Unter der Sonne

 

 

Unter der Sonne

Teil 1: Erwachen

 

 

Jannika Hauch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Buch & Autor

 

Die Erde im dritten Jahrtausend: Die Oberfläche unseres Planeten ist leer. Nichts regt sich unter der erbarmungslosen Hitze der Sonne. Fast nichts ... Durch psychoaktive Getränke und Tabletten ernährt, leben die Menschen in verschiedenen Zonen des Erdinneren ein hochtechnisiertes Leben in einer Überwachungs- und Leistungsgesellschaft. Wer in den unteren Schichten lebt, ist privilegiert; Elend und Armut konzentrieren sich in der ersten Erdschicht. Doch als der Student Melekai eines Tages auf die Leiche eines Geflüchteten aus der ersten Schicht aufmerksam wird, entdeckt er, wie begrenzt sein Weltbild ist – und bricht auf ... (Teil 1 von 3)

 

Jannika Hauch studierte in Hamburg Psychologie. Nach ausgedehnten Reisen durch die ganze Welt ist sie nun angehende Psychotherapeutin und arbeitet mit traumatisierten Menschen.

Sie schreibt Science-Fiction und Gegenwartsliteratur mit einer Vorliebe für dystopische Stoffe.

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2019

In Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

www.ifub-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: E. M. Cedes

E-Book-Erstellung: Björn Sülter

 

ISBN: 978-3-95936-155-2 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-156-9 (Print)

Prolog

 

Die Tür zum »Unterwassergang« war unverschlossen. Bewegungsmelder ließen die Leuchtstoffröhren im Tunnel anspringen. Die schlafende Glasschlange, das massive, gläserne Abwasserrohr, erwachte zum Leben. Grünliche Fäden trieben in ihrem Inneren dahin. Dadurch wirkte ihre glänzende, gläserne Haut, als würde sie sich winden.

Melekai zog die Schnürsenkel seiner Schuhe auf und stellte langsam erst den rechten, dann den linken Fuß auf den nackten Beton. Hier war der Boden unbeheizt und seine Zehenspitzen wurden in Sekunden taub vor Kälte. Er lief in den Unterwassergang, die Schuhe unter die Achseln geklemmt. Was zum Teufel tat er hier? Der Tastsinn seiner Füße zeigte ihm feine Maserungen im Beton, Lücken, die durch Luftbläschen entstanden sein mussten. Ohne Schuhe machte er so gut wie kein Geräusch beim Gehen. Fröstelnd zog er sich die Pulloverärmel über die Handgelenke. Auch die Kälte faszinierte ihn. Einen solchen Temperaturunterschied gab es in den Wohnblocks nicht.

Unzählige Science-Fiction-Filme und Abenteuerserien gingen ihm durch den Kopf, in denen der Held eine Geheimnachricht zugesteckt bekommt und sich plötzlich dazu aufgefordert sieht, die Welt vor dem Untergang zu retten. Ihm gefiel die Vorstellung, in eine vertrauliche Angelegenheit äußerster Wichtigkeit hineingezogen zu werden. Alles erschien ihm bedeutender als ein Job bei Golden Morning oder der zweite IIFA-Abschluss für ein besseres Gehalt. Wenn er seinen lang gehegten Plan, irgendwann einmal als Aktionär bei Golden Morning einzusteigen, in die Tat umsetzen wollte, musste er mit den Nachtwanderungen aufhören. Lieber sah er stundenlang Kameramitschnitte von vergangenen Techno-Festivals. Auch wenn dieser Zeitvertreib mindestens genauso nutzlos war, so sinnentleert wie Museumsbesuche.

Wann hatte er das letzte Mal geträumt? Schlaftabletten und Psycho-Popper sorgten meist dafür, dass er in einen ohnmachtsartigen Zustand fiel, wenn er es denn überhaupt schaffte zu schlafen. Gab es viele Menschen, die träumten, wie er heute Nacht? War es möglich, von so lauten Geräuschen zu träumen, dass man davon aufwachte?

