Marva Aurin

Stellas Mission

Überleben der Menschheit

Widmung

Mein Buch sei allen Menschen gewidmet, die ihre Herzenskraft und ihr Mitgefühl unserem wunderschönen, blauen Planeten und seinen Bewohnern schenken.

Es gibt weit mehr Menschen davon, als wir für möglich halten. Viele tun es im Stillen. Aber wir alle können sicher sein: es geschieht.

Inhalt

Stella im Rohr

Die Mondscheinfrau

Im Café

Tiela

Das Unwetter

Stella im Dunkel

Der Fall

Stellas heimliche Auferstehung

„Er“

Nächtliche Rundgänge

Auf der Quarantäne-Station

Visite

Tom

Stella bei Tom

Tielas Besuch

Stella im Glück

Bei Tiela

Stella zieht weiter

Hilfsjob im Krankenhaus

Stella singt

Der Chefarzt

Toms Heilung

Der Besuch der Ärzte

Stella wieder auf Wanderschaft

Straßenmusik

Professor Reinhard

Das erste Konzert

Plötzlich berühmt

Gespräch mit den Bäumen

Das zweite Konzert

Bernd

Gespräch im Badezimmer

Stellas Gedanken über HELK

Auf der Flucht

Aufbruch in die Stadt

In der Krankenstation

Tumulte in der Stadt

Der Überfall

In der Finsternis

Eni und Marik

Bernd im Grenzbereich

Stella bei Marik

Eni

Bernd im Krankenhaus

Lebenswende

Stella mit Marik und Eni

Stella auf der Suche nach Bernd

Gefährliche Zugfahrt

Autofahrt zu dritt

Bei Bernd

Ungestörte Unterhaltung

Die Aufgabe

Bernds Heilung

Ereignisse auf dem Marktplatz

Der Flugzeugabsturz

Marja

Joshi und Mira

Junge Helfer

Nachdenken

Bei Marik und Eni

Bernd und Eni

Enis Mutter

Die Idee

Die Vision

Hier und jetzt

Gedanken über die Neue Zeit

Reise durch das Land

Die Bonbontüte

Wachsendes Vertrauen

Talente

Amron

Amrons Aufbruch

Amron trifft Menschen

Die Probe

Der Stern

Stella und Bernd

Stella im Rohr

Stella singt ihrer Wege …

Regentropfen fallen dicht auf ihr Haar. Sie gleicht ihre Schritte dem Rhythmus des Regens an und beschleunigt ihren Gang. Den Kopf halb gehoben gleitet sie geradezu auf der Straße dahin. Die Füße und Beine sind unter einem langen Rock verborgen, dessen Saum vom Regen durchweicht ist. Sie ist von so viel Stoff umgeben, dass kaum zu erkennen ist, wann sie ausschreitet. Über dem Rock trägt sie eine lange Jacke, dunkel und zerschlissen. Die Wachsjacke, die – viel zu groß – über allem hängt, ist speckig und abgerissen. Die junge Frau trägt lange braune Haare, die in nassen Strähnen über ihren Schultern liegen.

Stella verlässt die Straße und geht weiter auf einem Pfad, der zum Wald führt und sich schließlich nach einem guten Fußmarsch in einen Feldweg verwandelt, an einem Flüsschen entlang. Sie hält inne, sie sieht aus wie eine dunkle Säule vor dem grauen Dämmerungshimmel oder wie ein Baum, der zu weit weg vom Wald gewachsen ist, eben allein stehend.

Stella schickt ihre Ohren in das fließende Wasser, schließt die Augen, lauscht dem „Perlen rauf und Perlen runter“ und hört die Geschwindigkeit des Wassers in seinem Bett. „Manchmal fließt das Wasser langsamer, dann ist es weniger laut“, denkt sie mit gerunzelter Stirn. Heute ist es laut und sie lauscht den Steinen, wie sie sich dort unten bewegen. „Sie leben dort unten – alles lebt.“

Es ist Frühling und Stella hört den Regen weiter hinten im Wald auf die kleinen Blätter und Nadeln in langgezogenem Perlgesang herabrinnen. – Heute klagt der Regen. Es tönt bis zu ihr hin, die noch immer säulengleich dem „Leben“ lauscht. Schließlich löst sie sich aus ihrer Stellung und geht weiter, bis sie an einen Platz kommt, wo Unrat und alter Bauschutt aufgehäuft sind. Hölzer, verrostete Dachrinnen, Steine und Rohre in vielen Größen liegen hier wild durcheinander. Stella geht ein Stück über den Haufen, bis sie schließlich zu einem großen Kanalrohr gelangt, dessen eines Ende mit Steinen und Erde zugelegt ist. Sie bewegt sich an die offene Seite des Rohres und kriecht hinein. Hier ist es trocken und eng. In dieser rund drei Meter langen Behausung kann sie gebückt stehen. Die nasse Jacke breitet sie sorgfältig im Eingang auf den Boden und zieht die klobigen Schuhe von den Füßen, während sie den langen Stoffrock rafft. Dann tastet sie sich weiter, denn nur wenig Dämmerlicht fällt durch die Öffnung herein. Einen Schritt weiter erkennt sie den kleinen Gaskocher, auf dem ein Topf steht. Darum herum reihen sich rechts leere Konservendosen, links die gefüllten. Mit gerafftem Rock geht sie auf löchrigen Strümpfen weiter ins Rohrinnere. Dort liegen mehrere alte Militärdecken sorgsam aufeinandergestapelt. Stella setzt den Fuß auf die Decken und geht in die Hocke, bis sie sich langsam niedersetzt. Im Schneidersitz verharrt sie so reglos.

Sie singt nicht, spricht nicht, seufzt nicht, hält die Augen offen, die Ohren holt sie aus dem Flussbett, dem Perlgesang der Regentropfen, zurück und stülpt sie ein.

Es ist noch nicht lange her, dass sie ihre kleine Wohnung verloren hat, weil sie nicht rechtzeitig neue Arbeit finden und dadurch die Miete nicht mehr aufbringen konnte.

