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Über den Titel und die Autorin

Die Qualität psychosozialer Arbeit und Beratung ist eng an das Gelingen der helfenden Beziehung gebunden. Dennoch ist nach wie vor nicht geklärt, wie – im Detail – sich eine professionelle Beziehung gestaltet bzw. gestalten sollte. Vor allem wird diese Beziehung stets nur als Dyade gedacht. Der vorliegende Band legt seinen Schwerpunkt auf die theoretische wie praxisnahe Detail erarbeitung dieser zentralen Schlüsselqualität für die psychosoziale Arbeit und Beratung: auf eine professionelle Beziehungs- und Umfeldgestaltung – insbesondere für jene KlientInnen, die bereits mehrfach Vertrauensmissbrauch und Beziehungsabbrüche erlebt haben. Denn dabei zählt jeder einzelne Begegnungsmoment.

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Silke Birgitta Gahleitner, Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin, Prof. Dr. phil. habil., Studium der Sozialen Arbeit, Promotion in Klinischer Psychologie, Habilitation in den Erziehungswissenschaften, langjährig in sozialtherapeutischen Einrichtungen für traumatisierte Frauen und Kinder sowie in eigener Praxis tätig. Seit 2006 lehrt und forscht sie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und betreut dort den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention. Lehr- und Forschungsgebiete sind: Psychosoziale Diagnostik und Intervention, Professionelle Beziehungsgestaltung, Psychosoziale Traumatologie und qualitative Forschungsmethoden.

Die Buchreihe

Beratung

wird herausgegeben von

Prof. Dr. Frank Nestmann, Dresden
Prof. Dr. Hans Thiersch, Tübingen

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Tübingen

Silke Birgitta Gahleitner

Professionelle
Beziehungs­gestaltung
in der psychosozialen Arbeit
und Beratung

Beratung 17

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Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie
Tübingen
2019

E-Mail: sb@gahleitner.net

E-Mail: dgvt-Verlag@dgvt.de

Wissenschaftliches Lektorat und Umschlaggestaltung: Ilona Oestreich

Auch als Printausgabe erhältlich: ISBN 978-3-87159-717-6

ISBN 978-3-87159-444-1

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Frank Nestmann

Professionelle Beziehungsgestaltung – zur Einführung

1.1 Bedeutung professioneller Beziehungs- und Einbettungsgestaltung

1.2 Begriffsklärung Beziehung

1.3 Bindung, Beziehung, Konflikt

1.4 Übersicht: Theorie

1.5 Übersicht: Praxis

Psychosoziale Arbeit

2.1 Sozialisation heute

2.2 Das biopsychosoziale Modell

2.3 Chancen und Grenzen des biopsychosozialen Modells

2.4 Interaktionistische Identitätsbildung

2.5 Die „dialogische Wende“

2.6 (Bio)psychosozial unterstützen

Psychosoziale Beziehungsgestaltung: die Theorie

3.1 Vertrauenstheorie

3.2 Bindungstheorie

3.3 Netzwerktheorie

3.4 Milieutheorie

Psychosoziale Beziehungsgestaltung: die Praxis

4.1 Vertrauen anbahnen: zum Beispiel in der Beratung von Frauen aus sexuellen Ausbeutungsverhältnissen

4.2 Mit Bindungsphänomenen arbeiten: zum Beispiel in der Beratung von PalliativpatientInnen im Tumorversorgungsbereich

4.3 Netzwerke hilfreich gestalten: zum Beispiel im Beratungssetting der Opferhilfe

4.4 Ein Milieu herstellen: zum Beispiel im Kontext therapeutischer Jugendwohngruppen

Voraussetzung: beziehungsorientiert Verstehen

5.1 Erste Schritte

5.2 Psychodiagnostische Abklärung

5.3 Biografiearbeit

5.4 Lebenswelt- und Bindungsdiagnostik

5.5 Die Komplexität einfangen: Die Koordinaten psychosozialer Diagnostik und Intervention

Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychosozialen Arbeit: Resümee

6.1 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse

6.2 Beziehungsprozess in fünf Schritten

6.3 Fünf-Schritte-Modell

6.4 Ausblick

Literatur

Anhang: Fragebogen zum AAI

Vorwort

Es wäre ein unvollständiges Fundament einer Buchreihe zu Beratung, fehlte ihr ein Werk zu einem zentralen Eckpfeiler jeglicher psychosozialen Intervention – der Beziehung zwischen den handelnden Personen in sozialen, pädagogischen und therapeutischen Interaktionsprozessen und Institutionen und zu der damit zwangsläufig aufgeworfenen Frage, wie diese spezifische Form einer hilfreichen Beziehung zwischen professionell Helfenden und den Hilfesuchenden aufgebaut und gestaltet werden kann. Die Herausgeber konnten mit Silke Gahleitner eine der hier empirisch und theoretisch renommiertesten WissenschaftlerInnen als Autorin gewinnen, die im vorliegenden Band diese grundlegende Voraussetzung und gleichzeitig wirkmächtige Hilfedimension aller Beratungs- und Therapieprozesse im Detail konzeptionell und in der praktischen Gestaltung analysiert und darauf aufbauend ein Verstehens- und Handlungsmodell beziehungsorientierter psychosozialer Diagnostik und Intervention entwickelt.

