Helga Bürster

Luzies Erbe

Roman

Insel Verlag

Über den Tisch nimmst du mich mit

Stockend

Alte Wunden befühlend

Wir lachen über Wirrnisse

Weinen auch

Bei viel zu süßem Wein

Du legst mir dein Leben

Auf die rote Plastikdecke

Du sagst: Zweiundsiebzig Jahre in Deutschland

Und immer noch Polack

Das P auf der Jacke

Bis ins dritte und vierte Glied

Fremdheit geblieben

Keinen Helden gefunden

Nur einen Menschen

Wolfsstunde

Luzie war tot. Bis die Familie kam, blieb noch Zeit, denn die Großmutter war zur Wolfsstunde gestorben. Wer brach jetzt schon auf, um Richtung Bremen zu fahren? Luzies jüngere Tochter Helene und Norbert sicher nicht vor dem Frühstück, denn die A1 war die Hölle. Helene sang bei jedem Besuch ein Lied davon, obwohl ihr Mann fuhr. Sie nicht. Es war immer dieselbe Litanei. Der Anruf konnte also noch warten.

Johanne flüchtete in den Keller, um sich für die Familie zu wappnen. Hier gab es einen Raum, der nur ihr gehörte. Niemand folgte ihr in die Katakomben. Keiner sollte ihr beim Trauern zusehen. Das Sterben der Großmutter war zu frisch. Gerade erst war Luzie über die Grenze gegangen und doot bleeven. Einer dieser seltsamen plattdeutschen Ausdrücke. Tot bleiben. Als könnte man sich das aussuchen. Die Großmutter hatte vorgeführt, wie das ging. Einen Schritt vor, zwei zurück. Jetzt lag sie friedlich in ihrem Bett, zurechtgemacht für die Familie, um einen allerletzten guten Eindruck zu hinterlassen.

Während Johanne im Keller die Hände vors Gesicht schlug, zog sich Thea oben schon mal eine saubere Kittelschürze an. Damit sie ordentlich aussah für den Besuch ihrer feinen Schwester samt Schwager, der kaum Worte rausbrachte außer »aber Lenchen!«. Die Kittelschürze war Johannes Mutter nicht auszureden, sie legte sie nur ab, wenn sie aus dem Haus ging. Sie würde, dem Anlass entsprechend, die mit dem gedeckten Muster wählen und sich dann am Tisch an ihre Kaffeetasse klammern. Der Kaffee darin war längst kalt, aber sie waren heute beide zu erschöpft gewesen, frischen aufzusetzen. Es lag eine schwere Zeit hinter ihnen. Thea und Johanne hatten die Mazur'sche Matriarchin gepflegt, als die gebrechlich wurde, und sich manches Mal gewünscht, dass es nicht mehr lange mit ihr dauerte. Jetzt war es vorbei und es tat sich ein Loch auf. Johanne sehnte sich im Keller das Warteschleifengedudel des Windellieferanten herbei, das sich in ihr Trommelfell gebrannt hatte. Oder die Ersatzpflegerin, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte. Was Thea sich in diesem Moment wünschte, wusste Johanne nicht. Ihre Mutter sprach nicht über solche Dinge. Sie sprach überhaupt wenig. Johanne jedenfalls wollte, dass Luzie nicht tot blieb, denn es gab noch zu viele offene Fragen.

Luzie

Die Ersatzpflegerin wiederholte die Frage, die sie schon an der Haustür gestellt hatte: Was bei der Kundin zu machen sei?

»Waschen und Wickeln.« Was denn sonst? Wenn das so weiterging, wurde Hinternabputzen bald an der Börse gehandelt. Johanne wollte sie schon mit Luzie allein lassen, denn nebenan wartete Thea mit dem Morgenkaffee, aber die Ersatzpflegerin war noch nicht mit ihr fertig.

Wie es mit dem Schlucken gehe?

»Immer schlechter.«

Warum die Kundin dann keine Magensonde habe? Darüber müsse man schleunigst nachdenken.

Es gab eine Menge, worüber Johanne nachzudenken hatte, gerade jetzt, wo Luzies Leben unwiderruflich zu Ende ging. Eine Magensonde gehörte nicht dazu, denn Sterben, so vermutete Johanne, konnte man schlecht mit vollem Bauch. Sie behielt das für sich, ließ die Ersatzpflegerin stehen und ging zu Thea in die Küche. Die Frau folgte ihr. So schnell ließ die nicht locker. Bezüglich der Sonde verlange sie eine Entscheidung, denn man könne den Tod nicht fahrlässig in Kauf nehmen, in keinem Alter!

Die Pflegerin, die Luzie üblicherweise versorgte, war anders. Sie nannte die Kundin beim Namen und wünschte Johanne und Thea, dass Luzie bald erlöst werde. Sie hatte den Tod nicht zum Feind erklärt und kannte sich mit dem Sterben aus. Sie wusste, dass es eine mühsame Arbeit war, selbst wenn man auf die hundert zuging wie die Mazur'sche Großmutter.

