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Stuttgarter
Biblische Beiträge 75

Herausgegeben von
Barbara Schmitz und Michael Theobald

Ilse Müllner · Barbara Schmitz
Perspektiven. Biblische Texte und Narratologie

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© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2018

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

www.bibelwerk.de

Inhaltsverzeichnis

Hinführung

Barbara Schmitz, Ilse Müllner, Vorwort

Ilse Müllner, Perspektiven. Biblische Texte und Narratologie

Außerbiblische Texte

Irene J. F. de Jong, Der Traum des Kambyses (Herodot »Historien« 3, 30 und 3, 61–65). Ein narratologisches Close-reading

Eva Tyrell, Mittelbarkeit und scheinbare Unmittelbarkeit als Überzeugungsstrategien – ein Vergleich zwischen Herodots »Historien« und der Hebräischen Bibel

Gerhard Langer, Vom Kultbuch zum Lehrbuch. Der Midrasch Levitikus Rabba und seine Erzählungen

Tora

Christoph Dohmen, Un nouveau discours du récit (Gérard Genette) – Perspektivenwechsel der biblischen Sintfluterzählung sehen und verstehen

Christian Frevel, Zum Segen werdende Tora. Narratologische Anstöße zum Verständnis des Buches Numeri

Geschichtsbücher

Benedict Schöning, Wann brachte David Goliats Kopf nach Jerusalem? Eine Prolepse als Leseanleitung der Aufstiegserzählung Davids

Andrea Fischer, »Aber schlecht war die Sache, die David getan hat, in den Augen JHWHs« (2 Sam 11, 27f) – Techniken der Erzählstimme zur Beschreibung der Krise Davids

Keith Bodner, Die Konflikte in 2 Samuel 20: Eine narratologische Annäherung

Martin Nitsche, Erzählung als (Rätsel-)Frage? Figurenkonstellationen und Leser am Beispiel von 1 Kön 3

Barbara Schmitz, Judas Makkabäus. Die Inszenierung einer literarischen Figur und die Perspektiven der Erzählstimme im Zweiten Makkabäerbuch

Psalmen

Sigrid Eder, Empathischer Perspektivenwechsel. Empathie und Erzählstimme in den Psalmen exemplarisch analysiert

Susanne Gillmayr-Bucher, »Wie Rauch entschwanden meine Tage« (Ps 102, 4). Perspektiven in den Krisenschilderungen der Psalmen

Prophetie

Tobias Häner, »Ich bin das Zeichen für euch« (Ez 12, 11). Zur Erzählperspektive im Ezechielbuch

Annett Giercke-Ungermann, »So nah und doch so fern«: Erzähler als Organisationsinstanzen der Krisendarstellungen im Zwölfprophetenbuch

Dominik Helms, Erzählende Stimmen in Dan 4

Angaben zur Person

Hinführung

Vorwort

Als philologische Wissenschaft greift die alttestamentliche Exegese Anregungen aus den Sprach- und Literaturwissenschaften auf und bringt diese in ein Gespräch mit den biblischen Texten. Als historische Wissenschaft hat sie ein Bewusstsein für die Differenzen zwischen den antiken Texten und gegenwärtigen Lektürepraktiken. In beiden Horizonten kann die Narratologie heuristische Instrumente bereit stellen, die neue Einsichten auf biblische Texte eröffnen und zugleich bereits Beobachtetes in anderem Licht erscheinen lassen. Die Kategorie der Perspektive nimmt in all diesen Bereichen eine Schlüsselrolle ein. Sie erinnert daran, dass Erzählungen immer von einer bestimmten Position aus das Ereignis in Szene setzen, dass solche Positionen Teile historischer Diskursformationen sind und dass auch die Textwissenschaften sich Rechenschaft über ihre Interessen und Methodiken zu geben haben.

Der vorliegende Sammelband ist aus der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Katholischer AlttestamentlerInnen (AGAT) entstanden, die vom 4. bis 7. September 2017 in Kassel-Hofgeismar stattfand. Die Beiträge zeugen von einem anregenden Austausch, der auf dem breiten Feld der alttestamentlichen Wissenschaft stattfand und sich nicht auf narrative Texte beschränkte, sondern alle Kanonteile und unterschiedliche Gattungen einbezog. Darüber hinaus konnten wir Beiträge aus dem Bereich der Narratologie außerhalb der eigenen Disziplin gewinnen, die über das biblische Korpus hinausreichen und aus der antiken Geschichtsschreibung sowie aus der jüdischen Traditionsliteratur stammen. Dass wir mit den ReferentInnen unserer Tagung sowohl über die der Arbeitsgemeinschaft ihren Titel gebende Sprach- als auch Disziplinengrenze hinweg gehen konnten, bereichert die Auseinandersetzungen, die wir hoffen, mit diesem Band anstoßen zu können.

Entsprechend den vielfältigen Beteiligungen gilt es an dieser Stelle Dank zu sagen. Institutionelle Förderungen durch das Bistum Fulda und die Universitätsgesellschaft Kassel haben uns dabei unterstützt, die Tagung durchzuführen. Für die achtsamen Übertragungen der englischsprachigen Aufsätze ins Deutsche danken wir Dagmar Knauf (Kassel). Ebenso gilt der Dank dem Würzburger Team: Verena Sauer hat die Publikation koordiniert, Heidrun Leisner hat die Beiträge formal durchgesehen, Franziska Reichert und Jana Hock haben Korrektur gelesen. Ihnen allen gilt unser Dank.

Schließlich geht unser großer Dank an die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes. Sie haben durch ihre Bereitschaft, sich auf noch wenig ausgetretene Pfade einzulassen, die alttestamentliche Wissenschaft bereichert und die Arbeit sowohl in methodologischer Hinsicht vorangetrieben als auch durch die konkreten Textauslegungen weiter geführt. Dass die AGAT den Rahmen dafür bietet, aktuelle Fragestellungen aufzugreifen und zu diskutieren, schätzen wir sehr.