Ein Käuzchen ruft im Wald, doch Stella hört es nicht, denn die Ohren sind bei ihr. Langsam gewöhnen sich ihre Augen ans Dunkel; sie rührt sich leicht, greift neben die Decken, wo ihre Geige im Kasten liegt. Ruhig zieht sie ihn zu sich heran, öffnet ihn und nimmt das Instrument heraus. Leise zupft sie die Saiten an und dreht vorsichtig an den Wirbeln, um die Geige zu stimmen. Für das richtige A braucht sie keine Stimmgabel, das hört sie in sich; dann folgen die anderen drei Saiten.

Aus den Tiefen ihres Innern tönt es bereits. Fließende, klare Regenbogentöne, bachbettgleich, flusssteinklingend. In lang gezogenen, klaren Melodien beginnt sie zu spielen. Sie kennt den heutigen Tag auswendig, spielt den Tag rückwärts. Perlmelodien und lebende Flusssteine unten im Bach, die Füße auf dem Asphalt, Kinder am Bahnhofsplatz in ihrem Lachspiel, den gefundenen Apfel, das Regenrauschen, menschliche Schreirufe, alte Gesichter, mürrische Stimmen, liebende Umarmungen, Abschiedsleid vom Bahnsteig, das Pfeifen des anfahrenden Zuges. Es ist ein kompliziertes Spiel, wie es noch kein Komponist je in Töne gefasst hat; es ist das Spiel des lebendigen Lebens, des heutigen Tages. Die Akustik in dem Rohr ist ausgezeichnet und Stella versinkt selber in ihr Spiel, bis sie auch das Frühstück, den Gang zum Waschen am Fluss, das Herauskriechen aus dem Schlafsack am Morgen, das Aufwachen mit dem Regenrauschen gespielt hat.

Inzwischen ist es dunkel geworden, das Käuzchen ist verstummt ebenso wie Stellas Geigenspiel. Wieder verharrt sie einige Zeit lang schweigend, unbeweglich, bis sie die Geige wieder sorgsam an ihren Platz legt. Dann entkleidet sie sich langsam; sie zieht zunächst die zwei Röcke aus, die sie übereinander trägt. Nacheinander streift sie diese ab und legt sie getrennt beiseite, denn am nächsten Morgen wechselt sie die Reihenfolge, damit sie nacheinander auslüften können. Auch die langen Strümpfe zieht sie aus, fährt mit den Händen hinein, glättet sie und legt sie zu den Röcken. Dann folgen die lange Jacke mit den vielen Knöpfen, der Wollpullover und zuletzt die Unterwäsche. Das Hemd hat Spitzen im Ausschnitt, ist ihr viel zu groß, aber das stört sie nicht. Lächelnd streicht sie den Stoff an ihrem Körper glatt, bevor sie es abstreift. Sie ist mager, aber muskulös und ihr Körper wirkt grazil und wohlproportioniert. Schließlich ganz nackt bewegt sie sich geschickt aus ihrem Rohr, fröstelt, schlüpft mit bloßen Füßen in die großen Schuhe, um sich draußen auf dem Schrott nicht zu verletzen, und gelangt so schließlich an den Bach, wo sie sich an einer ausgetretenen Stelle niederkniet und zitternd vor Kälte mit geschickten Händen ihren ganzen Körper wäscht.

Als sie fertig ist, die Schuhe wieder anhat und in ihr Rohr zurückgekehrt ist, reibt sie sich mit einem Stück Stoff kräftig ab und zieht etwas Ähnliches wie einen Schlafanzug über, der aus einer weiten Jogginghose und einem eng anliegenden, rot-gelb gestreiften Oberteil besteht. Mit einem großen, alten Wurzelstock, der vor dem Eingang liegt, verschließt sie notdürftig die Öffnung und kriecht alsbald in den Schlafsack. Dort beginnt sie die Füße fest gegeneinander zu reiben, bis sie warm sind, dann legt sie sich auf die Seite, schließt die Augen und schläft ein. Im Traum beginnt sie zu fliegen, wie sie es in Kindertagen bereits getan hat, fliegt immer höher, bis sie bei der Musik angelangt ist; eine Musik, die alle Instrumente der Erde in wundersamen Klängen, in menschenohrfremden Frequenzen ertönen lässt.

Stella erwacht im ersten Morgengrauen, eine Amsel singt ihr Lied, die erste, die sie in diesem Jahr hört. Noch hält sie die Augen geschlossen, obwohl ihr Tränen die Wangen herabfließen, ohne dass sie dies merkt. So berührt ist sie von dem klaren Amselgesang.

Stella ist ein Ohrenmensch, ein Mensch der Klänge, Töne, Geräusche, ein Mensch der Musik und der Rhythmen. Sie hört um ein Vielfaches lauter, stärker, intensiver, als es die meisten Menschen tun. Daher ist es ihr auch möglich in den Menschen Stimmungen und Rhythmen zu erlauschen. Sie hat herausgefunden, dass jeder Mensch einen eigenen Rhythmus hat, und sich selber beigebracht, wie sie die Rhythmen von Menschen verändern, beschleunigen, verlangsamen, heilen kann, indem sie deren Rhythmus singt, deren Melodie ertönen lässt und sie dann aufhellt, ver-langsamt, ergänzt, beschleunigt, verdunkelt …

Zuletzt hat Stella in einem Bahnhof als Toilettenfrau gearbeitet. Dort wurde ihr gekündigt, weil sie sich mehr um die Menschen als um ihre Arbeit kümmerte. Jetzt lebt sie seit Februar in dem Kanalrohr, bekommt in den kalten Nächten Frostbeulen an Füßen und Händen und klettert jeden Morgen in eisiger Kälte aus dem Rohr, um zu rennen und Gymnastikübungen zu machen; dadurch wärmt sie sich so weit auf, dass ihr die Hände gehorchen und sie Wasser kochen kann. Sie hat noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, in ein Obdachlosenheim zu ziehen. Die Geräusche dort sind zu laut, die Menschen zu viele; sie würde keine Ruhe finden vor dem lauten Tönen dort. Oder aber sie würde taub werden, die Ohren so in sich zurücknehmen, dass sie nichts mehr hören würde. Aber dann wäre sie nicht einmal mehr in der Lage, irgendeinen menschlichen Kontakt aufzunehmen, was zum Überleben aber wichtig ist. Also hat sie sich auf die Suche gemacht, um ein geeignetes Quartier für sich zu finden, und ist zu jenem Schrottplatz am Waldrand gekommen, wo sie nun lebt. Es ist zwar kalt und einsam, aber dafür ist es ruhig und friedlich; zwei Dinge, die Stella wichtiger sind als Wärme und Komfort.