Seit Luzies letztem Schlaganfall schaute auch Dr. Petermann regelmäßig herein. Er billigte gelassen, dass bei den Mazurs zu Hause gestorben wurde. Auch Luzies Hüh und Hott nahm er stoisch hin und diagnostizierte, dass sie machen könne, was sie wolle, sie stehe schon mit dem Spielbein im Jenseits. Oft hatte es so ausgesehen, als habe sie ihren letzten Atemzug getan, nur um sich anschließend einen Nachschlag vom Büfett zu holen. Und noch einen, und einen weiteren und so weiter. Vor drei Tagen hatte das begonnen und Thea pfiff aus dem letzten Loch. Mit weit über siebzig war sie schließlich nicht mehr die Jüngste. Ebenso Johanne, ihre Tochter, die gerade ihren Fünfundfünfzigsten hinter sich gebracht hatte. Sie ging zum Trauern in den Keller.

Jetzt sei es wohl bald so weit, stellte der Doktor fest, als er an diesem letzten Tag auf Hausbesuch kam, drei Stunden nachdem die Ersatzpflegerin der Kundin eine Sonde empfohlen hatte. Er fand Thea mit hochrotem Gesicht über das Pflegebett gebeugt. Sie hielt die Luft an, weil Luzie das auch schon lange tat. Als sie den Arzt bemerkte, hörte sie damit auf und kam hoch.

»So lange kann man nicht ohne Luft. Sie ist jetzt tot, oder?«

Der Arzt betrachtete seine Patientin misstrauisch. Luzie hatte sie alle schon mehrfach zum Narren gehalten. Schon zuckte es in ihrem Gesicht. Sie sog rasselnd Sauerstoff in ihre Lungen und Thea griff sich an die Brust. Dr. Petermann schickte sie mit Johanne in die Küche.

»Ich mach das hier, Thea. Und Johanne soll einen schönen starken Kaffee kochen.«

»Brauch keinen.«

»Ich aber.«

Da fügte Thea sich und ging zu Johanne in die Küche. Der Doktor kannte seine Pappenheimer. Allerdings ließ Thea es sich nicht nehmen, den Kaffee lieber selbst zu kochen, und schickte Johanne mit dem frischen Gebräu, schwarz und stark, zum Doktor zurück. Der musste ja auch zu seinem Recht kommen.

In der Tür blieb Johanne stehen, die Tasse in der Hand, denn Dr. Petermann war im Begriff, zu drastischen Mitteln zu greifen. Er hatte ein Räuchergefäß auf den Tisch gestellt, in dem er getrocknete Kräuter entzündete. Gerade pustete er in die Glut und verteilte den aufsteigenden Rauch mit einer Gänsefeder. Es roch schwer und krautig, um nicht zu sagen: es stank.

»Stell den Kaffee man hier ab.«

Johanne tat es und ließ dabei den Dorfarzt nicht aus den Augen. Der schritt wie ein Schamane durchs Zimmer und wedelte mit der Gänsefeder. Schließlich fand er, dass es genug war, packte zusammen und trank in aller Seelenruhe den Kaffee, als habe er Luzie nur schnell den Puls gemessen. Johanne stand immer noch da und Dr. Petermann las ihr die Frage von der Stirn ab.

»Das war Engelwurz, mien Deern.«

»Wofür ist der gut?«

»Fürs Sterben. Deine Großmutter hat bannig Last damit. Muss wohl noch was mit sich ausmachen.«

Ja, das musste sie. Es war das Mazur'sche Schweigen, das ihrer Großmutter das Sterben madig machte. Nur konnte man das nicht einfach abschütteln. Es saß ihnen allen fest im Nacken.

In der Nacht war es dann doch so weit. Luzie starb ein letztes Mal und blieb tot. Als sie es auch nach einer halben Stunde noch war, schlug Thea die Arme fröstelnd um ihre Schultern und lief in die Küche, um Kaffee aufzubrühen, obwohl sie das gerade erst getan hatte. Es war ein Reflex. Johanne blieb bei der Toten und sah dabei zu, wie die Zeit in Luzies Zimmer aufriss und die große Lüge preisgab. Es existierte gar kein Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Luzie war nicht mehr, aber nichts war vorbei.

Während nebenan die Kaffeemaschine gurgelte, versuchte Johanne, mit der aus den Fugen geratenen Zeit zurechtzukommen. Das Erste-Hilfe-Programm für frisch Verstorbene rettete sie. Die freundliche Pflegerin hatte es ihr erklärt. Johanne fuhr das Kopfteil des Bettes herunter und schloss Luzies Augen, zumindest versuchte sie das. Ein winziger Spalt blieb offen und Johanne erinnerte sich, dass sie die Lider mit Münzen beschweren sollte. Ihr Portemonnaie lag jedoch oben in ihrer Dachwohnung und Thea wollte sie jetzt nicht um zwei Eineurostücke bitten. Luzie sträubte sich auch beim Händefalten. Besonders religiös war die Großmutter ohnehin nie gewesen. Also gab Johanne nach und legte die Hände schlicht übereinander. Das sah auch friedlich aus. Zuletzt zündete sie eine Kerze an und öffnete das Fenster, damit die Seele entweichen konnte und mit ihr der Geruch von Engelwurz, der noch schwer im Raum hing. Er erinnerte sie daran, dass sie später Dr. Petermann wegen des Totenscheins anrufen musste. Er hatte darum gebeten, ihn nicht in der Nacht zu wecken, wenn es so weit war. Luzie wäre auch nach dem Frühstück noch tot. Das leuchtete ein.

