Cover

Hiltrud Leenders • Michael Bay • Artur Leenders

Totenacker

Kriminalroman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Hiltrud Leenders / Michael Bay / Artur Leenders

Hiltrud Leenders, geboren 1955 am Niederrhein, arbeitete zunächst als Übersetzerin und machte sich später als Lyrikerin einen Namen. Sie ist Mutter von zwei Söhnen und seit 1990 hauptberuflich Schriftstellerin.

 

Michael Bay, geboren 1955 in Rheine, arbeitet als Diplompsychologe und Psychotherapeut. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

 

Artur Leenders, geboren 1954 in Meerbusch, arbeitet als Unfallchirurg in Kalkar. Seit über dreißig Jahren ist er mit Hiltrud Leenders verheiratet, er ist Vater der beiden Jungen.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Die Schanz

Augenzeugen

Gnadenthal

Die Burg

Kesseltreiben

Über dieses Buch

Alte Gräber, neue Tote

 

Bei Bauarbeiten in Kleve wird ein Massengrab entdeckt. Das Entsetzen ist groß. Die Toten, die dort offenbar seit Jahrzehnten liegen, weisen körperliche Gebrechen auf. Euthanasie in Kleve? Ein Verdacht, dem sich keiner gerne stellt und der alte Wunden aufreißt. Während Kommissar van Appeldorn und das KK 11 ermitteln, kommt bereits ein neuer Fall auf sie zu: mysteriöse Todesfälle unter Kleinbauern. Sie alle waren Gegner der «Gen-Mafia», die immer mehr Einfluss am Niederrhein gewinnt …

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Zitat Seite 73: Bettina Winter: Verlegt nach Hadamar. Landeswohlfahrtsverband Hessen. Kassel 1991.

Zitate Seite 196 und 213: Marie-Monique Robin: Mit Gift und Genen. DVA. München 2009.

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Abbildung: plainpicture/Arcangel)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25525-0 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-43971-9

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-43971-9

Eins

«Ich fürchte, du musst rauskommen, Norbert. Die Schweinerei hier sollte sich einer von euch angucken.»

Der Kollege Schuster von der Streife, den normalerweise nichts so leicht erschüttern konnte, klang ernst und wütend.

«Selbstverständlich haben die erst mal so getan, als hätten sie nichts gesehen! Das kennt man ja. Immer schön den Kopf in den Sand stecken.»

Kriminalhauptkommissar Norbert van Appeldorn seufzte leise in sich hinein.

Es war Freitagnachmittag, und er hatte gerade sein Team ins Wochenende entlassen, weil nichts mehr anlag, das nicht bis Montag warten konnte. Auch er war schon auf dem Sprung gewesen, als das Telefon geklingelt hatte.

«Jetzt mal langsam, Pit. Wo steckst du denn?»

«Am Spoykanal, unten am Opschlag. Die machen hier doch gerade das Ufer neu. Und dabei haben die Arbeiter heute Knochen gefunden.»

«Und?» Van Appeldorn wunderte sich über die Aufregung. Der Opschlag war im Mittelalter ein Umschlagplatz für Waren gewesen. Auf dem Treidelpfad dort waren die Lastensegler durch Pferde- oder Menschenkraft den Kanal entlanggezogen worden. Treidler hatten dort gewohnt, und vermutlich hatten die dort auch hin und wieder einen toten Hund begraben oder eine Katze. Immer wieder stießen Bauern in der Gegend beim Pflügen auf knöcherne Überreste von Haustieren, Hunden, Schweinen, manchmal sogar Rindern.

«Es sind Menschenskelette, Norbert!»

Van Appeldorn zog einen Stuhl heran und setzte sich. «Skelette? Du meinst, mehr als eins?»

«Aber hallo! So, wie ich das heraushöre, hat der Baggerführer die Knochen entdeckt und erst mal versucht, sie schnell wieder unter der Erde verschwinden zu lassen. Man muss ja im Zeitplan bleiben. Aber dann waren es ihm wohl doch zu viele. Jedenfalls hat er seinen Polier angerufen, der natürlich schon im Feierabend war, ist klar. Und der hat dann 110 gewählt.»

Schuster wurde plötzlich leise. «Hier liegen vier Schädel, vielleicht noch mehr. Scheiße, Norbert, das sieht mir aus wie ein Massengrab.»

Van Appeldorn griff nach seinem Autoschlüssel. «Ich komme. Sperrt schon mal ab.»

 

Die Stadt hatte sich endlich dazu durchgerungen, das heruntergekommene Kanalufer zu verschönern, davon hatte van Appeldorn in der Zeitung gelesen, angeschaut hatte er sich die Baustelle noch nicht.

«Du lieber Gott», entfuhr es ihm. «Tod durch Backstein. Der Führer hätte seine helle Freude daran gehabt.»

Offensichtlich hatte Schuster einen zweiten Streifenwagen gerufen. Die vier Beamten waren gerade dabei, Flatterband zu spannen, und sie hatten ihre liebe Mühe, gleichzeitig die Schaulustigen in Schach zu halten. Ein Pulk Kinder war ihnen wohl entwischt. Die Kleinen drängten sich aneinander und starrten sprachlos in die gut zwei Meter tiefe Grube hinunter.

Van Appeldorn lief los, stolperte über ein Abflussrohr, fing sich wieder und brüllte: «Macht, dass ihr wegkommt, aber dalli!»

Die Kinder stoben auseinander.

Hinter einem Kompressor entdeckte er zwei Fotografen von der örtlichen Presse. Anscheinend hörten die immer noch den Polizeifunk ab, wenn sie nichts zu tun hatten.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen.