Stella hat sich angewöhnt, gleich als Erstes Geige zu spielen, wenn sie nach Hause kommt, dann sind ihre Hände noch nicht zu kalt dafür. Deshalb rennt sie oft nach Hause, um gut warm zu sein. Wenn der Frühling weiter fortschreitet, wird sie auch drau-ßen Geige spielen, auf der Straße, in der Fußgängerzone, im Wald, am Fluss.

Darüber denkt Stella nach, als die Amsel eine Pause in ihrem Gesang macht. Sie hat die Sonne, die Wärme angekündigt. Wann wird der erste Tag sein, an dem sie die Geige mitnehmen kann? Vielleicht würde sie dann nicht mehr nach verrottetem Gemüse

oder Obst auf dem Markt, nach Brot vom Vortag beim Bäcker fragen müssen, nicht mehr mit ihrer kleinen Schale betteln müssen.

Stella denkt weiter über das Betteln nach: Wie komisch die Menschen doch sind, viele starren sie an, wenn sie am Straßenrand hockt, und beschimpfen sie als Nichtsnutz, als Belastung für die Gesellschaft. Dabei ist der Rhythmus dieser Menschen meist so traurig und langsam, dass Stella manchmal zu singen anfängt als Antwort auf diese Beschimpfungen; denn sie will den Rhythmus aufhellen, den Schimpfmenschen zeigen, dass es noch andere Melodien im Leben gibt, dass sie ihre Melodie ändern könnten. Manche sind sogar wütend und Stella hört, dass sie auf ihr eigenes Leben wütend sind, was sie doch selber leben. Der Rhythmus solcher Menschen ist hart und rasch, rotbergig und kantig. Stella denkt oft, dass sie sich einfach in der Fußgängerzone hinsetzen müsste, um sich beschimpfen zu lassen, damit die Wutmenschen ihre Wut an ihr auslassen könnten, denn wenn sie eine Weile auf sie eingeschimpft haben, wird ihr Rhythmus ganz von alleine viel ruhiger. Das tut den Menschen offensichtlich gut. Wieder andere Leute beschimpfen sie als Alkoholikerin, besonders dann, wenn sie vom Frost rote Flecken im Gesicht hat. Oft fragt sie sich, woher diese Leute wissen wollen, dass sie Alkohol trinkt.

Stella hat einmal Alkohol probiert, als ihr so kalt war, dass sie nicht mehr warm wurde. Sie hatte sich einen Schnaps gekauft in der Hoffnung, dass dieser helfen könnte. Als sie in ihrem Schlafsack lag, trank sie viele Schlucke davon, musste husten; es schmeckte hart, scharf, stark. In ihrem Innern brannte es und dann begann die Qual: Ihr Kopf schien nach hinten herunterzufallen, die Augen verdrehten sich in den Höhlen, ihr Leib bog sich nach hinten in ein Hohlkreuz und ihr Nabel trat hervor wie in ihrer Kindheit, während der schlimmsten Träume. Ihre Ohren waren überall gewesen: im Wald, im Schlafsack, in ihren Beinen, an der „Tür“, in der Kälte draußen, im Fluss, im Eis, sie konnte sie nirgends zurückholen, zu sich einstülpen, ihr Mund stand offen und Speichel lief heraus; bald brach ihr der Schweiß aus und roch so übel, dass sie sich beinahe übergeben hätte. Dann schrie sie aus Leibeskräften, als würde sie aufgespießt, und ihre Schreie hallten aus dem Wald, aus dem Fluss, von den Wänden des Rohres wieder zu ihr herüber und gellten schließlich in den Ohren, die überall waren, und Stella wusste nicht mehr, wo sie war, wurde ohnmächtig. – Einige Stunden später war sie zitternd, in kaltem Schweiß gebadet, aufgewacht, musste sich mühsam sammeln und war auf allen Vieren so schnell wie möglich aus dem Rohr gekrochen, um sich zu übergeben. Danach hatten ihre Glieder so sehr gezittert, dass sie sich nicht einmal Tee kochen konnte. Nur mit allergrößter Anstrengung war sie zurück in ihren Schlafsack gekrochen, um sich vor dem Erfrieren zu retten.

Nun gibt es also Menschen, die sie eine Alkoholikerin schimpfen. „Menschen denken zu schnell“, denkt Stella dabei.

Die Amsel hat ihr Lied wieder aufgenommen. Sie singt Töne rauf und Töne runter, Töne kreuz und quer. Wie singende Perlen im Auf-Abwärts, erdfarbenes Seufzen, tauperlengleiches Rufen in den rot-goldenen Glockentönen von Gesteinssonnen inmitten von Baumgesprächen, vom zarten Eisrauschen des Baches …

Stella streckt sich und fühlt sich wohlig warm. Es wird schon hell und sie kriecht zu ihren Röcken, der Jacke und der Wachsjacke, zieht alles übereinander an und öffnet die Tür. Es ist ein wunderschöner Morgen. Sie lauscht nach der Sonne, die sich mit unzähligen Rot-Tönen über den Horizont ergießt, erhaben und groß. Stella beginnt zu laufen, wie jeden Morgen. Die Röcke rafft sie dabei mit den Händen hoch, dass die Füße Raum haben zum Rennen. Sie ist außerordentlich gut trainiert und rennt ihre Strecke sehr schnell und gleichmäßig. Dann bereitet sie ihr Frühstück: eine Konservendose mit Erbsensuppe und ein großes Stück Brot. Stella fühlt sich glücklich.