Als alles getan war, ging sie in die Küche. Ihre Mutter schob ihr eine volle Tasse hin. So saßen sie eine Weile, bis Thea den Finger in die Wunde legte.

»Und die Familie?«

Ach ja. Die Familie.

Johanne zählte in Gedanken ab, wen außer Helene und Norbert sie noch über Luzies Totbleiben informieren musste. Zuallererst fiel ihr Silje ein. Ihre Tochter studierte in Berlin. Sie liebte ihre Urgroßmutter sehr, es würde sie hart treffen. Bei Helene lag die Sache anders. Johanne graute vor dem Treffen mit ihrer Tante. Bei ihrem letzten Kurzbesuch auf der Durchreise in den Schwedenurlaub hatte sie bereits über die bevorstehenden Beerdigungskosten geklagt. Sie würde nahtlos daran anknüpfen.

Dann war da noch Leo, Helenes Sohn aus erster Ehe. Johannes Cousin war zehn Jahre jünger als sie und stand gut im Futter. Seine Hände waren schwielig und wund von harter Arbeit. Johanne und Thea hatten wenig Kontakt zu ihm. Obwohl er im selben Dorf wohnte, quasi einen Steinschlag entfernt, sahen sie Leo nur selten. Sein Leben fand anderswo statt, nämlich zwischen Schützenverein, Berme und Friedhof. Er war amtierender Schützenkönig, arbeitete beim Bauhof der Gemeinde und half dem Küster beim Auskuhlen, wenn Not am Mann war, denn im Dorf wurde schon mal im Akkord gestorben.

Das war es dann auch schon mit Familie. Johanne sah auf die Uhr. Es war noch zu früh, sich auf ihr Kommen vorzubereiten. Sie trank den Kaffee und verabschiedete sich das erste Mal für heute in den Keller.

Ohne Luzie

Man ahnte schon die Morgendämmerung hinter dem Fenster. Es war die erste ohne Luzie und die Vögel sangen draußen fremde Lieder. Kalt war es hier unten. Das ging aber in Ordnung. Fröstelnd spürte Johanne sich selbst deutlich, was selten vorkam, denn ihr Körper war ein vernachlässigter Posten, aus dem Leim gegangen und mit schlechter Haltung. Wenn man von den nicht zu übersehenden Makeln absah, funktionierte er jedoch noch recht gut und nur darum ging es. So ein Mazur'scher Körper musste verdammt nochmal robust sein, wie der eines Arbeitspferdes.

Wenn kiene Arbeit hest, denn söök di wecke!

Müßiggang war was für Die-da-oben, geradezu lächerlich, und was das andere betraf, das mit der Liebe, das fiel unter das Mazur'sche Schweigen. Das war nur ein Phantomschmerz und Johanne wusste schlichtweg nicht, wie das ging. Kein Mazur wusste das. Helene war das zweite Mal unglücklich verheiratet und Leo war Junggeselle. Thea hatte ihr Lebtag von einem Ufa-Glück geträumt. Sie las Liebesschmonzetten. Solche, wie Johanne sie schrieb. Heimlich und unter Pseudonym. In Johannes Leben hatte es einen einzigen Mann gegeben, wenn man von zwei jugendlichen Schwärmereien absah. Siljes Vater. Der wollte tatsächlich mit ihr leben, doch sie hatte ihn zurückgewiesen. Manches Mal bedauerte sie diese Entscheidung, nur wem konnte sie sich denn schon zutrauen? Alle sagten, sie sei schwierig. Verschlossen und misstrauisch. Hin und wieder telefonierte sie mit Siljes Vater. Zum Geburtstag und zu Weihnachten schickten sie sich gegenseitig Karten. Er war glücklich verheiratet, sie freute sich für ihn. Sie hätte ihm das nicht bieten können. Glück war etwas, für das sie absolut kein Talent besaß.

Familientreffen

Helene und Norbert kamen aus Kassel. Sie mussten sofort aufgebrochen sein, denn sie standen pünktlich um acht vor der Tür, Helene blass und ohne das übliche Make-up, Norbert besorgt. Er flatterte um sie herum, wie es seine Art war.

