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Gabriele Ketterl


Geschenk der Nacht 


 Venetian Vampires 3

 








Edel Elements

Zu dieser Trilogie gehören:

Venetian Vampires 1: Kinder der Dunkelheit

Venetian Vampires 2: Die Raben Kastiliens

Venetian Vampires 3: Geschenk der Nacht

Das Buch:

Die Kinder der Dunkelheit hoffen endlich auf Frieden.

Doch Stefano, der selbst in den eigenen Reihen gefürchtete dunkle Hüter, kommt einer Weltverschwörung auf die Spur, die nicht nur die Menschheit, sondern auch das alte Volk der Vampire bedroht.

Sollte das Vorhaben gelingen, drohen weltweit Naturkatastrophen gigantischen Ausmaßes – bis zum Zusammenbruch der Grenzen zwischen den Welten.

Stefano und seine Gefährten müssen alles daransetzen, die Umsetzung des Plans zu verhindern – und erhalten unerwartet Unterstützung von zwei geheimnisvollen, überaus mächtigen, aber auch sehr gefährlichen Wesen: den Cherubim …

Der Weltuntergang steht bevor. Das furiose Finale!

Die Autorin:

Gabriele Ketterl wurde in München geboren, wo sie auch heute wieder mit ihrer Familie lebt.

Sie ist u. a. Autorin von Kinderbüchern, Essays und Drehbüchern.

Sie absolvierte ein Studium der Amerikanistik und Theaterwissenschaften an der Ludwig- Maximilians-Universität in München.

Die Autorin lebte über zwei Jahre auf den Kanarischen Inseln, wo erste Kurzgeschichten entstanden, und bekam viele weitere Inspirationen durch weitere Auslandsaufenthalte, unter anderem in Los Angeles und London.

Edel Elements

Für

Daniel

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Zwischenspiel

Zweiter Teil

Dritter Teil

Epilog

Prolog

Neapel, März 1693

NOCH NIEMALS WAR IHR DER WEG HINUNTER zum Strand so weit vorgekommen wie in dieser Nacht. Der Vollmond erleuchtete die Klippen vor Neapel, ließ die mattgrauen Steine in silbernem Licht erstrahlen. Die Flut hatte eingesetzt und die Brandung traf mit brachialer Gewalt auf die mächtigen Felsen, die ihr seit Jahrhunderten trotzten. Sie durfte nicht gesehen werden, musste sich abseits der Wege zum Ufer tasten. Der Nachtwind trug die Gischt bis zu ihr hinauf, überzog die glatten Steine mit einem Film aus Tausenden von Wassertröpfchen. Lucia schlang den wärmenden Umhang fester um ihren schmerzenden Leib, Wolkenfetzen tanzten über den Himmel, ein Tanz, der sich in ihren wirren Gedanken wiederholte. Schmerz durchzuckte für Sekunden ihren Körper. Ihre Hand tastete nach der in festen Stoffwickeln eingeschnürten Wölbung unter ihrer weiten Kleidung. Das Kind begann sich zu regen, kräftig und unerbittlich.

»Ich bin hier, in dir! Kannst du mich fühlen? Ich habe ein Recht zu leben, hörst du mich?«

Sie hielt sich die Hände vor die Ohren, doch das half nichts. Die Stimme ihres ungeborenen Kindes ließ sich nicht einfach ausschalten. Seit sieben Monaten trug sie das Kind nun unter dem Herzen. Sieben Monate, in denen niemand ihre Schwangerschaft bemerkt hatte. Niemand! Selbst Domenico ahnte nichts. Es war schwer gewesen, es ihm zu verheimlichen, doch es war ihr gelungen. Sie sei krank, hatte sie ihm erzählt, wolle nicht berührt werden. Und dann, ein einziger unbedachter Moment, und er hatte die sanfte Wölbung bemerkt, war schier verrückt geworden vor Freude. Ein Kind, sein Kind! Geliebter Domenico! Gerade ihm wollte sie niemals Schmerz zufügen und doch …