Würzburg und Kassel im Juni 2018

 

Barbara Schmitz

Ilse Müllner

Perspektiven. Biblische Texte und Narratologie

ILSE MÜLLNER

1.Erzählen, Erzähler und Perspektive

Der Mensch ist das Wesen, das Geschichten erzählt. Der homo narrans steht an der Wiege der Kultur; Erzählen kann als Grundvollzug menschlichen Daseins begriffen werden. Das Erzählen gilt in dieser existenziellen Sichtweise als konstitutiv für das Mensch-Sein. Der Mensch ist das Lebewesen, das Ereignisse in eine sinnvolle Kette bringen kann und überhaupt nur dadurch ein Verhältnis zur Welt entwickelt. Menschen beziehen sich, so Albrecht Koschorke, »auf ihre Umwelt und auf sich selbst weniger durch reine Beobachtung und rationale Erwägung als durch das Erzählen glaubhafter Geschichten. Sie weben sich ihr Bild der Welt aus Erzählungen zusammen.«1 Demnach entsprechen basale Strukturen der von uns gedachten Welt – Zeit, Raum, Personen – den Grundkategorien von Erzählungen. Wir verhalten uns zur Welt, d. h. auch zu uns selbst und unserem Leben narrativ und zwar mit Bezug auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir entwerfen unsere Lebensgeschichte im Rückblick, indem wir aus der unüberschaubaren Fülle der Ereignisse wichtige auswählen (Selektion) und sie in einen sinnvollen Zusammenhang bringen, der nicht unbedingt mit der chronologischen Reihenfolge übereinstimmen muss (Ordnung). Die Fähigkeit des Erzählens bezieht sich aber auch auf die Zukunft. Wenn wir etwa Handlungsoptionen abwägen und sie nach ihren potentiellen Konsequenzen beurteilen, dann entscheiden wir uns für die Geschichte, die uns den besten Ausgang verspricht. Erzählen konstituiert individuelle ebenso wie kollektive Identität,2 es bietet Raum für Welterzeugung und Weltdeutung3 und stellt im Rahmen religiöser Gemeinschaften »gewissermaßen eine Muttersprache religiöser Beheimatung«4 dar.

Dass die Bibel und das Erzählen viel miteinander zu tun haben, wird niemand bestreiten. Von daher ist es auch wenig verwunderlich, dass sowohl Erzähltheoretiker_innen sich mit biblischen Texten befassen (allen voran Mieke Bal5) als auch umgekehrt die Bibelwissenschaft Herangehensweisen der literatur- und kulturwissenschaftlichen Narratologie rezipiert.6

Ich werde im Folgenden versuchen, einen kleinen Einblick in das Verhältnis von Bibel und Narratologie zu geben. Der Fokus liegt auf der für die Narratologie zentralen methodischen Kategorie der Perspektive, die eng mit dem Konzept des Erzählers verknüpft ist. Diese beiden Begriffe – Perspektive und Erzähler – führen direkt in die spezifisch narratologischen Fragestellungen und Herangehensweisen hinein und sind gleichzeitig ein guter Ausgangspunkt, um Verbindungen von der literaturwissenschaftlichen Narratologie zu historischen Zugängen herzustellen.

Welche Potentiale eröffnen die narratologischen Herangehensweisen an die Bibel? Wie können methodische Zugänge, die zunächst an Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind, für antike, in diesem Fall biblische Texte fruchtbar gemacht werden? Wo liegen aber auch Grenzen eines solchen Zugangs? Oder produktiver formuliert: Wie verändern die Analysen biblischer Texte das narratologische Repertoire oder einzelne Konzepte – wie z. B. die Figur oder den Erzähler? Auch andere philologische und historische Disziplinen greifen literaturwissenschaftliche, speziell narratologische Herangehensweisen auf, um diese für die Analyse und Interpretation antiker Texte fruchtbar zu machen. Die Arbeit an den konkreten Texten bewirkt immer auch einen Rückkopplungseffekt, in dem wiederum die theoretischen Vorannahmen und das methodische Repertoire verändert werden. So werden die Kategorien der Narratologie zu heuristischen Konzepten, die in einem stetigen Wechselspiel von Methodologie und konkreter Textarbeit zu modifizieren sind und ihrerseits neue Einsichten in alte Texte ermöglichen.7 Irene de Jong hat in ihren eigenen Arbeiten und in den von ihr herausgegebenen Bänden8 gezeigt, was Narratologie im Gespräch mit Texten der griechischen (und römischen) Antike leisten kann.

Mit dem diesem Band seinen Titel gebenden Stichwort Perspektive ist ein zentraler Begriff der narratologischen Diskussion genannt. »Wer sieht?« und »Wer spricht?« gelten als Leitfragen im Umgang mit Erzählungen. In der erzählenden Literatur sind Stimme und Perspektive nicht immer identisch. Auch wenn eine heterodiegetische Stimme erzählt, so kann doch eine figurale Perspektive eingenommen werden, indem die Sprache, die innere Welt, die Wertungen oder Wissensbestände einer Figur in die erzählerische Darstellung einfließen. Diese narrative Technik sei hier am Beispiel eines Romans von Julie Zeh erläutert. In »Unterleuten« wird – trotz durchgängig heterodiegetischer Erzählstimme – von Kapitel zu Kapitel eine andere figurale Perspektive eingenommen. Dass die Kapitel jeweils den Namen jener Figur tragen, aus deren Perspektive erzählt wird, erleichtert die Zuordnung. Die erzählte Welt wird durch diese Technik von sehr unterschiedlichen sozialen Orten her entworfen:

Gerhard bemühte sich, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben. Je hysterischer Jule wurde, desto fester klammerte er sich an die Vernunft. […] Er kämpfte auf verlorenem Posten. Jule war in sich zusammengesunken und hatte zu weinen begonnen, so dass ihm nichts übrig blieb, als sich neben sie zu setzen und ihr einen Arm um die Schultern zu legen. Auf dem Schoß hielt sie die kleine Sophie, die sich in ihren Armen wand und unentwegt quengelte.9

Ganz deutlich ist es Gerhards Sprache, sein Blick auf die Welt und vor allem die ihm gegenüber sitzende Frau und ihr gemeinsames Kind, das an dieser Stelle den erzählten Ausschnitt der Wirklichkeit beschreibt. Auch wenn diese Figur nicht mit eigener Stimme erzählt – was grammatikalisch an der Verwendung der dritten Person ersichtlich ist – so ist es doch eine figurale Sicht auf die Dinge und die anderen Figuren der erzählten Welt, die hier zum Ausdruck kommt.