Stella gehört zu jenen, zu den „anderen“ Menschen, die nicht zu den „normalen“ passen, die bisher keinen Platz gefunden haben, zumindest keinen Platz unter den Menschen. Ihre Eltern wissen nicht, wo und wie sie lebt, wissen nichts von Amselgesang und Geigenspiel. Sie glauben, dass Stella in der anderen Stadt einen richtigen „Platz“ hat, dass sie zu den normalen Menschen gehört und von diesen gehört wird, dass sie mit ihnen spricht und lacht und arbeitet, wie es Menschen eben so tun. Stella ist den ganzen Winter über nicht vom Waldrand verscheucht worden. Wahr-scheinlich hat niemand sie bisher entdeckt, denn wer käme schon darauf, dass jemand in einem Rohr leben könnte. Ihr Gei-genspiel ist auch niemandem aufgefallen bisher, das Rohr ist zu abgelegen, zu weit von den Menschen im „Diesseits“, liegt es doch gleichsam im „Jenseits“.

Die Mondscheinfrau

Stella macht sich auf den Weg in die Stadt, nachdem sie alles sauber hinterlassen hat. – Wie immer rennt sie.

Inzwischen kennt sie in Langenburg viele Winkel; sie kennt die lauten Straßen, die leisen Straßen, ja sogar freundliche Straßen und unfreundliche. Jede Straße hat ihren Klang und ihr Gesicht, als seien sie lebendig; als wohnten in ihnen nicht nur Menschen, sondern auch der Jemand, der die Straße selber ist. Sie meidet manche Straßen, andere sind einladend mit ihren kleinen Häusern und Ecken, den Hauseingängen und Geschäften. Am liebsten sind ihr diejenigen Straßen, in denen keine Autos fahren. Auch hier gibt es eine solche Straße, eine Fußgängerzone. Heute steuert sie auf jene stille Straße zu.

Es ist noch nahezu menschenleer, die Luft ist rein, als habe die Nacht sie reingewaschen – ohne Regen, einzig durch die scharfe Kälte. Ob Kälte reinigen kann, fragt sie sich kurz, ist aber bald wieder abgelenkt, weil sie eine Frau beobachtet, die schnellen Schrittes auf ein Geschäft zuläuft. Längst kennt Stella ihre Schritte, ihren Klang. Sie klingt wie düstere Ginsterbüsche im Mondschein – mondscheinfarbener Ginsterklang in Wolkenmauern. Ihr Schritt ist fest und traurig, aber zielgerichtet. Es ist ein kleines Café, welches sie öffnet. Stella ist oft vorbeigegangen und hat gesehen, dass die Frau dort arbeitet. Sie hat den Leuten Tee und Kaffee gebracht sowie Kuchen und andere Leckereien. Manchmal war sie alleine, manchmal hatte sie eine Hilfe. Im Stillen nennt Stella sie wegen ihres geheimnisvollen Klanges „Mondscheinfrau“, da ihr die Klarheit des Tages fehlt und sie nur fahle Mondschatten wirft. Sie lächelt selten, ist ernst.

Nie hat die Mondscheinfrau Stella jemals beachtet. Aber heute blickt sie zu ihr herüber, schaut noch einmal aus der Türe, als sie diese öffnet, um zu lüften. Stella ist es nicht gewohnt, dass Menschen so zu ihr hinschauen. Natürlich ist sie Geringschätzungsblicke gewöhnt, aber diese Frau sieht sie einfach an, ohne Argwohn. Stella zuckt zusammen, als sie näher kommt. Die Mondscheinfrau geht auf Stella zu, um sie anzusprechen. Fahler Ginsterbuschgesang wogt zu ihr hin. Sie muss die Ohren einziehen, um überhaupt mitzubekommen, was die Frau von ihr will. Oder geht sie doch woanders hin? Stella blickt sich um, sieht aber nur die alte Straße hinter sich, stülpt die Ohren ein und sieht interessiert der Frau entgegen.

„Guten Morgen“, sagt diese mit einer Stimme, die Stella schon längst kennt, „ich habe Sie schon oft hier gesehen, haben Sie denn gar keine Arbeit?“ Stella weiß nicht genau, was sie antworten soll. Sie hat immer etwas zu tun und wird bald wieder mit der Geige auf die Straße gehen. Aber diese Frau meint etwas anderes und so erwidert sie: „Nein, so eine Arbeit habe ich nicht.“ „Wollen Sie bei mir helfen?“ Stella sieht an ihren Röcken hinunter und bleibt mit ihrem Blick an den geröteten und rauen Händen hängen, deren Innenflächen sie nach oben hält. Sie könnte doch versuchen zu helfen. „Kommen Sie einfach mal mit!“ Stella begleitet sie in das Café und läuft hinter dem Ginsterschein her in die Küche. Der Geruch ist nicht besonders gut. Es riecht hier nach Fettresten und Kuchenkrümeln; Stella, die in der frischen Luft lebt, empfindet den Raum als stinkend und beklemmend, obwohl er ausreichend Fenster hat. Sofort spürt sie die Auswirkung des Geruches in ihrer Magengegend. Jemand anderes hätte wohl kaum gemerkt, dass es hier schlecht riecht, doch Stella hat bereits ein Problem damit. Schnell schluckt sie und verkrampft instinktartig ihren Magen, um sich auf die Frau zu konzentrieren. „Hier können Sie helfen; Teller waschen, aufräumen, die Küche sauber halten … “

Es ist schon einige Monate her, dass Stella den Job in der Toilette aufgeben musste. Sie ist nicht mehr daran gewöhnt, in Räumen zu arbeiten. Die Arbeit ist es wahrlich nicht, die sie scheut, aber sie ist sich unsicher, ob sie es aushalten wird. Aber warum nicht: schließlich würde sie dann heute genug zu essen bekommen, glaubt sie.

