Richard Wagner
Tristan und Isolde
Tristan und Isolde ist in der »inneren Dimension« schwer zu messen. Kein anderes der Musikdramen Wagners ist so völlig auf ein einziges Thema konzentriert, verzichtet so weitgehend auf theatralische Handlung und ist so ausschließlich auf den Ausdruck tiefster Gefühle angelegt: die Liebe zweier Menschen, die bis in den Tod dauert. Wagner schuf hier neuartige Musik, an deren Beginn ein Akkord ohne tonale Bindung steht, so dass von einem der Anfänge der Neuen Musik gesprochen werden kann. Lange Zeit musste der Komponist nach einem Uraufführungstheater für dieses Werk suchen, bis König Ludwig II. von Bayern es 1885 in München unter Hans von Bülow uraufführen ließ. Tristan und Isolde wurde für alle Zeiten ein Bekenntnis zur ewigen Welt der Gefühle, zum Sieg des Humanismus über den Materialismus.
Richard Wagner
Tristan und Isolde
Textbuch
Einführung und Kommentar
von Kurt Pahlen
unter Mitarbeit von Rosmarie König
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Bestellnummer SDP 49
ISBN 978-3-7957-9195-7

Originalausgabe April 1980
© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Inhalt
7   Zur Aufführung
9   Textbuch mit Erläuterungen zu Musik und Handlung
234   Inhalt
256   Zur Geschichte von Tristan und Isolde
(Von der Legende über die Literatur zur Oper Wagners)
324   Die Musik zu Tristan und Isolde:
Modulation, Chromatik, unendliche Melodie
333   Quellen, Gedanken, Interpretationen zu Tristan und Isolde
351   Wagner erklärt das Vorspiel
353   Aufführungen der Oper Tristan und Isolde
bis zur Jahrhundertwende
354   Biographische Daten aus dem Leben Richard Wagners
377   Die Bühnenwerke Richard Wagners
Richard Wagner
Foto: Angerer, Wien 1862
Zur Aufführung
TITEL
Tristan und Isolde
BEZEICHNUNG
In drei Aufzügen1
DICHTUNG UND MUSIK
Richard Wagner
URAUFFÜHRUNG
München, 10. Juni 1865
PERSONENVERZEICHNIS
Tristan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Heldentenor
König Marke, sein Oheim . . . . .
Baß
Isolde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(hochdramatischer) Sopran
Kurwenal,
Schildträger Tristans . . . . . . .
Heldenbariton
Melot, Ritter am
Hofe Markes . . . . . . . . . . . . .
Charaktertenor, evtl. -bariton
Brangäne,
Vertraute Isoldes . . . . . . . . . .
(dramatischer) Mezzosopran
oder Sopran
Ein Hirt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Spieltenor
Ein Steuermann . . . . . . . . . . . . .
Bariton
Ein junger Seemann . . . . . . . . . .
Lyrischer Tenor
Gemischter Chor: Begleiterinnen Isoldes, Schiffsbesatzung,
Ritter usw.
ZEIT
Legendäres frühes Mittelalter.
1
auch »Oper« genannt, zuletzt ohne genauere Angabe in Wagners Original-
manuskript
ZUR AUFFÜHRUNG
SCHAUPLÄTZE
Der erste Aufzug: auf dem Verdeck von Tristans Schiff, das die Königstochter Isolde aus ihrer Heimat Irland zu ihrem Bräutigam König Marke von Kornwall bringt.
Der zweite Aufzug: im nächtlichen Park von König Markes Schloß in Kornwall.
Der dritte Aufzug: vor Tristans halbverfallener Burg Kareol an der Küste der Bretagne.
ORCHESTERBESETZUNG
3 Flöten (III. auch Piccolo), 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Baßklarinette, 3 Fagotte; 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Baßtuba; 1 Paar Pauken, Triangel, 1 Paar Becken; Harfe; 16 Violine I, 16 Violine II, 12 bis 14 Violen, 10 bis 12 Violoncelli, 8 Kontrabässe.
FERNER BÜHNENMUSIK
3 Trompeten, 3 Posaunen, 6 (oder mehr) Hörner, Englischhorn.
SPIELDAUER
etwa 5 Stunden.
Textbuch
mit
Erläuterungen
zu Musik und Handlung
ERLÄUTERUNGEN
Dieses vielleicht  berühmteste aller Opernvorspiele ist auf jeden Fall das meisterklärte, meistinterpretierte, meistbeschriebene, meistdiskutierte. Die zahllosen Versuche einer Annäherung reichen von der rein musikalischen Analyse der Melodie, Harmonie, des Rhythmus, der Klangfarbe bis zu den metaphysischen Aspekten und zur dichterischen Deutung. Alle erdenklichen Wissensgebiete werden in Anspruch genommen, um den Hörer »einzuführen«, von der rein sachlichen Zergliederung bis zur romanhaften Deutung: Hierzu gehört auch Wagners eigene Erklärung
(vgl. Seite 351).
Das Vorspiel zu »Tristan und Isolde« ist auf jeden Fall ein Stück»Programm-Musik«, es folgt also einem außermusikalischen Vorwurf und beschreibt in Tönen diesen »Inhalt« so getreu undpackend wie möglich. Das Programm selbst aber ist, da es völligin den Gefühlsbereich gehört, nicht leicht in Worte zu fassen. Essind innerliche Vorgänge, die hörbar gemacht werden sollen.Noch dazu: schwer analysierbare. Versuchte man das Gefühlser-lebnis, das den Inhalt der Oper und sozusagen als Quintessenzden des Vorspiels bildet – dem Zug unserer Zeit gemäß – aufeine kurze Formel zu bringen, so könnte wohl am ehesten ein Zitataus dem Werk selbst herangezogen werden: »Sich sehnen undsterben.« Jeder dieser beiden Begriffe aber ist in sich äußerstkomplex und vieldeutig, beide sind unendlich. Die Sehnsucht istunendlich viel mehr als der gewöhnliche Wunsch, der mit derErfüllung erlischt. Und das Sterben unendlich mehr als ein Endedes sogenannten »Lebens«. Sehnsucht ist der tiefste Ausdruck der
Liebe; Sterben die höchste Steigerung von Vereinigung.
In diesem Drama sind Sehnsucht und Tod eins geworden. Ihreersehnte Verbindung geschieht durch die Nacht, dem Symbol vonRuhe und Erlösung. Der Dichter des mittelalterlichen Poems von»Tristan und Isolde«, Gottfried von Straßburg, spielt mit demWörtchen »und«, das zwischen den Namen der Liebenden steht.Wagner übernimmt die schöne Idee der untrennbaren Verbindung, die durch das »und« hergestellt wird. Das gleiche »und«