Ja, es war sein Kind, aber in seinen Adern würde auch sein Blut fließen. Durch ihre eigene Schuld! Wie hatte sie es nur geschehen lassen können? Seine Augen! Diese Augen, die in die Seele blicken konnten, die alles durchdrangen, die sie in Wärme gehüllt und ihr Sicherheit versprochen hatten. Nein, sie durfte nicht ungerecht sein. Er hielt sein Versprechen, war ihr seither fern geblieben – er war nicht fähig zu lügen. Je näher sie dem Ufer kam, desto kräftiger wehte der Wind. Ihr langes schwarzes Haar löste sich aus dem Knoten am Hinterkopf und fiel ihr in das blasse Gesicht. Nur noch wenige Schritte trennten sie vom Meer. Wieder regte sich das Kind in ihrem Leib. Spürte es, was sie tun wollte? Sie würde mit ihm sterben, würde ihr Kind nicht allein in den Tod schicken. Wie sehr wünschte sie, dass all dies nicht sein müsste, aber was, wenn das Kind anders wäre, wenn es würde wie er?

Mühsam hielt Lucia sich aufrecht, atmete tief die salzige Luft ein. Noch ein paar Meter.

Sie spürte ihn, ehe sie seine Stimme vernahm, seine Präsenz, seine mächtige Aura. Ein Zittern lief durch ihren Körper, das Kind trat mit aller Kraft gegen ihre Bauchdecke.

»Bleib stehen!«

»Wozu? Ich habe mich von dir losgesagt, du hast keine Macht mehr über mich.«

Er stand neben ihr, ehe sie zu reagieren vermochte.

»Dummes Mädchen! All dies hat mit Macht nichts zu tun. Sieh mich an. Habe ich dir jemals wehgetan?«

Lucia schüttelte schweigend den Kopf.

»Habe ich deine Bitte, nicht mehr zu dir zu kommen, erfüllt?«

Sie konnte nur nicken.

»Wieso willst du dich und das Kind dann töten?«

»Weil ich um deine Kräfte weiß, weil ich dein Blut in meinen Adern hatte, als dieses Kind gezeugt wurde. Durch mich wird das kleine Geschöpf nun ebenfalls dieses Blut in sich tragen. Ich habe Angst! Angst davor, wie es sein könnte.«

Er streckte seine Hand aus und legte sie an ihre Wange. Sacht drehte er ihr Gesicht zu sich. Sein Blick aus diesen leuchtend blauen Augen versank in ihrem.

»Dieses Kind wird stark sein, einen eigenen und festen Willen haben. Es wird Domenicos Sanftheit, dein Temperament und, ja, es wird auch ein wenig von mir in sich tragen. Und es wird leben!«

Lucia riss sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft von ihm los. »Das darfst du nicht von mir fordern. Wie soll ich ein Kind zur Welt bringen, das zu einem Teil ein …«

»Dieser Teil sei meine Sorge! Ich bedaure es wahrlich, denn selten war mir ein menschliches Wesen so lieb und teuer wie du es warst, nein, es immer noch bist. Doch du hast keine Wahl! Dieses Kind wird leben! Hörst du mich? Sieh mich an.«

Dieses Mal war seine Hand unerbittlich. Seine langen, schlanken Finger schlossen sich um ihr Kinn und sein Blick hielt den ihren fest.

»Lucia, du wirst weder dich noch dieses Kind töten. Hörst du mich?«

Sein Geist drang tief in Lucias Bewusstsein, schaltete ihr eigenes Denken aus, nahm ihr die Angst und hüllte sie in einen Kokon aus Wärme.

»Sprich, Weib! Was wird geschehen?«

»Das Kind wird leben, ich werde Domenicos Sohn zur Welt bringen.«

»Du wirst mich hier und heute das letzte Mal sehen. Ich werde nie wieder in dein Leben zurückkehren. Doch dieses Kind wird Erinnerungen in dir wachrufen, die ich nicht verhindern kann. Sei stark, Lucia. Ich weiß, wie stark du sein kannst!«

Sie sah in sein überirdisch schönes Gesicht, das so kühl und ernst war wie immer und wusste, dass alles so geschehen würde, wie er es von ihr forderte. Niemand konnte sich ihm widersetzen. Vielleicht würde die Natur ihren Weg gehen und das Schicksal über Leben und Tod entscheiden?