„Ja, ich versuch’ es“, sagt sie leise und hängt ihre Jacke an den Haken, den ihr die Mondscheinfrau zuweist. Trotz der Röcke kann die Frau Stellas schlanke und muskulöse, wohlgeformte Figur erkennen. Sie betrachtet ihre frischen, ebenmäßigen, jungen und weichen Gesichtszüge. „Das könnte was werden!“, denkt sie bei sich. Sie reicht Stella eine geblümte Schürze und weist sie in die Arbeiten ein.

Im Café

Es steht noch Geschirr vom Vortag da und Stella macht sich an die Arbeit. Kaum ist die Mondscheinfrau aus der Tür, reißt sie beide Fenster auf und atmet tief durch. Stella lächelt, als sie ihre Hände in das warme Abwaschwasser taucht. Wie lange hat sie kein warmes Wasser mehr berührt! Es fühlt sich an, als streichle jemand zart und liebevoll ihre Hände. Nur einen kurzen Gedanken schickt sie an Laurens – seine Hände in ihren Händen – aber schnell verscheucht sie ihn wieder. Laurens ist woanders, sie dagegen ist hier und soll abwaschen. Flink und geschickt nimmt sie das Geschirr Stück für Stück in die Hände, spült es in diesem herrlichen Wasser ab und lässt heißes Wasser darüberlaufen, um den Schaum abzuwaschen. Der Schaum riecht nach Chemie und Stella muss ihre Aufmerksamkeit davon ablenken, damit ihr nicht übel wird bei diesen Duftwolken. Die offenstehenden Fenster aber lassen es erträglich werden. Gerne streicht sie mit ihren Fingerspitzen über die Rundungen des Geschirrs. Die Teller haben einen geschwungenen Rand und fühlen sich „schnell“ an. Sie liebt es, zu säubern, den Klang des Tuns zu hören und die Veränderung der Stimmungen in dieser Küche. Das Geschirr klappert wenig und Stella hält immer wieder inne, um abzutrocknen. Selbst das Trocknen klingt. Die Tellerstapel tönen in perlfedernden leise-rotschnellen Klängen. Die Hände fühlen sich flink und paradiesisch warm und sauber an. Sie schickt die Ohren in die Umgebung und erspürt mit ihnen die Veränderung des Raumes, je mehr dieser sauber und ordentlich wird. Stella wäscht nicht nur flink ab, sie putzt auch direkt im Anschluss die Ablageflächen, reibt alles mit einem Handtuch trocken, stapelt alles Geschirr, dessen Platz sie nicht kennt, auf eine Fläche. Dann ist sie gerade dabei, Fensterputzmittel zu suchen, als die Mondscheinfrau hereinkommt. Ginsterbüsche hellen sich auf … klingender Mondschein. Ein Strahlen breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

„Wie schön! Wie schön!“, wiederholt sie immer wieder.

„Nun müssen die Fenster noch geputzt werden, der Boden gehört geschrubbt und Pflanzen fehlen noch …“

„Aber Pflanzen doch nicht in der Küche“, tönt die Mondscheinfrau. „Das ist gesetzlich verboten wegen der Hygiene!“

„Ach so!“ Stella sagt dies, ohne die Worte verstanden zu haben. Warum verbannen Menschen Pflanzen aus Räumen? Das müsste ihr mal jemand erklären!

„Ach ja, Putzmittel sind hier in diesem Schrank, alles für die Fenster, für den Boden und genügend Lappen!“

Stella ist es nur recht, dass sie wieder alleine ist, und macht sich ans Werk, alles gründlich zu reinigen.

Die Zeit ist schneller dahingeflossen, während sie tätig war. Die Mondscheinfrau bringt immer wieder neues Geschirr herein. Sie bedient im anderen Raum die Gäste mit frischen Brötchen und Eiern, Kaffee, Tee, Broten, Fisch und allem, was die Menschen so wünschen. Langsam bekommt Stella wieder Hunger, und als ihr die Mondscheinfrau lächelnd eine Pause anbietet, nimmt Stella diese gern in Anspruch. Auf einem Stapel neben dem Tisch liegen Zeitungen – wahrscheinlich alte Zeitungen. Stella hat sie bereits schön aufgestapelt. Als sie nun mit einem frischen Brötchen, Tee und Marmelade am Küchentisch sitzt, macht sich ein selten gekanntes Glücksgefühl in ihr breit. Sie ist zufrieden und nimmt sich einige der Zeitungen. Wie lange sie nicht mehr gelesen hat, weiß sie nicht.

Gleich auf der Titelseite gibt es eine Schlagzeile: „Drei Menschen an seltener Krankheit gestorben.“ Stella nimmt die nächste Zeitung und liest: „Mann mittleren Alters erbärmlich dahingesiecht, Wissenschaftler und Ärzte ratlos!“ Wieder greift Stella nach einer anderen Zeitung und liest auf der Titelseite: „Grippevirus oder Monsterkrankheit? Wissenschaftler ratlos!“ Sie wird neugierig, beginnt den Artikel zu lesen: „Erneut sind vier Menschen an seltener Krankheit erkrankt, darunter zwei Frauen mittleren Alters und zwei ältere Männer von 64 und 70 Jahren. Symptome wie Erbrechen, Schwindel, teilweise hohes Fieber, Verwirrtheit und erhebliche Gemütsschwankungen gelten inzwischen als Symptome. Bisher konnten keine Keime, Viren, Ursachen, genetische Hintergründe gefunden werden. Krankheit bleibt weiter rätselhaft, tritt vermehrt auf und führt immer zum Tod. Morbus Fabry, Morbus Pompe, Morbus Wilson, Morbus Gaucher, Myelodysplastisches Syndrom, Homocystinurie, Cryopyrinassoziiertes periodisches Syndrom, Lennox-Gastaut-Syndrom sind ausgeschlossen …

Wissenschaftler weiter ratlos …“

Stella legt das Langenburger Tageblatt beiseite und schaut nachdenklich aus dem Fenster. Autos und das mittägliche Stimmengewirr dringen schwach an ihr Ohr, aber sie ist tief in Gedanken versunken und schreckt zusammen, als die Mondscheinfrau lächelnd zu ihr kommt. „Noch nie hat jemand meine Küche so selbstständig und so perfekt aufgeräumt! Es ist richtig schön hier! Danke. Ihr Name ist nochmal?“ „Stella!“