Für die biblische Narratologie ist diese Inkohärenz von Stimme und Perspektive deshalb von Interesse, weil das Erzählen in den traditionell als narrativ bezeichneten biblischen Büchern (Gen–2 Kön; Chr etc.) fast durchgängig von einer heterodiegetischen Erzählstimme her entworfen wird.10 Dass dennoch die Sichtweisen der Figuren einfließen und diese Perspektiven auch innerhalb einer Erzählung, erst recht eines Erzählwerks wechseln können, ist allerdings im biblischen Erzählen durchaus häufig zu finden. Ein Auseinandertreten von Stimme und Perspektive finden wir etwa in Gen 24, 11–16:

11Er [der Knecht Abrahams] ließ die Kamele außerhalb der Stadt, am Wasserbrunnen lagern, um die Abendzeit, um die Zeit, da die Wasserschöpferinnen herauskamen, 12und er sprach: »Adonaj, du Gottheit meines Herrn Abraham, lass es heute vor meinen Augen geschehen und bewähre deine Zuneigung zu meinem Herrn Abraham. 13Siehe, ich stehe hier am Wasserbrunnen und die Töchter der städtischen Familien kommen heraus, um Wasser zu schöpfen. 14Und so soll es sein: Das Mädchen, zu dem ich sage: ›Reich mir bitte deinen Krug, damit ich trinken kann‹, und das dann sagt: ›Trink nur, und deine Kamele will ich auch tränken‹ – die hast du für deinen Knecht Isaak bestimmt und an der erkenne ich, dass du Zuneigung zu meinem Herrn zeigst.« 15Er hatte aber noch nicht ausgeredet, siehe, da kam Rebekka heraus, welche dem Betuël geboren worden war, dem Sohn der Milka, der Frau von Abrahams Bruder Nahor, mit ihrem Krug auf der Schulter. 16Das Mädchen war von sehr schönem Aussehen, eine Jungfrau, kein Mann hatte sie erkannt. Sie stieg zur Quelle hinab, füllte ihren Krug und kam herauf.

Hier steht die Erzählstimme außerhalb der erzählten Welt (ein heterodiegetischer Erzähler), die Perspektive aber läuft über eine Figur, nämlich den Knecht Abrahams, der auf der Suche nach einer angemessenen Frau für Isaak bis ins Zweistromland gezogen war. Mit seinem Blick sehen wir Rebekka aus der Stadt kommen. Die Erzählung nimmt also eine figurale Perspektive ein, auch wenn die Stimme die des Erzählers bleibt. Allerdings lässt uns auch die Erzählstimme nicht ganz los. Während die Schönheit Rebekkas ebenso wie die Bemerkung »mit ihrem Krug auf der Schulter« durchaus noch als Wahnehmung des Knechts verstanden werden kann, gilt das für die Zusatzinformationen nicht: Verwandtschaftsverhältnisse und sozialer Status sind zunächst für den Knecht nicht sichtbar, hier übernimmt die Erzählstimme wieder die Perspektive.11

Nachdem wir über die Verstrickung der beiden Elemente – Erzähler und Perspektive – nachgedacht haben, ist es sinnvoll, sie getrennt und in ihrem jeweiligen Profil wahrzunehmen.

Der Erzähler (weniger personalisiert wird von Erzählstimme gesprochen) gilt als Definitionsmerkmal von Narration: Eine Erzählung ist ein von einer Vermittlungsinstanz präsentierter Handlungsablauf, der Erzähler ist die Instanz, die »uns das Geschehen nahe bringt und uns anspricht«12. Die Rede vom Erzähler weist das narratologische Arbeiten als solches aus. Für die Narratologie gehört es zu den selbstverständlichen methodischen Grundlagen, zwischen dem Erzähler und dem Autor zu unterscheiden13 und damit ein Kommunikationsmodell zu implementieren, das zwischen der intratextuellen Vermittlungsinstanz (Erzähler) und dem Textproduzenten aus Fleisch und Blut (Autor) differenziert.

Mit dem Oberbegriff Perspektive fragen wir nach der Wahrnehmungsinstanz. Unter dem Begriff Perspektive werden so unterschiedliche Kategorien wie point of view, räumlicher Standpunkt, Fokalisierung, Stimme, Ideologie, Erzählinstanz etc. verhandelt. Aus welcher (auch visuellen) Position heraus werden die Gegenstände und Figuren der erzählten Welt präsentiert? Welche ideologischen Implikationen verbinden sich möglicherweise damit? Wie spielen Erzählstimme und Figurenstimmen mit- und gegeneinander? Eröffnen sie unterschiedliche Sichtweisen? Aber auch die literargeschichtlich bedeutsamen Fragen nach dem Wechsel in der Erzählstimme (sprachlich, ideologisch etc.) innerhalb eines Texts sind narratologisch zu fassen.

2.Biblische Narratologie

Können wir die theologische Gedankenwelt Israels nicht von seiner Geschichtswelt lösen, weil deren Darstellung ja selbst ein kompliziertes Werk des Glaubens Israels war, so heißt das zugleich, daß wir uns der Abfolge von Ereignissen, wie sie der Glaube Israels gesehen hat, überlassen müssen. […] Die legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament ist deshalb immer noch die Nacherzählung.14

Das berühmte Diktum Gerhard von Rads steht für einen Zugang zum Alten Testament, der das Erzählen als wesentlich für die Weise versteht, in der Gott sich zu erkennen gibt. Ein solcher theologischer Zugang würdigt die Narration als genuinen Locus theologischer Erkenntnis und steht damit gegen eine Übersetzung von Erzählungen in dogmatische oder ethische Formeln oder seine Reduktion auf ›bloß‹ erzählerisch vermittelte Inhalte.

Dem auf das Erzählen in seiner theologischen Qualität fokussierten Zugang zur Seite zu stellen ist jener, der die ästhetische Dimension biblischen Erzählens in den Vordergrund rückt. Hier steht eine Würdigung der biblischen Erzählung in ihrer literarischen Dimension im Zentrum des Interesses. Die Exegetinnen und Exegeten, die sich dieser Ausrichtung verschrieben haben, betonten zunächst die Qualität der Bibel als Literatur und knüpfen damit vor allem an den philologischen Strang der Bibelwissenschaft an. Zurück treten Fragen nach dem Textwachstum ebenso wie die nach den historischen Bezugspunkten der Bibeltexte. Hier wären Namen zu nennen wie Shimon Bar-Efrat, Jean Louis Ska, Jan-Peter Fokkelman, Adele Berlin, Meir Sternberg und andere. Sie beziehen sich auf Arbeiten aus dem Feld der literaturwissenschaftlichen Narratologie.

