image1

Theologischer Kommentar zum Neuen Testament

Herausgegeben von

Ekkehard W. Stegemann Angelika Strotmann Klaus Wengst

 

 

Band 5

Klaus Haacker

Die Apostelgeschichte

Verlag W. Kohlhammer

Umschlagbild entnommen aus „Nestle-Aland – Novum Testamentum Graece“, S. 345

27. revidierte Auflage

© 1898,1993 Deutsche Bibelgesellschaft

 

 

1. Auflage 2019

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-026990-3

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-026991-0

epub: ISBN 978-3-17-026992-7

mobi: ISBN 978-3-17-056993-4

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort

Meine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Apostelgeschichte begann in meinem dritten Studiensemester mit der Teilnahme an einem Seminar bei Gustav Stählin in Mainz über Probleme der lukanischen Theologie. Abfassung, Abgabe und Rückgabe der Arbeit zogen sich über zwei Jahre hin und führten schließlich zu der Einladung, bei ihm eine Dissertation zu schreiben. Dazu musste ich mich allerdings vom Alten Testament losreißen, das mich bei Claus Westermann in Heidelberg zunehmend zu eigener exegetischer Arbeit verlockt hatte. Als Thema für die Dissertation schlug Stählin vor, das Reden vom Heiligen Geist bei Johannes und Lukas vergleichend zu untersuchen. Nach einem Jahr der Vorarbeiten drängte sich mir aber eine Konzentration auf das Johannesevangelium auf, bei der die Pneumatologie nur noch ein Kapitel beanspruchte. Aus den Vorarbeiten für den lukanischen Teil des ursprünglichen Themas sind jedoch im Laufe der Zeit mehrere Artikel über lukanische Texte und Themen entstanden.

Nach meiner Promotion erhielt ich von Otto Michel eine Stelle am Institutum Judaicum der Universität Tübingen mit dem Auftrag, die dortige Josephus-Forschung weiterzuführen, verbunden mit einem Lehrauftrag über „Frühgeschichte des Judentums im Zusammenhang mit dem Urchristentum“. Das bewirkte eine Rückkehr zur Apostelgeschichte und mündete in ein Forschungsprojekt über den Zusammenhang zwischen Biographie und Theologie des Apostels Paulus im Kontext der jüdischen Zeitgeschichte. Ein Probevortrag über dieses Thema bescherte mir 1974 die Berufung an die Kirchliche Hochschule Wuppertal. Dort habe ich bis zu meiner Emeritierung (2007) wiederholt Vorlesungen über die Apostelgeschichte und andere Lehrveranstaltungen gehalten, bei denen Acta-Texte eine wichtige Rolle spielten. Daraus erwachsene Publikationen trugen dazu bei, dass ich in den 90er Jahren eingeladen wurde, im Rahmen der von Peter von der Osten-Sacken konzipierten Kommentarreihe die Apostelgeschichte zu übernehmen. Zunächst mussten andere Verpflichtungen abgearbeitet werden, z.B. der Kommentar zum Römerbrief (1999) und die Neubearbeitung des Theologischen Begriffslexikons zum Neuen Testament (1997–2002), danach ein ebenfalls schon lange versprochenes Buch über Stephanus (Apg 6–7 und seine Wirkungsgeschichte, 2014). In all diesen Jahren habe ich ständig exegetische Beobachtungen und Lesefrüchte aus antiken Quellen zur Apostelgeschichte notiert sowie Literaturhinweise und Kopien von Sekundärliteratur gesammelt.

Bei der Kommentierung von Texten, die von jüdischen Menschen, ihren Traditionen und Institutionen handeln, schöpfe ich im vorliegenden Kommentar noch immer aus der Einarbeitung ins antike Judentum in den Jahren am Tübinger Institutum Judaicum. Als exegetisch besonders fruchtbar erwies sich die Beschäftigung mit den Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus, die in sprachlicher und sachlicher Hinsicht viel Licht auf das Neue Testament werfen. Die konfliktreichen Beziehungen zwischen christlichen Kirchen und dem jüdischen Volk in Geschichte und Gegenwart waren auch in meiner Lehrtätigkeit an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und in Tagungen und Gremien der Evangelischen Kirche im Rheinland ein wichtiges Thema. Ich hoffe, dass meine Auslegung die Relevanz exegetischer Beobachtungen für diesen Horizont deutlich genug markiert, ohne die Gewichte gegenüber dem eigenen Gefälle des lukanischen Werkes zu verschieben.

Gustav Stählin (1900–1985), Altphilologe und Theologe, leitete zu genauer Wahrnehmung des griechischen Textes an, betonte den Zusammenhang zwischen den beiden Testamenten, würdigte aber auch die vielen Berührungen mit der sonstigen antiken Literatur. Diesen Dreiklang wird man vielleicht auch aus meinem Kommentar heraushören.

Dem für diesen Band zuständigen Herausgeber Klaus Wengst schulde ich heißen Dank für Hinweise auf formale Unregelmäßigkeiten und sachliche oder sprachliche Schwachstellen, trage aber die volle Verantwortung für stehen gebliebene Mängel. Das Manuskript lag im Herbst 2017 druckfertig vor, sprengte aber die für die Kommentarreihe vorgesehene Seitenzahl. Die notwendigen Kürzungen verlangten nicht nur Auslassungen und knappere Formulierungen im Haupttext, sondern leider auch den Wegfall vieler (dankbarer oder kritischer) Hinweise auf Sekundärliteratur. Darum werden manche Probleme jetzt kürzer besprochen, als ich es vorgesehen hatte, und viele Anmerkungen mit Literaturhinweisen mussten wegfallen. Ich bitte Kollegen und Kolleginnen, die sich vernachlässigt fühlen, um Nachsicht im Gedanken an Privatleute, für die der Band bezahlbar bleiben sollte. Hinweise auf eigene Veröffentlichungen dienen als Ersatz für ein weiteres Ausholen im Zuge der Auslegung. Über briefliche oder digitale Feedbacks (klaus.b.haacker@gmx.de) würde ich mich freuen, besonders über Fehleranzeigen und Verbesserungsvorschläge für künftige Auflagen. Zu manchen übergreifenden Fragen zum lukanischen Werk könnte ich aufgrund meiner Einzelexegesen die eine oder andere Studie nachliefern – Deo volente (vgl. Apg 18,21).