Seit Wochen hatte es nicht geregnet, hier am Ufer war der Boden sandig und trocken, und die Knochen waren deutlich zu erkennen. Ein bizarres Gewirr von Gliedmaßen, Rippen, Schädeln. Vier hatte Schuster gezählt, aber van Appeldorn entdeckte einen weiteren unter einer Beckenschaufel, halb in der Erde noch.

Die Gebeine waren dunkelbraun, ausgemergelt, sie mussten schon lange hier gelegen haben, Jahrhunderte womöglich. Vielleicht hatte hier irgendwann früher einmal eine Kapelle gestanden mit einem kleinen Friedhof.

«Was meinst du?» Pit Schuster war herangetreten.

Van Appeldorn drehte sich um. «Ich würde gern wissen, ob die hier schon so auf einem Haufen gelegen haben oder ob der Bagger dafür verantwortlich ist.»

Schuster rieb sich den Nacken. «Du meinst, das könnten normale Gräber gewesen sein?»

«Möglich, oder? Ich unterhalte mich mal mit den Jungs da drüben.» Er schaute zu dem roten Bagger hinüber, neben dem fünf Arbeiter in Signalwesten zusammenstanden und rauchten.

«Viel Glück.» Schuster grinste. «Soll ich die Spusi rufen?»

«Ja, mach das. Van Gemmern soll ein Zelt mitbringen und Licht. Es wird bald dunkel. Und ruf noch ein paar von euren Jungs aus der Bereitschaft. Wir müssen sehen, dass wir die Gaffer loswerden.»

Schuster tippte sich an den Mützenschirm und wollte sich schon auf den Weg machen, als ihm noch etwas einfiel. «Ach, übrigens, ich hab heute deinen Aushang gesehen wegen der Fußballmannschaft. Da wäre ich gern dabei.»

«Du spielst Fußball?», staunte van Appeldorn. «Ich hätte dich eher in der Tennisfraktion vermutet.»

«Nun ja, ist schon länger her, aber früher in Gerresheim war ich mal ein ziemlich guter Rechtsaußen.»

«Okay, ich setze dich auf die Liste. Aber jetzt bringen wir erst einmal das hier auf die Reihe.»

 

Die Bauarbeiter standen auf der anderen Seite der Grube, und da die Herzogbrücke durch Maschinen, Schutthaufen und gigantische Kabelrollen versperrt war, musste van Appeldorn den längeren Weg über die Opschlagbrücke nehmen.

Im funzeligen Betontunnel am Spoycenter stank es wie immer nach Urin.

Im Gehen zog van Appeldorn sein Handy aus der Tasche und versuchte, seine Frau zu erreichen, erwischte aber nur ihre Mailbox. Er schaute auf die Uhr, Ulli musste in der Wochenbesprechung sein. «Hallo, Schatz, es wird leider später. Ich melde mich nochmal, wenn ich mehr weiß.»

Dann überlegte er. Toppe, sein Chef und langjähriger Weggefährte, machte mit seiner Liebsten gerade Urlaub in der Karibik. Cox und Penny hatten eigentlich dienstfrei und wollten die letzten Tage des Altweibersommers auskosten und noch einmal eine Motorradtour machen. Also blieb nur Bernie, dem er das Wochenende vermiesen konnte.

Und in der Gerichtsmedizin musste er anrufen. Arend Bonhoeffer würde dabei sein wollen, wenn die Spurensicherung die Gebeine barg, die er dann später in der Pathologie untersuchen würde.

 

«Was soll denn so wichtig daran sein, wie die ursprünglich gelegen haben?», herrschte der Polier van Appeldorn an. «Tot ist tot, oder sehe ich das falsch?»

Der Baggerführer, ein Zweimetermann, der gut und gerne 150 Kilo auf die Waage brachte, hatte eine nörgelige Knabenstimme. «Ich habe alles genau nach Vorschrift gemacht. Ist schließlich nicht das erste Mal. So was kommt öfter vor in meinem Beruf. Habe ich dem Schupo doch schon alles gesagt.»

«Dann erzählen Sie es mir eben noch einmal», gab van Appeldorn unfreundlich zurück.

Der Mann wechselte einen fixen Blick mit dem Polier und verdrehte die Augen. «Na gut, ich habe ganz normal geschachtet. Dann dachte ich, ich hätte ein Stück Knochen gesehen. Das hat man schon mal, wie gesagt. Denkt man sich nichts bei. Man springt ja nicht jedes Mal von der Maschine, wenn was ist, sonst käme man gar nicht voran. Egal, die nächsten drei, vier Schaufeln war jedenfalls nichts. Und dann auf einmal ein Totenkopf, direkt oben auf dem Aushub. Und dann, klar, ich sofort die Maschine abgestellt und den Chef angerufen. Muss ich ja. Was denn sonst?»

 

Bernie Schnittges hatte sich gerade frustriert auf eine Bank am Fischmarkt fallen lassen, als van Appeldorns Anruf ihn erreichte.

Das war nun schon die vierte Wohnung gewesen, die er sich in dieser Woche angeschaut hatte, und wieder ein Reinfall. Dabei hatte sich die Anzeige ganz gut angehört: Von privat, 3Z, KDB, Tiefgar.platz, zentr. Lage m. Blick a.d. Burg, geh. Ausstattg., KM 395.-.

Vorgefunden hatte er düstere Kämmerchen mit niedrigen Decken, Fliesenboden aus den Siebzigern und ein fensterloses Bad in Beige und Braun.

Er würde wohl doch in den sauren Apfel beißen und einen Makler mit der Suche beauftragen müssen. Inzwischen waren ihm die Mehrkosten schon beinahe egal, Hauptsache, er kam endlich fort aus Kessel.