Sie tut dies auf der Basis der kritisch konstruktiven Würdigung eines weiterentwickelten „biopsychosozialen“ Denkens, als dem Rahmen aktueller interaktionaler Vorstellungen von Sozialisation und Identitätsentwicklung, die beide immer stärker in den sozial und gesellschaftlich forcierten und individuell zu lebenden Anforderungen und Paradoxien von persönlicher Autonomie und sozialer Einbettung gefangen sind. Wie Silke Gahleitner überzeugend aufzeigt, ist die professionelle Beziehungsgestaltung gerade dann besondere Herausforderung, Können und „Kunst“, wenn jene KlientInnen psychosozialer Hilfe bedürfen, deren Leben und deren Biografien von fehlender zwischenmenschlicher und sozialer Nähe, von ver- und zerstörender Bindungserfahrung und von häufigen Vertrauensenttäuschungen und -verlusten sowie Beziehungsirritationen und -abbrüchen geprägt sind – nicht selten von Beginn an. Sie sind irgendwann nur noch schwer zu erreichen („hard to reach“), auch für empathische und engagierte HelferInnen.

Die hier vorgelegten Analysen und Reflexionen zu persönlichen Beziehungen in professionellen Interventionsprozessen zeichnen sich aus unserer Sicht einmal dadurch aus, dass die oft nur sehr monadisch oder dyadisch konzipierten Beziehungsperspektiven der herrschenden Sozialarbeits-, Pädagogik-Beratungs- und (Psycho-)Therapie-Zugänge in größere soziale Zusammenhänge eingewoben werden – derer sie auch bedürfen. Hier helfen netzwerk- und milieutheoretische Orientierungen, mit denen Silke Gahleitner Vertrauens- und Bindungskonzepte gekonnt verknüpft und dabei deren jeweilige theoretische (wie methodische) Potenziale und Grenzen differenziert ausleuchtet. Sie gibt Vertrauen und Bindung einen größeren sozialen Kontext und verleiht den (oft stark sozialstrukturellen und sozialräumlich fokussierten) Dimensionen von Netzwerk und Milieu ein „persönliches Gesicht“.

Das gelingt ihr zum Zweiten in einer, in dieser Form wohl alleinstehenden, insbesondere für PraktikerInnen und Studierende psychosozialer Disziplinen äußerst erhellendlehrreichen Vorstellung von vier beispielhaften eigenen Praxen der Beziehungsgestaltung mit sehr unterschiedlichen Zielgruppen: dem Vertrauensaufbau mit Frauen in sexuellen Ausbeutungsverhältnissen, der Bedeutung von Bindung in der Beratung von PalliativpatientInnen, der Netzwerkarbeit in der Opferhilfe und einer Milieuförderung in therapeutischen Jugendwohngruppen.

Selten gelingt ein solches Zusammenspiel vielfacettiger, authentisch-exemplarischer Fallgeschichten und dichter konzeptioneller, organisationaler wie methodischer Interventionsbeschreibung und -reflexion wie im vorliegenden Buch. Dass die Autorin dann noch die Voraussetzungen eines beziehungsorientierten Verstehens – wiederum in theoriefundierten Einzelfallbeispielen – über eine integrative Zusammenführung von Psychodiagnostik, Biografiediagnostik und Lebensweltdiagnostik anschaulich und nachvollziehbar macht, eröffnet ganz neue Perspektiven für Beratung und psychosoziale Intervention. Ihre Einsichten lässt die Autorin schließlich in ein fünfstufiges Prozessmodell professioneller psychosozialer Beziehungsgestaltung münden, welches eine Entwicklung von der „schützenden Inselerfahrung“ bis hin zum „einbettenden persönlichen Netzwerk“ für Betroffene möglich macht. Auch das ist eine ebenso theoretisch fruchtbare wie methodisch und praktisch wegweisende Anregung für die professionelle Unterstützung, gerade in den „harten“ Feldern und Fällen psychosozialer Arbeit.

