann und arbeite nicht einmal.

Die Schwestern waren dann immer wütend auseinandergegangen, hatten sich aber nach ein paar Tagen wieder versöhnt. Aber Maggies Vorwürfe hatten Ella immer schwer getroffen. Doch wenn sie versuchte, mit Heinz darüber zu sprechen, hatte der immer nur abgewunken und gemeint, Ella sei großartig, mache einen unglaublich wichtigen Job – in der Schule und zu Hause – und solle sich mit derlei Kleinigkeiten nicht weiter abgeben.

»Das sagst du so, aber wenn ich mich erinnere, was wir damals gedacht haben und wie wir damals leben wollten, dann frag ich mich jetzt schon, was aus all dem eigentlich geworden ist. Wo sind wir eigentlich so falsch abgebogen?«

Heinz lachte dann, nahm sie in die Arme und fragte sie, ob es ihr schlecht gehe, ob ihr etwas fehle, ob sie etwas vermisse.

»Nein«, antwortete Ella dann und strich ihm über sein dichtes Haar. »Aber ich hab ein schlechtes Gewissen …«

»Das ist ein Erbstück von der Oma Gerti, das hat nichts mit Politik zu tun«, meinte Heinz dann oft, und Ella musste lachen und war froh, nicht weiter über diese Fragen nachdenken zu müssen …

»Aber irgendwann sind wir eben doch falsch abgebogen!«, sagt sie jetzt zu Frau Liese, die von unter dem Couchtisch zu ihr aufblickt. »Wir waren so revolutionär und was ist draus geworden? Na ja, blöd waren wir wenigstens nicht. Also nicht so blöd, dass wir uns eine echte Revolution gewünscht hätten. Eigentlich wollten wir nur gegen das Unrecht in der Welt was tun … Viel haben wir aber nicht erreicht, wenn ich mich jetzt so umschaue …«

Frau Liese wendet gelangweilt den Blick ab und widmet sich ihrer Morgentoilette.

»Du hast’s gut, Mausi, bei dir gibt’s nur Fressen, schlafen und dich putzen. Ah ja, und mich sekkieren …«

Als sie das Telefon läuten hört und abnimmt, ist es ihre Schwester. »Ella? Bist du das?«

»Hallo Maggie, wie geht’s dir, wann kommst mich endlich wieder einmal besuchen? Und überhaupt, hast du dir mein Angebot überlegt?«

»Alles der Reihe nach! Ich komm morgen für drei Tage nach Wien – und ja, ich hab’s mir überlegt. Ich glaub, ich würde gern nach Wien zurückkommen, und wenigstens für den Anfang wär es fein, wenn ich bei dir wohnen könnte …«

»Na super, da freu ich mich, also ich erwarte dich morgen und dann besprechen wir alle Details, ja?«

»Welche Details? Ja, ja, alles klar, ich ruf an, wenn ich gelandet bin! So wie immer!«

So war das gewesen, vor drei Jahren. Maggie war gekommen, hatte das Zimmer vollkommen geleert – es war Tommys Zimmer gewesen und der hatte seine Bücher und CDs ohnehin längst abgeholt gehabt. Maggie warf die wenigen Möbel, die noch zurückgeblieben waren, einfach auf den Sperrmüll, machte einen Ausflug zu IKEA und richtete sich ein.

Sie hatte erstaunlich wenig aus Rom mitgebracht. Ein winziges verschnörkeltes Beistelltischchen, einen Schaukelstuhl und einen altmodischen kleinen Sekretär.

Drei große Koffer mit Kleidern sowie zahllose Kisten mit italienischen, französischen, englischen und auch ein paar deutschen Büchern und einige CDs. Mehr hatte sie nicht bei sich.

»Mehr besitz ich nicht. Wie ich mich vom Leo getrennt habe, hab ich nix mitgenommen, was ich nicht selbst tragen konnte. Ich wollte mich nicht belasten. Und jetzt bin ich froh. Ich hab alles, was ich nicht mehr brauch, der Giulia gelassen, du glaubst gar nicht, wie die sich gefreut hat mit meinem Klumpert. Und ich fühl mich total leicht, so ganz ohne Sachen, die mir gehören und um die ich mich kümmern muss. Na ja, und mit der Ausrede, dass ich bei dir ja nur ein Zimmer hab, hab ich eben gleich piazza pulita gemacht. Nur die Bücher hab ich mitgenommen, von denen könnte ich mich nie trennen.«

Ella hasste es, wenn Maggie italienische Ausdrücke in ihr Deutsch mischte, aber Maggie war leicht beleidigt, wenn sie ihr das sagte, deshalb hielt sie sich zurück.

»Nur weil du keine Fremdsprachen kannst und nie im Ausland gelebt hast, darf ich meine Sprachen nicht mehr verwenden?«, hatte sie Ella angefahren, als diese einmal erklärt hatte, nur primitive Angeber würden Teile einer fremden Sprache mit der eigenen vermischen und Deutsch sei wunderschön, wenn man es eben auch schön spreche, das bringe sie ihren Schülern Tag für Tag bei …

Das Zusammenleben gestaltete sich von Anfang an schwierig. Ella war an Heinz’ grenzenlose Geduld gewöhnt und daran, einfach zu tun, was ihr gerade einfiel. Maggie aber schlug in ihr Leben ein wie eine Bombe. Das Licht durfte nicht im Gang und in den Zimmern gleichzeitig brennen, man habe so wenig Fleisch wie möglich zu essen, und überhaupt werde bei Ella viel zu viel gekocht, und wenn diese sich im Fernsehen einen Rosamunde-Pilcher-Film anschauen wollte, schrie Maggie empört, diese Art frauenfeindlichen Kitsch könne sie nicht ertragen.

»Sie macht mich wahnsinnig!«, sagte Ella zu Rada, der rumänischen Pflegerin und Putzfrau, die in ihr Leben gekommen war, als sie Heinz nicht mehr allein hatte pflegen können, und die einfach geblieben war, nachdem Heinz gestorben war.

»Sie macht mich wahnsinnig!«

»Aber ist doch Schwester. Schwester ist immer schwer. Aber ist eben Schwester. Muss man bissi Geduld sein. Wird sie schon sich ruhig werden …«