 

Klaus Haacker

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1.  Ein Buch ohnegleichen

2.  Zur Überschrift

3.  Zur Verfasserschaft

4.  Zur Abfassungszeit

5.  Literarischer Charakter und anvisiertes Publikum

6.  Zur handschriftlichen Überlieferung

7.  Übersetzungsfragen

8.  Quellen

9.  Historische Kritik

10.  Erzählzeit und erzählte Zeit

11.  Auseinandersetzung mit anderen Auslegungen

12.  Formales

I.  Der Meister geht – sein Auftrag bleibt

1,1–11:  Der Abschied vom „irdischen“ Jesus

1,12–26:  Erste Schritte der „Hinterbliebenen“ Jesu

II.  Eine neue Zeit im Zeichen des Geistes bricht an

2,1–13:  Eine geistliche Überschwemmung

2,14–41:  Ein erster öffentlicher Auftritt des Petrus

2,42–47:  Alltag in der Urgemeinde

III.  Ein Konflikt um die Heilung eines Gelähmten

3,1–11:  Heilung statt einer „milden Gabe“

3,12–26:  Eine Rede des Petrus: vom Staunen zum Glauben lockend

4,1–22:  Die Heilung weckt Argwohn. Wiederholung unerwünscht!

4,23–31:  Die Reaktion der Gemeinde auf diesen Konflikt

4,32–34:  Vorbildliche Verhältnisse im Zusammenleben

IV.  Schwierige Zeiten in Jerusalem

5,1–11:  Zwei „schwarze Schafe“ in der vorbildlichen Herde

5,12–16:  Auf dem Höhepunkt der Beliebtheit

5,17–32:  Der Konflikt mit dem Hohen Rat eskaliert

5,33–42:  Ein Fürsprecher verhütet das Schlimmste

6,1–7:  Eine Reform des Versorgungswesens

6,8–15:  Von Disputation zu Denunziation

7,1–53:  Stephanus verteidigt sich – und kontert

7,54 – 8,1a:  Tod im Tumult

V.  „Wege des Wortes“ von Jerusalem nach Norden

8,1b–13:  Ein Abbruch bewirkt einen Aufbruch. Erste Etappe: Samaria

8,14–25:  Eine Visitation aus Jerusalem

8,26–40:  Afrika (und mehr!) kommt in Sicht

9,1–9:  Ein Verfolger wird entwaffnet …

9,10–19a:  … und in die Gemeinde aufgenommen

9,19b–25  Eifer unter neuem Vorzeichen

9,26–31:  Alte und neue Ängste in Jerusalem

9,32–43:  Szenenwechsel: Petrus wirkt außerhalb von Jerusalem

10,1 – 11,18:  Ein Bekehrer wird bekehrt

10,1–23a:  Vorspiele an zwei Schauplätzen

10,23b–33:  Eine bahnbrechende Begegnung

10,34–43:  Von Jesus reden – vor ganz neuem Publikum

10,44–48:  Geistbegabung – und Geistesgegenwart!

11,1–18:  Ein Missionar an der „Heimatfront“

11,19–26:  Grenzmauern bröckeln, die Bewegung weitet sich aus

11,27–30:  Eine Kollekte für die Muttergemeinde in Jerusalem

12,1–19:  Eine Konfrontation mit dem letzten König von Judäa

12,20–25:  Eine Absage an den Herrscherkult

VI.  Die „erste Missionsreise“ des Paulus (mit Barnabas)

13,1–3:  Aufbruch zu neuen Ufern

13,4–12:  Barnabas und Paulus auf Zypern

13,13–25:  Ins Innere Kleinasiens: Predigt in einer Diaspora-Synagoge

13,42–47:  Offenheit, Aufsehen und Abwehr

13,48–52:  Das Wort greift um sich, – die Boten werden verjagt

14,1–7:  Erfolge und Widerstände in Ikonion

14,8–20a:  Wunder und Religion: ein Lehrstück aus Lystra

14,20b–28:  Seelsorgliche „Nacharbeit“ auf der Rückreise

VII.  Die erste Missionskonferenz der Kirchengeschichte

15,1–6:  Die Streitfrage: Anschluss an Jesus als Konversion zum Judentum?

15,7–12:  Ein Votum des Petrus findet Anklang

15,13–21:  Ein Antrag des Jakobus

15,22–35:  Ein einmütiger Beschluss und seine Bekanntmachung

VIII.  Missionsarbeit in Kleinasien, Mazedonien und Griechenland

15,36–41:  Fehlstart und Neustart

16,1–5:  Ein neuer Mitarbeiter: Timotheus

16,6–10:  Auf der Suche nach neuen Ufern für das Evangelium

16,11–15:  Die Gründung einer Gemeinde in Philippi

16,16–24:  Eine Kollision mit geschäftlichen Interessen

16,25–34:  Erschütterungen durch ein Erdbeben

16,35–40:  Abreise als moralische Sieger

17,1–9:  Thessalonich: eine junge Gemeinde im Kreuzfeuer

17,10–15:  Eine aufgeschlossene Synagoge – Störfeuer von auswärts

17,16–34:  Ein denkwürdiger Auftritt in Athen

18,1–4:  Neustart mit halber Kraft in Korinth

18,5–11:  Eine Abspaltung von der Synagoge

18,12–17:  Ein vergeblicher Appell an die römische Justiz

18,18–23:  Weitere Reisen, kurz notiert

IX.  Berichte vom Schauplatz Ephesus

18,24–28:  Ein neuer Stern am urchristlichen Himmel: Apollos

19,1–7:  Von Johannes dem Täufer zur Gemeinde Jesu

19,8–12:  Erfolgreiches Wirken in der Provinz Asien

19,13–20:  Siege über die Magie in Ephesus

19,21–22:  Neue Reisepläne des Paulus

19,23–40:  Ein Konflikt zwischen heimischer Wirtschaft und Missionspredigt

X.  Paulus auf dem Weg nach Jerusalem

20,1–6:  Summarische Reisenotizen aus längerer Zeit

20,7–12:  Glück gehabt!

20,13–17:  Reisestationen zwischen Philippi und Milet

20,18–38:  Abschiedsworte an Gemeindeleiter aus Ephesus

21,1–6:  Eine Zwangspause in Tyrus

21,7–17:  Zu Gast bei Philippus in Caesarea

XI.  Dramatische Tage in Jerusalem

21,15–26:  Gemischte Gefühle beim Empfang in Jerusalem

21,27–36:  Befürchtungen werden wahr!

22,1–16:  Paulus: Warum ich ein anderer Mensch wurde

22,17–21:  Noch einmal umdenken!

22,22–29:  Paulus zieht die Notbremse

22,30 – 23,11:  Vergebliche Ermittlungen durch das Synhedrium

23,12–35:  Ein Attentatsplan gegen Paulus misslingt

XII.  Paulus vor römischen Richtern

24,1–21:  Vor dem Statthalter Antonius Felix

24,1–9:  Das Auftreten der Ankläger

24,10–21:  Die Gegenrede des Paulus

24,22–27:  Eine fragwürdige Vertagung

25,1–12:  Die Wende im Prozessverlauf unter Porcius Festus

25,13–27:  Hoher Besuch zeigt sich interessiert

26,1–23:  Das Selbstporträt des Paulus vor Agrippa II.