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1. AUFZUG / EINLEITUNG
 ERSTER AUFZUG
    EINLEITUNG (ODER VORSPIEL)
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ERLÄUTERUNGEN
verbindet auch die Worte »sich sehnen« und »sterben«. Auch diese Worte sind nur noch in Einheit denkbar, sie gehen ineinander über. Das Vorspiel schildert das Einssein zweier Menschen in der Stille der Nacht, die sich über dem Sternenhimmel in die Unendlichkeit wölbt, in die Erlösung: Wagners ewiges Ideal, vom
»Fliegenden Holländer« bis zu Amfortas im »Parsifal«.
Ob es über diese rein gefühlsmäßigen Vorgänge hinaus in den zeitweise aufwühlend bewegten Klängen des Vorspiels hier noch eine »realere« Schilderung gibt – einer idealen Liebesnacht zweier völlig ineinander versunkener Menschen –, soll und kann gar nicht entschieden werden; es ist auch nicht wichtig, denn auch hier wäre das Grundgefühl wiederum die Sehnsucht nach höchster Vereinigung. Und eine solche gibt es nur im Tod. Die Deutung wäre auch in diesem Falle: Die Sehnsucht erlischt
nicht mit der Erfüllung, und das Sterben ist kein Ende.
Jedes Musikstück, so weltentrückt es durch seine Programmatik auch sein mag, besitzt eine »technische« Seite, die zu analysieren erlaubt, ja bei Meisterwerken sogar geboten ist. Daß es damit allerdings im vorliegenden Fall seine Schwierigkeiten hat, sei vorweggenommen. Was Wagner hier in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts komponierte, weist so weit in die Zukunft, daß mit damaligen Mitteln eine Analyse und ein technisches Verstehen nur sehr wenigen, sehr versierten und phantasiebegabten Musikern möglich gewesen sein kann. Wie so oft mag das gefühlsmäßige Erfassen leichter gewesen sein als die »Erklärung« der Neuerungen, die Wagner hier vornahm. Schon in den ersten Takten wird etwas damals Ungeheuerliches klar: Wagner geht bis an den äußersten Rand der »Tonalität«, des »klassischen« Tonartensystems und seiner eng miteinander verbundenen Akkorde. Ja, nach Meinung nicht weniger Theoretiker löst er die Tonalität sogar auf, bereitet zumindest den großen Schritt vor, der dann – es wird noch ein halbes Jahrhundert dauern – in die Atonalität führt. Wagners immer schon auffallender Zug zu ausgedehntem Modulieren erreicht hier einen äußerst intensiven Höhepunkt, wird zu einem der Grundelemente dieser Musik. Das ergibt jenen Eindruck von Unrast, seelischer Aufwühlung und Erschütterung, wie sie einem solchen Thema anhaften. Mit einer völlig »tonalen«, auf ruhigem Fundament errichteten Musik wären die Probleme dieses Dramas unmöglich zu meistern: die ununterbro-
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1. AUFZUG / EINLEITUNG
ZUR AUFFÜHRUNG
chene Hochspannung der Seelen, die zum Zerreißen gespannten Gefühle der Liebenden können sich nur in unruhiger, aufs äußerste spannungsgeladener Musik ausleben. Mit einem technischen Wort: in Dissonanzen. Und so birgt die Partitur von »Tristan und Isolde« mehr Dissonanzen als irgendein Musikwerk der vorangegangenen Epochen. Doch ist nicht nur ihre Zahl ungeheuer erhöht, auch die Spannung, die Sprengkraft jeder dieser Dissonanzen hat an Schärfe zugenommen. Sie gehen weit über den Rahmen der damaligen Theorie hinaus, so liberal man diese um 1860 auch interpretieren mochte. Ein Werk wie dieses war nicht »erklärbar«. Denn zu Fülle und Aggressivität der Dissonanzen kam etwas noch Radikaleres: Waren die früher verwendeten Dissonanzen (Beethovens Musik ist keineswegs arm an ihnen) noch mit einem einfachen technischen Vorgang – der sogenannten »Auflösung« – in Konsonanzen rückführbar, so ist das hier zum ersten Mal in der neueren Geschichte der Musik nicht mehr unbedingt der Fall. Es ergeben sich also Ketten von Dissonanzen; Erregung und Spannung reißen nicht ab. Das wird schon im Vorspiel deutlich, ja, der Beginn kann geradezu als Musterbeispiel
hingestellt werden:
(1)
Hier steht, als erster des Werkes, der berühmte »Tristan-Akkord«: F-H-Dis-Gis. Für ihn sind ungezählte Erklärungen versucht, Bücher darüber geschrieben worden. Ob man ihn als »Sehnsuchtsakkord« (und so das Motiv oder Thema, in dem er steht, als Sehnsuchtsmotiv) bezeichnen will, bleibt dem Hörer überlassen. Es wäre denkbar, ihn als musikalischen Ausdruck des gesamten Mottos zu verstehen, das wir über das Werk gesetzt haben: »Sich sehnen und sterben«, der beiden Begriffe, die hier zur völligen Einheit geworden sind. Wagner läßt das Vorspiel mit den Violoncelli beginnen, die er einen Sextensprung aufwärts führt: A-F. Ein
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1. AUFZUG / EINLEITUNG
ERLÄUTERUNGEN
kleines, seufzerartiges Absinken, und dann setzen die Holzbläser mit dem Tristan-Akkord ein. Natürlich haben die Theoretiker Erklärungen dieses Akkords gegeben; aber Wagner hat, als er ihn schrieb, bestimmt an keine Theorie gedacht, sondern nur an den gefühlsmäßigen Ausdruck, den er in diesen Mehrklang legte. Er wollte mit ihm den sofortigen Eintritt des Hörers in die Sehnsuchtswelt des Dramas erreichen. Und so ergibt es sich eigentlich von selbst, daß er diesen dissonanten Akkord nicht auflöst, nicht auflösen darf. Er führt ihn in einen nächsten Akkord über, der zwar »milder«, aber doch auch (nach der Theorie) dissonant ist. Mit einem weiteren Akkord wäre dieser Mehrklang aufzulösen, aber Wagner schreibt keinen weiteren Akkord, er bricht die Phrase auf einer Dissonanz ab. Und bringt nun die gleiche Phrase noch zwei weitere Male, immer wieder mit dem Tristan-Akkord, dem Übergang in den zweiten Akkord und dem Abbruch der Phrase. Es gibt also bis weit nach dem Anfang keine