Melekai gelangte an eine Leiter und warf die Schuhe zu Boden. Das Echo war ein Donnergrollen im Schlangenbauch. Erschöpft setzte er sich auf eine der Stufen, sah dem Dahintreiben undeutlicher Abwasserströmungen in der braungrünen Brühe zu. Wenn nicht bald etwas passierte, würde ihm die Sicherung durchbrennen. Etwas fehlte in der Schärfe seiner Wahrnehmungskraft. Mit dem nächsten trägen Lidschlag ging es ihm auf. Der Schlaf schmiegte sich an seinen Rücken, aber er war ganz klar.

Das unbändige Bedürfnis überkam ihn, die Mutprobe von damals zu wiederholen. Das Abwasserrohr zu berühren, die Glasschlange. Ein dunkler Schatten trieb heran, unscharf und formlos. Was hatte dieser Blogger behauptet? Irgendetwas von Unterwasserlebewesen, die selbst Licht erzeugen konnten. So ein Schwachsinn. Mit ausgestreckter Hand fuhr er an dem glatten, kalten Rohr entlang, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Fast behutsam legte er eine Hand auf die Stelle des Rohres, an der nun auch der Schatten vorüberglitt. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Sein Atem ging schnell. Er starrte wie hypnotisiert in die dunklen Tiefen hinter dem Glas. Die Hand, feucht von Schweiß, klebte an der Pipeline.

»Klonk« machte es plötzlich, ein dumpfes, fast unhörbares Geräusch.

Melekai brüllte auf, als etwas Helles von innen gegen die Scheibe stieß und fast augenblicklich wieder im trüben Nichts verschwand.

Vier kleine Knöchel, von blasser, blutleerer Haut überzogen, adrig. Ein Handrücken.

Eine menschliche Hand!

Er stolperte nach hinten und stieß schmerzhaft mit dem Kopf an die Betonwand des Tunnelgewölbes. Beinahe stürzte er und konnte sich gerade noch rechtzeitig an eine Treppensprosse klammern.

»Was war das?«, zischte er in den schweigenden Tunnel. War es sein Blut oder das Rauschen des Abwassers in weiter Ferne? Irgendwo tropfte etwas in eine Pfütze. Wo kam das Wasser her?

Mit zusammengekniffenen Augen suchte er im dahinfließenden Abwasser nach etwas Definierbarem. Fast hatte er Angst davor, fündig zu werden. Schweiß rann seinen Rücken hinab. Nichts, nur diese ekelhafte Brühe, ein Ölteppich oder Schlammschwaden. Er zwang sich, einige Schritte in die Richtung zu gehen, in die das Abwasser floss. Doch auch hier war nichts, nur dasselbe schlammige Abflusswasser. Der Schatten war untergetaucht.

Wenn er die Augen zusammenkniff, erschien der zarte blasse Handrücken vor seinen Augen, die dunklen Ritzen zwischen den Fingern, von dem trüben Grün nahezu verschluckt. Das konnte nicht sein. Doch er wusste, was er gesehen hatte.

Das war kein Trip. Er war völlig klar. An das gigantische Abwasserrohr von Schicht drei war ein Handrücken geschlagen. An einer Hand steckte ein Arm, zu einem Arm gehörte ein menschlicher Körper. Das Wort formte sich in seinem Hirn, Laute wie Dunstschwaden. Mit jedem Atemzug zerstoben sie erneut zu dünnem Rauch.

Eine Leiche.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Drittens: Eine Woche zuvor

 

Die UV-Strahler regelten sich hoch, und ein neuer Tag begann.

Melekai sprang gerade aus dem Fahrstuhl, als die Morgenmelodie zum dritten Mal ertönte. Die kühle, von Ventilatoren bewegte Luft empfing ihn, und stetig gewannen die Tageslichtlampen der Straßenbeleuchtung an Helligkeit. Zu hell für diesen Morgen. Die Wölbung des Straßenschachts reichte hoch genug, um nicht von den UV-Strahlern geblendet zu werden. Trotzdem legte er schützend eine Hand gegen die Stirn. 7:00 Uhr morgens, und schon jetzt herrschte in den Megatunnels des H-Levels Hochbetrieb. Verschlafen stolperte er durch das Meer aus Passanten und drückte im Gehen sein Frühstück aus dem Tablettenblister: Kohlehydrate, Ballaststoffe, Vitamin C, D und E. Um wach zu werden, brauchte er etwas Stärkeres. Gähnend rieb er sich den Schlaf aus den Augen.