26,24–32:  Ein Achtungserfolg

XIII.  Auf abenteuerlichen Umwegen nach Rom

27,1–12:  Von Caesarea nach Kreta

27,13–44:  In Seenot – Paulus als Seelsorger und Ratgeber

28,1–10:  Überwinterung auf Malta

28,11–16:  Von Malta nach Rom

XIV.  Erste Schritte in Rom – Ende offen!

28,17–22:  Auch in Rom: Zuerst zu den Juden

28,23–28:  Ein Versuch der Verständigung mit jüdischen Honoratioren

28,30–31:  Paulus im Wartestand – nicht im Ruhestand!

Literatur

Biblische Schriften

Außerbiblische Quellen

Hilfsmittel

Sekundärliteratur

Register

Einleitung1

1.  Ein Buch ohnegleichen

Die Apg ist die einzige erhaltene Quelle über die Anfänge des Christentums. Die sonstigen Schriften des Neuen Testaments stammen zwar aus der Geschichte des Urchristentums, liefern aber kaum zeitgenössische Berichte über das Urchristentum. Ohne die Apg besäßen wir nur ganz wenige historische Daten über die ersten Jahrzehnte der Kirchengeschichte: einige Ortsnamen aus den Adressen der Briefe, einige Namen aus den Grüßen und Personalnachrichten am Ende der Briefe oder Erwähnungen von Beteiligten im Text, einige Anspielungen auf innerkirchliche Konflikte oder äußere Widerstände – mehr nicht. Wer sich für die Anfänge des Christentums interessiert, muss also die Apg lesen und auswerten. Das gilt besonders für die frühe Entwicklung in Jerusalem und Judäa, aber auch für die Entstehung von Gemeinden in Syrien, Kleinasien und Griechenland. Das liefert wertvolle Hintergrundinformationen zum Verständnis vieler Passagen in der Briefliteratur. Die Apg steht damit für uns literaturgeschichtlich in einer Reihe mit Suetonius und Tacitus (für die frühe römische Kaiserzeit) und mit Flavius Josephus (dem jüdischen Chronisten der Geschichte seines Volkes von 169 v. Chr. bis 74 n. Chr.).

2.  Zur Überschrift

Die Überschrift „Apostelgeschichte“ ist keine genaue Übersetzung des griechischen Titels, und der stammt auch sicher nicht von Lukas. Genauer übersetzt, müsste sie lauten „Taten von Aposteln“. Das klingt nach christlichen Heldenlegenden. Lukas hätte diesem Buchtitel nicht zugestimmt; er legt immer wieder großen Wert darauf, dass er keine menschlichen Großtaten zu berichten hat, sondern ein Handeln Gottes an Menschen und durch Menschen. Wenn Lukas erzählt, dass durch Petrus oder Paulus ein Wunder geschehen ist, dann verwahren sie sich ausdrücklich gegen das Missverständnis, als ob sie die großen Macher und womöglich Magier wären und entsprechend verehrt werden müssten (3,12–16; 14,14f.) Auch die Erfolge der urchristlichen Missionspredigt werden nicht den Aposteln selbst zugeschrieben, sondern dem Wirken Gottes in den Herzen der Menschen (vgl. u. a. 2,41.47; 11,21; 16,14). Das eigentliche „Subjekt“ des Geschehens ist für Lukas das Wort Gottes. Er sagt nicht: „Die Kirche wuchs“, sondern: „Das Wort Gottes breitete sich aus“ (Apg 6,7; 13,49) oder: „Das Wort Gottes wuchs.“ (12,24) Das Urchristentum ist eine „Gotteswort-Bewegung“, seine Geschichte das Umsichgreifen des Wortes Gottes. Darum gebrauche ich das Wort „Kirche“, das heute an große Organisationen und etablierte Institutionen denken lässt, weniger häufig als andere Ausleger und bevorzuge den Ausdruck „Jesusbewegung“.2 Wenn ich stattdessen auch von der „Schule Jesu“ spreche, so ist das nicht nur gelegentlich ein „inklusiver“ Ersatz für den Plural von „Jünger“, sondern Ausdruck einer Überzeugung, die ich mit dem Althistoriker Edgar A. Judge teile: Die urchristlichen Gruppen waren religionssoziologisch keine „Kultvereine“, sondern Lehr- und Lerngemeinschaften nach Art philosophischer Strömungen der Antike, die einem Gründer verpflichtet waren wie v. a. die Epikureer. 3 Dafür spricht der Gebrauch der Vokabel mathētês (Jünger) für Personen, die nicht schon zum vorösterlichen Umfeld Jesu gehörten. Der Glaube an Jesus geht allerdings als lebendige Beziehung zu einem Lebenden über alles bloß Lehrhafte hinaus und beruht auf seiner einzigartigen Gottesbeziehung und dem Handeln Gottes durch ihn und an ihm.

3.  Zur Verfasserschaft

Die Apg ist der zweite Teil eines größeren Werkes; vgl. die Widmung an einen gewissen Theophilus in Lk 1,3 und dessen erneute Anrede in Apg 1,1. Wir sprechen darum vom „lukanischen Werk“, um Lk und Apg zusammenfassend zu bezeichnen. Mit „Lukas“ ist ein zeitweiliger Begleiter des Paulus gemeint, der dreimal im Neuen Testament erwähnt wird (Kol 4,14; Phlm 24; 2 Tim 4,11). Er war von Beruf Arzt, und manche Forscher finden im Wortschatz des lukanischen Werkes Vokabeln, die gut zu einem Arzt passen würden. Dass dieser Lukas das dritte Evangelium und die Apg verfasst habe, ist eine altkirchliche Tradition, die sich vor allem in der Überschrift des dritten Evangeliums niedergeschlagen hat.4 Gegen diese Tradition wurde oft eingewandt, dass seine Denkweise sich zu sehr von der des Paulus unterscheide. Dabei wurde jedoch ein Grad von Übereinstimmung zum Maßstab erhoben, der nicht einmal bei einem Lehrer-Schüler-Verhältnis garantiert wäre. Die Acta-Forschung steht jedoch dieser Verfasserangabe immer noch überwiegend reserviert gegenüber. Sie kann darum bei der Auslegung konkreter Texte nicht als verlässliche Voraussetzung eingebracht werden. Ich verwende im Folgenden den Verfassernamen Lukas als Chiffre für den Verfasser. Ein ständiges „Lukas“ oder Lukas(?) wäre unnötig ablenkend.