Die klassische Narratologie war zunächst von den 20er bis zu den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts vom Strukturalismus geprägt. Das war insofern produktiv, als das Hauptaugenmerk auf die Textualität gelenkt werden konnte und die Annahme von universal gültigen Strukturen eine Vergleichbarkeit erzählender Texte aus den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten und auch eine Nähe von Texten mündlicher und schriftlicher Provenienz postulierte. Doch die strukturalistischen Herangehensweisen gerieten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Kritik:

1. Das Ausblenden der Welt und die reine Konzentration auf den Text geschieht dort, wo ausschließlich die Strukturen des Texts im Zentrum des Interesses stehen. Damit einher geht die Privilegierung sprachlicher Formen, die allein als Ort der Bedeutungsgenerierung gelten.15 Die Verbindung zur außertextuellen Wirklichkeit – ob in der Geschichte oder in der Gegenwart – wird gekappt. In diesem Zusammenhang wird auch der »Tod des Autors«16 diskutiert. In den Ansätzen, die wir seit einigen Jahren postklassische Narratologie17 nennen, wird allerdings die außertextliche Welt methodisch reflektiert durchaus wieder in die Textanalyse und -interpretation hineingeholt. Damit findet eine Bewegung der Narratologie von den Literatur- in die Kulturwissenschaften hinein statt. Gesellschaftliche Prozesse sind dann höchst relevant,18 sei es jene, im Kontext derer Erzählungen entstanden sind, oder jene, in denen Erzählungen rezipert werden.19

2. Die Universalisierung sprachlicher Strukturen stellte Parallelen zwischen individuellen, gesellschaftlichen und sprachlichen Formen her und verstand diese als überzeitlich gültig. Die Universalität wird man – ebenso wenig wie die Konzentration auf die Textualität – ganz verabschieden wollen. Denn sie macht es möglich, dass wir überhaupt mit gegenwärtig entwickeltem methodischen Rüstzeug antike Texte auslegen. In den Worten von Mieke Bal:

… fabulas are comparable – not identical or even similar – transculturally and transhistorically.20

Es ist also davon auszugehen, dass Erzählungen Funktionen enthalten (und sei es die Verkettung von Ereignissen, die Narrativierung selbst), die sie über die Kulturen hinweg miteinander teilen, dass sie aber gleichzeitig an ihren jeweiligen historischen Kontext gebunden sind. Das Verhältnis von Universalität und Partikularität in Bezug auf das Erzählen abstrakt zu fassen ist m. E. nicht möglich. Weiterführend ist es hingegen, narrative Formen transkulturell miteinander in Beziehung zu setzen, ob genealogisch oder vergleichend.

Mit der Annahme kulturunabhängiger Züge des Erzählens beziehe ich mich vor allem auf den Versuch, eine Antwort auf die Frage »Was ist Erzählen?« zu geben. Diese muss selbstverständlich universale Gültigkeit beanspruchen, weil ansonsten eine Verständigung über die Kulturgrenzen hinweg (und das bleibt eine Leistung von Narratologie) nicht möglich ist.

3.Was sind erzählende Texte?

Das »Verknüpfen und gleichzeitig thematische Ordnen von Fakten zu Geschichten zählt zu den Kernmerkmalen, an denen wir instinktiv Erzählungen erkennen«21. Die narrative Sequenz muss nicht mit der Chronologie der Ereignisse übereinstimmen. Häufig werden Ereignisse wiederholt bzw. nachgetragen (Analepse) oder auch vorweggenommen (Prolepse). Die Störung der Ordnung kann narrative Funktion haben. In jedem Fall sind es Selektion und Sequenzierung, die aus einer losen Ansammlung von Ereignissen eine Erzählung machen.

Weder ist das Erzählen an die Prosa gebunden noch die Narratologie an fiktionale Texte. Auch wenn narratologische Arbeit oft an Romanen geleistet wurde, so sind diese doch keineswegs das einzige, nicht einmal das wichtigste narrative Genre. Mit Blick auf das biblische Textcorpus ist von der spontanen Scheidung narrativer und nicht-narrativer Texte Abschied zu nehmen. Meist denken wir an die Tora (in ihren erzählenden Passagen) und die Vorderen Propheten, wenn wir von erzählender Literatur sprechen.22 Damit einher geht die Unterscheidung von Poesie und Prosa – im Hebräischen ebenso ein umstrittenes Unterfangen.

Dagegen stehen sowohl Literaturtheorie als auch Praxis der Auslegung. Bereits in den Anfängen der methodischen Rezeption narratologischer Erkenntnisse in den Bibelwissenschaften wurde das so untersuchte Corpus nicht auf diese Klassiker erzählender Literatur beschränkt.23 In den letzten Jahren haben gerade auch im deutschen Sprachraum viele altund neutestamentliche Arbeiten an der Briefliteratur, an Psalmen und an einem Text wie dem Hohelied die Produktivität narratologischen Arbeitens an nicht im traditionellen Sinn narrativen Texten gezeigt.24 Im Feld der literaturwissenschaftlichen Narratologie gehört die Ausweitung des Corpus auf visuelle Medien, auf Gemälde, Computerspiele, Comics und Filme zu den Kennzeichen postklassischer Narratologie.25

Wir finden in Psalmen und Prophetie Ich-, aber auch Du-Erzählungen (etwa Hymnen, die Gottes Handeln rühmen), Geschichtsrückblicke und darin den Aufweis, dass das narrative Gedächtnis der Kultur des Alten Israel sich in unterschiedlichen literarischen Formen und damit auch unterschiedlichen sozialen Settings niederschlägt. Umgekehrt lassen poetische Einschübe in Prosanarrationen nach den Funktionen solcher Gattungsmischungen fragen.26 Auch Rechtstexte enthalten Kurzerzählungen. Die Tora zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass sie Narration und Weisung ineinander verwebt und gerade darin ein spezifisches literarisches und theologisches Profil entwickelt.

4.Stimmen im Text

Der Erzähler bzw. die Erzählstimme ist jene Funktion des Texts, die Ereignisse und andere Fakten durch Selektion, Ordnung, Verknüpfung und Ausdruck zu einer Geschichte zusammenknüpft.27 Alle Narratologien fragen nach der Perspektive, aus der ein Sachverhalt präsentiert wird. Der Begriff der Perspektive fasst allerdings mehrere textliche Funktionen zusammen, so dass es sinnvoll ist, hier wiederum methodische Differenzierungen einzuführen.

»Wer sieht?« als Frage nach dem Modus und »Wer spricht?« als Frage nach der Stimme sind nach Genette die beiden Leitfragen, um Stimme und point of view zu unterscheiden.28 Mieke Bal hat bereits in den 1980er Jahren in machtkritischer Perspektive durch die Negation dieser Fragen nuanciert: »Wer spricht (nicht)?« und »Wer sieht (nicht)?« sind jene Fragen, die den Ausschluss von Menschen bzw. Menschengruppen aus der Darstellung kulturell relevanter Narrative im Bewusstsein halten.