Und das freut uns als Herausgeber der Beratungsreihe ganz besonders. „Besonders“ deshalb, weil es ein Ziel dieser Reihe war und ist, den LeserInnen eine möglichst enge wechselseitige Theorie-Empirie-Praxis-Verbindung von Beratungsthemen zu bieten, die einer (selbst)reflexiven Beratungspraxis immer wieder die nötigen Impulse verleiht.

Dafür danken wir Silke Gahleitner.

Für die Herausgeber
Frank Nestmann

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Professionelle Beziehungs­gestaltung – zur Einführung

„Over the last four decades, researchers have been increasingly focusing on the helper-helpee relationship in general and the alliance in particular … not only among psychotherapy researchers, but also in the fields of medicine, psychiatry, education, social work, nursing, physical therapy, and forensic sciences.“ (Horvath, 2018, S. 499; vgl. auch Horvath et al., 2014)

Soziale Beziehungen, das ist heute keine Frage mehr, fördern Gesundheit und Wohlbefinden, Rückhalt und Hilfe in Belastungssituationen und helfen, Unsicherheit, Krisen und Störungen sowie Lebensübergänge zu überwinden. Auch in meiner langjährigen Praxis als Sozialarbeiterin, Beraterin und Psychotherapeutin in verschiedensten psychosozialen Arbeitsbereichen vermittelte sich mir von Beginn an die Erfahrung, dass die Qualität der Arbeit eng an das Gelingen von förderlichen Beziehungskonstellationen gebunden ist. Obwohl diese Erfahrung von vielen KollegInnen aus Praxis und Forschung geteilt wird, ist nach wie vor nicht geklärt, wie – im Detail – sich eine professionelle Beziehung gestaltet bzw. gestalten sollte (vgl. aktuell Rosenbauer & Stremmer, 2017). Vor allem wird die Professionelle Beziehungsgestaltung häufig allein als die Gestaltung einer Beziehungsdyade gedacht.

1.1 Bedeutung professioneller Beziehungs- und Einbettungsgestaltung

Soziale Beziehungen haben jedoch stets eine Geschichte und einen Prozessverlauf, bewegen sich also im biografischen Kontext und Kontinuum (Petzold, 2003, S. 56–58) eines Menschen und seiner – über den gesamten Lebensverlauf stattfindenden – Ausbildung von Identität und Persönlichkeit. Auch Beratung und Intervention in der psychosozialen Arbeit ist daher niemals Intervention am Individuum, sondern immer Intervention „im Leben eines Menschen, der mit anderen Menschen zusammen lebt“ (Falck, 1988/1997, S. 129). Es geht also immer um die Person in ihrer Lebenswelt (Richmond, 1917) bzw. die „person-in-environment“ (Germain & Gitterman, 1980, S. 3).

Aus einer anderen Perspektive betrachtet können die „Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse als Ziel psychosozialer Arbeit“ (Borg-Laufs & Dittrich, 2010) und das Bewusstsein darüber, inwiefern Interventionen Einfluss auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse nehmen, dazu beitragen, Hilfeprozesse besser zu gestalten. Eine zentrale Rolle innerhalb der Grundbedürfnisse spielen die Bedürfnisse nach sozialer Einbettung. Wird der elementare Bedarf von Kindern angemessen erfüllt und gefördert, entwickeln sie natürlicherweise gesunden Selbstwert, Stabilität, Widerstandsfähigkeit und soziale Kompetenz (Cicchetti, 1999; Keppler, 2005; Schmidt-Denter & Spangler, 2005). Dies gilt jedoch keineswegs nur für diese Lebensspanne.

Im Bereich psychosozialer Arbeit – für AdressatInnen, KlientInnen und PatientInnen,1 die häufig bereits Beziehungsabbrüche und Vertrauensmissbrauch erlebt haben – ist die professionelle Beziehungs- und Umfeldgestaltung eine besonders vielgestaltige Angelegenheit, die den Einbezug interdisziplinärer Wissensbestände erfordert. Als ein grundsätzliches Phänomen menschlichen Zusammenlebens entfaltet Beziehung im Alltagsverständnis zudem eine große Bedeutungsbreite. Die dabei auftretenden Widersprüchlichkeiten zeigen u. a. die Schwierigkeit auf, die Komplexität des Beziehungsgeschehens präzise in Theorien und Konzepten zu verorten. Entsprechend schwierig ist es auch, die Begrifflichkeit angemessen zu definieren.