»Aber Lenchen, ist dir kalt?«

Thea fühlte sich sofort verantwortlich. Sie verschwand in ihre Schlafkammer und kam mit der alten Strickjacke zurück, die sie über der Schürze trug, wenn sie Unkraut jätete oder im Dorfladen einkaufen ging. Die war schon abgewetzt und an den Ellenbogen ausgebeult, weil Thea alle ihre Kleidungsstücke trug, bis sie in Fetzen hingen. Helene kannte die Jacke, kniff die Lippen zusammen und zog sie trotzdem über. Thea schenkte ihr Kaffee ein. Dann saßen sie am Tisch, rührten in den Tassen und wussten sich nichts zu sagen, bis Helene auffiel, dass jemand fehlte. Sie wandte sich an Johanne, wie immer klang es vorwurfsvoll.

»Hast du Leo nicht Bescheid gesagt?«

»Der kommt nach Feierabend.«

»Und Silje?«

»Die steigt gerade in den Zug. Willst du Luzie sehen?«

»Nein.«

Das darauffolgende Schweigen wurde zäh, bis Norbert die gängigen Floskeln ins Spiel brachte, mit denen man sich über die Unsagbarkeit des Todes hinweghalf. Das brachte Erleichterung und ihnen fiel wieder etwas zum Sagen ein.

Wo sie jetzt ist, geht es ihr besser, sie hat es hinter sich, ein gesegnetes Alter, da müssen wir erst mal hinkommen, sie hatte nichts mehr vom Leben, jaja, ist ja auch …

Helene, die schon ab Paderborn mit Frühstück gerechnet hatte, wurde langsam unruhig. Sie ließ Thea wissen, dass sie hungrig war, und die Schwester, üblicherweise großzügig, was die Bewirtung der Familie betraf, schämte sich für ihr Versäumnis. Sie wollte schon aufspringen. Brötchen holen, Butter und Marmelade auf den Tisch stellen, sich für ihre Nachlässigkeit entschuldigen, da drückte Johanne ihren Arm.

»Lass man. Ich mach das.«

Johanne holte die angebrochene Tüte Waffelröllchen, die noch übrig geblieben war vom letzten gemeinsamen Nachmittagskaffee mit Luzie. Die Röllchen hielten sich. Da war nichts dran auszusetzen. Thea genügte das nicht.

»Ich geh zum Bäcker.«

»Mama! Nebenan liegt Luzie, noch nicht einmal kalt, wer hat da Hunger?«

»Wir haben eine lange Fahrt hinter uns«, warf Helene ein.

»Und wir ein langes Sterben!«, entgegnete Johanne.

»Nun vertragt euch. Wollte sowieso mal an die frische Luft.«

Es hatte keinen Sinn, dagegen anzugehen. Johanne folgte Thea in den Flur. Sie wollte sich nicht Helenes und Norberts aktuelle Urlaubspläne anhören, während Thea zum Bäcker ging. Die wären jetzt dran. Sie ließ sie in der Küche und ging zu Luzie.

Den Stuhl, auf dem sie und Thea die letzten Tage abwechselnd gewacht hatten, zog sie neben das Bett. Es war ein bequemer Lehnstuhl, in dem man gut eine Nacht verbringen konnte. Sie setzte sich und atmete durch. Kurz hoffte sie, dass Luzie es ihr nachmachte und dass sie Helene und Norbert in die Kasseler Berge zurückschicken konnten. Doch Luzie blieb tot. Ihr Gesicht hatte schon die Farbe von altem Schnee. Oder von Hostien. Johanne legte ihren Kopf auf die Bettdecke neben Luzie, die mehr und mehr verblasste. Es war so still hier. Sie nickte ein, bis nebenan die Haustür ins Schloss fiel und jemand durch den Flur ging. Thea mit den Brötchen. Es folgte das übliche Geschirrgeklapper. Sie blieb, wo sie war. Nach einer Weile klopfte jemand an die Tür und öffnete sie einen Spalt breit.

»Gibt Frühstück.«

»Keinen Hunger. Danke.«

Thea kehrte in die Küche zurück und ließ die Tür offen. Johanne hörte Helene etwas sagen, Norbert auch, dann wieder Helene. Es ging um skandinavische Städte. Oslo, Stockholm, Helsinki. Thea, die nie aus dem Dorf herausgekommen war, hörte zu. Jedenfalls sagte sie nichts. Johanne stand auf und nahm den Kamm, der auf dem Nachttisch lag. Sie begann, die Großmutter zu kämmen. Während sie das tat, fiel ihr der alte Kosename ein. Sie sprach ihn aus.

»Lula.«

Als sie sich noch im Küchenschrank verstecken konnte, hatte Johanne den Namen für die Großmutter erfunden, weil das harte Z nicht über ihre Zunge wollte. Oma konnte sie zwar sagen, aber so hieß schon die Urgroßmutter, die damals noch lebte.

Lula.