In einem leuchtend roten Latexanzug schlenderte eine kurvige Frau mit aufwändiger Hochsteckfrisur den 199. Tunnel auf und ab. Vor ihren Hüften trug sie einen Bauchladen, dessen Auslage die Aufmerksamkeit der Passanten von ihrem aufreizenden Outfit weg und zu den Artikeln hin lenkte. Kleine Fläschchen aus Buntglas, die bei jedem ihrer Schritte aneinander klirrten. Auf dem hochgestellten Deckel blinkte ein Werbebildschirm im 3D Format. In protzigen Buchstaben lief das Label der Marke »UP« in Dauerschleife vor ihren Brüsten.

Melekai musste zum Subway am 198. Tunnel, vorbei an den Fahrstühlen des East-Side-Megablocks, um die Metro zur Universität zu erwischen. Belustigt folgte er der Diva im roten Latexanzug mit seinem Blick. Wie den meisten anderen Männern, die mit ihm die Straße überquerten, fiel es ihm schwer, geradeaus zu schauen. Das Paar weicher Brüste wackelte hypnotisierend über die Getränkeauslage und ihr Latexanzug glänzte abwechselnd rot, gelb und grün im Takt der Verkehrsampel. Melekai hätte allzu gerne eines der Fläschchen aus ihrem Bauchladen gekauft. Er brauchte einen Kickstart, um die bleierne Müdigkeit abzuschütteln. Doch die Preise des UP-Labels überstiegen bei weitem sein Budget. Fluchend kramte er in seinen Hosentaschen nach der Kreditkarte. Wenigstens eine billige No-Name-Brause musste er sich besorgen. Um 7:15 Uhr begann die staatlich vorgeschriebene Arbeitszeit. Er musste sich beeilen.

Die Bauchladenverkäuferin war nicht mehr zu sehen. Vermutlich hatte sie sich zum 200. aufgemacht. Die Anwälte im Business-Block des Levels gaben sicher ertragreichere Kunden ab als verpennte Studenten wie Melekai. Er sprang die Treppe hinab in den Subwayschacht.

»0,2 Liter schöne Träume gefällig?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Zu seiner Verwunderung kam ihm die Werbehostess im roten Latexanzug auf Pfennigabsätzen entgegen. Zwar hatte sie den Bildschirm des Bauchladens heruntergefahren, die beeindruckende Auslage war jedoch noch gut zu sehen. Fläschchen mit Namen wie: »Lauda-Popper«, ein in silbernes Krepppapier geschlagenes Fläschchen, »Benzo-Super-Popper«, eckig und schwarz, oder »Lina luftig«, ein vergleichsweise schmales Gefäß. Der »Amphi-Upwards« in grünem Buntglas füllte beinahe die Hälfte des Bauchladens aus. Das war die Amphetaminbrause, auf die auch Melekai es abgesehen hatte. Alle Fläschchen trugen goldglänzende Kronkorken, das Markenlabel des Herstellers »UP«. Die Werbehostess lehnte sich an das Treppengeländer und ließ die Tragegurte, ein Kreuz auf ihrem vollen Busen, aufspringen. Vorsichtig schloss sie den Bauchladen, und die kostbaren Popper-Fläschchen verschwanden vor Melekais Augen. Sie klemmte sich den Bauchladen unter den rechten Arm, und das vergoldete »UP«-Symbol glitzerte. Extra hochdosierter Spaß. Melekai hatte weder die Zeit noch das Geld, um stehenzubleiben und sich ein überteuertes Markenprodukt andrehen zu lassen. Lieber betrachtete er den Abdruck ihres Körpers unter dem glänzenden Latex. Den tiefen Ausschnitt hätte es nicht gebraucht, um erkennen zu können, wie ihre Brüste aussahen. In der freien Hand hielt sie eine pink gemusterte E-Zigarette.