1.2 Begriffsklärung Beziehung

Bezug nehmend auf Hinde (1993) definieren Asendorpf und Banse (2000) „Beziehung“ über den Begriff der „Interaktion“. Beziehungen bestehen demnach aus Interaktionsreihen zwischen zwei Menschen. Jede Interaktion wird dabei von der Erfahrung vorausgegangener und von der Erwartung künftiger Interaktionen geprägt und „kann den weiteren Verlauf einer Beziehung beeinflussen“ (Hinde, 1993, S. 10). Beziehungen sind also – wenn auch mit fließenden Übergängen – abzugrenzen von einmaligen Kontakten oder Begegnungen, die eine hohe Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit aufweisen (Böhle, Grosse, Schrödter & Berg, 2012). Beziehungen sind vielmehr als „interpersonales Prozessgeschehen“ zu begreifen (Perlman & Duck, 2006; vgl. auch Lenz & Nestmann, 2009a).

Aufbauend darauf bezeichnet Krappmann (1993) Beziehungen als „dynamische Systeme“ (S. 40) mit dialektischem Bezug zu anderen Ebenen sozialer Realität, z. B. der soziokulturellen Ebene. Auf diese Weise schaffen Beziehungen „für die Beteiligten eine ihnen zugängliche soziale Realität …, die gemeinsame Erfahrungen, geteilte Bedeutungen, Erwartungen und Einschätzungen enthält“ (ebenda). Begrifflich ist es daher sinnvoll, zwischen Rollenbeziehungen und persönlichen Beziehungen zu unterscheiden: Rollenbeziehungen orientieren sich stärker an vorgegebenen sozialen Rollen, persönliche Beziehungen werden durch die Bezugspersonen selbst und äußere Einflüsse bestimmt. Von persönlichen Beziehungen „kann … immer dann gesprochen werden, wenn in der gegenseitigen Wahrnehmung die persönliche Identität Vorrang vor der sozialen Identität“ (Lenz & Nestmann, 2009b, S. 11; vgl. auch Goffman, 1963/1967) besitzt und Bindungsphänomene im Beziehungsgeschehen eine Rolle spielen.

Professionelles Handeln in öffentlich-institutionalisierten Kontexten erfordert jedoch auch eine reflektierte, theoretisch begründbare und lehrbare Beziehungsgestaltung mit KlientInnen – mit einem klaren Rollenverständnis. Dieses orientiert sich an „reflektierten und verantworteten Zielen, Normen, Methoden und Inhalten“ (Dörr, 2007, S. 137). Oevermann (1996) spricht allerdings bewusst von einer „minimale[n] Rollenspezialisierung und Expertisierung“ (S. 141; Erg. v. Verf.), denn auf der anderen Seite erfordert die professionelle Beziehung in psychosozialen Arbeitsfeldern auch an vielen Stellen Dimensionen eben einer persönlichen Beziehung (Lenz & Nestmann, 2009a). Die daraus resultierende – widersprüchliche und niemals einseitig aufzulösende – Herausforderung für Fachkräfte wird in diesem Buch immer wieder angesprochen werden (vgl. für ein Mehr-Ebenen-Modell von Beziehung Miller, 2012).

1.3 Bindung, Beziehung, Konflikt

Psychosoziale Fachkräfte sind in der Praxis außerdem „als Personen mit anderen Subjekten (und deren Problemen), mit Institutionen und Organisationen in je besonderen gesellschaftlichen und kulturellen Deutungsmustern konfrontiert“, so Dörr (2007, S. 138). „Dies macht es geradezu erwartbar, dass sie mit emotionsgeladenen Themen, wenn nicht gar Konflikten zu tun haben, in denen sowohl Zuneigung, Zärtlichkeit, Sexualität, als auch Macht, Ohnmacht, Hass, Aggressionen, personale und strukturelle Gewalt mit im Spiel sind.“ (ebenda) Die während der letzten Jahre in den Medien aufgegriffenen sexuellen Übergriffe in pädagogischen Einrichtungen verweisen hier lediglich auf die Spitze eines wesentlich tiefer gründenden Eisbergs.

Dazu treten gesellschaftliche Transformationsprozesse, die zu Überforderungen durch psychosoziale Verarbeitungsprozesse in der heutigen Gesellschaft führen und die der professionellen Beziehungsgestaltung eine immer größere Bedeutung zuweisen. „Der gesellschaftliche Umbruch … zeitigt … eine tiefgreifende zivilisatorische Umgestaltung, die sich in der Alltagskultur, in unseren Werthaltungen und in unserem Handeln notwendigerweise auswirken muß“ (Keupp, 1998, S. 279). Das normativ Selbstverständliche trägt nicht mehr, stattdessen wird der/die „ExpertIn“, die „psychosoziale Fachkraft“ ins Zentrum gerückt, die „stellvertretend dafür bürgt, wie mit der Unsicherheit, der kulturellen Vielfalt und den Orientierungsanforderungen umgegangen werden kann“ (Helsper, 2000, S. 23).