Konsonanz, kein Ruhen, keine Entspannung.
Doch nicht nur harmonisch ist hier etwas Neues gegeben, sondern ebensosehr im Melodischen. Die drei ersten Phrasen – strukturell gleich, nur tonartlich gesteigert und mit kleinen Abweichungen versehen (so einem Anfangsintervall der großen anstelle der anfänglich kleinen Sexte) – sind zwar melodisch ausdrucksstark, aber keine Melodien im »klassischen« Sinn. Wagner hat für diese weitgehend von ihm geschaffene Gestaltung des melodischen Geschehens den Begriff »unendliche Melodie« gebildet. Dieser an sich merkwürdige Ausdruck, da er einen Widerspruch in sich selbst bedeutet, ist an anderer Stelle (vgl. S. 320)
unseres Buches zu erklären versucht.
Aus den beiden letzten (von den Flöten gespielten) Tönen der dritten Wiederkehr des Sehnsuchtsmotivs macht Wagner eine Fortsetzung (2a). In ihr liegt das Aufwärtsstreben dieses Motivs, das durch ein Crescendo innerhalb der letzten Note noch verstärkt wird. Dann wird aus diesem Aufwärtssteigen ein neues Motiv (2b) gebildet. Man hat es oft als Symbol der Liebe, des Entbrennens
der Leidenschaft verstanden:
  (Notenbeispiel S. 18)
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1. AUFZUG / EINLEITUNG
   ERLÄUTERUNGEN
    (2)
Auch seine Struktur ist überwiegend chromatisch, so wie die des ersten Motivs (Nr. 1). Man geht also nicht fehl, wenn man hier schon die Chromatik als eines der Grundelemente der Oper ansieht. Wie konsequent chromatisch Wagner zum Ausdruck von Sehnsucht und Liebe arbeitet, sei an Beispiel Nr. 1 und seiner zweimaligen Wiederholung erläutert. Die Melodielinie aller drei Phrasen bewegt sich chromatisch aufsteigend: Gis-A-Ais-H, H-C-Cis-D, D-Dis-E-Eis (F)-Fis. Das Motiv Nr. 2b ist nur kurz, es
geht unmittelbar in ein neues Motiv über:
    (3)
Die Bedeutung dieser Tonfolge wird später in der großen Szene (im ersten Akt) deutlich, in der todesbereit, aber die Liebe ersehnend, Tristan und Isolde einander gegenüberstehen werden; hier
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1. AUFZUG / EINLEITUNG
ERLÄUTERUNGEN
erscheint der manchmal angewendete Name eines »Blickmotivs«
gerechtfertigt.
Das thematische Material des Vorspiels ist damit gegeben. Die drei Grundmotive der Sehnsucht, der Liebesleidenschaft und des langen Liebesblicks werden nun verarbeitet. In einem unaufhaltsamen, ununterbrochenen Crescendo wachsen die Erregung, die Erwartung, die Sehnsucht der Liebenden. Ihre Leidenschaft steigert sich und erreicht einen gewaltigen Höhepunkt, von dem aus die sinnliche Ekstase langsam wieder abschwillt, bis zuletzt über einem dumpfen Paukenwirbel das Sehnsuchtsmotiv (Nr. 1) übrigbleibt, schwermütig (in Englischhorn und Baßklarinette) verklingt. Nun scheinen Celli und Kontrabässe, in leeren Oktaven, die weite Öde des Meeres zu malen, die beim Aufgehen
des Vorhangs sichtbar wird.
Zuletzt noch einige Worte über die Interpretation dieses Vorspiels durch die Dirigenten. Einige straffen das sehr langsame Grundtempo des Vorspiels (»Langsam und schmachtend«) fast unmerklich, was zu einer Erhöhung der Spannung führen kann. Wagner hat diese Möglichkeit durch ein »Belebend« angedeutet, aber kaum an ein längeres Accelerando gedacht. Dagegen kann die Beibehaltung des Grundtempos der Darbietung den Charakter jenes  Unentrinnbaren,  Schicksalhaften  verleihen,  das  sicherlich
beabsichtigt ist.
Das Vorspiel mündet unmittelbar in den ersten Aufzug; allerdings hat Wagner einen Abschluß zu Konzertzwecken geschaffen, der aber selten verwendet wird. Häufiger ist die Aneinanderreihung von Vorspiel und »Liebestod«, der man in Konzerten oft begegnet. Erlöschend verklingt das Vorspiel, das den Hörer  in  alle  Ekstasen
des ungeheuersten Liebeserlebnisses geführt hat.
Nun bietet sich dem Beschauer ein ruhiges, nach außen völlig friedliches Bild dar:  Still  steuert  ein königlich  ausgestattetes
Segelschiff auf weiter Wasserflut dahin.
Irgendwo in der Höhe, unsichtbar auf einem Mast, singt eine Seemannsstimme ein  wehmütiges  Lied. Das Orchester  schweigt da-
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1. AUFZUG / 1. SZENE
ERSTE SZENE
Zeltartiges Gemach auf dem Vorderdeck eines Segelschiffes, reich mit Teppichen behangen, beim Beginn nach dem Hintergrunde zu gänzlich geschlossen; zur Seite führt eine schmale Treppe in den Schiffsraum hinab. – Isolde auf einem Ruhebett, das Gesicht in die Kissen gedrückt. Brangäne, einen Teppich zurückgeschlagen
haltend, blickt zur Seite über Bord.
Stimme eines jungen Seemanns (aus der Höhe, wie vom Maste
her, vernehmbar):
ERLÄUTERUNGEN
zu. Ostwärts geht die Fahrt in Richtung England. Weit zurückgeblieben sind die Küsten Irlands, wo der junge Seemann ein
Mädchen zurückgelassen zu haben scheint:
(4)
Isolde, in ihrem abgeteilten Gemach auf dem Schiffsdeck, ist wie aus dumpfen Träumen aufgefahren. Es kann nicht ihr gelten, aber auch sie ist eine »irische Maid«. Das kräftig einsetzende Orchester malt den Aufruhr ihres Herzens, die Verwirrung ihrer Sinne.