Um die Frage nach Stimme und Modus methodisch kontrolliert stellen zu können, ist es sinnvoll, eine Differenzierung narrativer Ebenen vorzunehmen. Sie ist auf den ersten Blick simpel, insbesondere was die intratextuellen Ebenen betrifft. In der konkreten Textanalyse allerdings ist die durchgängige Beachtung der Kommunikationsebenen und damit die strikte Unterscheidung inhaltlicher Aussagen entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu einer figuralen oder aber der Erzählstimme (»Wer spricht«) alles andere als trivial. Zuallererst gilt es also, zwischen der Erzählstimme und figuralen Stimmen mit deren jeweiligen Perspektiven zu unterscheiden. Gerade für biblisches Erzählen mit seinem hohen Anteil an Figurenrede ist dieser Schritt von großer Bedeutung.

Ein Beispiel: Zwei Mal wird der Tod Sauls erzählt (1 Sam 31; 2 Sam 1); die beiden Versionen haben in der Sache Übereinstimmungen, aber auch markante Differenzen – allen voran die Frage, wer Saul den Todesstoß versetzt. Literargeschichtlich sind hier sicherlich Zäsuren und Brüche festzumachen. In einer narrativen Analyse muss man allerdings zunächst zur Kenntnis nehmen, dass in 1 Sam 31 die Erzählstimme, in 2 Sam 1 hingegen eine Figurenstimme die Ereignisse schildert.29 Wem kommt hier die höhere Glaubwürdigkeit in der Erzählgemeinschaft zu? Was bedeutet es für die Glaubwürdigkeit der Erzählstimme, wenn sie zwei Ereignisversionen präsentiert? Mit Blick auf den jeweils vorliegenden Text ist diesen Fragen nachzugehen. Sie führen uns narratologisch und textheoretisch zur Vielstimmigkeit von Erzählungen.

Narrationen modellieren auf diese Weise die erzählte Welt aus unterschiedlichen Sichtweisen. Häufig werden diese Unterscheidungen auch von erfahrenen AuslegerInnen nicht beachtet, so dass einzelne Aussagen als Position »des Texts« oder »des Buchs« gelten, selbst wenn sie in figuraler Perspektive formuliert sind. Figurale Stimmen können miteinander konkurrieren, sie müssen nicht immer zuverlässig sein oder die Sichtweise des Erzählers wiedergeben, wie etwa an den beiden Szenen der Verschonung Sauls durch David deutlich wird:

Da sagte Abischai zu David: »Gott hat heute deinen Feind in deine Hand ausgeliefert. Nun will ich ihn mit dem Speer mit einem einzigen Stoß gleich bis in die Erde durchbohren, ein zweites Mal brauche ich nicht für ihn.« (1 Sam 26, 8 vgl. 1 Sam 24, 5)

Weder David noch die Erzählstimme teilen die Sicht Abischais auf diese Situation, so dass dessen theologische Deutung seines gewalttätigen Vorhabens ins Leere läuft. David wird nicht zuschlagen, im Gegenteil er wird Saul, den Gesalbten JHWHs als besonders schützenswert herausstellen. Figurale Perspektiven können also auch sichtbar machen, wie die Welt gerade nicht zu sehen und zu verstehen ist. Dass wir als Leserinnen und Leser dennoch im Verlauf der Lektüre eine solche Sicht mit einnehmen, selbst wenn sie vom Gesamtduktus des Texts nicht als positiv bewertet wird, gehört zu den Größen narrativer Pragmatik. Erzählungen lehren Perspektivübernahme und Perspektivwechsel, lehren, Positionen auszuprobieren und im Diskurs der verschiedenen Stimmen die eigene Sichtweise zu schärfen.

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Kommunikationsmodell in Anlehnung an Silke Lahn und Jan Christoph Meister30

5.Die Erzählstimme

5.1Erzählstimme und AutorIn

Die Narratologie unterscheidet eine Erzählstimme (oft auch wie im Modell von Lahn und Meister: Erzähler) als Instanz des Texts und einen Autor bzw. eine Autorin als reale Person aus Fleisch und Blut. Die Differenzierung ist für narratologische Kommunikationsmodelle grundlegend.

Der Autor oder die Autorin hat morgens üppig oder karg gefrühstückt, lebt in sozialen Netzwerken, ist gut oder schlecht gelaunt und schreibt all dies manchmal in Briefen und Tagebüchern nieder, woraus historisch und biographisch orientierte LiteraturwissenschaftlerInnen Rückschlüsse auf das Werk ziehen (die Familie Mann wäre an dieser Stelle ein beliebtes Beispiel).31 Die Erzählstimme allerdings lässt sich ausschließlich aus dem jeweils vorliegenden Text selbst erschließen. Käte Friedemann schreibt bereits 1910:

Es handelt sich nicht um den Schriftsteller Soundso […], – sondern »der Erzähler« ist der Bewertende, der Fühlende, der Schauende. Er symbolisiert die uns seit Kant geläufige erkenntnistheoretische Auffassung, daß wir die Welt nicht ergreifen, wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen. […] Also nicht um einen außerhalb des Kunstwerkes stehenden Schriftsteller handelt es sich, …32

Sinnvollerweise wird nach der Involviertheit der Erzählstimme in die erzählte Welt unterschieden in eine interne (homodiegetische) und eine externe (heterodiegetische) Stimme. Die interne Erzählstimme, die Teil der erzählten Welt ist, kommt in der traditionell als narrativ bezeichneten biblischen Literatur nicht vor. In Psalmen und Prophetie hingegen finden sich durchaus Ich- und Wir-Erzählungen.

Die homodiegetische, also ins Geschehen involvierte, Erzählstimme kann pluralisch besetzt sein und ein Kollektiv bilden, z. B. Ps 106. Dieses Beispiel zeigt eine relativ ungebrochene Identifikation mit den erzählten Figuren und auch der Erzählstimme über Generationen hinweg, die für biblisches Erzählen konstitutiv ist. Nur indem die Texte imstande sind, immer weitere Erfahrungsschichten übereinander zu lagern und diese zunächst in ihr literarisches Wachstum, dann interpretatorisch zu integrieren, gelingt diese identitätsstiftende Bindung an die Narrative – bis heute.