Diese zunehmend größere Bedeutung auf der einen und die wachsenden Autonomiebestrebungen auf der anderen Seite lassen die Beziehungsgestaltung als ein komplexes Passungsgeschehen deutlich werden. Die durch diesen hohen Passungsanspruch entstehenden Ambivalenzen werden günstigstenfalls zu einem „Anlass für beziehungsklärende regulative Prozesse“ (Hermer & Röhrle, 2008, S. 37) und entfalten darüber eine protektive Wirkung. Für eine kompetente Handhabung dieser Ambivalenzen bedarf es der Selbstreflexion auf Basis adäquater Selbsterfahrungsprozesse (Laireiter, 2000, 2009). Die psychosoziale Fachkraft bewegt sich dabei immer „in der Spannung von abstraktem Regelwissen und nur konkret herzustellendem spezifischen Fallbezug“ (Helsper, 2000, S. 30) und muss jeweils versuchen, reflexiv adäquate Konstellationen möglich zu machen. Der vorliegende Band versucht dazu über eine Theorie-Praxis-Verknüpfung Zugänge zu erarbeiten.

1.4 Übersicht: Theorie

Die soeben angedeuteten zunehmenden Anforderungen durch gesellschaftliche Transformationsprozesse an die einzelne Person sind von vielen AdressatInnen nicht „bewältigbar“ und „bedürfen psychosozialer, integrativer Unterstützung“ (Hanses, 2008, S. 21). Dies gilt insbesondere im Bereich psychosozialer Arbeit (siehe Kapitel 2), in dem PraktikerInnen mit „hard to reach“-KlientInnen konfrontiert sind, die dringend und umfassend Unterstützung benötigen, jedoch vom Gesundheits- und Sozialsystem nicht angemessen erreicht werden. Meist verfügen sie in ihrem Umfeld nicht über eine ausreichende An- und Einbindung. Gerade bei dieser Zielgruppe sind Fachkräfte besonders explizit für „das Anknüpfen an die unterbrochene Kommunikation zuständig“ (Döring, 2004, S. 196). Ein präzises Anknüpfen und eine konstruktive Einwirkung auf Bindungsund Beziehungsmuster kann jedoch nur über eine gelungene Theorie-Praxis-Verknüpfung hergestellt werden.

Denn nur eine gelungene Thoerie-Praxis-Verknüpfung erlaubt die Entwicklung von Strukturen, die systematisch an Auszubildende weitergegeben und in der Fachcommunity immer wieder auch diskutiert und infrage gestellt werden können. Die Bindungsforschung (siehe Kapitel 3.2) z. B., die sich in den letzten Jahren zunehmend damit befasst hat, Interventionskonzepte zu untersuchen und die daraus resultierenden Ergebnisse für die Hilfepraxis zugänglich zu machen, hat ohne Zweifel hier eine entscheidende Lücke geschlossen. Insbesondere die Praxiserfahrung, dass Muster gelingender Interaktion in jeder professionellen Hilfeleistung – nicht nur in der frühen Kindheit – eine wichtige Grundlage für Hilfeprozesse darstellen, lässt sich auf dieser Basis besser systematisieren.

Konzeptionen der Bindungstheorie jedoch beziehen sich in ihrer Herkunft eher auf dyadische Beziehungskonstellationen und Szenerien der Kleinfamilie. Auch in Forschungsergebnissen der Psychotherapie fokussieren die meisten Studien auf die Person alleine (Horvath, 2018). In der psychosozialen Arbeit dagegen geht es stets um das „Individuum in seiner Welt“ (Thomae, 1969, S. 151), die Person in ihrer Lebenswelt (Richmond, 1917), die „person-in-environment“ (Germain & Gitterman, 1980, S. 3). Bindungstheorie und andere psychologische Bezugsgrößen bieten folglich für das dyadische Beziehungsgeschehen in psychosozialen Arbeitsfeldern einen hilfreichen Orientierungsrahmen, sie sollten allerdings für eine tragfähige Anwendung in der psychosozialen Arbeit um weitere Überlegungen und Theoriebestände erweitert werden. Dazu gehören in erster Linie Überlegungen zur Vertrauenstheorie (Kapitel 3.1), zur Netzwerktheorie (Kapitel 3.3) und zur Milieutheorie (Kapitel 3.4).