„Danke, Stella!“ Die Mondscheinfrau sieht die Zeitungen auf dem Küchentisch und meint: „Ja, das geht schon eine ganze Weile so. Eine Erscheinung, die sich nicht nur in unseren Regionen zeigt, sondern anscheinend weltweit. Es gibt Meldungen aus vielen Ländern. Überall wird versucht, die Krankheit zu ergründen und ihre Ursachen zu finden! Sie verläuft bei jedem Menschen ein wenig unterschiedlich. Bei den einen beginnt es mit Verwirrung, bei anderen mit Übelkeit und Erbrechen, bei den meisten mit heftigem, blutigem Husten. Man weiß es nicht! Also: wenn ich mal nicht mehr weiß, was ein Teller ist, weiß ich, dass ich dran bin!“ Die Mondscheinfrau lacht hell wie Ginsterblüten: „Ich nehme das nicht so ernst! Die Journalisten schreiben immer wieder komische Sachen und verunsichern damit die Bevölkerung! Es muss ja immer was Neues geben, damit sich die Zeitungen besser verkaufen!“ Energisch geht sie zum Fenster und schließt es. „Es ist so kalt draußen und hier erfriert man ja fast! – Stella, wenn Sie wollen, können Sie den ganzen Tag hier arbeiten! Ich habe so viele Gäste! Ich brauche jemanden wie Sie!“

Stella lächelt und nickt. Schließlich ist es kalt und sie ist im Winter recht dünn geworden. Das Angebot bietet eine Abwechslung, und warum soll sie nicht hier arbeiten? Die Klänge sind gute Klänge und die Mondscheinfrau ist eine gute Frau. Sie würde es hier aushalten.

Den ganzen Nachmittag wäscht sie das Geschirr, das ihr gebracht wird, putzt Tische und den Fußboden in der Küche, räumt Geschirr ein und aus … Sie hat das Fenster längst wieder aufgerissen. Bald nach Schließung des Cafés ist alles Geschirr sauber, in den Schränken verstaut und die Küche glänzt. Die Mondscheinfrau hat noch Zeit für ein Gespräch.

Tiela

„Mein Name ist übrigens Tiela, ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber so hat mich meine Mutter genannt. Ich habe wohl als Neugeborenes Töne von mir gegeben, wie tiefes Lachen, so meine Mutter. Dann hat sie einfach Tiela daraus gemacht, die Anfangssilben von „tiefes Lachen“, denn sie fand, dass eine praktische Lebenseinstellung gut sei. Deshalb heiße ich jetzt so und es gefällt mir, weil niemand sonst so heißt. Damals lebte auch mein Vater noch. Er hat es irgendwie geschafft, diesen Namen beim Amt registrieren zu lassen. Er hat immer alles geschafft, was er wirklich wollte. Was er dagegen nicht wollte, hat er nicht gemacht und nicht geschafft. Niemand konnte ihn dazu bringen, Dinge zu tun, die er nicht wollte …“ Tiela schweigt, lächelt in sich hinein, ein ernstes Lächeln. Ein Schatten fällt in ihren Mondscheinginster; dunkelgrau, ihr Rhythmus verlangsamt sich, als klebten Fäden an ihm, klangschwer, steinern bergauf.

Stella schweigt. Sie schaut Tiela an und lauscht.

„Ach, was sind Sie nur für eine, dass ich Ihnen das erzähle …“ Tielas Augen sind feucht. Dann gibt sie sich aber einen Ruck und lächelt wieder. „Also, wenn Sie wollen, Stella, möchte ich Sie gerne hier als Hilfe einstellen! Es wäre mir ein Vergnügen! Wollen Sie? Natürlich werde ich Sie auch bezahlen! Hier …“, sie nimmt einen Geldschein aus ihrem großen Portemonnaie, das in ihrer weißen Schürze steckt, und gibt ihn Stella, „das ist für Sie“, und Stella nimmt den Schein langsam entgegen. Davon würde sie mindestens vier Tage lang satt werden, ein schönes Gefühl!

„Ja, ich komme morgen wieder, um dieselbe Zeit?“

„Ja, das wäre großartig, und danke!“

Stella geht nach draußen, es ist dämmrig. Sie schlendert die Straße entlang, und als sie die verkehrsberuhigte Zone verlässt, beginnt sie zu rennen. Die Bewegung und die frische Luft tun ihr gut. Sie ist glücklich und zufrieden und genießt das Gefühl ihrer Schuhe auf der Straße, das Rauschen ihrer Röcke. Sie zieht wie immer Blicke auf sich, aber das macht ihr nichts aus. Seit jeher gehört sie nicht zur Masse, zu den „normalen Menschen“, zu denen, die immer wissen, wie „es“ geht und wie man „es“ macht und wie man sich benimmt. Sie wird angestarrt, geht einen anderen Weg, rennt einen anderen Weg, hört anders, fühlt anders, singt anders … Stella atmet tief durch, als sie angekommen ist. Obwohl sie die Strecke gewohnt ist, ist sie außer Atem, fühlt sich aber frei und glücklich.

Die Tage sind schon länger und die Dunkelabende werden heller. Sie kann viel länger bei Licht lesen, im Wald verweilen, ohne dabei auf Kerzenschein oder eine Taschenlampe angewiesen zu sein.

Als die Dunkelheit hereinbricht, wäscht sie sich am kleinen Bach, hüllt sich gleich danach in eine ihrer Militärdecken und schließt die Augen, während sie in der Dämmerung neben einem Baum steht. Sie lauscht und hat die Ohren im Geäst, was so feingefiedert in der beginnenden Dunkelheit tönt. Es ist der Klang des Friedens, denkt sie. So tönt der vollkommene Frieden. Alles ist im Einklang, das Bachbett, die Blättchen, die hereinbrechende Nacht – alles gehört zusammen zu dem Einen, zu dem großen Ganzen, was sie immerfort in ihrem Herzen empfindet. Hier fühlt sie sich eins mit allem, was ist, fühlt sich zu Hause, in völliger Harmonie mit der Natur. Regenbogenfarbene Fadendämmerflächen gleiten in aberschönem unendlichen Zeitengeäst im Immer …

Sie ist versunken, wie lange, weiß sie nicht. Jedenfalls ist es dunkel, als sie die Ohren wieder zu sich nimmt. Still geht sie zu ihrem Rohr, verschließt die Tür mit dem Wurzelstock. Es ist inzwischen zu kalt geworden, um Geige zu spielen. Sie hebt es sich für den nächsten Tag auf. Im Morgengrauen erwacht sie und lauscht dem Vogelsang mit geschlossenen Augen, während sie lächelt.