Zu Brangänes beruhigenden Worten wandelt das Orchester eine Phrase aus dem Seemannslied zu einem stark verarbeiteten Motiv, das man das »der ruhigen, zielbewußten Fahrt« nennen

könnte:
(5)
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1. AUFZUG / 1. SZENE
Westwärts
schweift der Blick:
ostwärts
streicht das Schiff.
Frisch weht der Wind
der Heimat zu:
mein irisch Kind,
wo weilest du?

Sind’s deiner Seufzer Wehen,
die mir die Segel blähen?
Wehe, wehe, du Wind!
Weh, ach wehe, mein Kind!
Irische Maid,
du wilde, minnige Maid!
Isolde (jäh auffahrend):
Wer wagt mich zu höhnen?
(Sie blickt verstört um sich.)
Brangäne, du?
Sag – wo sind wir?
Brangäne (an der Öffnung):
Blaue Streifen steigen im Osten1 auf;
sanft und schnell
1
TV (Textvariante): Für »Osten« steht manchmal, weniger logisch, »Westen«.
ERLÄUTERUNGEN
Es ist eines der nicht-chromatischen Motive des Werkes, wird aber im Laufe seiner hier langen Verwendung hörbar chromatischer – als wolle es andeuten, daß Isolde ihrem Schicksal
entgegenführe: der Liebe und dem Tode.
Wild bäumt Isolde sich gegen das ungeliebte Ziel der Fahrt auf. In das Motiv der Fahrt eingebunden, erklingt immer  wieder jenes
der Sehnsucht (die beiden letzten Takte von Nr. 1).
Dann brechen Isoldes wahre, lang zurückgestaute Gefühle hemmungslos hervor: wohin sind die einstigen Zauberkünste der irischen Königinnen verschwunden? Nur noch  einmal  möchte sie
Meeren und Stürmen gebieten können:
(Fortsetzung des Notenbeispiels S. 26)
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1. AUFZUG / 1. SZENE
segelt das Schiff:
erreichen wir sicher das Land.
Isolde:
Welches Land?
Brangäne:
Kornwalls grünen Strand.
Isolde:
Nimmermehr!
Nicht heut noch morgen!
Brangäne (läßt den Vorhang zufallen und eilt bestürzt zu Isolde):
Was hör ich? Herrin! Ha!
Isolde (wild vor sich hin):
Entartet Geschlecht!
Unwert der Ahnen!
Wohin, Mutter,
vergabst du die Macht,
über Meer und Sturm zu gebieten?
O zahme Kunst
der Zauberin,
die nur Balsamtränke noch braut!
Erwache mir wieder,
kühne Gewalt;
herauf aus dem Busen,
wo du dich bargst!
Hört meinen Willen,
ERLÄUTERUNGEN
(6)
Entsetzt hört Brangäne ihrer Herrin zu, die das Schiff, auf dem sie so ruhig dahinsegeln, dem Untergang preisgeben möchte mit allem, was auf ihm lebt. Dann ergreift sie die Angst um die Freundin und Herrin. Das Orchester untermalt ihre Gefühle äußerst abwechslungsreich und ausdrucksvoll. Immer wieder hört man chromatische Läufe aufwärts, immer wieder heftige Seufzermotive in den Streichern: ein zeitweise wild wogender Klangteppich, über dem sich Brangänes Mezzosopran bewegend und wortdeutlich zum Ausdruck bringen kann. Motive, die erst später ihre Bedeutung offenbaren werden, sind hier schon angedeutet,
auch solche des Vorspiels sind verarbeitet.
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1. AUFZUG / 1. SZENE
zagende Winde!
Heran zu Kampf
und Wettergetös!
Zu tobender Stürme
wütendem Wirbel!
Treibt aus dem Schlaf
dies träumende Meer,
weckt aus dem Grund
seine grollende Gier!
Zeigt ihm die Beute,
die ich ihm biete!
Zerschlag es dies trotzige Schiff,
des zerschellten Trümmer verschling’s!
Und was auf ihm lebt,
den wehenden Atem,
den laß ich euch Winden zum Lohn!
Brangäne (im äußersten Schreck, um Isolde sich bemühend):
O weh!
Ach! Ach
des Übels, das ich geahnt!
Isolde! Herrin!
Teures Herz!
Was bargst du mir so lang?
Nicht eine Träne
weintest du Vater und Mutter;
kaum einen Gruß
den Bleibenden botest du.
Von der Heimat scheidend
kalt und stumm,
bleich und schweigend
auf der Fahrt;
ohne Nahrung,
ohne Schlaf;
starr und elend,
wild verstört:
wie ertrug ich,
so dich sehend,
ERLÄUTERUNGEN
Um Vertrauen bittet die Getreue; das Orchester beruhigt sich.
Aber der erwartete, auflösende erlösende Schlußakkord bleibt
aus, Isoldes innere Erregung bricht nochmals durch.
Rasch öffnet Brangäne die dichten Vorhänge, die das Gemach
abschließen, der Blick auf das Schiffsdeck wird frei.
Während Isoldes Blick nun auf Tristan geheftet bleibt, erklingt abermals das Lied des jungen Seemanns. Diesmal bietet ihm das kaum hörbare Tremolo der Kontrabässe und Celli eine vage
Stütze …
die sich fast unmerklich in das chromatische Sehnsuchtsmotiv (in Geigen und Bratschen mit Dämpfer) wandelt, während sich leise,
wie in tiefen Gedanken, Isoldes Stimme erhebt:
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1. AUFZUG / 1./2. SZENE
nichts dir mehr zu sein,
fremd vor dir zu stehn?
O, nun melde,
was dich müht!
Sage, künde,
was dich quält!
Herrin Isolde,
trauteste Holde!
Soll sie wert sich dir wähnen,
vertraue nun Brangänen!
Isolde:
Luft! Luft!
Mir erstickt das Herz!
Öffne! Öffne dort weit!
(Brangäne zieht eilig die Vorhänge in der Mitte auseinander.)