Der Erzähler wird in der Narratologie in einem hohen Maß ausdifferenziert behandelt. Die wichtigsten Unterscheidungen sind die zwischen einem offenen und einem verdeckten Erzähler und jene zwischen einem hetero- und einem homodiegetischen Erzähler. Offen oder verdeckt fragt danach, inwieweit sich der Erzähler zu erkennen gibt, sich vielleicht sogar selbst zum Thema macht oder ob er in seiner Rolle ganz verborgen bleibt und nur dadurch präsent ist, dass er Handlung und Figuren organisiert. In diesem individuellen Sinn bleibt der biblische Erzähler tendenziell verdeckt. Mit offenen Erzählern haben wir es in der klassisch als solche angesehenen Erzählliteratur kaum zu tun. Wenn wir aber die Psalmen oder auch Passagen aus dem Kohelet- und dem Ijob-Buch als IchErzählungen verstehen, dann finden wir sehr wohl offene Erzähler auch in der Bibel. In den großen Erzählwerken häufiger sind Erzählerkommentare, die auf zeitliche oder räumliche Konstellationen verweisen, in denen der Erzähler (nicht der Autor!) eingebettet ist. Solche Erzählerkommentare33 (z. B. »denn ein solches Gewand trugen die Königstöchter damals«, 2 Sam 13, 18, oder die Erklärung des Schuhritus, Rut 4, 7) stellen häufig eine Verbindung zwischen der Welt des Erzählers und der erzählten Welt her. Die Formel »bis auf diesen Tag« (Gen 35, 20 u. a.) zeigt auch, dass die Erzählstimme kein Teil der erzählten Welt ist, es sich also um eine heterodiegetische Erzählstimme handelt.

5.2Gibt es Erzähler in der Bibel?

Die Erzählstimme ist kein Phänomen fiktionaler Literatur. Auch »Wirklichkeitserzählungen«, unter denen so unterschiedliche Bereiche wie die Geschichtsschreibung, das Narrativ eines Patienten bzw. einer Patientin auf der psychoanalytischen Couch oder bei einem Anamnesegespräch, journalistische Artikel, philosophische Erörterungen oder Fallgeschichten in der Juristenausbildung zu verstehen sind, kennen Erzählstimmen.34 Von ihnen erwarten wir zwar, dass sie mehr oder minder stark die Perspektive des Autors bzw. der Autorin repräsentieren (»Authentizität«), aber auch sie sind nicht einfach mit dem Autor der Äußerung gleichzusetzen. Häufig entbrennt sogar ein Streit darum, inwieweit Autor und textuelle Stimme deckungsgleich sind, etwa im Fall der Autofiktion35 oder dann, wenn der Autor durch politisch oder persönlich Anstößiges auffällt und Leserinnen und Leser sich die Frage zu stellen haben, inwieweit diese Fehlleistungen des Autors in das Werk, also in die Erzählstimme hinein reichen.

Wenn die Erzählstimme kein Phänomen der fiktionalen Literatur ist, dann ist es auch nicht angemessen, diese Instanz aus der bibelwissenschaftlichen Diskussion zu verbannen.36 Im Gegenteil: Es steht m. E. zu vermuten, dass die meisten Autoren, von denen wir in der Bibelwissenschaft sprechen, eigentlich Erzähler sind oder vielleicht präziser »Autorfigurationen«. Der Begriff der »Autorfiguration« ist von Barbara Schmitz in die bibelwissenschaftliche Diskussion eingeführt worden. Er bezeichnet das Bündel von Autorfunktionen, die sich aus einem Text erheben und zum Bild eines Autors zusammensetzen lassen.37 Wichtig ist hier, dass das Bild des Autors nicht von außen an den Text herangetragen, sondern aus der Textanalyse erhoben und erst in einem letzten Schritt mit außertextlichen Informationen verknüpft wird. Texttheoretisch bewegt sich das Konzept der Autorfiguration zwischen dem »Autor« und der »Erzählstimme«. Es hat Ähnlichkeiten mit Konzepten wie »Autorinstanz« oder »implizitem Autor« (siehe Abbildung) – eine Zwischeninstanz, deren Existenz wie analytische Notwendigkeit von vielen Narratolog_innen bestritten wird. M. E. ist jedoch gerade die Instanz zwischen der rein innertextlichen Erzählstimme und dem extratextuellen Autor ein fruchtbares Konzept im Umgang mit Traditionsliteratur wie der Bibel.

5.3Gibt es einen biblischen Erzähler?

Meir Sternberg spricht im Singular über ihn, für Schimon Bar-Efrat stehen die biblischen Erzähler im Plural, Erhard Blum weist die Rede vom Erzähler in Bezug auf biblische Texte zurück, um statt dessen über den Autor zu sprechen.38 Gibt es einen biblischen Erzähler, und was könnte an ihm besonderes sein?

Mit Sicherheit ist es sinnvoll, eher im Plural als im Singular zu bleiben und dadurch der Vielfalt biblischen Erzählens ebenso gerecht zu werden wie den unterschiedlichen Erzählperspektiven, die sich darin aussprechen. Der Singular kann aber auf zwei Fragekomplexe hinweisen:

1. Gibt es Tendenzen, Züge im biblischen Erzählen, die etwa im Vergleich mit anderen antiken Texten auffallen? Diese Frage ist eine, die man im Horizont vergleichender Literaturwissenschaft stellen kann. Hier gibt es so viele Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Texten, dass man zwar korrekt im Plural formulieren wird, aber dennoch global auf Kennzeichen biblischen Erzählens hinzuweisen hat.39

2. Welche Position nimmt der Erzähler in einem religiös autoritativen Text ein? Diese Frage berührt literaturwissenschaftlich Komplexe wie Verlässlichkeit und Allwissenheit.40 Theologisch stellen sich Fragen nach Glaubwürdigkeit und Zeugnischarakter. Die Frage ist an der Schnittstelle von Theologie und Literaturwissenschaft angesiedelt und führt auch in die Beschreibung des Verhältnisses von Erzähler und Gott – womit ich einerseits die Gottesfigur und andererseits Gott als auctor der Schrift meine.

In der Literatur werden bislang vor allem folgende Kennzeichen für den biblischen Erzähler genannt:

1.Wir haben es mit externen und größtenteils verdeckten Erzählstimmen zu tun. Anders als wir es etwa aus der griechischen Historiographie kennen, gibt sich der Erzähler nicht namentlich zu erkennen. Vor einigen Jahrzehnten war es in der Bibelwissenschaft noch üblich, diese Anonymität zu durchbrechen, indem man Randfiguren der Erzählung als Autoren entworfen hat. Stefan Heym hat daraus bekanntermaßen einen grandiosen Roman gemacht.41

2.Zurückhaltend sind biblische Erzählstimmen mit der Darstellung von Gefühlen – das gilt vor allem im Vergleich mit unseren Lesegewohnheiten, die ausführliche Gefühlsschilderungen erwarten. Im biblischen Erzählen stehen die Handlungen im Vordergrund. Auch wenn Wissen, Fühlen und Wollen explizit gemacht werden können, so liegt doch das Hauptaugenmerk auf den Handlungen, die Zugang zum Gefühlsleben der Akteure geben.42

3.Umso auffälliger sind dann aber jene Stellen, in denen Introspektion gewährt wird. Die Erzählstimmen sind zum großen Teil allwissend in dem Sinn, dass sie Einblick in die Gedankenwelt der Figuren haben. Dafür stehen Formulierungen wie »Und das ganze Volk erfuhr davon. Es war gut in ihren Augen, wie überhaupt alles, was der König tat, in den Augen des ganzen Volks gut war.« (2 Sam 3, 36) Vergleichbar ist die Formulierung image (»er sprach in seinem Herzen«; Gen 17, 17; 27, 41; 1 Kön 12, 26 u. a.). Auch hier geht es um figurale Perspektiven, die aber für die anderen Figuren gerade nicht sichtbar sind.