Eine Identifikation mit dem Lukas der Paulusbriefe würde bedeuten, dass es sich bei ihm nach Kol 4,10–11.14 um einen Nichtjuden handeln würde. So die verbreitete Deutung dieser beiden Stellen, die darauf beruht, dass der in V. 14 genannte Lukas zu den „Mitarbeitern“ des Paulus gehörte, von denen nach V. 10–11 nur die dort genannten drei Juden waren. Die Bezeichnung „Mitarbeiter“ könnte aber für eine feste Zusammenarbeit stehen, die auf Lukas nicht zutraf. Eine Lektüre der Apg stößt auf eine Vertrautheit mit den heiligen Schriften und anderen jüdischen Traditionen sowie innerjüdischen Konflikten, die bei einem Nichtjuden kaum vorstellbar ist. Besonders die Einfühlung in jüdische Frömmigkeit und das Einverständnis mit nationalen Hoffnungen des Judentums (besonders in Lk 1–2) würden bei einem „Heidenchristen“ überraschen. Der Verfasser der Apg könnte ein Proselyt gewesen sein, der schon vor dem Anschluss an die Jesusbewegung mit den heiligen Schriften und den Wesenszügen des Judentums vertraut geworden war. Er könnte z.B. zu den „Hellenisten“ gehört haben, die Erfahrungen der Jerusalemer „Urgemeinde“ miterlebt hatten, dann aber flüchten mussten und an der Ausbreitung der Jesusbewegung außerhalb Judäas mitwirkten (vgl. 8,1; 11,19–21). Nach dem ersten Satz des Prologs zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) geht es in ihm um Ereignisse, die sich „unter uns zugetragen haben“. Damit macht sich der Autor nicht nur zum Zeitgenossen vieler Ereignisse, sondern stellt sich als Glied einer Gemeinschaft hin, die das Erzählte erlebt hat oder davon betroffen war. Allerdings nach V. 2 nicht „von Anfang an“, wobei an die vorösterliche Jesusgeschichte gedacht sein dürfte, für die er auf die Berichte von Augenzeugen angewiesen war. Dass diese Augenzeugen zu Dienern des Wortes geworden seien, passt vor allem auf den Zwölferkreis (vgl. Lk 6,12–16), aber auch auf Frauen, die nach Lk 8,1–3 zur Begleitung Jesu gehörten und an seiner Predigttätigkeit mitwirkten. Mit Verwunderung liest man häufig, dass Lukas ein Mann der „dritten Generation“ des Urchristentums sei. Das klingt nach einem Zwischenglied zwischen diesen „Augenzeugen“ (die zu „Dienern des Wortes“ wurden) und dem Schriftsteller. Dafür fehlt jeder Hinweis. In Lk 1,3 ist das Verbum parakoloutheín früher weithin als Hinweis auf gezielte Forschungen verstanden worden; es meint aber eher das Mitverfolgen von Ereignissen aus mehr oder weniger großer Nähe5.

4.  Zur Abfassungszeit

Über die Abfassungszeit der Apg gibt es keinen Konsens, sondern eine seit einiger Zeit sogar wieder gestiegene Bandbreite.6 Während manche Forscher (wie schon Johann Albrecht Bengel im 18. Jh.) auch heute mit einer Abfassung zu Lebzeiten des Paulus rechnen, war eine Datierung im späten 1. Jh. n. Chr. lange Zeit Konsens, allerdings nur auf Grund einer groben Schätzung, weil Lk 19,43f. und 21,20.24 als rückblickende Anspielungen auf die Einnahme Jerusalems verstanden wurden.7 Für die Abfassung der Apg nach dem Evangelium wurde – über den Daumen gepeilt! – ein Jahrzehnt oder mehr angesetzt. Neuere Stimmen, die sie wie Ferdinand Christian Baur (1792–1860) ins 2. Jh. n. Chr. verschieben, ignorieren die zeitgeschichtlichen Kenntnisse, die ein Schriftsteller des 2. Jahrhunderts kaum noch haben konnte.

Den „Terminus a quo“ (das zuletzt erwähnte Ereignis) liefert der Hinweis in Apg 28,16.30 auf die „vollen zwei Jahre“ des Paulus in Rom vor einer Wiederaufnahme seines Prozesses (28,16.30). Aus der Datierung des Wechsels von Antonius Felix auf Porcius Festus als Statthalter von Judäa im Frühsommer des Jahres 58 n. Chr.8 ergibt sich, dass Paulus im Frühjahr 59 n. Chr. nach Rom kam. Anspielungen auf das Blutbad unter den Christen nach dem Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. fehlen völlig. Ob das Martyrium des Paulus selber von Lukas durch Andeutungen vorausgesagt9 und als Faktum und bekannt vorausgesetzt wird, ist umstritten. Offen bleibt seltsamer Weise, ob die für Paulus tröstliche visionäre Weissagung einer Vernehmung durch den Kaiser (27,24: ein Engelwort!) in Erfüllung gegangen ist.

Eine annähernd gesicherte Datierung des Werkes wäre natürlich erwünscht als Basis für eine Einschätzung seines historischen Quellenwertes; aber Wunschdenken gilt hier nicht.10 Die Bandbreite möglicher Datierungen behindert jeden Versuch, die Intentionen des Schriftstellers auf eine bestimmte Phase der Entwicklung des Urchristentums festzulegen. Besonders die früher verbreitete Annahme eines linearen Abnehmens der Naherwartung der Wiederkunft Jesu hat sich als unbegründet erwiesen und eignet sich nicht als Indiz für Datierungen und Intentionen des Verfassers.11 Darum halte ich es für angebracht, bei der Auslegung der Texte von keiner positiven These über die Identität des Verfassers und die Zeit der Abfassung auszugehen. Allerdings notiere ich wiederholt Beobachtungen an Texten, die Denkanstöße zu beiden Fragen liefern.