ZWEITE SZENE
Man blickt dem Schiff entlang bis zum Steuerbord, über den Bord hinaus auf das Meer und den Horizont. Um den Hauptmast in der Mitte ist Seevolk, mit Tauen beschäftigt, gelagert; über sie hinaus gewahrt man am Steuerbord Ritter und Knappen, ebenfalls gela-gert; von ihnen etwas entfernt Tristan, mit verschränkten Armen stehend und sinnend in das Meer blickend; zu Füßen ihm,
nachlässig gelagert, Kurwenal.
Vom Maste her, aus der Höhe, vernimmt man wieder die Stimme
des jungen Seemanns.
Der junge Seemann (auf dem Maste, unsichtbar):
Frisch weht der Wind
der Heimat zu:
mein irisch Kind,
wo weilest du?
Sind’s deiner Seufzer Wehen,
die mir die Segel blähen?
Wehe, wehe, du Wind!
Weh, ach wehe, mein Kind!
ERLÄUTERUNGEN
(7)
Auf dem Höhepunkt dieser (musikalisch wie textlich) absichtlich dunkel gehaltenen Phrase – zu der dreimal das Englischhorn sehr leise den Sextensprung des Sehnsuchtsmotivs bläst – ein harter, schneidender Holzbläserakkord: das Todesmotiv mit der ihm charakteristischen Tonartenfolge: As-Dur – A-Dur – f-Moll – c-Moll setzt ein, wobei diese letzte Tonart fühlbar im Raume steht,
aber nicht mit auflösendem Akkord in Erscheinung tritt:
(8)
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1. AUFZUG / 2. SZENE
Isolde (deren Blick sogleich Tristan fand und starr auf ihn geheftet blieb, dumpf für sich):
Mir erkoren,
mir verloren,
hehr und heil,
kühn und feig!
Todgeweihtes Haupt!
Todgeweihtes Herz!
Was hältst du von dem Knechte?
  Brangäne (ihrem Blick folgend):
    Wen meinst du?
  Isolde:
    Dort den Helden,
    der meinem Blick
    den seinen birgt,
    in Scham und Scheue
    abwärts schaut:
    Sag, wie dünkt er dich?
ERLÄUTERUNGEN
Ohne sie zu verstehen, hat Brangäne Isoldes letzte Worte gehört; mit Bewunderung  geht  sie  auf  eine  Schilderung  Tristans  ein
(wobei das Blickmotiv, Nr. 3, ahnungsvoll hervortritt).
Höhnisch übernimmt Isolde Brangänes Phrase (mit dem Motiv
Nr. 3, das sehr bald ihr Schicksal werden soll).
Um den Text hier, wo einer der Schlüssel zum Drama liegt, besonders deutlich werden zu lassen, verwendet Wagner einen nur von wenigen
Akkorden unterstrichenen Sprechgesang.
Wieder wird das Blickmotiv (Nr. 3) zitiert. Äußerlich handelt es sich um einen anderen Blick: um jenen, dem Tristan auszuweichen sucht, wie Isolde meint; aber in ihrer Erinnerung lebt jener Moment, da der todkranke Tristan (der sich damals »Tantris« nannte) Isolde in die Augen geblickt hatte und sie ihn nicht töten
konnte …
Brangäne versteht noch nicht, was in Isolde vorgeht.
Da wird diese deutlich: ein Befehl soll es sein. Die Melodie ist nun herrisch, aber der Hörer erkennt ihre Harmonienfolge: es ist
die des Todesmotivs (Nr. 8). Isoldes Entschluß ist gefaßt.
(Notenbeispiel S. 34)
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1. AUFZUG / 2. SZENE
Brangäne:
Fragst1 du nach Tristan,
teure Frau,
dem Wunder aller Reiche,
dem hochgepries’nen Mann,
dem Helden ohne Gleiche,
des Ruhmes Hort und Bann?
Isolde (sie verhöhnend):
Der zagend vor dem Streiche
sich flüchtet, wo er kann,
weil eine Braut er als Leiche
für seinen Herrn gewann!
Dünkt es dich dunkel,
mein Gedicht?
Frag ihn denn selbst,
den freien Mann,
ob mir zu nahn er wagt?
Der Ehren Gruß
und zücht’ge Acht
vergißt der Herrin
der zage Held,
daß ihr Blick ihn nur nicht erreiche,
den Helden ohne Gleiche!
Oh, er weiß
wohl, warum!
Zu dem Stolzen geh,
meld ihm der Herrin Wort!
Meinem Dienst bereit,
schleunig soll er mir nahn.
Brangäne:
Soll ich ihn bitten,
dich zu grüßen?
Isolde:
1
TTV: Hier auch die zu Wagners Zeit noch übliche Form »frägst«.
ERLÄUTERUNGEN
        (9)
      Das Motiv der frohen Fahrt (Nr. 5) begleitet Brangänes Weg zum Steuerruder, wo sich Tristan und Kurwenal befinden.
Nun ist es Tristan, der – wie Isolde zu Beginn der Szene – aus dumpfen Träumen aufzufahren scheint: hat beide die gleiche
Erinnerung bewegt?
In ruhiger, wohlerzogener Weise entwickelt sich sein Gespräch
mit Brangäne.
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1. AUFZUG / 2. SZENE
Befehlen ließ
dem Eigenholde
Furcht der Herrin
ich, Isolde!
(Auf Isoldes gebieterischen Wink entfernt sich Brangäne und schreitet verschämt dem Deck entlang dem Steuerbord zu, an den arbeitenden Seeleuten vorbei. Isolde, mit starrem Blicke ihr folgend, zieht sich rücklings nach dem Ruhebett zurück, wo sie sitzend während des Folgenden bleibt, das Auge unabgewandt nach
dem Steuerbord gerichtet.)
Kurwenal (der Brangäne kommen sieht, zupft, ohne sich zu
erheben, Tristan am Gewande):

Hab acht, Tristan!
Botschaft von Isolde.
Tristan (auffahrend):
Was ist’s? Isolde?
(Er faßt sich schnell, als Brangäne vor ihm anlangt und sich ver-
neigt.)