Überlebtes Kleinkindgebrabbel war das, ein halbes Jahrhundert alt. Damals hatte sie zwischen Töpfen und dem alten Marmeladeneimer gehockt, in dem die Holzwäscheklammern lagen, die so schön sauber rochen. Von hier aus konnte sie überblicken, ob ein Gespenst zu Besuch kam. Sie musste die Schranktür nur einen Spalt weit offen lassen. Vor den Gespenstern musste sie sich hüten. Vor dem Schornsteinfeger mit der eingedrückten Stirn. Oder dem Onkel von oben. Er hatte ein volles und ein leeres Hosenbein und schlug mit seiner Krücke. Oder dem Nachbarn, der sie beim Hoppe-Reiter-Spielen durchschüttelte wie einen leeren Mehlsack. Sie hatte sich dabei schon ein paar Mal auf die Zunge gebissen. Oma und Opa, die Urgroßeltern, die waren auch Gespenster. Beide krumm wie Haken. Sie spukten gemeinsam am Küchentisch, tranken vom selbstgemachten Brombeerwein, der Opa schnupfte Tabak und die Männer aus der Nachbarschaft rauchten. Sie raunten sich dabei die allerschrecklichsten Geschichten zu, von zerfetzten Leibern mit heraushängendem Gedärm, bis Lula kam und sie verscheuchte, weil sie den Tisch brauchte, um darauf ein Huhn zu rupfen oder Wäsche zu bügeln.

Lula war immer müde von der schweren Arbeit. Nebenbei musste sie sich um ihre Gespenstereltern kümmern. Wenn sie das Kind auf ihren Schoß holte, dann nur, um mit der Haarnadel Ohrenschmalz aus Johannes Gehörgängen zu pulen und den Kopf nach Läusen abzusuchen. Sie harkte unbarmherzig mit dem Nissenkamm durch Johannes dichtes schwarzes Haar. Das hatte sie von der Großmutter geerbt. Es tat weh, war aber andererseits auch schön, weil es Lulas Art von Zärtlichkeit war.

Zweimal am Tag ruhte Lula. Man durfte sie dann nicht stören. Ruhezeit war nach dem Mittagessen, wenn sie den Kopf zum Dösen auf den Tisch legte, und am Morgen, wenn sie sich kämmte. Morgens war Lula noch nicht müde und es kam vor, dass sie lieb war. Dann traute sich Johanne aus ihrem Versteck, setzte sich auf die Küchenbank und fragte:

»Lula schick maken?«

»Kaam her, mien Schietbüdel, ick geev di ok een Kamm.«

Lulas Haar fiel ihr bis zur Hüfte. Es fühlte sich an wie Maulwurfsfell und sah auch so aus. Sie hatte trotz ihres Alters nur wenige graue Strähnen. Wenn Johanne den Kamm hineinforkte, wie sie es von der Großmutter kannte, hielt Lula still, bis sie sagte:

»Bün fardig, Lula.«

»Dank di, mien Schietbüdel.«

Den Rest machte Lula selbst und Johanne sah ihr dabei zu. Es faszinierte sie, wie ihre Großmutter mit sicheren und im Nacken blind geführten Handgriffen aus den frisch gekämmten Haaren einen Dutt knotete, der so fest saß, dass sie damit einen Kartoffelacker abernten und anschließend ein Schwein schlachten konnte, ohne dass sich ein einziges Haar löste.

»Johanne?«

Sie ließ den Kamm auf das Kopfkissen fallen. Helene hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie stand in der Tür und traute sich nicht herein. Sie hatte ein großes Talent für den unpassenden Augenblick, aber es war ihr gutes Recht, die Mutter jederzeit zu sehen. Thea hatte sie wohl überredet.

»Komm ruhig rein, Helene.«

»Also, eigentlich wollte ich nur …«

»Wovor hast du Angst?«

»Ich hab keine Angst! Ich möchte sie nur so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte.«

»Kanntest du sie denn?«

Johanne fragte das ohne Hintergedanken, aber Helene nahm die Frage persönlich. Sie traf einen wunden Punkt.

»Wirfst du mir jetzt vor, dass ich damals weggegangen bin?«

»Quatsch!«

»Ich bin gekommen, um dich zu holen. Wir müssen über die Beerdigung reden.«

Johanne folgte ihr nur widerwillig. Sie fürchtete sich vor dem Gespräch, denn so was endete bei den Mazurs selten gut. Kaum saßen sie zusammen am Küchentisch, legte die Tante auch schon los.

»Wir müssen jetzt mal Tacheles reden. Mutter hatte sicherlich keine Rücklagen für die Beerdigung?«

Thea schüttelte beschämt den Kopf, als sei es ihre Schuld, dass Luzie arm gewesen war.

»Dann also Feuerbestattung und im engsten Familienkreis. Also wir hier. Mit Leo und Silje, ist ja klar. Da sind wir uns sicher einig.«

Johanne widersprach.

»Was ist mit Jurek? Wir müssen es ihm wenigstens sagen. Die beiden waren schließlich bis zuletzt verheiratet und er ist jetzt Witwer.«

Johanne hatte ihn beim Namen genannt. Thea klammerte sich an ihre Tasse, Helene zog blank, denn er kam in der Familie bestenfalls als Pronomen vor, seit das Mazur'sche Schweigen über ihn verhängt worden war. Ausgerechnet er sollte jetzt auch noch wissen dürfen, dass Luzie gestorben war?