5.  Literarischer Charakter und anvisiertes Publikum

Auch die Zuordnung der Apg zu literarischen Gattungsbegriffen wie „Geschichtsschreibung“, „Biographie“ bis hin zu „Roman“12 ist seit Jahren derart im Fluss, dass keine strenge Festlegung zur Grundlage der Textauslegung gemacht werden kann.13 Rückschlüsse auf die Intentionen und die Arbeitsweise des Verfassers erlaubt jedoch der schon erwähnte Prolog in Lk 1,1–4, der einzige Buchanfang dieser Art im Neuen Testament. Schon die sprachliche Form dieses Vorwortes meldet einen literarischen Anspruch an. Wenn diese vier Verse einen einzigen komplizierten Satz bilden, so handelt es sich um gehobenen Stil, nicht um anspruchslose Umgangssprache. In der Fortsetzung geht es nicht in diesem Stil weiter – in Treue zu verwendeten Quellen oder nach dem Vorbild biblischer Erzählbücher und/oder einem breiteren Publikum zuliebe. Wenn Lukas trotzdem in der Einleitung „gehobener“ redet, so gibt er damit gewissermaßen seine Visitenkarte ab: Mögen die Erzählungen, die er gesammelt und zusammengestellt hat, auch in schlichter Sprache gehalten sein, – Lukas selbst will sich durch sein Vorwort offenbar einem gebildeten Publikum als gebildeter Autor zu erkennen geben.14 Dieses Vorwort verrät viel über die Zielsetzung des lukanischen Werkes, vor allem die im Neuen Testament singuläre Widmung an eine konkrete Person in V. 3: Mit der Widmung eines Buches ehrt ein heutiger Autor oft einen weniger bekannten ihm wichtigen Mitmenschen. In der Antike war das umgekehrt: Nicht die Schriftsteller ließen vom Glanz ihres Namens einen Schimmer auf die so Geehrten fallen; vielmehr stellte sich der Autor mit seiner Widmung in den Umkreis einer Person des öffentlichen Lebens. Das gilt wohl auch von Lukas: Die Anrede des Theophilus mit krátiste Theóphile deutet auf einen hohen sozialen Status dieses Mannes. An drei weiteren Stellen mit dieser Anrede ist ein römischer Statthalter angesprochen (vgl. 23,26; 24,3; 26,25). Als deutsches Äquivalent kommt die Anrede Exzellenz in Frage. Die Ehrung eines solchen Würdenträgers durch die Widmung eines literarischen Werkes war in der Antike keine bloße Verbeugung, sondern so etwas wie ein Antrag auf öffentliche Förderung. Die angeredete Person sollte sich für die Beachtung und Verbreitung des betreffenden Buches einsetzen.15 Gelegentlich wird bezweifelt, ob mit „Theophilus“ eine konkrete Person gemeint ist. Der Name bedeutet ja „Gottlieb“ oder „Gottesfreund“ und könnte darum als Chiffre für alle religiös aufgeschlossenen Leser und Leserinnen gemeint sein. Aber das Prädikat krátistos spricht für eine konkrete Person. Josephus erwähnt Personen dieses Namens, die dem priesterlichen Hochadel entstammten (Ant 17,78; 18,123). Manche Berichte der Apg könnten implizit an politische Amtsträger adressiert sein, um Verdächtigungen des Christentums zu widerlegen. Dass Lukas sein Werk mit einer solchen Widmung beginnt, spricht dafür, dass er nicht nur für Gemeindeglieder schreibt, sondern sich an ein breiteres Publikum wendet.16 Die Wortwahl der Anspielung auf Vorkenntnisse in V. 4 erinnert uns zwar an Begriffe wie „Katechese“ und „Katechismus“, ist aber im damaligen Griechisch kein Fachwort für gezielte Unterweisung, schon gar nicht mit religiösem Beiklang. Fast nichts in diesen ersten Versen lässt vermuten, dass es sich um ein christliches oder sonstwie religiöses Werk handelt. Wir erfahren nur: Ein Insider verspricht interessierten Kreisen genauere Informationen über die Bewegung, der er angehört.

Darüber hinaus greift Lukas weitere Motive antiker Buchanfänge auf. Damit beweist er nicht nur seine literarische Bildung; er gibt dabei auch Hinweise auf die Art von Literatur, die sein Werk den Lesern verspricht. Besonders vier Motive verdienen Beachtung:

1. Der Hinweis auf die vielen, die den gleichen Gegenstand auch schon behandelt haben. Damit verbinden sich häufig kritische Bemerkungen über die Vorgänger.17 Darauf verzichtet Lukas – vielleicht weil er seine Vorgänger (beim Evangelium) nicht diskreditieren will. Denkbar ist bloß, dass der Anspruch der „Genauigkeit“ eine leise Kritik an Vorgängern enthält (z. B. am Markusevangelium). Der Hinweis auf Vorgänger reduziert sich damit zu einem Indiz für die Wichtigkeit seines Gegenstandes.

2. Die Berufung auf Augenzeugen: Das ist seit Thukydides das A und O solider Geschichtsschreibung. Personen der Handlung werden von Lukas z. T. ausdrücklich als Quelle der aufgenommenen Tradition erwähnt (Lk 2,19–20. 51; 24,9.22–23.35). Die Namensnennung bei sonstigen Nebenpersonen kann als stiller Hinweis auf die Herkunft einer Überlieferung gemeint sein (Lk 8,2–3; Lk 24,18 in Verbindung mit Joh 19,25; Apg 7,58; 9,12; 12,13; 17,34; 19,29; 21,8). Die Bedeutung von Augenzeugen der Geschichte Jesu wird von Lukas wiederholt hervorgehoben (1,21–22; 10,39; 13,39).

3. Der Anspruch, alles in einer sachgemäßen Ordnung vorzutragen. Das könnte als chronologisch angeordnete Darstellungung gemeint sein, erlaubt aber auch andere (z. B. geographische) Anordnungsprinzipien. Lukas bietet allerdings deutlich mehr und z.T. genauere chronologische Angaben als alle anderen Autoren des Neuen Testaments.18

4. Besonders wichtig ist die Zielangabe: Lukas verspricht seinem Publikum „gesicherte Erkenntnis“. Das ist eine Vokabel der Gerichtssprache und der Geschichtsforschung: Bloße Gerüchte können trügen. Kritische Prüfung von Berichten ist keine Erfindung der Moderne. Schon antike Geschichtsschreiber wussten um diese Aufgabe (vgl. Thukydides I 20.22), und Lukas reiht sich hier in ihre Zunft ein. Eine Affinität zwischen der Sprache des Lukas zur Rechtsprechung ist auch erkennbar beim Wortfeld mártys (Zeuge)19, das von ihm vor allem für den öffentlichen Protest gegen die Verurteilung und Hinrichtung Jesu verwendet wird. In der Handlung der Apg nimmt dann der Prozess gegen Paulus breiten Raum ein, dessen Ende am Schluss noch offen ist. Schon vorher zitiert Lukas wiederholt Vorwürfe gegen Paulus und sein Team (16,21; 17,7; 18,13; 19,25–27). Eine Kriminalisierung der „Christianer“ durch die Volksmeinung der Römer ist für die 60er Jahre durch Tacitus (Ann. 15,44,3) belegt; sie ermöglichte ihre Denunzierung als angebliche Brandstifter nach dem Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. Es kann darum als sicher angenommen werden, dass Lukas in der Luft liegende Fehlurteile über Jesus und die von ihm ausgelöste Bewegung korrigieren will. Man kann das als seine „apologetische“ Tendenz bezeichnen, muss aber klarstellen, dass es dabei nicht nur darum geht, geduldet und von Pressionen verschont zu werden. Vielmehr soll die Überwindung von Vorurteilen eine Aufgeschlossenheit der Herzen für die Botschaft ermöglichen, die das treibende Motiv der Jesusbewegung ist. Die große Zahl der Reden, die von Juden an jüdische Hörer und Hörerinnen adressiert sind, spricht für ein jüdisches Publikum als mindestens eine Zielgruppe des Werkes.20