4.Ebenfalls zurückhaltend sind die biblischen Erzählungen mit Beschreibungen des Aussehens ihrer Figuren. Diese werden nur dann ausgeführt, wenn sie dem Plot dienlich sind, wenn also das Aussehen einer Figur etwas mit der Entwicklung der Handlung zu tun hat.43

5.Die Rede vom allwissenden, nicht involvierten Erzähler wird mancherorts in das Bild des olympischen Erzählers gefasst. »It is curious, therefore, that literary scholars should refer to a superhuman viewpoint as an ›Olympian narrator‹, for the model of omniscient narration they have in mind is actually patterned on the Hebraic rather than the Homeric model of divinity.«44 Von welchem Berg aus auch immer der biblische Erzähler spricht, die attribuierte Nähe zwischen dem Erzähler und dem Göttlichen lässt Theologinnen und Theologen aufhorchen. Der Erzähler wird mit Attributen ausgestattet, die in religiöser Sprache Gott zukommen, Allmacht und Allwissenheit allen voran.

5.4Erzählstimme, figurale Stimmen und Geschichtsschreibung

Die Gestaltung der Erzählstimme spielt auch eine Rolle, wenn wir danach fragen, inwieweit biblische Erzählungen als antike Geschichtsschreibung zu behandeln sind. Zwar gibt es Annäherungen, die sowohl von literaturwissenschaftlicher Seite über die Diskussionen zum faktualen Erzählen als auch von geschichtswissenschaftlicher Seite über die Historiographie als Narration vorgenommen werden.45 Dennoch wird man die Unterscheidung zwischen fiktionaler Literatur und Geschichtsschreibung keinesfalls aufheben wollen – schon gar nicht in Zeiten des »Postfaktischen«. Die Diskussion ist natürlich zu umfangreich, um sie hier zu führen. Dennoch sollen einige zentrale Fragestellungen benannt werden.

In der Narratologie der Gegenwart gilt die figurale Perspektive geradezu als Unterscheidungsmerkmal zwischen fiktionaler Literatur und Historiographie.46 Zum Ausdruck kommt die figurale Perspektive durch verschiedene literarische Techniken, insbesondere durch die Figurenrede. Sie gibt eine Perspektivenübernahme der sprechenden (oder denkenden) Figur vor. Im Sinn moderner Geschichtsschreibung wäre die Einnahme einer solchen Perspektive für den Geschichtsschreiber gänzlich unüblich.

In Bezug auf antike Texte können die Kriterien moderner Geschichtsschreibung nicht einfach übernommen werden. Antike Historiographen scheuen sich nicht, Figurenrede als Darstellungsmittel einzusetzen.47 Die von Dialogen durchdrungenen biblischen Geschichtserzählungen sind da keine Ausnahme. Streckenweise sind die Figurenreden dermaßen ausführlich, dass sie als eingebettete Erzählungen aus figuraler Perspektive gelten können. Es kommt sogar zu Doppelerzählungen, in denen ein und dasselbe Ereignis aus auktorialer und figuraler Perspektive dargestellt wird.48 Damit wird aber kein Fiktionalitätssignal gesetzt. Im Gegenteil, die Figurenrede vermittelt Authentizität, Nähe zum erzählten Ereignis und steht damit im Dienst einer auf Identitätsstiftung ausgelegten Historiographie.

»There is no direct correlation between genre and type of narrator.«49 Die »olympische« Erzählweise ist ebenso wenig Kriterium für biblische Historiographie wie die distanzierte Gestaltung der Figuren. Biblische Erzähler arbeiten mit Introspektion, ihre Erzählerkommentare geben nicht nur Zusatzinformationen, wie etwa im Fall der Ortsätiologien, sondern lassen ihre Beurteilung des Geschehens durchaus vermittelt über Figurenperspektiven anklingen. Ihre Ausgestaltung der erzählten Figuren und deren Innenleben ist Teil jener Nähe zum erzählten Ereignis, die die biblische Geschichtsschreibung durchaus herstellen will.

6.Perspektive und Fokalisierung

Mit der Bestimmung der Erzählstimme ist noch nicht präzise geklärt, aus welcher Perspektive die Ereignisse erzählt werden. Mit den beiden häufig unscharf bzw. einfach auch unterschiedlich verwendeten Begriffen Perspektive und Fokalisierung sucht die Narratologie die Prozesse der Wahrnehmung zu fassen, die über die Erzählstimme auch die Wahrnehmung der Leserinnen und Leser prägen. Auch wenn es der Begriff nahe legt, geht es nicht nur um visuelle Wahrnehmung. Sowohl »Perspektive« als auch »Fokalisierung« haben zwar eine visuelle Schlagseite – die gerne gebrauchten Analogien mit der Kameraeinstellung belegen das. Sie werden aber nicht nur in einem visuellen Sinn verwendet, Wolf Schmid beschreibt fünf Parameter der Perspektive:

1. Perzeptive Perspektive: Wie und aus welcher epistemologischen Position wird wahrgenommen?

2. Ideologische Perspektive: Wie und aus welcher Position wird das Wahrgenommene moralisch, ethisch, philosophisch etc. bewertet?

3. Räumliche Perspektive: Aus welcher räumlichen Position wird das Geschehen wahrgenommen?

4. Zeitliche Perspektive: Ist das ›Jetzt‹ an eine der Figuren gebunden, oder drückt es eine autonome zeitliche Position der Erzählinstanz aus?

5. Sprachliche Perspektive: Welche Sprache spricht der Erzähler – die einer der Figuren oder seine Eigene? Verstellt er sich womöglich oder drückt die Sprachverwendung z. B. eine ironische Distanz aus?50

In all diesen Aspekten kann sowohl eine figurale als auch eine narratoriale Perspektive eingenommen werden, zwischen den beiden ist nicht immer klar zu differenzieren und sie können mehrfach in einem Text wechseln (ich erinnere an das oben genannte Beispiel Gen 24). Ich habe dieses komplexe Modell deshalb eingebracht, weil gerade im biblischen Erzählen, wo der Erzähler so zurückhaltend in Erscheinung tritt, verfeinerte Modi der Analyse vonnöten sind, um die Erzählperspektive analysieren zu können.