»Wer ist denn damals abgehauen und hat uns alle sitzen lassen?«

»Darum sollte er wissen, dass es jetzt zu spät ist.«

»Wozu?«

»Zur Versöhnung.«

Zu viele Gräben

Jurek Mazur war neunzehn, als der Krieg begann. Die Deutschen überfielen Okręg Warcki, das jetzt offiziell Warthegau hieß. Er meldete sich zur Armee und man schickte ihn nach Warschau, wo er das Funken lernte, denn er sprach deutsch und war darum bestens geeignet, den Feind abzuhören. Zu diesem Zweck bekam er einen eigenen Wagen, auf den er stolz war, und wurde nach Łódź versetzt, das jetzt auch anders hieß. Litzmannstadt. Das klang wie ein Pistolenschuss. Wer hierher verschleppt wurde, war schon so gut wie tot, denn von hier aus führten alle Wege nach Auschwitz.

Jureks Laufbahn als Funker in der Armee dauerte nur wenige Wochen. Kurz vor dem ersten Kriegsweihnachtsfest geriet er in Gefangenschaft. Jurek sollte später behaupten, die Deutschen hätten es auf seinen Funkwagen abgesehen, aber es war wohl eher der junge Pole gewesen. Im Reich wurden Männer gebraucht. Die eigenen waren in den Krieg gezogen. Höfe mussten versorgt und Waffen geschmiedet werden.

Es hatte geschneit, als er mit anderen Gefangenen auf ein Fußballfeld getrieben wurde, wo sie die Nacht zubringen sollten. Der Himmel drohte mit Frost, also machten die Männer Kleinholz aus den Toren. Einer hatte ein Messer, ein anderer ein Feuerzeug an den Wachen vorbeigeschmuggelt, und um die Tore war es nicht schade. Wer spielte schon Fußball mitten im Krieg. Die Deutschen ließen sie gewähren, schließlich wurden die Gefangenen gebraucht. Der Führer wollte das.

Am Morgen hatten die neuen Herren es eilig. Die Gefangenen wurden vom Feld auf die Straße getrieben und dann weiter. Immer vorwärts. Marsch, Marsch! Wer jetzt nicht mithalten konnte, musste sich neben einen Graben knien. Genickschuss für den Ausschuss. Jurek war zuvor nie aufgefallen, wie viele Gräben es in Polen gab.

Jurek wollte nicht sterben, also strengte er sich an. Er marschierte und zwang dabei den Blick auf seine Füße. Nur nicht weiter sehen als bis zum nächsten Schritt. Hundert Mann, hundert Kilometer. Nach zwei Tagen hatte sich die Spreu vom Weizen getrennt, die eine Hälfte lag im Graben, die andere marschierte ihrer jeweiligen Verwertung entgegen.

Sie kamen in eine Stadt und Jurek wagte einen Blick über seine Fußspitzen hinaus. Was er sah, erstaunte ihn sehr. Die Straßen und Häuser waren ihm vertraut. Sie waren nach Kalisz marschiert. Hier wohnte die Babka in einer kleinen Souterrainwohnung. Er hatte sofort den Duft von süßen Piroggen in der Nase, die sie backte, wenn er zu Besuch kam.

Jemand brüllte einen Befehl und ihm fiel wieder ein, dass er gar kein Enkel mehr war, sondern ein Gefangener. Er schluckte die Worte, die ihm in den Sinn kamen. Letzte Worte für die Babka. Ein Mitgefangener hatte erzählt, dass sie deportiert würden, um in deutschen Munitionsfabriken feindliche Waffen zu produzieren, mit denen die eigenen Landsleute erschossen wurden. Wenn das stimmte, konnte er sich hier nie wieder blicken lassen. Ihm wurde schlagartig klar, dass er zwar noch in Polen, aber längst ein Heimatloser war, auch wenn er die gewohnte Straße entlangmarschierte. In diesem Moment beneidete er die Toten in den Gräben. Sie hatten keine Chance gehabt, zu Verrätern zu werden. Sie waren ohne Schuld gestorben. Bei ihm stand die Entscheidung noch aus, nur was half ihm das reine Gewissen, wenn er sein Leben noch nicht einmal zur Hälfte gelebt hatte? Er war kein Held. Er würde nie einer sein.

Sie befanden sich jetzt direkt auf Höhe des Hauses, in dem die Babka wohnte. Er ging schneller. Die Großmutter sollte ihn besser nicht sehen. Am Ende kam sie gelaufen, um ihn zu holen. Auch in Kalisz gab es tiefe Gräben.

Sibirische Kälte

Über die Toten redete man nicht, denn es wurde allgemein zu viel gestorben. Die Gefallenenmeldungen kamen jetzt Schlag auf Schlag. Den Sohn des Schmieds hatte es im Warthegau erwischt, den des Schuhmachers in der Normandie.

Luzies älterer Bruder Hinnerk war gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden. Vorerst lebte er noch und schrieb Briefe.