6.  Zur handschriftlichen Überlieferung

Als in der Regel verlässliche Übersetzungsgrundlage betrachte ich den heutigen „Standardtext“ des Neuen Testaments, der auf der Annahme beruht, dass die große Masse der Handschriften, die nach dem Ende der Christenverfolgungen produziert wurden, nicht so viel Gewicht hat wie ältere Handschriften (z.T. auf Papyrus). Entscheidungen zwischen konkurrierenden Lesarten werden primär nach „inneren Kriterien“ getroffen, die auf häufig erkennbaren Fehlerquellen beim Abschreiben beruhen. Handschriften, in denen die typischen Fehlerquellen weniger häufig auftreten, genießen darum besonderes Vertrauen. Diese „inneren Kriterien“ können aber auch gegen diese „guten“ Handschriften den Ausschlag geben, was in Proseminaren oft nicht klar genug vermittelt wird. Zu beachten ist, dass die Zeichensetzung in den Editionen nicht aus den Handschriften stammt, sondern auf Auslegung und modernen Interpunktionsregeln beruht und darum nicht einheitlich erfolgt, worauf im Greek New Testament in Fußnoten hingewiesen wird. Ähnliches gilt auch von der Gliederung des Textes in Absätze (mit oder ohne Zeilenumbruch).

Nach dem Vorbild meines Doktorvaters Gustav Stählin in seinem Kommentar von 1962 teile ich (meistens nur in Fußnoten) auffällige Sonderlesarten des Codex Bezae (in Fußnoten: „D“) mit, die z.T. auf eine bewusste Bearbeitung in (einem?) „Vorfahren“ dieser Handschrift zurückgehen, – ein Sonderfall in der Überlieferung des Neuen Testaments.21 Eine Minderheit von Gelehrten hält diesen Vorgänger des Codex Bezae für das ursprüngliche Exemplar der Apg, das später weitgehend durch eine zweite Auflage verdrängt wurde.22 Überschüsse wie die Erwähnung von Königen und Tyrannen in 5,39 klingen m. E. mehr nach späteren Zusätzen zum Original. Beachtung verdienen die auffälligen Übereinstimmungen zwischen Codex Bezae und dem Papyrus 127.23

7.  Übersetzungsfragen

Über das in Kommentaren übliche Maß hinaus erwähne ich einen Korrekturbedarf zu den im deutschen Sprachraum einflussreichsten Bibelausgaben – der Lutherbibel (LÜ) und der katholischen Einheitsübersetzung (EÜ). Von anderen neueren Übersetzungen ins Deutsche verdient die Neue Genfer Übersetzung (NGÜ) besondere Beachtung, weil sie am Rande diskutable Alternativen zu der im Haupttext bevorzugten Übersetzung angibt.24

Meine eigene Übersetzung zielt auf die heute gebräuchliche deutsche Allgemeinsprache. Das ist nicht selbstverständlich, weil viele Ausleger sich unreflektiert der kirchlichen Sondersprache bedienen, die Archaismen enthält oder Wörter in einer veralteten Bedeutung benutzt. Darum spare ich bei der Verwendung kirchlicher Sondersprache zugunsten der Alltagssprache, ohne den traditionellen Wortschatz zu verdrängen.25 Der Übergang von einer Generation zur anderen vollzieht sich ja nicht in Sprüngen, sondern in einer gleitenden Verjüngung. Zur sprachlichen Verjüngung gehört auch die allmähliche Gewöhnung an inklusive Ausdrucksweisen, die nicht durch verordnete und sofort konsequent befolgte Sprachregelungen populär gemacht werden können.

Zweitens schicke ich voraus, dass ich wenig Wert darauf lege, den Ausgangstext bei der Übersetzung nach Möglichkeit nachzuahmen, was nach Wilhelm von Humboldt (!) nur für Leser und Leserinnen, die auch den griechischen Text lesen können, von (begrenztem) Nutzen ist. Für die übrigen „wird Anpassung des übersetzten alten Schriftstellers an den modernen Leser, also oft Abweichung von der Treue erfordert“.26 Das Anliegen einer „kommunikativen“ Übersetzung ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern viel älter.

8.  Quellen

Die gelegentlichen Aussagen in der Wirform in Berichten, in denen Paulus vorkommt (16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1 – 28,16), können vom Verfasser selbst stammen, aber auch aus benutzten Quellen.27 Im Codex Bezae taucht dieses Wir sogar schon in 11,28 auf, womit der Wir-Erzähler in der Gemeinde von Antiochia lokalisiert wird. Danach könnte er zu den „Hellenisten“ gehören, die nach dem Tod des Stephanus Jerusalem verlassen hatten und in Antiochia wirkten (11,19–20). Die Diskussion über das Für und Wider einer zusammenhängenden „Wirquelle“ der Apg kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Gegen die Vermutung, dass Lukas nur fiktional den Eindruck von Erinnerungen eines Augenzeugen erwecken möchte, spricht erstens seine Selbstaussage im Prolog und zweitens die Tatsache, dass in Wir-Stücken Details erwähnt werden, die keinen Nutzwert für das Lesepublikum erkennen lassen. Auch kommt in ihnen wiederholt die emotionale Betroffenheit der Mitreisenden zur Sprache, was natürlich von einem „allwissenden Erzähler“ erfunden sein könnte, aber m. E. eher für Erlebnisechtheit spricht (vgl. 16,10; 21,12.14; 27,27; 28,f.).

9.  Historische Kritik

Dass Wunder und Visionen nicht per se als unhistorisch einzustufen sind, dürfte im Zeichen der Postmoderne konsensfähig sein. Leider hat die Aufklärung bei ihrem Befreiungsschlag gegen kirchliche Fremdbestimmung des Denkens alte Dogmen durch neue Dogmen ersetzt, die für die Wahrnehmung der Wirklichkeit schädlich waren. In der Geschichtsforschung kann man das als ein Erbe des Thukydides ansehen, der als erster ein Eingreifen von Göttern in den Lauf der Geschichte ausklammert. Erinnerungen an eigene Erlebnisse, ihre erzählende Weitergabe und deren Verwendung durch Geschichtsschreiber sind natürlich nicht gegen Irrtümer, Verfärbungen, Übertreibungen und Fehldeutungen gefeit. Das gilt auch von narrativen Texten der Bibel. Sie ist nur als ganze „Wort Gottes“ (weil Gott durch sie zu uns spricht) und enthält Gottesworte und Menschenworte nebeneinander oder miteinander verquickt. Auch bei der Lektüre der Apg müssen wir also bereit sein, beim genauen Hinschauen oder Durchdenken von Berichten Probleme zu erkennen, die zum historischen Zweifel nötigen. Das ist in der Bibelwissenschaft seit langem breiter Konsens. Allerdings hat der Protest gegen frühere Denkverbote häufig zu einem Übergewicht der Skepsis geführt. Das „Analogieprinzip“, nach dem ein Bericht nur dann als historisch gelten soll, wenn seine Handlung Analogien in der sonstigen Erfahrungswelt hat28, lässt keinen Raum für Rätselhaftes, Überraschendes oder völlig Neues. Manchmal genügt schon die Seltenheit eines Phänomens als Argument gegen die Historizität einer Angabe. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, die Berichte des Lukas bis auf Weiteres aufgeschlossen anzuhören, gerade weil sie Menschenwort sind und weil unbescholtene Mitmenschen auch über Jahrhunderte hinweg zunächst einmal Vertrauen verdienen. Ich begebe mich auslegend in die Erzählung hinein und frage erst dann kritisch zurück, wenn etwas in sich (narrativ) nicht stimmig ist oder nicht zu den vorausgesetzten Verhältnissen passt.