Vor anderthalb Jahren hatte er sich wegen einer unseligen Liebschaft aus seiner Heimatstadt Krefeld nach Kleve versetzen lassen und unbedingt ein Haus in einem Dorf mieten wollen, weil ihm ein Leben in ländlicher Idylle reizvoll erschienen war. Für Kessel hatte er sich entschieden, weil er ein paar Leute vom dortigen Laientheater kannte und er sich vorgestellt hatte, sie würden ihm helfen, ins Dorfleben aufgenommen zu werden.

Aber dann war am Tag seines Umzugs ein Mord passiert, keine zweihundert Meter von seinem Häuschen entfernt. Ein Mord, in den Männer verwickelt waren, die bis heute erhobenen Hauptes durch das Dorf spazierten, weil man ihnen nichts hatte nachweisen können.

Unglücklicherweise hatte er einen Mietvertrag über drei Jahre abgeschlossen, und bis vor zwei Monaten war es ihm einfach nicht gelungen, einen Nachmieter für das Haus am Seeweg zu finden. Nur wenn es gar nicht anders ging, hatte er dort übernachtet. Ansonsten hatte er seine freie Zeit wieder in Krefeld verbracht und war bei einem seiner fünf Geschwister untergekrochen. Seit die Nachmieter eingezogen waren, kampierte er bei seinen Eltern. Er mochte seine laute, fröhliche Familie, keine Frage, aber jetzt hatte er lange genug seine Wunden geleckt und wollte endlich wieder ein eigenes Dach über dem Kopf, einen Ort, an dem es ruhiger zuging.

Nur ein Gutes hatten die letzten achtzehn Monate gehabt: In seinem Liebeskummer und dem ganzen Elend mit dem Haus hatte er angefangen zu laufen und Spaß daran bekommen, und seit Anfang des Sommers ging er jetzt auch noch regelmäßig zum Karatetraining. Für seine Schwestern war er immer «unser Teddybär» gewesen, aber nun hatte er nicht mehr viel Knuddeliges an sich, und das gefiel ihm. Das Theaterspielen vermisste er kaum.

Sein Handy summte. «Schnittges … ach, Norbert, du bist’s … Am Opschlag? Ich bin gleich um die Ecke, keine fünf Minuten.»

 

Die Leute von der Spurensicherung hatten große Zelte über der Grube aufgebaut und waren dabei, Licht zu verlegen, immer darauf bedacht, sich dabei von den Gebeinen fernzuhalten, um nicht noch mehr Spuren zu verwischen.

Jetzt leuchteten die Lampen auf. Klaus van Gemmern, der Chef der Spusi, schaute sich um.

«Das reicht noch nicht», entschied er und bückte sich wieder. Er verlegte gerade ein paar Planken, damit der Gerichtsmediziner näher an die Skelette herankommen konnte.

Van Appeldorn und Schnittges blieb im Moment nichts weiter zu tun, als zuzuschauen, wie Arend Bonhoeffer Schutzkleidung überzog, van Gemmern seinen Koffer hinüberreichte, dann vorsichtig den provisorischen Steg entlangbalancierte und sich am Ende hinkniete.

Es war ruhig geworden, die meisten Schaulustigen waren verschwunden, weil sie in der Dämmerung sowieso nichts mehr erkennen konnten. Nur einige Reporter von den Lokalzeitungen standen in der Nähe.

Wieder gingen die Lichter an, und man sah Bonhoeffer mit Sonden und Pinseln hantieren. Schließlich stand er auf, wechselte ein paar Sätze mit van Gemmern und kam zu den Kripomännern herüber.

«Es hat keinen Sinn, heute noch weiterzumachen», sagte er und zog sich die Kapuze vom Kopf. «Wir brauchen Tageslicht. Der Bagger hat die Skelette völlig durcheinandergeschoben. Wir müssen die Erde Schicht für Schicht abtragen und durchsieben, um alle Knochen zu finden.»

«Das hatten wir schon befürchtet», nickte van Appeldorn. «Was meinst du, wie alt sind die Skelette?»

 

Bonhoeffer zog die Überschuhe aus und schälte sich aus dem Overall. «Die Standardantwort würde lauten: Liegezeit zwischen fünfzig und hundert Jahren. Aber nach allem, was ich so über die Jahre gesehen habe, schätze ich, dass die Menschen vor etwa fünfundsechzig bis siebzig Jahren begraben worden sind.»

«Scheiße», murmelte Schnittges. Van Appeldorn schaute ihn fragend an, aber er schüttelte den Kopf.

«Das muss natürlich noch verifiziert werden», fuhr Bonhoeffer fort. «Und was das Lebensalter der einzelnen Personen angeht, mal sehen, vielleicht werde ich einen Anthropologen hinzuziehen.» Er schaute auf seine Uhr. «Wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch. Ich habe nämlich eine Verabredung zum Essen und dachte schon, ich müsste sie absagen.» Dann nahm er seinen Koffer. «Klaus und ich fangen morgen gleich bei Sonnenaufgang an. Aber es wird schon ein paar Tage dauern, bis ich die Knochen zugeordnet und die einzelnen Skelette zusammengefügt habe.»

«Entschuldigen Sie?» Der Journalist von der Niederrhein Post kam auf sie zu. Van Appeldorn kannte ihn, er war ein vernünftiger Bursche. Bis jetzt hatten sie Glück gehabt, dass die Sensationspresse noch keinen Wind von dem Knochenfund bekommen hatte. Aber egal, wie klein morgen die Notiz im Lokalteil sein mochte, sie würde die überregionalen Geier auf den Plan rufen.