»Machst du Pause?«, fragte Melekai im Vorbeigehen.

»Fünf Minuten, die bezahlen sie mir.« Ihre Stimme klang rauchig und verwaschen. Sie rollte das R. Eine Sekunde zu lang musterte sie ihn und streckte ihm dann eines der Fläschchen entgegen. Der Latex quietschte, und Melekai konnte nicht anders, er blieb stehen. Dann hörte er, wie seine Bahn abfuhr.

»Fünfzehn Dollar«, sagte sie und schnalzte, »weil du so ein Hübscher bist.«

Es war ein Lauda-Popper, limited edition, silberglitzerndes Krepppapier, ein Glasfläschchen, in dem silberne Blasen aufstiegen, wenn man es bewegte, der Kronkorken mit eigenem Abzeichen, hochprozentig. Sie zwinkerte auffordernd.

»Nein, danke«, antwortete Melekai, bevor er weiter die Treppe hinunter stieg, und bereute es fast im gleichen Augenblick.

»Bist du vergeben?«, fragte sie und begann an dem Preisschild eines Lauda-Poppers herumzupopeln. Er hielt inne.

»Ob ich eine monogame Beziehung führe?«, lachte Melekai und fing sich einen grimmigen Blick ein.

»Nein, keinesfalls. Damit konnte ich noch nie was anfangen.«

»So macht ihr Yuppies das hier unten, was?«, raunte sie. Melekai verstand nicht ganz. Wohnte sie denn nicht in dieser Schicht?

»Zehn Dollar. Dann bin ich alle limitierten Popper los und kann endlich das Level wechseln. Wie du aussiehst, hast du sicher Lust auf ein bisschen Schweben heute Nacht. Wenn du vorher 'ne Koffeintablette schmeißt, hält der Rausch länger an. Machen alle meine Kunden so.«

»Ich hab wirklich kein Geld für dieses überteuerte Zeug«, lächelte Melekai und wandte sich zum Gehen. »Weder fünfzehn noch zehn Dollar. Trink du den doch. Du siehst erschöpft aus.«

Die Hostess zupfte das Preisschild vom Psychopopper, und das silberne Krepppapier knisterte verheißungsvoll. Ausgiebig zog sie am Mundstück ihrer E-Zigarette.

»Da haben wir was gemeinsam«, entgegnete sie und stellte den prunkvollen Bauchladen auf die letzte Stufe des Metroschachts. Der Fahrtwind der nächsten einfahrenden Metro blies ihr das Haar aus dem Gesicht. Zwinkernd streckte sie ihm erneut das Fläschchen entgegen.

»Das ist nicht irgendein schnödes Imitat.« Ihre Stimme erinnerte an Krimis im Rotlichtmilieu und Drogenexzesse. Sie gefiel Melekai. »Das ist die limitierte Edition von UP. Kennst du nicht? Aus der Werbung?«

Sie kippte das Fläschchen und sah erwartungsvoll zu Melekai, der sich, obwohl es mittlerweile beinahe viertel nach sieben war, nicht zum Weitergehen aufraffen konnte. Eine einzige Blase stieg in der lila Flüssigkeit auf.

»Nimm ihn schon«, versuchte sie ihn zu überreden. Dann seufzte sie schwer und rieb sich die Schläfen. Ihre Augen blieben am Bund seiner Hose hängen, an der Haut, die darunter zu sehen war.

»Na schön, sieh's als Werbegeschenk der Firma«, lächelte sie.

Melekai verengte die Augen und nahm ihr den Lauda-Popper aus der Hand.

»Gratis?«, fragte er, und sie nickte mit schiefem Lächeln. »Das muss nicht sein. Du findest sicher noch einen anderen Kunden, der mehr Geld auf dem Konto hat.«

Aber die Werbehostess winkte ab.

»Das glaube ich kaum«, raunte sie und blies den dünnen Rauch ihrer E-Zigarette Treppe nach oben.