Von meiner Herrin?
Ihr gehorsam,
was zu hören
meldet höfisch
mir die traute Magd?
Brangäne:
Mein Herre Tristan,
ERLÄUTERUNGEN
In sehr lyrischer Melodie (»Wo dort die grünen Fluren…«) kündigt er die baldige Ankunft, also auch sein Erscheinen vor Isolde an. Es ist,
wie sich herausstellen soll, eine höfische Ausflucht.
Brangäne wird dringlicher.
Wieder weicht Tristan aus, seine Stimme scheint vollendete innere Ruhe anzudeuten, und nur die Besorgnis, das Schiff sicher »zu König Markes Land« zu lenken, dem Oheim die versprochene Braut zu
bringen, ihn zu beschäftigen.
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1. AUFZUG / 2. SZENE
euch zu sehen
wünscht Isolde,
meine Frau.
Tristan:
Grämt sie die lange Fahrt,
die geht zu End’,
eh’ noch die Sonne sinkt,
sind wir am Land.
Was meine Frau mir befehle,
treulich sei’s erfüllt.
Brangäne:
So mög’ Herr Tristan
zu ihr gehn:
das ist der Herrin Will’.
Tristan:
Wo dort die grünen Fluren
dem Blick noch blau sich färben,
harrt mein König
meiner Frau:
zu ihm sie zu geleiten,
bald nah ich mich der Lichten;
keinem gönnt’ ich
diese Gunst.
Brangäne:
Mein Herre Tristan,
höre wohl:
deine Dienste
will die Frau,
daß du zur Stell’ ihr nahtest
dort, wo sie deiner harrt.
Tristan:
Auf jeder Stelle,
wo ich steh,
getreulich dien ich ihr,
der Frauen höchster Ehr’;
ließ’ ich das Steuer
jetzt zur Stund’,
wie lenkt’ ich sicher den Kiel
zu König Markes Land?
ERLÄUTERUNGEN
Da wird Brangäne unruhig, sie fühlt sich verhöhnt. Und so wiederholt sie wörtlich Isoldes Auftrag (mit den gleichen Harmonien,
die an das Todesmotiv gemahnen).
Kurwenal ist aufgesprungen. Sofort hat, zu seiner scharfen Gegenrede, die Musik eine andere Färbung angenommen: marschartig, wie
Kriegstrompeten, klingt seine Antwort:
      (Fortsetzung des Notenbeispiels S. 40)
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1. AUFZUG / 2. SZENE
Brangäne:
Tristan, mein Herre,
was höhnst du mich?
Dünkt dich nicht deutlich
die tör’ge Magd,
hör meiner Herrin Wort!
So, hieß sie, sollt’ ich sagen:
Befehlen ließ
dem Eigenholde
Furcht der Herrin
sie, Isolde.
Kurwenal (aufspringend):
Darf ich die Antwort sagen?
Tristan (ruhig):
Was wohl erwidertest du?


Kurwenal:
Das sage sie
der Frau Isold’!
Wer Kornwalls Kron’
ERLÄUTERUNGEN
(10)
Es ist eine sehr bestimmte Zurückweisung von Brangänes Botschaft. Genaugenommen dürfte Tristan sie niemals zulassen, müßte er dem Freund und Schildträger sofort das Wort abschneiden, das Tristan hoch über alle Menschen stellt, da er die Herrschaft Kornwalls und Englands der irischen Königstochter und diese seinem Oheim schenke. Man fühlt es dem rauhen Krieger nach, daß sein Herz noch in jener Schlacht weilt, in der einst Tristan die Iren schlug und deren Anführer Morold tötete. Und so stimmt er, da Brangäne nun entsetzt die Flucht ergreift, den Spottgesang an, den wahrscheinlich ganz Kornwall nach dem Sieg
über die Iren sang:
(Fortsetzung des Notenbeispiels S. 42)
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1. AUFZUG / 2. SZENE
und Englands Erb’
an Irlands Maid vermacht,
der kann der Magd
nicht eigen sein,
die selbst dem Ohm er schenkt.
Ein Herr der Welt
Tristan der Held!
Ich ruf’s: du sag’s, und grollten
mir tausend Frau Isolden!
(Da Tristan durch Gebärden ihm zu wehren sucht und Brangäne entrüstet sich zum  Weggehen  wendet,  singt Kurwenal der zögernd
sich Entfernenden mit höchster Stärke nach:)
Herr Morold zog
zu Meere her,
ERLÄUTERUNGEN
(11)
Brausend, wie um Isoldes Schmach zu erhöhen, fallen die Krieger und
Seeleute an Bord ein und wiederholen den Refrain.
In großer Lautstärke ist das nahezu gesamte Orchester eingefallen, fast lärmend und brutal. Brangäne erreicht wie gehetzt das Frauengemach, wo Isolde in ohnmächtiger Empörung das Spottlied
anhören mußte. Brangäne soll ihr berichten.
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1. AUFZUG / 2./3. SZENE
in Kornwall Zins zu haben;
ein Eiland schwimmt
auf ödem Meer,
da liegt er nun begraben!
Sein Haupt doch hängt
im Irenland,
als Zins gezahlt
von Engeland:
Hei! Unser Held Tristan,
wie der Zins zahlen kann!
(Kurwenal, von Tristan fortgescholten, ist in den Schiffsraum hinabgestiegen; Brangäne in Bestürzung zu Isolde zurückgekehrt, schließt hinter sich die Vorhänge, während die ganze Mannschaft
außen sich hören läßt.)
Alle Männer:
Sein Haupt doch hängt
im Irenland,
als Zins gezahlt
von Engeland:
Hei! Unser Held Tristan,
wie der Zins zahlen kann!
DRITTE SZENE
Isolde und Brangäne allein, bei vollkommen wieder geschlossenen Vorhängen. – Isolde erhebt sich mit verzweiflungsvoller Wutgebärde.
Brangäne stürzt ihr zu Füßen.
Brangäne:
Weh, ach wehe!
Dies zu dulden!
Isolde (dem furchtbarsten Ausbruche nahe, schnell sich zusam-
menraffend):