«Können Sie mir schon etwas sagen?» Der Mann klang angenehm sachlich.

Bonhoeffer spreizte die Hände. «Nur sehr wenig, fürchte ich. Es handelt sich um die Gebeine von mindestens sechs Menschen.»

«Liegezeit zwischen fünfzig und hundert Jahren», fügte Schnittges hinzu.

«Handelt es sich um ein Massengrab?»

«Das kann man beim besten Willen nicht mehr sagen», antwortete van Appeldorn.

«Verstehe, die Bauarbeiten …»

«Wie auch immer, heute passiert hier nichts mehr», sagte Schnittges schroff und wandte sich zum Gehen. «Ich kümmere mich um die Nachtwachen, Norbert, und treffe dich dann nachher im Präsidium.»

 

Arend Bonhoeffer sagte seine Einladung zum Abendessen doch noch ab.

Er würde am 30. November in den Ruhestand gehen, also blieben ihm knappe sechs Wochen, diesen Fall zu Ende zu bringen, was ohne Hilfe unmöglich schien.

Bis heute war nicht klar, ob seine Stelle neu besetzt oder die gerichtsmedizinische Abteilung in Emmerich aufgelöst werden sollte. Wenn er gute Arbeit leistete, wenn der Fall groß durch die Presse ging, würde sein Dienstherr sich vielleicht für den Erhalt der Pathologie entscheiden.

Er würde gut sein, das wusste er, aber er musste auch schnell sein, und das war ein Problem. Ein Problem, das er unauffällig und vor allem sofort zu lösen gedachte. Und die Lösung hieß Marie Beauchamp. Die Tochter eines Studienkollegen hatte bisher an verschiedenen Universitäten gearbeitet, gerade war ihr Vertrag am Institut in Bologna ausgelaufen, und sie wartete nur darauf, sich auf seine Stelle zu bewerben, wenn diese denn neu ausgeschrieben würde. Es reizte sie, eigenverantwortlich zu arbeiten, auch wenn sie dafür in die Provinz ziehen musste, aus demselben Grund hatte auch er damals in Emmerich angefangen.

Noch vom Opschlag aus führte er zwei Telefonate und machte sich dann auf den Weg zum Verwaltungschef seiner Klinik, der irgendeinen Topf auftun sollte, aus dem man Marie für ihre Mitarbeit bezahlen würde.

Wohnen konnte sie bei Sofia und ihm auf Haus Eyll, das würde ihr bestimmt gefallen. Sie hatte in den letzten Jahren öfter mal ein Wochenende bei ihnen verbracht, wenn sie auf einer ihrer Radwandertouren gewesen war, und sich immer wohl bei ihnen gefühlt.

 

Als Bernie Schnittges ins Präsidium kam, hatte van Appeldorn seinen Bericht schon geschrieben.

«Gib mir mal einen Aktendeckel rüber, du stehst gerade.»

Schnittges tat, wie ihm geheißen, und setzte sich dann. «Vor fünfundsechzig bis siebzig Jahren, sagt Arend, das heißt doch, die Leute sind während des Krieges begraben worden», überlegte er.

«Ja, sieht so aus», stimmte van Appeldorn zu. «Warum guckst du denn so finster?»

«Ach, mir ist etwas eingefallen. Vor drei oder vier Jahren hat man in Stuttgart ein Massengrab entdeckt mit Skeletten, die etwa genauso lange dort gelegen haben. Es sollen Häftlinge aus einem Konzentrationslager gewesen sein, die man dort auf die Schnelle entsorgt hat, als die Alliierten anrückten. Monatelang ist dort gegraben und geforscht worden, jede Menge Archäologen und Anthropologen waren dabei und eine Sondereinheit für NS-Verbrechen vom LKA. Ich hoffe nur, dass uns hier nicht auch so etwas blüht.»

Van Appeldorn schüttelte den Kopf. «Bei uns hier hat es kein KZ gegeben und auch kein Arbeitslager.»

«Das ist schon mal gut.» Bernie lehnte sich zurück und schaute van Appeldorn nachdenklich an. «Vielleicht sind es ja Bombenopfer. Kleve ist doch schwer bombardiert worden, oder?»

«Zweimal», bestätigte van Appeldorn. «Am 26. September 44 gab es einen Angriff auf die Unterstadt, und am 7. Oktober ist dann die restliche Stadt fast vollständig ausradiert worden.»

«Aber die Stadt war doch sicher schon vorher evakuiert worden, oder?», fragte Schnittges. «Wenn ich mich richtig erinnere, war die Front doch schon ab Mitte September 44 am Niederrhein.»

«Ja, stimmt, aber es gab wohl Probleme. Die Leute wollten nicht weg. Soweit ich weiß, hatte man es bis Anfang Oktober geschafft, gerade mal die Hälfte der Bürger zu evakuieren.»

«Dann könnten unsere Toten tatsächlich Bombenopfer sein.» Schnittges stand auf und ging zum Stadtplan hinüber, der an der Wand hing. «Haben dort am rechten Kanalufer vor dem Krieg Häuser gestanden?»

«Ich bin mir nicht sicher.» Van Appeldorn rieb sich die Augen. «Aber ich habe zu Hause ein paar Bücher über die Stadtgeschichte, auch alte Bildbände. Wenn ich da nichts finde, müssen wir am Montag ins Stadtarchiv.»

«Ja.» Schnittges fuhr sich durchs Gesicht. «Ich habe Hunger. Sollen wir was essen gehen?»

«Nein, lieber nicht. Meine Frau wartet auf mich.» Van Appeldorn zögerte. «Aber für ein schnelles Bier reicht die Zeit noch.»