»Danke, ich weiß zwar nicht wofür, aber meine Freunde werden sich freuen«, sagte Melekai und steckte das Fläschchen achtsam in seine Jackentasche.

Eine ansteigende Melodie kündigte den Beginn der Arbeitszeit an. Wieder mal verschlafen. Melekai stöhnte. Punkteabzug. Schon wieder.

»Fuck, ich muss los«, rief er mit einem Blick auf seinen blinkenden Messenger. »Schicker Overall«, fügte er hinzu und zwinkerte, bevor er endlich zum Abfahrtgleis seiner Metrolinie ging.

 

Ω

 

In der Sonderausgabe der »Space«, des meistgekauften Wochenblatts von Schicht Drei, stand:

»(…) Nach dem gestern verabschiedeten Gesetzesentwurf zur Wohnraumreduzierung ergeben sich für Wohngemeinschaften und Familienverbände in Zukunft weitere Einschränkungen. Die zugesprochene Quadratmeteranzahl eines Bürgers mit dritter Staatsbürgerschaft wird von 7,55 auf 6,90 Quadratmeter gesenkt. Außenminister Reinschüssel bezeichnete dies in einem Interview von heute Morgen als »eine direkte Folge der steigenden Anzahl von Einwanderungsanträgen aus Schicht zwei und eins« (…).«

Eine Live-Aufnahme zeigte den graugesichtigen Außenminister der dritten Erdschicht vor einem Altar aus Mikrofonen.

»Betroffene Mietparteien erhalten die digital versandten Bescheide bis Mittwoch kommender Woche. Die Regierung sichert jedem von der Wohnraumreduzierung betroffenen Bürger der dritten Schicht einen adäquaten Wohnungsersatz und die Erstattung der Umzugskosten zu.«

Melekai versuchte mit einem Zeigefinger die weiteren Seiten des Artikels zu überblättern, aber seine Fingerkuppe war zu trocken, um das alte Touchpad zu bedienen. Es war der Abschnitt »The Inside reads«, den Melekai nicht zu überblättern vermochte. Der bunt bebilderte Teil, der ihn am wenigsten interessierte. Ein Werbevideo erschien ohne Ankündigung auf dem Bildschirm, und Melekai fluchte. Das neuste Permanent-Make-Up versprach mit einer Gewinnspielaktion eine porenverfeinernde Laserbehandlung mit Auffrischung der Lippenfarbe gratis dazu. Genervt warf er das abgegriffene Touchpad zurück auf die Auslage aus Proteinriegeln, Kohlehydrat-Tabletten in diversen Geschmacksrichtungen und Erfrischungsgetränken.

»The Inside reads« klang für ihn wie eine Zurückweisung. Die Ergründung neuen Wohnraums aber interessierte wohl jeden, ebenso wie die Reduzierung privater Wohnflächen.

Melekai knurrte. Das tat er gerne in solchen Momenten, weil es ihm angenehm altmodisch vorkam. Das Touchpad hatte der Kioskbesitzer mit einem Sicherheitskabel angeschlossen. Es diente seiner Laufkundschaft, um schnell durch die neusten Schlagzeilen zu scrollen und sich bei Interesse die Artikel beim Kioskbesitzer herunterladen zu lassen. Nicht herhalten sollte es dafür, einem gelangweilten Studenten die Zeit zu vertreiben und die Referenznummer mehrerer Artikel abzufotografieren, um sie später am Tag illegal zu downloaden. Der ohnehin wenig ertragreiche Kiosk machte so definitiv gar keine Einnahmen mehr.

Es war deutlich zu früh. Die Morgenmelodie hatte erst zum zweiten Mal gespielt und damit das schleichende Ansteigen des Lichtpegels angekündigt. Bevor sich die Tageslichtlampen zur vollen Stärke hochregelten, würde es noch einige Zeit dauern. Sieben Uhr fucking Dreißig morgens, und der internationale Arbeitsbeginn war mal wieder an ihm vorbeigerauscht. Weder die heller werdenden Leuchtstoffröhren über der Fahrbahn und den Fahrstuhlaufgängen noch die Uhrzeit trugen zu einem positiveren Gemütszustand Melekais bei.