Eine irritierende Forschungslage betrifft das historische Urteil über die Reden, die etwa ein Drittel vom Umfang der Apg einnehmen. In der deutschsprachigen Exegese dominiert seit Jahrzehnten die Überzeugung, dass die Acta-Reden durchweg freie Schöpfungen des Lukas sind, bestenfalls gespeist von diffusen Erinnerungen an den Predigtstil der frühen Gemeinden. Diese Ansicht geht im Wesentlichen auf den Einfluss von Martin Dibelius (1883–1947) zurück, besonders auf seinen Aufsatz Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung aus dem Jahr 1944, erst 1949 veröffentlicht und ab 1951 in einem Aufsatzband weit verbreitet.29 Diese These bezog ihre Plausibilität aus der Berufung auf Thukydides, der sich in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg angeblich große Freiheiten in der Abfassung von Reden erlaubt hatte und darin das Vorbild späterer Geschichtsschreiber der Antike wurde. Verweise auf Forschungen zu Thukydides und auf Beratung durch Fachleute erweckten bei Neutestamentlern den Eindruck einer gesicherten Basis dieser Argumentation. Hinzu kam das in den 50er Jahren aufblühende „redaktionsgeschichtliche“ Interesse an der Theologie narrativer Schriften des Neuen Testaments, das alle freien „Zutaten“ zu vorgegebenen Traditionen als Belege für persönliches Profil begrüßte.

Im englischen Sprachraum stießen die Thesen von Dibelius frühzeitig auf Widerspruch, vor allem durch den Altphilologen Frederick F. Bruce (1910–1990), der als Bibelwissenschaftler hohes Ansehen genoss und sich auf den Thukydides-Forscher Arnold W. Gomme berufen konnte. Dieser legte Wert auf die Selbstaussage des Thukydides (I 22,1):

„(W)as die einzelnen in Rede sagten, teils im Begriff, Krieg zu führen, teils schon darin befindlich, davon war es kaum möglich, den genauen Wortlaut des Gesprochenen im Gedächtnis zu behalten für mich, wenn ich es selbst gehört hatte, und für die, die mir anderswoher davon Kunde gaben; wie es mir aber schien, daß die einzelnen über die jeweils vorliegenden (Dinge) das Gehörige am ehesten gesagt haben könnten – wobei ich mich so eng wie möglich an den Gesamtsinn des wirklich Gesprochenen hielt –, so ist (bei mir im Geschichtswerk) geredet.“30

Unter dem Einfluss dieses „Methodensatzes“ des Thukydides wurde den Reden der Apostelgeschichte im englischen Sprachraum viel häufiger als im deutschen ein historischer Kern oder wenigstens eine zutreffende Zeichnung des Profils der jeweiligen Sprecher zugestanden.31 In der deutschsprachigen Forschung haben dagegen Hypothesen über die tatsächliche Arbeitsweise dieses Historikers oft dessen Selbstaussage in den Hintergrund treten lassen. Von solchen Forschungsergebnissen konnte Lukas keine Ahnung haben; wenn ihm Thukydides als Vorbild vorschwebte, dann dessen Selbstaussage. Im englischen Sprachraum wurde und wird gegen die These, dass die Reden in antiken Geschichtswerken üblicherweise fiktional gewesen seien, oft darauf hingewiesen, dass z. B. Polybios (Hist II 56,10–12) diese Praxis scharf ablehnte. Vor dem Hintergrund dieses Konflikts zweier Strömungen der Acta-Forschung habe ich mich entschieden, meiner Auslegung der Reden weder die eine noch die andere Hypothese zugrunde zu legen. Allerdings setze ich mich von Fall zu Fall mit dem Argument von Dibelius auseinander, dass die Reden „situationsfremd“ seien32 und keine unterschiedlichen Profile der Redner erkennen ließen.33 Die naive Vorstellung, dass es sich bei den Reden um „Wiedergaben“ der gehaltenen Reden handeln könne, scheitert selbstverständlich schon an deren knappem Umfang.34 Es kann nur darum gehen, ob Lukas die Intention und möglicherweise bestimmte Argumente in der erzählten Situation wiedergibt oder in einer passenden Situation einen Redner so sprechen lässt, wie es für ihn charakteristisch war. Für eine pauschale Herleitung der Reden aus „der Theologie des Lukas“ sind die Reden, aufs Ganze gesehen, viel zu unterschiedlich, z.T. schon im Aufbau, vor allem aber inhaltlich.35

10.  Erzählzeit und erzählte Zeit

Ein wichtiger Aspekt der Interpretation narrativer Texte ist das Verhältnis zwischen Erzählzeit (= Textumfang) und erzählter Zeit (Dauer der erzählten Handlung). Die Beschreibung eines über längere Zeit gleichbleibenden oder wiederholten Geschehens kann mit wenigen Worten auskommen. Das ist der Fall bei den so genannten Summarien über das Leben der Jerusalemer Urgemeinde in 2,42–47; 4,32–37; 5,12–16, aber auch bei kürzeren Feststellungen am Ende einer Erzählung (z. B. 9,31). Diese „Abstandshalter“ zwischen mehr oder weniger dramatischen Erzählungen lassen erkennen, dass Lukas keine fortlaufende „Geschichte des Urchristentums“ bietet. Für seine Erzählweise hat man den Begriff des „Episodenstils“ geprägt.

Eine Steigerung der Erzählzeit erzielt Lukas durch die Wiederholung einer bereits erzählten Geschichte durch eine Nacherzählung im Munde einer beteiligten Person (11,1–18 als Nacherzählung von Kap. 10; 22,1–21 sowie 26,2–23 als „Neuauflage“ von 9,1–19). Damit hebt Lukas die Bedeutung des betreffenden Ereignisses hervor und setzt für ein bestimmtes (Lese-)Publikum neue Akzente.