Doch Schnittges hob abwehrend die Hand. «Kein Alkohol für mich, ich muss noch nach Krefeld.»

«Sag bloß, du hast immer noch keine Wohnung gefunden.»

Bernie wunderte sich, dass Norbert überhaupt etwas von seiner Misere mitbekommen hatte. Beruflich verstanden sie sich nach ein paar Startschwierigkeiten ganz gut, aber privat hatten sie nichts miteinander zu tun. Auch die Kollegen schienen keinen engeren Kontakt zu van Appeldorn zu haben. Er blieb gern mit seiner Familie für sich und nahm wohl an, dass die anderen es am liebsten genauso hielten.

«Bei uns um die Ecke steht ein Haus leer», sagte er jetzt. «Ich könnte mal fragen.»

«Ihr wohnt doch in Nütterden, nicht?» Bernie lachte. «Nein danke, nett von dir, aber mich kriegen keine zehn Pferde mehr in ein Dorf.»

Auch van Appeldorn lächelte, dann runzelte er die Stirn. «Warte mal, mir fällt da was ein. Ich habe neulich meinen früheren Vermieter getroffen, der hat mir was von einer Kernsanierung erzählt, die wohl gerade abgeschlossen ist. Es ging um das Häuschen am Blauen Himmel, in dem ich mal gewohnt habe. Vielleicht ist es ja noch frei.»

«Das ist doch gleich an der Schwanenburg, oder? Eine tolle Lage.» Bernie wurde ganz kribbelig.

«Ja, ich habe gern dort gewohnt. Es war auch günstig, aber ich weiß nicht, wie viel er jetzt nach der Sanierung dafür haben will. Soll ich ihn mal anrufen?»

«Am liebsten sofort.»

Zwei

Bonhoeffer mochte kaum glauben, wie schnell sie vorankamen.

Marie war bei ihren Eltern in Bonn gewesen, als er sie auf dem Handy erreicht hatte.

Ob sie Lust hätte, ihm zu helfen? Die Frage sollte wohl ein Witz sein!

Keine drei Stunden später hatte sie schon bei ihm vor der Tür gestanden und am Samstag im ersten Morgenlicht neben ihm an der Baugrube, wo Klaus van Gemmern schon ein Raster ausgelegt und angefangen hatte, die ersten Abschnitte des Gräberfeldes zu fotografieren.

Marie war als Kind ein Wirbelwind gewesen und auch heute noch quirlig, aber wenn es um ihre Arbeit ging, war sie gründlich und äußerst besonnen.

Bonhoeffer hatte beobachtet, dass van Gemmern sie immer wieder musterte, und Wohlwollen in dessen Blick entdeckt – ein Ritterschlag.

Gegen halb zehn hatte man die ersten sicher verpackten und beschrifteten Knochenfunde in die Pathologie abtransportiert.

«Wir sollten uns dann wohl an unsere Arbeit machen», hatte Bonhoeffer gesagt. «Hier werden wir nicht mehr unbedingt gebraucht.»

«Nein, Klaus weiß genau, was er tut», hatte Marie zugestimmt. «Ein guter Mann.»

«Das ist er, völlig monoman, aber zweifelsohne gut.»

In der Pathologie gab es zwar zwei Sektionstische, sie brauchten aber für jedes einzelne Skelett einen eigenen Tisch, mussten parallel arbeiten, um die Knochen richtig zuordnen zu können. Der Technische Dienst der Klinik hatte mit Sägeböcken, Brettern und Türblättern ausgeholfen, sodass, als gegen Mittag der zweite Knochentransport eintraf, acht improvisierte Bahren an den Wänden des großen Prosekturraumes aufgereiht waren und sie mit ihrer Puzzlearbeit beginnen konnten. Die beiden Sektionstische mit der Spülvorrichtung würden sie brauchen, um die Erde von den Knochen abzuwaschen, bevor sie sie untersuchen konnten.

Als Bonhoeffer das erste Mal auf die Uhr geschaut hatte, war es nach acht gewesen.

«Mach Schluss für heute, Arend, und fahr nach Hause. Ich komme auch bald.»

Er hatte seinen Blick über die Exponate auf der Plane schweifen lassen, die sie in der Mitte des Raumes ausgebreitet hatten, dann die augenscheinlich immer noch putzmuntere Marie angeschaut und geseufzt.

Jetzt saß er zu Hause am Küchentisch und trank seinen zweiten Espresso. Es war Sonntag früh, er hatte fast acht Stunden geschlafen und spürte doch jedes einzelne Lebensjahr in seinen Knochen.

Oben wurde die Dusche abgestellt, und zehn Minuten später kam Marie in die Küche gehuscht. Sie hatte ihren blonden Lockenwust mit einem roten Gummiring irgendwie zusammengewurschtelt, ihre Augen strahlten. «Morgen!»

Bonhoeffer seufzte wieder. «Möchtest du auch einen Kaffee, oder soll ich dir lieber einen Tee kochen?»

«Ein Espresso wäre herrlich, danke. Und gibt’s auch irgendwas zu essen? Ich komme um vor Hunger.»

«Das kann ich mir vorstellen.» Er schaltete den Kaffeeautomaten ein. «Dein Abendessen stand im Backrohr. Hast du meinen Zettel nicht gefunden?»

«Doch, aber ich war zu müde, tut mir leid.»

Bonhoeffer lächelte. «Rührei mit Schinken?»

«Gern, aber setz dich wieder, das kann ich doch selbst …»

«Das wär ja noch schöner!» Er stellte eine Pfanne auf den Herd und nahm die Butter aus dem Kühlschrank. «Wie lange hast du denn noch gearbeitet?»