Jokke verspätete sich. Jokke verspätete sich nie. Jokke verspätete sich so gut wie nie; aber niemals, wenn es sich um eine Verabredung mit Melekai handelte. Wer Melekai Gormock versetzte, verspielte seine Chance, bei der nächsten Technoparty auf der Gästeliste zu stehen. Mehr Gründe brauchten die meisten seiner Freunde nicht, um Melekai nicht warten zu lassen.

Jokke hingegen dachte an nichts dergleichen, während er zum bestimmt dreihundertsten Mal in dieser fatalen halben Stunde versuchte, den Motor seines Autos zu starten. Er stand vor der Kreuzung 205. / 209., die eigentlich nur wenige Minuten zu Fuß vom besagten Kiosk entfernt gewesen wäre. Da die Verabredung, die er gestern Abend mit Melekai getroffen hatte, jedoch lautete:

»Hol mich mal morgen früh mit dem Auto vom Subway ab, mein Rad hat 'nen Platten«, konnte er nicht ohne sein Auto beim Block 125 in Level H auftauchen.

Melekai strich eine rote Locke aus seiner Stirn und rümpfte die Nase, als die Müllabfuhr an der gegenüberliegenden Straßenseite hielt und die Saugvorrichtungen an die kreisrunden Öffnungen der Müllcontainer ansetzte. Ein dumpfes Poltern und Rauschen war zu hören. In Sekundenschnelle füllte der gehäckselte Müll des Häuserblocks den orangefarbenen Bauch der gewaltigen Müllraupe. Die bestimmt fünfzehn Meter lange Maschine fügte sich mit ihrem bauchigen Leib perfekt in die Form des Straßentunnels ein. Etwa zehn Meter über ihr leuchtete die Schnur der Tageslichtlampen. Eine gleißende Linie aus Licht, die erst hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand. Hinter einem winzigen Fenster konnte Melekai die orangefarbene Kappe des Kraftfahrzeugfahrers erkennen. Als er noch klein gewesen war, hatte er oft mit erstaunt aufgerissenen Augen zugesehen, wie der riesige Saugrüssel die Müllcontainer leerte.

»Ey!«, ertönte es plötzlich hinter seinem Rücken, und Melekai fuhr heftig zusammen.

»Der Artikel wird aber gekauft! Du stehst hier bestimmt schon zehn Minuten und liest. Das macht 3,50!«

Etwas Hartes traf Melekais Nacken. Der Kioskbesitzer musste ihn mit irgendetwas beworfen haben. Ein Pro-Fit-Proteinriegel in silberglänzendem Plastik landete vor seinen Füßen.

»Was zum …«, setzte er an und wandte sich um, als endlich das summende Geräusch eines Hybridmotors die von Ventilatoren bewegte Morgenluft durchschnitt.

»3,50!«, rief es hinter Melekai her, als dieser den Reißverschluss seiner Neoprenjacke hochzog und mit genervtem Gesichtsausdruck in Jokkes alten Wagen stieg.

Der Handschlag, mit dem Melekai Jokke einen fragwürdig schönen Tag wünschte, brannte eine Weile in seiner Handinnenfläche.

»Was geht, Mann?«, grüßte Jokke und gab Gas, als er den Kioskbesitzer aus seinem Häuschen stürmen sah.

»Was geht bei dir, Alter?«, lachte Melekai und streckte die langen Beine in den Vorraum des Autos.