Als Beispiel greife ich den letzten Parameter heraus und frage danach, inwieweit die Sprache perspektivierende Funktion haben kann. In den Samuelbüchern werden die Philister immer wieder als image, Vorhäutige, bezeichnet. Die Sprecher distanzieren sich mit der Begrifflichkeit von dieser Gruppe. Allerdings ist das eine Terminologie, die der Erzähler seinen Figuren in den Mund legt: Jonatan (1 Sam 14, 6), David (1 Sam 17, 26.36; 2 Sam 1, 20) und Saul (2 Sam 31, 4) drücken mit dieser Bezeichnung ihre Distanz und auch die Feindschaft zu dieser Gruppe aus. Nun ist es zwar nicht der Erzähler, der so spricht, aber alle drei Figuren sind positiv besetzt.51 Die Leserinstanz dieser Erzählung wird dazu eingeladen, diese Perspektive zu übernehmen, was wiederum ihre Identität als Israeliten und Israelitinnen stärkt. Gerade die Analyse der Perspektive kann also einen Blick auf die Leserinstanz und auch auf die AdressatInnen der Erzählung eröffnen.

Genette hat mit seinem Terminus der Null-Fokalisierung eine eigentlich perspektivlose Darstellung der Ereignisse nahe gelegt – das oben genannte Beispiel zeigt, dass das kaum möglich ist. So schreibt Koschorke:

Radikale, ortlose erzählerische Neutralität, die auf jede Art von Selbstlokalisierung und sogar auf das unausgesprochene Einvernehmen mit den intendierten Adressaten verzichtet, dürfte eine seltene Ausnahme sein.52

Während mit dem Begriff der Perspektive der Aspekt der Wahrnehmung stark gemacht wird, betont »Fokalisierung« die Selektion von Information.53 In beiden Fällen geht es sowohl um das Subjekt als auch um das Objekt der Wahrnehmung. Die Frage danach, wer sieht, ist ebenso relevant wie diejenige danach, wer bzw. was gesehen wird. Wer bzw. was kommt überhaupt in das Blickfeld der Erzählung? Was oder auch wer wird ausgeblendet? Und wie wird eine bestimmte Situation wahrgenommen? Aus der Erzählung um die Überführung der Lade nach Jerusalem (2 Sam 6, 14–16):

14David tanzte [image] mit aller Kraft vor dem Heiligen [image], David, bekleidet mit einem Priesterschurz aus Leinen. 15So brachten David und ganz Israel den Schrein des Heiligen hinauf unter Jubellärm und Hörnergetön. 16Als der Schrein des Heiligen dann in die Stadt Davids kam, schaute Michal, die Tochter Sauls, aus dem Fenster herunter und sah den König David hopsend [image] und tanzend [image] vor dem Heiligen [image]. Da schätzte sie ihn gering in ihrem Herzen.

David tanzt, Michal aber sieht ihn hopsen (und tanzen) – die Verachtung, die im Dialog von Michal und David ausgesprochen wird, kündigt sich hier bereits an. Die Erzählung führt einen Wechsel von Perspektiven und Stimmen vor, die sehr komplex miteinander verschränkt sind. Was ihr damit gelingt, ist, die Privilegierung einer Perspektive zu vermeiden – die Erzählung also zum Lernort des Perspektivenwechsels zu machen.

7.Perspektivierung von Erzähltexten

Zwar hat sich alttestamentliche Exegese immer mit den Texten in Form und Inhalt befasst, doch bietet Narratologie eine Theorie und davon abgeleitet ein umsetzbares methodisches Verfahren (in diversen Variationen) für die detaillierte Textbeobachtung, die Regelhaftigkeit und Besonderheiten narrativer Texte sichtbar und die Analyse selbst nachvollziehbar macht.54

Die in den letzten Jahrzehnten immer stärker verfeinerten Verfahren zur Beschreibung erzählerischer Perspektive gehören hier sicherlich zu den produktivsten Beiträgen der Narratologie zum bibelwissenschaftlichen Arbeiten. Ohne die literargeschichtlichen Arbeitsweisen abzulehnen – das gehört schon lange nicht mehr zu den Axiomen narratologischen Forschens – gibt die Analyse von Stimmen und Perspektiven eines Erzähltexts die Möglichkeit, die Pluralität der innerhalb eines darin kohärenten Textganzen zum Ausdruck kommenden Positionen wiederzugeben. Auch wenn die Beobachtungen textübergreifender Formen und Funktionen immer noch zum Methodenrepertoire gehören, so bleibt die biblische Narratologie doch dabei nicht mehr stehen. Der Überschritt in Richtung der sozialen Wirklichkeiten – von den ursprünglichen historischen Kontexten bis hin zu den in der Rezeptionsgeschichte realisierten Aktualisierungen – wird im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Narratologie integriert, so dass auch Leserinnen und Leser in den Blick genommen werden können. Dass dieser Schritt nicht linear gedacht werden kann, sondern die kategoriale Differenz zwischen inner- und außertextlicher Wirklichkeit zu berücksichtigen ist, sollte bei aller Annäherung der Narratologie an die außertextliche Welt nicht vergessen werden.55

Die Vielstimmigkeit und Multiperspektivität erzählender Texte sind dann nicht nur eine Lese-, sondern auch eine Lebensschule. Sie spiegelt die sozialen Realitäten in einer – für gegenwärtige Leserinnen und Leser unseres Kulturkreises – zunehmend pluraler werdender Welt, in der Stimmen oft ohne die Zähmung durch eine Meisterstimme nebeneinander erklingen und dazu herausfordern, eigene Positionierungen vorzunehmen. Lesen, auch die Lektüre biblischer Texte, ist so etwas wie ein Probehandeln, in dem Menschen offenbar schon seit mehreren Tausend Jahren dazu angehalten werden, unterschiedliche Sichtweisen auf ein thematisches Feld einzunehmen, um darin ihre eigene Stimme und Perspektive zu entwickeln.

Literatur

ADAM, KLAUS-PETER (Hg.), Historiographie in der Antike, Berlin / New York 2008.

ADAM, KLAUS-PETER, Saul und David in der judäischen Geschichtsschreibung. Studien zu 1 Samuel 16 – 2 Samuel 5 (FAT 51), Tübingen 2007.

ALBER, JAN / FLUDERNIK, MONIKA (Hg.), Postclassical Narratology. Approaches and Analyses (Theory and Interpretation of Narrative), Columbus 2010.

ASSMANN, JAN, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 32015.

BAL, MIEKEhttps://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/view/241/333