Doch nun von Tristan!
Genau will ich’s vernehmen.
Brangäne:
Ach, frage nicht!
ERLÄUTERUNGEN
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In den Sprechgesang der beiden Frauen mischt sich bedeutungsvoll (vom Fagott geblasen) das Sehnsuchtsmotiv (Nr. 1): Man fühlt, nicht der Wortlaut von Tristans Ausflüchten interessiert Isolde, sondern vielleicht, darin etwas zu entdecken, was ihrer eigenen Sehnsucht entspräche, ihrer noch unausgesprochenen Liebe zu diesem Mann, den sie hassen müßte. Brangäne wiederholt das Gespräch fast wörtlich, und auch musikalisch erklingen nochmals die wichtigsten  Melodiefolgen  (»zu  König Markes Land« etwa,
zu dem er »sicher den Kiel lenken müsse«):
(12)
Isolde zitiert Kurwenals Spottgesang, das Orchester schildert ihre tiefe Erregung, die sie nun nicht  mehr  für  sich behalten  kann.
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1. AUFZUG / 3. SZENE
Isolde:
Frei sag’s ohne Furcht!
Brangäne:
Mit höf’schen Worten wich er aus.
Isolde:
Doch als du deutlich mahntest?
Brangäne:
Da ich zur Stell’
ihn zu dir rief:
wo er auch steh’,
so sagte er,
getreulich dien’ er ihr,
der Frauen höchster Ehr’;
ließ’ er das Steuer
jetzt zur Stund’,
wie lenkt’ er sicher den Kiel
zu König Markes Land?




Isolde (schmerzlich bitter):
Wie lenkt’er sicher den Kiel
zu König Markes Land?
        (Grell und heftig.)
Den Zins ihm auszuzahlen,
den er aus Irland zog!

Brangäne:
Auf deine eignen Worte,
als ich ihm die entbot,
ließ seinen Treuen Kurwenal
Isolde:
Den hab ich wohl vernommen,
kein Wort, das mir entging.
Erfuhrest du meine Schmach,
ERLÄUTERUNGEN
Vor der getreuen Brangäne breitet sie nun die Geschichte ihrer »Schmach«  aus,  die  zugleich  der  Beginn  ihrer  schicksalhaften
Liebe zu Tristan ist.
Die Musik ist – im gesamten Werk, hier aber besonders – schwer zu definieren. Wagner wendet hier in geringerem Maße jene Leitmotiv-Technik an, die im »Ring des Nibelungen« bestimmend ist. Hingegen entwickelt er in »Tristan und Isolde« die »unendliche Melodie«, über die in diesem Band ein eigenes kurzes Kapitel zu finden ist (vgl. S. 324). Dem aufmerksamen Hörer entgehen trotz der stark verminderten Motivzahl gewisse Zusammenhänge nicht, die durch leitmotivische Bildungen geschaffen werden. In Isoldes langer Erzählung finden sich das Sehnsuchtswie das
Todesmotiv und die Tonfolge des Spottliedes.
Sehr stark verwendet Wagner die Melodie, die im Vorspiel (Nr. 2b) mit dem Motiv der Sehnsucht und des Blickes eine fast untrennbare Einheit darstellt: wir nannten sie »das Entbrennen der Leidenschaft«, und diese Deutung erhält gerade hier neue
Nahrung.
Die Schilderung erfährt hier – mit dem Motiv des Blicks (Nr. 3)
verbunden – stärksten Ausdruck:
(Notenbeispiel S. 48)
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1. AUFZUG / 3. SZENE
nun höre, was sie mir schuf.
Wie lachend sie
mir Lieder singen,
wohl könnt’ auch ich erwidern!
Von einem Kahn,
der klein und arm
an Irlands Küsten1 schwamm,
darinnen krank
ein siecher Mann
elend im Sterben lag.
Isoldes Kunst
ward ihm bekannt;
mit Heilsalben
und Balsamsaft
der Wunde, die ihn plagte,
getreulich pflag sie da.
Der »Tantris«
mit sorgender List sich nannte,
als Tristan
Isold’ ihn bald erkannte,
da in des Müß’gen Schwerte
eine Scharte sie gewahrte,
darin genau
sich fügt’ ein Splitter,
den einst im Haupt
des Iren-Ritter,
zum Hohn ihr heimgesandt,
mit kund’ger Hand sie fand.
Da schrie’s mir auf
aus tiefstem Grund!
Mit dem hellen Schwert
ich vor ihm stund,
an ihm, dem Überfrechen,
Herrn Morolds Tod zu rächen.
Von seinem Lager
blickt’ er her –
1
TV: Anstelle von »Küsten« auch »Küste«.
ERLÄUTERUNGEN
(13)
Nach einem kurzen Einwurf Brangänes setzt Isolde ihre
Erzählung fort.
Wieder sind motivische Phrasen eingestreut, die Verbindungen herstellen: Tristans Loblied (»Hei! Unser Held Tristan …« aus Kurwenals Gesang u. a.). Am interessantesten wohl die bedeutsame Tonartenfolge As-Dur – A-Dur aus dem Todesmotiv. Noch hat Isoldes Plan keine feste Gestalt in ihrem Geist angenommen, aber das Motiv
des Todes ist in der Musik längst gegenwärtig.
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1. AUFZUG / 3. SZENE
nicht auf das Schwert,
nicht auf die Hand –
er sah mir in die Augen.
Seines Elendes
jammerte mich! –
Das Schwert – ich ließ es fallen!
Die Morold schlug, die Wunde,
sie heilt’ ich, daß er gesunde
und heim nach Hause kehre,
mit dem Blick mich nicht mehr beschwere!