»Die Vorlesung hat längst angefangen. Ich war mit Sarah zum Kaffeetrinken verabredet, das kann ich jetzt in den Wind schießen. Hättest du mich nicht wenigstens anklingeln können, wenn du schon kein Akku auf dem Messenger hast?«

Jokke dehnte seinen Nacken nach links, weg von Melekais Präsenz, und schnalzte: »Motor kaputt.«

Ihm war zu warm in seiner Neoprenkleidung. Melekai konnte es sehen. Jokkes grellviolettes T-Shirt klebte abwechselnd an seinem Rücken und an der Rückenlehne des Fahrersitzes. Seine kurzrasierten Haare versteckte er wie üblich unter dem obligatorischen gelben Käppi, das Jokke nach Melekais Wissen schon im Kindergarten getragen hatte. Trotz ihrer Verschiedenheit waren Jokke und Melekai, seit sie sich erinnern konnten, Freunde gewesen. Mit dem mischblonden Haar und den blassgrünen Augen musste Jokke mit anderen Farben nachhelfen, um auf sich aufmerksam zu machen. Anders als Melekai, der immer anwesend war, ob er wollte oder nicht. Fuchsrotes Haar und 1,95 Meter Körpergröße waren selbst im multikulturellen Bildungsinstitut des H-Levels eine Rarität. Und Seltenes ist ja bekanntlich mehr wert.

 

Jokke fuhr absichtlich schneller als erlaubt und stellte das Auto in einem der Parkhäuser vor dem riesigen Gelände des IIFA ab, dem Internationalen Institut für Fort- und Ausbildung im Level H der dritten Erdschicht. Die Universität der Schicht zeigte hier die Live-Übertragungen ausländischer Professoren.

»Noch ein paar Minuten später, und wir hätten es uns schenken können, überhaupt noch zu der Vorlesung zu gehen«, sagte Melekai.

»Jetzt komm mal klar. Das ist noch nicht mal 'ne Präsenzveranstaltung«, verteidigte sich Jokke und griff nach seiner Trinkflasche.

»Sag doch einfach Bescheid nächstes Mal, dann geh ich zu Fuß.« Mit diesen Worten öffnete Melekai die Beifahrertür. »Ich geh dann mal vor.«

Jokke nickte, während sein Freund aus dem Auto stieg.

»Sarah ist heute Mittag sicher genauso bereit, all ihre Termine abzublasen, um dich zu treffen, wie sie es gestern auch schon war«, rief er Melekai noch nach.

Der Deckenfluter über den asphaltierten Gehwegplatten zum Hauptportal schien nie heller als die Glühlampen in der Garage. Melekais Urgroßvater hatte diese Art Zwielicht immer mit dem Begriff »unter Tage« beschrieben. Etwas, das es früher gegeben hatte, wie er berichtete. Für ihn hatte das weder als kleiner Junge noch heute irgendeinen Sinn ergeben. Unter Tage leben bedeutete für ihn, den Tag über sich hinwegziehen zu lassen. Nur, wo sollte ein Tag sein, wenn nicht in ihm drin? Konnte man sich unter Tagen hindurchducken und so vermeiden, zur Schule zu gehen?

Der Vorlesungssaal, den Melekai wenig später erreichte, war verdunkelt, und konzentriertes Schweigen erfüllte den Raum.

Melekai saß noch keine fünf Minuten, als Jokke neben ihm auftauchte.

»Rechtslage zu Zollgebühren«, setzte Melekai Jokke im Flüsterton auf den Stand der Vorlesung und räumte seinen Rucksack vom Platz links neben ihm.

»Und prüfungsrelevant«, brummte Jokke, ohne sich Mühe zu geben, die Stimme zu senken. Er ließ sich geräuschvoll in den Sitz fallen, und Melekai wandte seinen Blick zurück zum Vortrag, der in Kinoformat an die hohe Saalwand projiziert wurde. Ihr Dozent für Wirtschaftsrecht, Prof. Dr. Tritopps, hielt in diesem Augenblick an achtundzwanzig weiteren Universitäten der Welt seine Vorlesung. Der Professor selbst stand vor einer Webcam in seinem Büro der Erdschicht Vier. Enthusiastisch berichtete er von den rechtlichen Rahmenbedingungen des Zollverkehrs in Schicht Eins und Zwei. Einer der uniformierten Ordnungshüter an den Eingängen des Hörsaals schnippte mit den Fingern und gebot Jokke und Melekai auf diese Weise zu schweigen.

»Das nächste Mal fahr ich einfach weiter Metro«, flüsterte Melekai. »Ist eh nicht sonderlich interessant heute«, unternahm er noch einen Schlichtungsversuch.