Rechtzeitig kommt sie bei dem Café an und wartet still, bis sie die Mondscheinfrau schon von weither hört.

„Hallo, Stella! Wie schön, dass du wieder da bist! Komm, lass uns reingehen.“

Stella lüftet gleich erst mal durch, indem sie alle Fenster aufreißt. Kühle Morgenluft flutet durch die saubere Küche und über den sauberen Fußboden. Tiela stellt ihre schweren Einkaufstüten auf den Tisch, setzt Kaffee auf, nimmt die Kuchenlieferung entgegen und hantiert flink.

Stella räumt geschickt das Geschirr aus dem Schrank und stellt es für die Gäste bereit. Heute ist Frühstücksbüfetttag. Da gibt es mehr Arbeit als sonst. Stella macht Wurst- und Käseplatten, garniert sie liebevoll, schneidet Paprikastückchen in den unterschiedlichsten Farben und drapiert diese zusammen mit Basilikumblättchen, Cocktailtomaten und Radieschen so kunstvoll auf die Teller, dass Tiela staunend innehält und lächelt.

„Woher kannst du das?“, fragt sie verwundert.

„Es ist doch nicht schwer! Ich sehe nur die Paprika und die Wurstscheiben an und dann weiß ich, wie sie zusammenpassen, also welche Farbe, welche Form. Das mach’ ich so lang, bis es sich für mich richtig schön anhört!“

„Anhört?“, fragt die Mondscheinstimme, du meinst doch sicher: „Bis es schön aussieht?“ Sie merkt in diesem Moment gar nicht, dass sie wieder „du“ gesagt hat.

„Jaja, das meine ich natürlich!“ Wie soll sie auch Tiela erklären, was sie wirklich wahrnimmt und hört? – Die Arbeit geht weiter und alles wird schön und ordentlich. Schon bald kommen die ersten Gäste und Stella verzieht sich in die Küche, um die leergegessenen Teller abzuwaschen und schöne Platten für den Nachschub zu gestalten. Sie ist so vertieft in ihre Arbeit, dass sie beinahe erschrickt, als Tiela in die Küche kommt und meint, dass es nun genug sei. Die Frühstückszeit sei nun zu Ende. „Jetzt frühstücken wir beide! Sieh mal, was hier noch übrig ist. Da findest du sicher etwas, was dir schmeckt! Das Café ist ja zwischen 12 und 14 Uhr geschlossen.“ Stella wird rot vor Verlegenheit, setzt sich aber auf einen Stuhl und nimmt ein Brötchen mit einem Stück Käse und etwas Lachs. Dazu frischen Tee. Sie atmet tief durch und beginnt zu essen. Schon lange hat sie nicht mehr so gut und komfortabel gespeist. Jetzt spürt sie ihren Hunger und isst mit vollem Mund. Dabei merkt sie nicht, wie Tiela sie ansieht und beobachtet.

„Stella, du bist so eine besondere Frau, wo wohnst du? Und was machst du sonst, wenn du nicht hier arbeitest?“ Stella unterbricht Tiela und sieht sie mit ernsten Augen an.

„Ich wohne dort hinten“, mit einer lässigen Bewegung zeigt Stella über ihre Schulter und deutet die Richtung an, in der der Wald liegt. Tiela legt die Stirn in Falten, als Stella schnell weiterredet: „Was ist denn an mir so besonders?“

„Naja, die ganze Art, wie du die Dinge machst, gestaltest, wie du arbeitest, wie aufmerksam du bist, wie umsichtig und wie schön du alles machst. Als hättest du irgendwo eine Ausbildung für Schönheit gemacht.“

Stella lächelt verlegen. „Nein, ich habe keine Schönheitsausbildung!“ Sie schüttelt den Kopf und muss lachen. „Aber du, Tiela, wie bist du zu einem Café gekommen?“

„Das ist eine lange Geschichte, aber verkürzt erzähl’ ich sie dir: Ich war glücklich verheiratet und zusammen mit meinem Mann hatte ich auch eine Tochter, nein, habe ich eine Tochter …“ Tiela macht eine Pause und schaut aus dem Fenster in irgendeine sehr weite Ferne, bis sie fortfährt: „Mein damaliger Mann hat mich verlassen, es gab eine andere Frau, eine schönere Frau als mich. Ich war damals Schneiderin; das ist mein eigentlicher Beruf. Wegen unserer Tochter arbeitete ich aber nicht voll und half meinem Mann an den Abenden bei Büroarbeiten in seiner Firma. Er war ein grandioser Verkäufer für alles Mögliche. Selbst wenn ein Kunde etwas gar nicht brauchte, konnte er es ihm so schmackhaft machen, dass dieser am Ende glaubte, es unbedingt haben zu müssen, und die Ware kaufte. Mein Mann hat nicht nur Staubsauger verkauft! Es waren auch Küchen, Nähmaschinen, Fensterputzutensilien, Seifen – ich kann gar nicht alles aufzählen. Ich glaube, dass er auch sehr viel Geld verdient hat, aber für Marie und mich blieb kaum etwas übrig. Ich weiß nicht, was er mit dem Geld gemacht hat. Deshalb war es eine Katastrophe, als er eines Nachts von seiner Vertretertätigkeit nicht mehr nach Hause kam.“ Tiela macht eine sehr lange Pause, bis sie schließlich in einem recht nüchternen Ton sagt: „Er hatte Alkohol getrunken. Das Auto überschlug sich mehrmals und krachte in einen Baum. Er war sofort tot! Man hat ihn dann am nächsten Tag in der Frühe gefunden.“ Tiela holt tief Luft und seufzt, wieder sieht sie weit weg aus dem Fenster, obwohl die nächste Hauswand dort ist. Ihr Blick geht dort hindurch. Stella sieht sie aufmerksam an und schweigt. „Ja, eigentlich hatte er mich schon verlassen, wollte zu dieser anderen Frau. Leider hinterließ er nichts als Schulden.