Ein anderer Aspekt des Verhältnisses zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ist die Frage der zeitlichen Abfolge. W. Marxsen hatte sich im Streit um die Bibelkritik darüber mokiert, dass Jesus nach Lk 3,20–21 angeblich von Johannes dem Täufer getauft wurde, als dieser bereits von Herodes Antipas verhaftet worden war.36 Hier ignorierte der Exeget, dass Lk 3,20 eine Vorausdeutung auf das weitere Schicksal des Täufers ist, nach der in V. 21 der in 3,1 unterbrochene Erzählfaden wieder aufgenommen wird. Das Nacheinander in der Erzählzeit garantiert kein Nacheinander der erzählten Handlungen.

Auch die Abfolge großer narrativer Einheiten innerhalb des Werkes muss nicht chronologisch gemeint sein. Das Nacheinander der Berichte über das Wirken des Philippus in Samarien (Kap.8), den Besuch des Petrus im in Caesarea (10,1–11,18) und die Bemühung um nichtjüdische Zielgruppen in Antiochia (11,19–26) könnte geographisch und nicht chronologisch gemeint sein (vgl. 1,8).

Eine Verdrängung der Chronologie der Handlung durch thematische Gesichtspunkte könnte die Erklärung dafür liefern, dass Lukas im Vergleich mit Gal 1,18; 2,1 (wenn Gal 2,1–10 eine Parallele zu Apg 15 ist) eine von Paulus scheinbar verschwiegene Jerusalemreise des Paulus erwähnt (vgl. 11,30; 12,25). Diese Reise zur Überbringung von Spenden könnte historisch identisch sein mit der Reise nach Kap. 15, deren Anlass ein Streit um die Aufnahme nichtjüdischer Gemeindeglieder war. Das würde einige Probleme der Forschung zu Apg 15 („Apostelkonzil“) im Vergleich mit Gal 1,17 – 2,10 lösen, aber auch einige neue Fragen aufwerfen. Denkbar ist, dass Lukas zwei thematisch verschiedene Erzählungen von dieser Reise erhalten und aufgenommen hat, ohne zu wissen, dass es sich um dieselbe Reise handelte. Er könnte aber auch den Streit um die „Weltmission“ ohne Konversion zum Judentum (Kap. 15) bewusst hinter die erste Missionsreise (Kap. 13–14) platziert haben, um das Thema der Debatte, zunächst narrativ vor Augen zu stellen. Inhaltlich betrachtet, hat die Handlung der Apg jetzt zwei Hauptteile, die sich in der Buchmitte überlappen:

A. Die innerjüdische Jesusbewegung (Kap. 1–12 und 15,1–35)

B. Unterwegs zu den Enden der Erde (Kap. 13–14 und 15,36 – 28,31)

11.  Auseinandersetzung mit anderen Auslegungen

Auslegungen biblischer Bücher sind keine zeitlosen Werke, sondern erwachsen aus einem Problemhorizont, der den Autoren und ihrem Lesekreis mehr oder weniger gemeinsam ist. Für ein deutsches „Kriegskind“ wie mich gehört dazu die Schuld des deutschen Volkes an den Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk – und die Mitschuld von Kirche und Theologie an deren Ermöglichung und Duldung. Erzählungen der Apg haben das christliche Bild vom Judentum beeinflusst, – und das verbreitete Bild vom Judentum hat die Lektüre der Apg beeinflusst! Dabei haben Beispiele von Konflikt und Kontrast besonderes Interesse gefunden und das Denken und die Gemüter beeinflusst, was in Nacherzählung, Illustrationen und Auslegung zu übertreibender Dramatisierung geführt hat. Auch Kommentare waren und sind davon immer noch beeinflusst und tragen zur Festigung falscher Klischees bei. Darum verwende ich im Rahmen des Raumes, der mir zur Verfügung steht, mehr Worte als üblich auf die Korrektur antijüdischer Traditionen und Fehlurteile. Das sollte nicht als Mangel an Respekt vor sonstigen wissenschaftlichen Leistungen der Betroffenen verstanden werden. Bei allen Konfliktgeschichten verdient Beachtung, dass Lukas den Widerstand gegen die urchristliche Botschaft häufig nicht auf eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern auf unerwünschte Nebenwirkungen dieser Verkündigung zurückführt, mit denen die Gegner zu Recht oder zu Unrecht rechnen.37 Das gibt Denkanstöße für Probleme der späteren und heutigen Ausbreitung des christlichen Glaubens über soziale und kulturelle Grenzen hinweg.

Kommentare zu biblischen Büchern sind eine Literaturgattung mit einem hohen Anteil an tradiertem Wissen, das in mehrbändigen Kommentaren oft ausgiebig dokumentiert wird. Leider werden allzu viele Meinungen (und Fehler) von einem Kommentar zum anderen mitgeschleppt. Ich habe darum meine Auslegung immer zunächst nur (als „close reading“) vom Bibeltext her unter Hinzuziehung sprachlicher Hilfsmittel entworfen und erst danach mit Kommentaren und sonstiger Sekundärliteratur verglichen. (Natürlich war ich dabei von jahrelanger Lektüre von Sekundärliteratur für allerlei Fragen sensibilisiert!) Die mir auferlegte Beschränkung auf nur einen Band hat leider zur Folge, dass ich gegen meine Neigung und Gewohnheit38 vorzugsweise auf deutschsprachige Publikationen verweise, die das Verständnis der Apg im deutschen Sprachraum beeinflusst haben und den Benutzern und Benutzerinnen dieses Kommentars womöglich vorliegen oder leichter zugänglich sind.

12.  Formales

Griechische und hebräische Wörter werden in Umschrift kursiv wiedergegeben. Wenn in einem Zitat oder im Titel einer Publikation solche Wörter in ihrer Urschrift enthalten sind, ist deren Umschrift in eckige Klammern [kursiv] gefasst. Für griechisch Eta steht ē, aber ê, wenn die Silbe in einem mehrsilbigen Wort betont ist, entsprechend für Omega ō oder ô. Die Umschrift hebräischer Wörter ist gegenüber der Wiedergabe in hebraistischer Fachliteratur vereinfacht.

Verweise auf Kommentare erfolgen durch den Namen mit dem Zusatz „z. St.“ und nur teilweise unter Angabe der Seite in der von mir benutzten Auflage. Werden Publikationen bibliographisch unvollständig angegeben, dann ist Ergänzendes im Literaturverzeichnis zu suchen. Werden antike Schriften zitiert, dann in der Regel nach einer publizierten Übersetzung (im Literaturverzeichnis unter „Zitierte Quellen“ zu finden). Die Titel antiker Schriften gebe ich abweichend von akademischen Gepflogenheiten dann auf Deutsch an, wenn sie m. E. für ein breiteres Publikum mehr Beachtung verdienen.