1.5 Übersicht: Praxis

Im Zuge dieser Überlegungen wird im vorliegenden Band der Frage nachgegangen, welche umfassenden Einflussfaktoren für eine gelingende professionelle Beziehungsgestaltung sich interdisziplinär betrachtet herausarbeiten lassen. Trotz dieser Suche nach theoretischen Aufmerksamkeitslinien und nach Systematik und Struktur können jedoch konkrete „Anweisungen und Forderungen“ für die praktische Arbeit vor Ort immer nur Anregungen sein. Theoretische Inhalte können einen wichtigen Wissenshintergrund darstellen, vor dem aber letztlich der indikationsspezifische und situationsadäquate Einsatz die eigentliche Qualität der Hilfestellung ausmacht. In Kapitel 4 werden zu diesem Zweck Fallvignetten aus Interviews mit KlientInnen aus ganz konkreten Praxisfeldern mit den vorangegangenen Theoriebeständen kombiniert, um LeserInnen einen möglichst praxisnahen Einblick in professionelle Beziehungsgestaltungsprozesse zu geben und eine Antwort auf die Frage „Wie gelingt denn das konkret?“ zu vermitteln (vgl. dazu auch aktuell Abeld, 2017; Staemmler, 2017).

Ein Ausblick schließt den vorliegenden Band ab. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass bei allem Anspruch auf das Ausleuchten komplexer Zusammenhänge an manchen Orten auf bestimmte Diskurse verzichtet werden muss. Zum vorliegenden Thema können z. B. die umfassenden Ergebnisse aus der Neurobiologie und der Epigenetik der letzten Jahre (u. a. Fuchs, 2010) und die Diskurse zu Diversity, Intersektionalität und Postkolonialismus (u. a. Castro Varela & Dhawan, 2005; Czollek & Perko, 2011; Rommelspacher & Wachendorfer, 2008) jeweils nur ansatzweise eingebracht werden. Um in der gewählten Verortung des Bandes jedoch nicht an Prägnanz zu verlieren, wurde auf die ausführliche Darstellung dieser und weiterer Themenfelder weitgehend verzichtet. Genderaspekte allerdings werden immer wieder berührt, und für eine gendergerechte Schreibweise wurde das Binnen-I gewählt.

Der vorliegende Band ist daher zwar einer Verbindung verschiedener Disziplinen wie auch der Erfahrungsebenen Forschung, Theorie und Praxis gewidmet, legt jedoch letztlich seinen zentralen Schwerpunkt auf die theoretische und praxisnahe Detailerarbeitung einer zentralen Schlüsselqualität für die psychosoziale Arbeit: auf die einer professionellen Beziehungs- und Umfeldgestaltung – insbesondere für jene KlientInnen, die bereits mehrfach Vertrauensmissbrauch und Beziehungsabbrüche erlebt haben. Darüber eröffnet sich ein Weg zum Verständnis für die zahlreichen Möglichkeiten, mithilfe professioneller Beziehungsgestaltung auf Beziehungsformen und Beziehungserleben von KlientInnen einzuwirken.2 Denn bei der Entfaltung der Persönlichkeit als „verkörperte interpersonale Entwicklung … durch gemeinsame soziale Praxis“ (Fuchs, 2010, S. 206) zählt jeder Begegnungsmoment.

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Psychosoziale Arbeit

Versteht man Beziehungskonstellationen, wie soeben angesprochen, als „dynamische Systeme“ (Krappmann, 1993, S. 40) mit dialektischem Bezug zur insbesondere soziokulturellen Ebene, so ist diese auch zu berücksichtigen. Wandlungs- und Veränderungsprozesse gab es immer: „In modernen und postmodernen Gesellschaften sind sie jedoch häufiger, schneller und radikaler geworden – und zwar auf (mikrosozialer) individueller, persönlicher, (mesosozialer) organisatorisch-institutioneller ebenso wie auf (makrosozialer) gesellschaftlich-kultureller Ebene“, stellen Weinhold und Nestmann (2012, S. 52) fest, „und sie beinhalten immer vielfältige Chancen, aber auch Risiken für die beteiligten und betroffenen Personen, Gruppen und Systeme“ (ebenda). Zum Verständnis hilft hier zu verstehen, wie sehr sich der Alltag in modernen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten verändert hat (Beck, 1986).