«Weiß nicht genau, so bis drei, glaub ich. Vier Skelette sind so gut wie komplett, aber ich habe da ein Problem.»

Irgendwo klingelte ein Handy.

«Das ist meines.» Bonhoeffer drückte Marie den Pfannenwender in die Hand. «Hängt zum Aufladen an der Steckdose, Sekunde.»

«Es war van Gemmern», sagte er, als er zurückkam. «Er hat drei Kinderskelette ausgegraben, fast unversehrt. Sie lagen wohl so tief, dass der Bagger sie nicht durcheinandergeschoben hat. Auch der Bereich daneben scheint unberührt zu sein, sodass wir es vielleicht jetzt ein bisschen leichter haben.»

Marie schüttelte den Kopf. «Klaus ist jetzt schon wieder vor Ort?»

«Ich würde tippen, noch immer.» Bonhoeffer grinste. «Ich sagte doch: monoman.»

 

Auch Norbert van Appeldorn stand früh auf an diesem Sonntagmorgen.

Irgendwann in der Nacht war Paul zu ihnen ins Bett gekrochen, quengelnd und fiebrig, und es hatte lange gedauert, bis Ulli ihn beruhigt hatte.

Der Kleine ging seit ein paar Wochen in den Kindergarten und brachte seitdem einen Infekt nach dem anderen nach Hause.

Gegen sechs wachte van Appeldorn auf, weil er pinkeln musste, und als er ins Schlafzimmer zurückkam, hatten seine beiden sich im Bett so breit gemacht, dass er sie aufwecken würde, wenn er wieder unter die Decke schlüpfte.

Eigentlich war er sowieso hellwach.

Er gönnte sich nur eine Katzenwäsche, stellte die Kaffeemaschine an und ging in den Keller hinunter, wo die Kartons standen, die er aus seinem früheren Leben mitgebracht hatte. Sie waren immer noch zugeklebt und unbeschriftet, deshalb dauerte es eine Weile, bis er den richtigen fand – den mit seinen alten Büchern.

Er schleppte die ganze Kiste ins Arbeitszimmer und suchte diejenigen zusammen, die er brauchte. Dann holte er sich einen Becher Kaffee aus der Küche und setzte sich an den Schreibtisch.

Er nahm sich die Bildbände vor: Kleve vor dem Zweiten Weltkrieg – hatten damals am rechten Spoyufer Häuser gestanden?

Er fand eine Menge Aufnahmen von der Unterstadt, aber keine einzige, die genau diesen Kanalabschnitt zeigte.

Das dicke Buch über den Krieg am Niederrhein, das er damals in einem Antiquariat gefunden hatte: viele Fotos, eindringliche Bilder von Zerstörung und menschlichem Elend, aber kein einziges, das seine Frage beantwortete.

Er hatte das Buch mehr als einmal gelesen, das wusste er noch, aber das meiste war ihm längst wieder entfallen.

Wo hatten sich die Menschen, die in der Stadt geblieben waren, während der Bombenangriffe aufgehalten? In ihren Kellern? In öffentlichen Luftschutzbunkern? Er glaubte sich zu erinnern, dass man in aller Eile noch Bunker gebaut hatte. Aber wo in der Stadt waren die gewesen? Hatte es am Opschlag einen gegeben?

Er machte einen Satz, als Ulli ihn von hinten umschlang.

«Morgen, ich wollte dich nicht erschrecken, sorry.»

«Ist schon gut.» Er zog sie auf seinen Schoß und küsste sie. «Schläft Paul noch?»

«Ja, Gott sei Dank. Er hat wohl auch kein Fieber mehr. Weiß der Himmel, was das wieder war.»

Sie rieb ihre Nase an seiner, stand dann auf und schaute sich die Bücher an. «Ich habe gar nicht gewusst, dass du dich für die Stadtgeschichte interessierst», sagte sie und klang ein klein wenig verunsichert.

«Na ja, das ist auch schon lange her», sagte er leichthin.

Dass er endlich eine seiner Pandorakisten geöffnet hatte, war ein kleines Wunder.

«Geht es um die Skelette, die ihr gestern gefunden habt?»

Er nickte nur, klappte die Bücher zu und stapelte sie auf.

Er wusste sehr gut, wen er fragen konnte, kannte jemanden, der während des Krieges in der Stadt gewesen war, aber er würde sich hüten, ihn aufzusuchen. Besser, er erkundigte sich im Stadtarchiv.

Ulli runzelte die Stirn. Norbert hatte den einsamen Entschluss gefasst, seinen Beruf strikt von seinem Familienleben zu trennen, was natürlich absurd war.

«Glaubst du, die Leute sind während des Krieges umgekommen?»

«Vielleicht, aber wir werden es erst sicher wissen, wenn Arend mit seinen Analysen fertig ist, und das kann dauern.»

Er ging zur Terrassentür und schaute hinaus. «Es scheint wieder ein herrlicher Tag zu werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir schon einmal so einen warmen Herbst hatten. Was wollen wir unternehmen?»

Sie lächelte nachsichtig. «Das überlegen wir beim Frühstück. Erst mal gucken, ob Paul wirklich schon wieder fit ist.»

«Okay, ich besorge in der Stadt ein paar Brötchen. Dann kann ich mir im Präsidium auch gleich die Fußballerliste abholen. Mal sehen, wer sich alles so eingetragen hat. Das Kind hat jetzt übrigens endlich einen Namen: ‹Euregio-Polizei-Fußballcup› oder ‹Politie›, da sind wir uns noch nicht einig.»

Ulli lachte. «Was hat denn die Euregio damit zu tun? Ich dachte, es geht um ein blödes Freundschaftsspiel zwischen dem Nimwegener Präsidium und euch.»