Zu Felde, 22. ‌6. ‌41

Liebe Eltern!

Zunächst, wenn auch verspätet, meinen besten Dank für das liebe Paket mit Schinken und Wurst und für die Karte. Es hat mir prima geschmeckt. Wie ich sehe, geht es Euch noch recht gut, was ich auch von mir schreiben kann. Heute morgen gab es ja eine ziemliche Überraschung, daß der Krieg mit Rußland ausgebrochen ist, ja, lieber Vater, dann werde ich vielleicht auch noch mal dahin kommen, wo Du einst warst, so reist man eben in Europa herum. Wir haben gerade mal wieder eine anständige Tour marschiert, so 1 Woche, und bei dieser Hitze, 35 Grad, ist das gerade kein Vergnügen. Die Hoffnung, daß der Krieg bald zu Ende gehen sollte, können wir wohl aufgeben und uns noch für einige Jahre einrichten. Wie ist es denn bei Euch, auch sehr warm? Sonst ist ja wohl noch alles beim alten, was macht die Feuerwehr?

Nun seid vielmals gegrüßt

von Eurem Sohn Hinnerk.

Der Brief kam Anfang Juli, und der Vater, Postbote, nicht mehr Schneider, weil ihm ein Iwan anno 1916 am Styr-Stochod den linken Arm durchschossen hatte, stellte ihn eigenhändig zu. Luzie las ihn ihren Eltern vor, weil sie das am besten konnte. Dem Vater kroch dabei die sibirische Kälte aus den Knochen, die hatte er aus dem Lager mitgebracht. Das war im letzten großen Krieg gewesen. Er war aus der Gefangenschaft geflohen. Sein Heimweg hatte ihn quer durch den russischen Winter und eine Revolution geführt, mit der er nichts zu tun hatte. Er war bei Bauern untergekommen, die nur interessierte, was er konnte. Er konnte nähen, also flickte er ihnen die Kleider. Hütete auch schon mal das Vieh oder mistete aus. Als er im Sommer 1918 endlich in seinem kleinen Geestdorf stand und verwundert feststellte, dass sich nichts verändert hatte, war er um eine Sprache reicher und um das Wort Feind ärmer geworden. Die sibirische Kälte aber hatte sich in seinen Knochen eingenistet und kroch an manchen Tagen hervor. Er sprach nicht darüber. Seinem ältesten Sohn Hinnerk, den es schon wieder zu den Fahnen drängte, hatte er jedoch davon erzählt, nur wollte Hinnerk das nicht hören. Der Vater verstand ihn und hielt fortan den Mund, denn es nützte ja alles nichts. Er sah sich selbst als jungen Kerl, damals, 1914, als er mit Tschingderassabum ausgezogen war, das Vaterland zu verteidigen, bis der russische Winter ihn lehrte, dass es nichts zu verteidigen gab als das eigene kleine Leben. Jetzt stand sein Ältester im Feld und der Vater träumte in den Nächten wieder von aufplatzenden Körpern und abgefrorenen Gliedern. Hinnerk raubte ihm den Schlaf, obwohl seine Briefe klangen, als sei der Krieg ein spannendes Abenteuer.

Die Wahrheit stand immer zwischen den Zeilen. Hinnerk klagte über die Sommerhitze. Bald würde er sie herbeisehnen. Er schrieb auch von Hoffnung, die aufgegeben werden musste, und von der Sorge, ob daheim noch alles beim Alten war.

War es das? Zu essen gab es genug, sicher. Nur bestellten jetzt Fremde die Äcker, weil die eigenen Söhne an der Front lagen. Nur kaute man das Brot besser vorsichtig und hütete seine Zunge. Schnell genug wurden Nachbarn zu Verrätern. Dem alten Dehmel war es so passiert. Zwei Lütt-un-Lütt hatten ihm nach der Chorprobe des Männergesangsvereins die Zunge gelockert, und beim gemütlichen Beisammensein sang er den Herren vor, was er vom Führer und seinem Krieg hielt. Zwei Tage später schaffte man ihn fort und die Möbel vor das Haus, das nicht mehr ihm gehörte. Jeder konnte sich bedienen. Das Sofa, die Stühle, der Schrank, alles ging weg wie warme Semmeln. Nur den Tisch wollte keiner haben, denn der Teller, aus dem Dehmel zuletzt gegessen hatte, stand noch darauf und der Regen machte die Erbsensuppe dünn.

Hinnerk fragte in seinem Brief auch nach der Feuerwehr, die der Vater kommandierte. Möglicherweise wollte er wissen, ob schon erste Bomber Kurs auf Bremen nahmen, in dessen Einflugschneise das Dorf lag. Ob der Vater die Kameraden auf Einschläge vorbereitete. Ob man schon ausgerückt war, um brennende Reetdächer zu löschen. Ob der Gauleiter sich schon die Haare raufte, weil der Tommy sein schönes Musterdorf zerstörte, das nur ein armseliges Heidenest war. So stellte der sich Heimat vor. Während in Berlin die verwöhnten Hausfrauen Waschmaschinen hatten, schlug man die Laken hier noch recht altdeutsch in der Pütte aus. Das gefiel. Bei seinem letzten Besuch hatte es jedoch geregnet und die Wege waren aufgeweicht. Beim Aussteigen aus seiner Limousine trat der Gauleiter in eine altdeutsche Schlammpfütze. Da fluchte er laut.