Brangäne:
O Wunder! Wo hatt’ ich die Augen?
Der Gast, den einst
ich pflegen half?
Isolde:
Sein Lob hörtest du eben:
»Hei! Unser Held Tristan« –
der war jener traur’ge Mann.
Er schwur mit tausend Eiden
mir ew’gen Dank und Treue!
Nun hör, wie ein Held
Eide hält!
Den als Tantris
unerkannt ich entlassen,
als Tristan
kehrt’ er kühn zurück;
auf stolzem Schiff,
von hohem Bord,
Irlands Erbin
begehrt’ er zur Eh’
für Kornwalls müden König,
für Marke, seinen Ohm.
Da Morold lebte,
wer hätt’ es gewagt,
uns je solche Schmach zu bieten?
EERLÄUTERUNGEN
Brangäne wähnt zu begreifen – und versteht doch nichts von dem, was ihre Herrin wahrhaft bewegt. Nicht der Schmerz über die Niederlage ist es, nicht der Tod des Verlobten, nicht Tristans Rückkehr, nicht die »Schande«, daß der einst tributpflichtige Fürst von Kornwall nun um sie werbe: Nein, Isoldes tiefe Trauer hat einen ganz anderen Grund. Der Mann, den sie so tief liebt, daß sie es sich selbst nicht einzugestehen wagt, kommt, um sie…
für einen anderen Mann zu werben!
Sie quält sich selbst, indem sie sich die Szene vorspielt, die ihrer
Meinung nach an Kornwalls Hof sich abgespielt haben mußte:
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1. AUFZUG / 3. SZENE
Für den zinspflicht’gen
Kornenfürsten1
um Irlands Krone zu werben!
Ach, wehe mir!
Ich ja war’s,
die heimlich selbst
die Schmach sich schuf!
Das rächende Schwert,
statt es zu schwingen,
machtlos ließ ich’s fallen!
Nun dien ich dem Vasallen!
Brangäne:
Da Friede, Sühn’ und Freundschaft
von allen ward beschworen,
wir freuten uns all’ des Tags;
wie ahnte mir da,
daß dir es Kummer schüf’?
Isolde:
O blinde Augen!
Blöde Herzen!
Zahmer Mut,
verzagtes Schweigen!
Wie anders prahlte
Tristan aus,
was ich verschlossen hielt!
Die schweigend ihm
das Leben gab,
vor Feindes Rache
ihn schweigend barg;
was stumm ihr Schutz
zum Heil ihm schuf –
mit ihr gab er es preis!
Wie siegprangend
heil und hehr,
laut und hell
wies er auf mich:
1
TV: Diese beiden Verse lauten auch: »Für der zinspflicht’gen Kornen Fürsten«.
ERLÄUTERUNGEN
52
Tristans frivole Worte an seinen Oheim: »Das wär’ ein Schatz, mein Herr und Ohm, wie dünkt euch die zur Eh’?« Denn leicht
müsse es ihm fallen:
(14)
Ein Abenteuer für ihn, sonst nichts… Aber nein, es darf ihm nicht gelingen! Rasende Gefühle toben in ihrem Innern: Rache! Rache, Fluch seinem Haupt! Versteinert hört Brangäne diesen Ausbruch, versteht immer noch nicht ganz, kann es nicht fassen, daß es für ihre
Herrin nur noch einen einzigen Ausweg geben kann:
(Notenbeispiel S. 54)
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1. AUFZUG / 3. SZENE
»Das wär’ ein Schatz,
mein Herr und Ohm;
wie dünkt euch die zur Eh’?



Die schmucke Irin
hol ich her;
mit Steg’ und Wegen
wohlbekannt,
ein Wink, ich flieg
nach Irenland:
Isolde, die ist euer!
















Mir lacht das Abenteuer!«
Fluch dir, Verruchter!
Fluch deinem Haupt!
ERLÄUTERUNGEN
(15)
Isoldes Entschluß ist gefaßt, nun erst vielleicht ihr selbst klar geworden. Vergeblich bemüht sich Brangäne, ihr Tristans edle Handlungsweise klarzumachen, ihn und König Marke ins beste Licht zu rücken, Isoldes Schicksal zu preisen, die nun Gattin eines großen Fürsten werde! Sie spricht auf Isolde ein, deren Gedanken weit entfernt sind, ist rührend besorgt und ahnt nicht, daß sie mit einer Todgeweihten spricht, deren Schmerz viel, viel tiefer sitzt, als die
arglose Brangäne je zu ahnen imstande ist.
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1. AUFZUG / 3. SZENE
Rache! Tod!
Tod uns beiden!
Brangäne (mit ungestümer Zärtlichkeit sich auf Isolde stürzend):
O Süße! Traute!
Teure! Holde!
Gold’ne Herrin!
Lieb Isolde!
(Sie zieht Isolde allmählich nach dem Ruhebett.)
Hör mich! Komme!
Setz dich her!
Welcher Wahn,
welch eitles Zürnen!
Wie magst du dich betören,
nicht hell zu sehn noch hören?
Was je Herr Tristan
dir verdankte,
sag, konnt’ er’s höher lohnen
als mit der herrlichsten der Kronen?
So dient’ er treu
dem edlen Ohm;
ERLÄUTERUNGEN
Und immer noch erfaßt Brangäne nichts vom wahren Drama in Isoldes Innerem, als diese, wie aus tiefen Gedanken kommend,
beginnt:
(16)
Hier ist wieder die Chromatik, die diesem Werk ihre Grundlage verleiht, die tiefster Ausdruck der Sehnsucht ist. (Isoldes Gesangslinie: D-Dis-E und später weiter: E-Eis-Fis, Fis-G-Gis-A.) Es gibt in diesem Werk eine Reihe von Melodien, die 9, 10 und mehr chromatische Töne enthalten; trotzdem erscheint es uns
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1. AUFZUG / 3. SZENE
dir gab er der Welt
begehrlichsten Lohn:
dem eignen Erbe,
echt und edel,
entsagt’ er zu deinen Füßen,
als Königin dich zu grüßen!
(Isolde wendet sich ab.)
Und warb er Marke
dir zum Gemahl,
wie wolltest du die Wahl doch schelten,
muß er nicht wert dir gelten?
Von edler Art
und mildem Mut,
wer gliche dem Mann
an Macht und Glanz?
Dem ein hehrster Held
so treulich dient,
wer möchte sein Glück nicht teilen,
als Gattin bei ihm weilen?
Isolde (starr vor sich hinblickend):





Ungeminnt
den hehrsten Mann
stets mir nah zu sehen!
Wie könnt’ ich die Qual bestehen?
ERLÄUTERUNGEN
gänzlich falsch, diese Tristan-Chromatik als Vorstufe zu Schönbergs Zwölftontechnik auffassen zu wollen, aus Gründen, die unter den »Gedanken« zu diesem Werk nachzulesen sind
(vgl. S. 333).

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