Auch van Appeldorn grinste. «Die holländischen Kollegen haben der Euregio das Preisgeld aus den Rippen geleiert, zweitausendfünfhundert Euro immerhin.»

Ulli klatschte in die Hände. «Wir werden reich! Oder bekommst du als Trainer etwa nichts von dem Batzen ab?»

«Keine Ahnung.»

 

Am Sonntagabend brachte van Gemmern selbst die letzten Gebeine in die Pathologie. «Genau wie bei den Kindern werdet ihr mit diesem hier nicht viel Arbeit haben», sagte er. «Für mich sieht es intakt aus.»

Dann schaute er sich um, ging langsam an den Bahren entlang, auf denen die wieder zusammengefügten Skelette lagen.

«Alle Achtung», entfuhr es ihm. «Dass ihr das so schnell geschafft habt!»

Bonhoeffer wunderte sich. Sie hatten viele Jahre lang gut zusammengearbeitet, einander auf die Schulter geklopft hatten sie nie. Nun denn, vielleicht war das Kompliment ja eher an Marie gerichtet. Die stand am Mikroskoptisch am anderen Ende des Raumes und hatte nur kurz gegrüßt, als van Gemmern hereingekommen war.

«Möchtest du vielleicht einen Kaffee? Wir haben ihn eben frisch aufgebrüht.»

Van Gemmern schüttelte sich. «Wenn ich noch mehr Kaffee trinke, hebe ich ab. Hat sich deine Schätzung bestätigt, was die Liegezeit angeht?»

«Ja», nickte Bonhoeffer, «ich bin gerade eben mit den Tests fertig geworden.»

«UV-Fluoreszenz?»

«Auch, Benzidinreaktion, Aminosäuren, Prolin, das ganze Spektrum. Zweiundsechzig bis fünfundsechzig Jahre, wie ich es mir gedacht hatte.»

«Und was treibt Marie dahinten?»

«Sie arbeitet an der Altersbestimmung der Leichen. Da gibt es ein neues Verfahren, höchst spannend.»

«Willst du mal durchschauen, Klaus?», rief Marie, die zwar weitergearbeitet, aber offenbar auch zugehört hatte. «Ich habe hier gerade einen besonders guten Schnitt.»

Van Gemmern ließ sich nicht zweimal bitten. Er schob die Brille auf die Stirn und schaute durchs Okular.

«Hm», brummte er, «was ist das?»

«Ein Schnitt von einem Zahn», antwortete Marie. «Du musst dir das so vorstellen wie bei den Jahresringen von Bäumen. Auch im Zahnzement kann man den Wechsel von Sommer und Winter feststellen. Man muss die Ringe nur abzählen, und schon weiß man, wie viele Jahre der Mensch gelebt hat.»

«Toll», sagte van Gemmern. «Und das funktioniert aufs Jahr genau?»

«So ziemlich, ich nehme immer einen Spielraum von dreißig Monaten an, um auf der sicheren Seite zu sein.»

«Toll», meinte van Gemmern wieder und lächelte sie versonnen an.

Bonhoeffer schlug die Augen gen Decke. Das konnte doch nicht wahr sein, van Gemmern hatte sich verknallt!

«Zur Todesursache kann ich bei keinem einzigen bisher etwas sagen», holte er den ED-Mann wieder auf die Erde zurück.

«Das ist seltsam.» Van Gemmern ging wieder zu den Bahren hinüber und betrachtete die Toten. «Sehr seltsam. Ich habe auch nichts …» Er hielt inne. «Na ja, ich siebe noch, vor morgen Nachmittag lege ich mich nicht fest. Wie sieht es bei euch aus? Können wir Norbert morgen um 14 Uhr unsere vorläufigen Berichte liefern?»

Dann stutzte er. «Da müsst ihr euch aber vertan haben!»

Er starrte das für ihn eindeutig jugendliche Skelett an, dem die Pathologen ein in der Länge voll ausgewachsenes linkes Bein zugeordnet hatten.

Dann hörte er Marie kichern und drehte sich um.

«Daran bin ich letzte Nacht fast verzweifelt», gab sie zu. «Durch deine Fotos wusste ich ja, dass die Knochen nebeneinandergelegen hatten, und habe irgendwann auch entdeckt, dass die linke Hüftpfanne merkwürdig ausgeleiert war und der Gelenkkopf hier am Oberschenkel durchaus hineinpassen konnte, trotzdem war ich komplett verunsichert. Aber gottlob gibt es Arend. Der hat heute Morgen nur einen Blick darauf geworfen: Klippel-Tréaunay-Weber-Syndrom. Ist übrigens extrem selten.»

«Das ist eine Fehlbildung, bei der es zu einem Längenriesenwachstum einzelner Gliedmaßen kommt», erklärte Bonhoeffer, «gefäßbedingt. Gibt es tatsächlich nicht so häufig, ist aber eben sehr auffällig.»

Van Gemmern richtete seinen Blick auf eine andere Bahre: das Skelett eines Kleinkindes mit einem ungewöhnlich großen Schädel.

«Das sieht nicht gut aus», murmelte er.

Drei

Die Berichte über den Knochenfund in den Lokalteilen der beiden Zeitungen waren, wie van Appeldorn gehofft hatte, kurz und sachlich gewesen, man hatte nicht einmal Fotos gebracht.

Dennoch waren schon am Samstagnachmittag die ersten Kamerateams und Reporter der Privatsender aufgetaucht, und über den Sonntag waren es noch mehr geworden.