2.1 Sozialisation heute

Während in der Vergangenheit stark vorgegebene Sozialisationsverläufe üblich waren, sind lineare Lebensverläufe – im Zuge kultureller Freisetzungsprozesse aus traditionellen Lebensformen – heute selten geworden. Dafür stellt unsere heutige Gesellschaft eine Reihe von Möglichkeiten für individuelle Lebensformen bereit, ohne jedoch „eine institutionell wirksame, sozial verlässliche Garantie für den Erfolg der biografischen Projekte zu übernehmen“ (Böhnisch, Lenz & Schröer, 2009, S. 18). Es gilt daher inzwischen als disziplinübergreifender Konsens, dass Identität von klein auf in einer lebenslangen „aktiven Auseinandersetzung mit der … Umwelt“ (Hurrelmann & Ulich, 1980, S. 7) erworben wird. Diese in den letzten Jahrzehnten fortgeschrittene Pluralisierung von Selbst- und Weltbildern und die Beschleunigung sozialer und kultureller Wandlungsprozesse erfordern eine hohe Flexibilität (Sennett, 1998/2000).

Die zunehmende Entgrenzung eröffnet durchaus eine Reihe von Freiheiten zu aktiver Identitätsarbeit (Keupp, 2013): „Während das Sozialisationsregime im Verlauf der Ersten Moderne durch die Spannung von Institution und personaler Autonomie bestimmt war, ist das Sozialisationsregime der Zweiten Moderne durch … die Chance und den Zwang zur Selbstorganisation charakterisiert“ (Böhnisch et al., 2009, S. 10). Wer mit einer guten Ressourcenausstattung schnell wechselnde Bedingungen flexibel zu nutzen weiß, sieht sich einem attraktiven Angebot an Lebenswegen und Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber. Zugleich sind aber auch vielfältige Übergänge und Brüche dabei zu bewältigen (Gahleitner & Hahn, 2012). Resultat ist ein zunehmender Verlust sozialer Einbindung und kultureller Einbettung mit positiven wie negativen Konsequenzen für Entwicklungs-, Sozialisations- und Identitätsprozesse (Keupp, 2012).

Benachteiligte und beeinträchtigte Menschen geraten auf diese Weise nicht selten ins Abseits. Dazu gibt es inzwischen verschiedene tragfähige epidemiologische Untersuchungen (WHO, 2001). Demnach nehmen soziale und gesundheitliche Probleme nicht etwa nur in „armen“ Ländern zu, sondern insbesondere in Gesellschaften, die eine starke Ungleichheitsverteilung aufweisen (Wilkinson & Pickett, 2010). Das „abgehängte Prekariat“ (Keupp, 2010, S. 9) leidet unter der Exklusion nicht nur durch Armut, sondern diese geht mit gravierenden gesundheitlichen Risiken einher, denen das aktuelle Gesundheitssystem nicht gewachsen ist (vgl. auch Hanses, 2007). Dies führt zur demografischen, kulturellen oder strukturellen Benachteiligung von KlientInnen, die multiproblembelastet sind und vom Versorgungssystem schlecht erfasst werden. Brackertz (2007) bezeichnet diese Zielgruppe als „hard to reach“-Klientel (vgl. umfassend dazu Labonté-Roset, Hoefert & Cornel, 2010).

2.2 Das biopsychosoziale Modell

Die Versorgungssysteme sind jedoch maßgeblich an der „schweren Erreichbarkeit“ der „hard to reach“-Klientel beteiligt. Um psychosoziale Versorgung im Sozial- wie Gesundheitswesen am „aktuellen Bedarf“ zu orientieren, muss neben einer Reihe anderer Aufgaben daher auch eine adäquate professionelle Antwort auf die Überforderungen durch psychosoziale Verarbeitungsprozesse aktueller Lebensverhältnisse bereitgestellt werden – und zwar für alle darin lebenden Menschen. Dafür bedarf es der Entwicklung geeigneter Konzepte (Gahleitner & Pauls, 2010), die als Orientierungsangebote „zwischen den Anforderungen der gesellschaftlichen Funktionssysteme und den Verarbeitungsmöglichkeiten der individuellen Psyche … helfen, die Exklusion … möglichst niedrig zu halten“ (Großmaß, 2006, S. 5).

Solche und verwandte Überlegungen haben bereits im 20. Jahrhundert zu biopsychosozialen Konzeptbildungen geführt (ursprünglich Engel, 1977; aktuell im Überblick Gahleitner, Hintenberger & Leitner, 2013). Krankheit und Gesundheit werden dabei – entsprechend salutogenetischer Überlegungen (Antonovsky, 1979) – als nicht lineares, komplexes Geschehen verstanden und weder in einzelne, disziplinär fixierte Bestandteile zerlegt, noch als rein biologisches Geschehen konzeptualisiert. Konzepte und theoretische Ansätze aus Medizin, Soziologie, Pädagogik, Sozialer Arbeit, Pflege, Psychologie und Psychotherapie werden interdisziplinär zu verknüpfen versucht (siehe Abb. 1).