»Reichsmusterdorf? Scheißmusterdorf!«

Immerhin taugte das Scheißmusterdorf noch als Kulisse für Propagandafilme, die den Reichsnährstand priesen. Die Einheimischen spielten als stramme Komparsen mit. Sie zogen, Lieder schmetternd, hinter Heuwagen her und schwangen die Forken, als sei der Bauernstand ein Folkloreverein. Zur Vorführung im Dorfgasthof kamen sie alle, denn es gab Freibier satt. Hinnerk ging auch hin, der Vater und die Mutter nicht. Sie waren nicht so fürs Grobe. Überhaupt mieden sie seit der Sache mit Dehmel die Öffentlichkeit. Es hatte sich gezeigt, dass es gute Gründe gab, auf der Hut zu sein, wenn man die Hand nicht zum deutschen Gruße heben wollte. Der Vater verzog sich immer öfter an die Hunte, um Aale zu fangen, und die Mutter räucherte Kriegswürste für ihren Sohn. Luzie hingegen wäre zur Filmvorführung gegangen. Sie lachte gern und es hätte sicher viel zum Lachen gegeben. Nur hatte August just an diesem Tag seine Einberufung bekommen. Die Zeit, die ihnen noch blieb, war zu kostbar.

Kellerzeit

Helene und Norbert gingen frische Luft schnappen. Als die Haustür hinter den beiden ins Schloss fiel, atmeten Johanne und Thea auf. Endlich war Zeit für die wichtigen Dinge. Thea räumte den Tisch ab und Johanne rief Dr. Petermann und den Bestatter an. Dem Pflegedienst hatte sie schon abgesagt. Der Arzt versprach, im Laufe des Vormittags zu kommen. Der Bestatter, zugleich Tischler und zuständig für neue Fenster und Türen im Dorf, arbeitete gerade auf einer Baustelle. Das war aber in Ordnung, schließlich kannte man sich. Nach den Telefonaten ging Johanne bügeln.

Sie stieg in den Keller hinunter und schaltete das Bügeleisen ein. Dann nahm sie sich ein Wäschestück nach dem anderen vor, bügelte auch Luzies wattierte Unterhosen, die Schinkenbüdel mit dem Bein. Die brauchte die Großmutter zwar nicht mehr, aber darum ging es hier nicht. Als der Korb halb geleert war, legte sich der Aufruhr, der seit Luzies Sterben in Johanne gewütet hatte. Die Nachthemden, die am Rücken aufgeschnitten waren, damit man leichter die Windeln wechseln konnte, bügelte sie schon gelassener. Die Nähte waren ein wenig grob geraten, Johanne hatte die Nachthemden selbst umgenäht. Ihre Nähmaschine stand ebenfalls hier unten, damit sie schnell etwas flicken konnte, eine offene Naht oder einen abgerissenen Handtuchhenkel. Die Arbeitsabläufe im Haus waren pragmatisch organisiert. Die Flickwäsche stapelte sich jedoch und auf der Nähmaschinenhülle lag Staub, denn Johanne hatte in den letzten Wochen anderes zu tun gehabt.

Ich könnte mir ein neues Kleid nähen.

Der Gedanke wehte sie an wie ein Versprechen auf Zukunft. Die Vorstellung prickelte unter der Kopfhaut. Es war ein schöner Gedanke und auch wieder nicht, er bedeutete, dass es nach Luzie weiterging, und zugleich, dass ihr Leben auf die Herstellung eines Kleidungsstückes geschrumpft war. Dabei hatte sie große Pläne gehabt. Weder selbstgenähte Kleider noch aufgeschnittene Nachthemden kamen darin vor, sondern Geschichten. Wahre und erfundene, die sie, Johanne Mazur, aufschrieb und veröffentlichte. Warum nicht nach den Sternen greifen? Sie hatte sogar etwas studiert, das mit schönen Worten zu tun hatte. Nur musste sie feststellen, dass ihr das Mazur'sche Schweigen in die Quere kam, immer und überall. Es folgte ihr und flüsterte ihr ein, sie solle besser die Klappe halten, denn sie habe der Welt doch nichts zu sagen. Da hatte sie den Plan aufgegeben und war in das Dorf zurückgekehrt. Im Grunde saß sie immer noch im Schrank und brauchte sich nichts einzubilden. Wer mit einem großen Schweigen aufgewachsen war, dem verschlug es die Sprache. Was blieb, war die Familienfestung, das Dorf und die bitteren Glaubenssätze. Ihre Zukunft war nicht erst jetzt auf das Maß eines selbstgenähten Kleides geschrumpft, sie war immer schon unbedeutend klein gewesen.