Mir blieb nichts anderes übrig als seine Hinterlassenschaften auszuschlagen und mit Marie im Schlepptau ein neues Leben zu beginnen. Die Näherei brachte zu wenig, um uns über Wasser zu halten. Dann nahm ich allen Mut zusammen und mietete dieses Café. – Marie, musst du wissen, war ein ganz besonderes Mädchen! Sie war gewiss unselbstständig, aber sie konnte so gut lieben; naja, ich weiß nicht, ob du dir was darunter vorstellen kannst?“

Tiela sieht Stella fragend an, die nickt eifrig. „Also gut, sie hatte einen genetischen Fehler, nämlich die sogenannte Trisomie 21. Man sagt dazu auch Down-Syndrom. Egal, wer bei uns war, egal, mit wem wir es zu tun hatten, Marie liebte jeden, unvoreingenommen und bedingungslos. Sie umarmte jeden Menschen!“ Tiela sieht erneut durch die Hauswand, diesmal ein paar Minuten lang. „Marie hatte einen Herzfehler, der irreparabel war. Ihr Leben hing immer an einem seidenen Faden und eines Morgens, als ich sie wecken wollte, war sie einfach gestorben …“

Tiela schweigt, ihr Blick wandert nach oben zu den Wolken. Sie ist weit weg in Gedanken und Stella lauscht dem Ginstergebüsch. Ein Geheimnis hat sich für sie offenbart. Das Licht im Ginstergebüsch, dieses Licht ist Marie! Von Marie ist etwas geblieben, eine Gabe, die diese Tiela geschenkt hat, eine Liebefähigkeit … Ja, genau so hört sich das Licht im Ginster an! Dieser Mondschein! Stella sucht in sich nach Worten, um Tiela zu trösten und ihr zu erzählen, dass Marie auf eine Weise noch da ist, aber sie kann keine Worte dafür finden. Beide Frauen schweigen. Tielas Gesicht ist bereits faltig und sie muss mindestens 50 Jahre alt sein, also kann es gut schon einige Jahre her sein, dass Marie gestorben ist.

Stella schließt die Augen und beginnt leise zu summen. Wie früher, wenn sie Stimmungen gesungen hatte, öffnen sich ihr diese Möglichkeiten wieder in dieser Situation. Sie summt so leise, dass es Tiela kaum hören kann, dass Tiela kaum Notiz davon nimmt und weiter zu den Wolken sieht. Stellas Summen wird langsam lauter und eindringlicher. Da hinein legt sie den Mondschein, fahl und silbrig, gleitende Lichtflächen bettet sie in Blütenginster. Rhythmen verändern sich in Wolkenstockwerke zu Wurzelmonden. Zeitenschimmer im Ginstermond … Tiela kommt langsam zurück, wendet den Blick von den Wolken ab zu Stella, die noch mit geschlossenen Augen dasitzt und summt, die ihre Rhythmen summt in Tonlagen, die Tiela noch nie gehört hat. Tiela ist verzückt, sieht Stella mit weit geöffneten Augen an und lauscht beinahe atemlos.

Stellas Gesang wird leiser, sanfter, Mondschein und Ginsterblüten versinken im Zeitenschimmer bis zum Flächenmond … Dann öffnet Stella die Augen und sieht Tiela an. Diese holt tief Luft und sagt endlich leise: „Jetzt war mir, als sei Marie hier! Stella, wer bist du? Bist du ein Engel?“ Tiela schüttelt den Kopf mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie Stella ansieht.

„Nein, natürlich nicht! Engel gibt es doch im Himmel, oder? Ich habe früher immer viel Singen geübt! Das ist alles!“

„Aber ich habe noch nie jemanden so singen hören!“

„Es ist immer einmal das erste Mal!“, meint Stella sachlich und bestimmt. Sie möchte ihr Singen Tiela möglichst einfach erklären und ihr den Schmerz des Gewesenen nehmen.

Jeden Morgen kommt Stella zur verabredeten Zeit zum Café. Mit Tiela arbeitet sie Hand in Hand, hört immer, wie es ihr geht, sorgt dafür, dass sie gut gestimmt ist, dass das ganze Café gut gestimmt ist, macht alles sauber, stellt frische Blumen auf die Tische und es zeigt sich, dass immer mehr Gäste kommen. Eines Tages meint Tiela zu Stella: „Heute waren mehr Gäste hier als jemals zuvor! Stella, die Gäste bestellen schon die Tische vor, wenn sie hier frühstücken wollen, wir sind immer ausgebucht, wir machen statt einmal jetzt viermal in der Woche Frühstücksbüfett. Ich möchte dich anstellen! Ich will dich wie eine gute Angestellte behandeln und bezahlen! Aber dazu brauche ich deine Adresse und dein Einverständnis! Ich möchte dich beim Arbeitsamt anmelden! Ich bin stolz auf uns und was wir schaffen! Ohne dich hätte ich das niemals geschafft!“

„Ach was“, sagt Stella leichthin, „es ist dein Café und du kaufst immer alles ein, du managst alles und teilst die Arbeit ein. Ich bin deine Hilfskraft. Mehr brauche ich nicht. Es ist alles gut so!“ Stella sagt dies so bestimmt, dass Tiela spürt, dass sie nichts dagegen sagen kann. „Also gut“, meint sie ergeben, „dann lassen wir es dabei, aber versprich mir, dass du mir sagst, wenn du eine feste Stelle willst!“

„Versprochen!“, bejaht Stella und lächelt, während sie Tiela kurz in die Augen schaut.