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Abbildung 1: Das erweiterte biopsychosoziale Modell (Quelle: Egger, 2005, S. 7)

Aus dieser Perspektive muss Krankheitsentstehung als ein multikausaler, nonlinearer Prozess begriffen werden, der sich im Zusammenwirken von biologischen, psychologischen, sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Verhältnissen vollzieht (Gahleitner & Pauls, 2011; Sommerfeld, Dällenbach & Rüegger, 2010). Die Gedanken existierten bereits lange vor der Etablierung des biopsychosozialen Modells, dem Erfolg von Engels Publikationen (1977, 1980) jedoch ist es zu verdanken, dass „dialogisches und beziehungsorientiertes Vorgehen und die Beachtung des sozialen Milieus“ (Pauls, 2013b, S. 18) im medizinischen und allgemeinen Fachdiskurs unter dieser Begrifflichkeit Fuß fassen konnte.

2.3 Chancen und Grenzen des biopsychosozialen Modells

Das biopsychosoziale Modell wirft forschungsmethodologisch eine Reihe von Problemen auf: „Die Notwendigkeit ganzheitlicher Ansätze und Perspektiven wird forschungsstrategisch zum Fluch“, konstatiert Hanses (2005, S. 189). In der klassischen evidenzbasierten Forschung lässt sich die biopsychosoziale Perspektive bisher nur teilweise abbilden (detailliert Pauls, 2013b), obwohl eine Reihe von Teilbelegen existiert (im Überblick inkl. kritischer Betrachtung Gahleitner, 2017b). Nicht zuletzt die Bindungsforschung (siehe unten) hat bereits die Anlage-Umwelt-Beziehung biopsychosozial begriffen, damals ähnlich revolutionär wie heute die aktuelle Forschung aus der Neurobiologie, die aufzeigt, wie sehr Umwelterfahrungen die Entwicklung des Gehirns formen (u. a. Damasio, 1994). Und ausgerechnet die Genforschung hat in den letzten Jahren ebenfalls Ergebnisse hervorgebracht, die das Verhältnis Anlage-Umwelt aus seiner Polarität befreit.

Inzwischen existieren jedoch fundierte Studien zur gesundheitssoziologischen Forschung (u. a. Hurrelmann, 2006/2010; Kolip & Hurrelmann, 2002), Kinder- und Jugendgesundheitsforschung (u. a. Ravens-Sieberer, Will, Bettge & Erhart, 2007), Forschung sozioökonomischer Merkmale und Gesundheit (u. a. Franzkowiak, Homfeldt & Mühlum, 2011; Mielck, 2005), Forschung zu sozialer Integration (u. a. Sommerfeld, Hollenstein & Calzaferri, 2011), Resilienzforschung (u. a. Rutter, 2012; Wustmann, 2004), Forschung zu sozialer Unterstützung (Übersicht Nestmann, 2010) und Forschung zur Stressbewältigung (u. a. Antonovsky, 1979; Lazarus & Folkman, 1984). Das Zusammenwirken des biopsychosozialen Modells in seiner Komplexität in einem „Heilungsprozess“ zu analysieren, gelingt jedoch nach wie vor nur bedingt.

Dennoch ist hinreichend bekannt: „Die Prozesse der sozialen und der psychischen Systemebene existieren nicht ohne biologische Prozesse und sind auf deren Funktion angewiesen“, so Pauls (Pauls, 2013a, S. 38f.). Umgekehrt prägen die psychosozialen Vorgänge, einschließlich gesellschaftlicher Lebensverhältnisse, nicht nur funktionale biologische Abläufe, sondern auch strukturell das Zentralnervensystem und das Gehirn (Stichwort ,Neuroplastizität‘) sowie genetische Prozesse (Stichwort ,Epigenetik‘).“ (ebenda) Und umgekehrt werden unsere „sozialen Einbindungen in ein soziales Netzwerk … über soziale Regulation, soziale Kontrolle und vor allem soziale Unterstützung zu so etwas wie einem ,sozialen Immunsystem‘“ (Weinhold & Nestmann, 2012, S. 65; vgl. auch bereits Caplan, 1974). Diese grundlegende Bedeutung des „Anderen“ für die Entwicklung der Identität eines Menschen lässt sich in interaktionistischen Sozialisations- und Interventionsmodellen veranschaulichen.

2.4 Interaktionistische Identitätsbildung

Auf der Basis interaktionistischer Überlegungen konstituiert sich aus dem Zusammenleben im Alltag und den damit verknüpften sozialen Beziehungen interaktiv und fortlaufend – Stück für Stück – die Identität eines Menschen: Tatsächlich sind „Menschen