Die Schutzpolizei hatte es geschafft, den Opschlag so weiträumig abzusperren, dass van Gemmern und seine Spurensicherung ungestört arbeiten konnten, aber allein die Anwesenheit der Fernsehleute brachte Unruhe in den Ort, halb Kleve schien sich an diesem Wochenende in der Unterstadt zu tummeln.

Als Norbert van Appeldorn am Montag früh ins Präsidium kam, erwartete ihn ein genervter Pressesprecher. «Die rennen mir hier die Bude ein», ächzte er. «Und ich kann nichts anderes tun, als sie mit irgendwelchen Floskeln abzuspeisen. So langsam brauche ich mal etwas Konkretes von euch.»

«Wir wissen doch selbst noch nichts», gab van Appeldorn zurück. «Aber okay, sag ihnen, dass die Knochen momentan von Pathologen, Historikern und Anthropologen untersucht werden. Und da es sich um einen historischen Fund handelt, werden wir wohl auch Archäologen anfordern müssen.»

«Stimmt das denn?» Der Kollege schaute ihn skeptisch an.

Van Appeldorn zuckte die Achseln. «Bonhoeffer wollte einen Anthropologen hinzuziehen. Aber er hat sich noch nicht wieder bei uns gemeldet. Setz für morgen um elf eine Pressekonferenz an. Bis dahin werden wir ja wohl zumindest ein vorläufiges Ergebnis haben.»

«Ich nagele dich darauf fest, Norbert.»

«Das kannst du.»

 

Im Büro begrüßte ihn ein ausgesprochen fröhlicher Bernie Schnittges.

«Ich habe die Wohnung am Blauen Himmel bekommen. Wenn ich will, kann ich sofort einziehen. Sie ist toll.» Er streckte van Appeldorn seine Hand entgegen. «Danke für die Vermittlung. Du hast was gut bei mir.»

Aber van Appeldorn winkte ab. «Keine große Sache. Hast du schon was gehört?»

«Klaus war eben da. Heute Mittag um zwei will er uns einen vorläufigen Bericht liefern, er bringt auch Arend mit – und Marie.»

«Wer ist Marie?»

«Arends neue Assistentin, wie es sich anhört.»

«Eine Anthropologin?»

Schnittges zuckte die Achseln. «Weiß ich nicht. Auf alle Fälle muss sie ein Genie sein, Klaus ist richtig ins Schwärmen geraten.»

«Klaus? Ins Schwärmen?» Van Appeldorn zog ungläubig die Augenbrauen hoch.

Bernie schmunzelte. «So würde ich es beschreiben, ja.»

«Ach was? Und? Hat er vielleicht auch irgendwas Sachdienliches preisgegeben?»

«Nur dass sich die Liegezeit bestätigt hat, ungefähr fünfundsechzig Jahre.»

«Dann geht uns das ja tatsächlich etwas an.» Es war Peter Cox, ihr Aktenführer, der hereingekommen war und die letzten Sätze gehört hatte. «Ich hab’s gestern in der Zeitung gelesen: ‹Skelettfund am Opschlag›, und mich gefragt, ob wir da vielleicht tätig werden müssen.» Er hängte seine Jacke über seinen Schreibtischstuhl und setzte sich. «Dann erzählt mal.»

Aber dazu kam es nicht, denn jetzt stand auch Penny in der Tür, die vierte in ihrem Team.

Penny Small, die junge Engländerin, arbeitete seit fast drei Jahren beim KK11 und war seit dem vergangenen Sommer mit Peter Cox verheiratet.

«Morgen.»

Schnittges schaute sie besorgt an. Sie sah aus, als hätte sie stundenlang geweint, und auch Peter war ungewohnt blass. «Was ist denn mit euch?», fragte er und biss sich sofort auf die Lippen. Vielleicht hatten die beiden Krach miteinander, und das ging ihn nun wirklich nichts an.

Aber Penny antwortete sofort: «Bei unserer Motorradtour ist jemand ums Leben gekommen.»

«Das ist ja furchtbar.»

«Jetzt setz dich mal hin, Mädchen», sagte van Appeldorn, «sonst kippst du uns noch um. Wie ist das denn passiert?»

Sie schüttelte nur stumm den Kopf, sodass Cox schließlich einsprang. «Es war am Freitag, gleich zu Beginn unserer Tour, kurz hinter Moyland. Gereon ist in einer Kurve weggerutscht und unter seine Maschine geraten. Er war sofort tot.»

Penny hatte sich inzwischen gesetzt und die Stirn in die Hände gestützt. «Ich begreife es einfach nicht. Er war direkt hinter mir, und es war eine völlig harmlose Kurve. Ich habe sie ganz locker genommen, und ich war sicher schneller als er.»

«Gereon?», fragte van Appeldorn. Der Name war ungewöhnlich. «Gereon Vermeer, der Ökobauer aus Bedburg?»

«Ja», bestätigte Cox. «Kanntest du ihn?»

«Wir kaufen manchmal in seinem Hofladen ein. Ich wusste nicht, dass er zu eurer Motorradgruppe gehört.»

«Doch, schon von Anfang an, seine Frau eigentlich auch.» Cox musste schlucken. «Aber Britta war diesmal nicht mit dabei, weil sie vor einer Woche ein Kind bekommen haben.»

«Ach du Scheiße!»

«Ich kann es einfach nicht begreifen», sagte Penny, jetzt lauter. «Gereon ist einer der besten Fahrer, die ich kenne. Und wieso ist er nicht abgesprungen? Man springt doch ab, wenn man die Kontrolle über die Maschine verliert, das macht man ganz automatisch.»

Es blieb eine Weile still.

Endlich fragte Cox vorsichtig: «Geht’s wieder?»