Er seufzte leise und runzelte verärgert die Stirn. »Lucia, Weib, ich bin das Schicksal, wann wirst du das verstehen?« Er schob sie von sich, sein Blick wanderte hinunter zu ihrem Bauch, seine Hand strich sanft über die kaum sichtbare Wölbung unter ihrem Kleid. »Er wird stark werden, und du wirst Kraft brauchen, um die Geburt zu überstehen. Ein letztes Mal kann ich dir heute diese Kraft geben.«

Lucia spürte sein Handgelenk an ihren Lippen, ehe sie ihm hätte antworten können. Sie konnte und wollte sich nicht wehren, schluckte gierig, so wie sie es schon früher getan hatte. Als er sich nach einem allerletzten Kuss auf ihre Wange zurückzog, fühlte sie die Kälte, bedauerte, dass es vorüber war.

»Lebwohl, meine Schöne! Du wirst einen wundervollen Sohn zur Welt bringen!«

Sie erhaschte einen letzten Blick auf seine blauschwarze Haarflut und seine beeindruckende Silhouette, bevor er für immer in der Nacht verschwand.

ERSTER TEIL

1.
Neapel, Mai 1718

DOMENICO WAR NERVÖS. Immer wieder spähte er neugierig gen Horizont, doch das Schiff, das er zu sehen erhoffte, zeigte sich noch nicht.

»Es hieß, dass die Ana Maria erst am Nachmittag in Neapel ankommt. Auch wenn du noch so viele Löcher in den Horizont starrst, er wird nicht früher kommen.«

Lächelnd wandte Domenico sich um. »So lass mich doch aufgeregt sein, mein Herz. Unser Sohn wird heute zurückkehren und er wird nicht mehr länger ein einfacher Matrose, sondern er wird ein Offizier der königlichen Marine sein.« Seufzend richtete er sich auf und rieb sich den schmerzenden Rücken. Es war für ihn nicht mehr so leicht wie einst, mit den schweren Netzen zu hantieren, sie zu flicken, zusammenzulegen und ordentlich wieder in seinem Fischerboot zu verstauen.

Lucia betrachtete ihn mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Er sollte hier sein, hier an deiner Seite, und sich seinen Lebensunterhalt verdienen, wie es auch alle vor ihm getan haben. Aber nein, der Herr muss ja zur See fahren, muss weg von Italien, weg von uns, vom Gestank der Fische.«

»Lucia, bitte nicht. Er war so lange bei uns. Niemand kann behaupten, er habe es nicht versucht. Er gehört nicht hierher, du weißt das ebenso gut wie ich. Unser Sohn suchte die Herausforderung, wann immer er konnte. Fischer zu sein, das war nie seine Bestimmung.«

»Ach! Aber für uns alle war es gut genug? Sieh dich doch an. Du arbeitest dich Tag für Tag ab, und erzähl mir nicht, dass es dich mit Freude erfüllt, nächtelang auf dem Meer zu sein und mit den Elementen zu kämpfen. Dort hätte er ebenso gut die Möglichkeit gehabt, sich zu beweisen. Dieses Handwerk fordert Mut, Kraft und Entbehrung. Ich hatte gehofft, er würde das erkennen.«

Lucias Stimme war sehr leise gewesen, als sie den letzten Satz gesagt hatte. Nachdenklich betrachtete sie ihre Hände. »Ich hatte es so sehr gehofft.«

»Liebes, du kennst ihn. Er ist doch unser beider Sohn. Von der ersten Minute an, vom ersten Atemzug an, suchte er stets die Herausforderung. Wo andere zögerten, lief er los, wo andere sich fürchteten, lachte er nur, er hat die Welt im Sturm für sich gewonnen. Es gab keinen Grund, warum er Nacht für Nacht die Netze auswerfen sollte. Auch kannst du ihm keinen Vorwurf machen, dass er sich nicht um uns sorgen würde. Du weißt, wie viel von seinem Sold er nur dafür ausgibt, dass wir ein anständiges Leben haben. Nein, nein, du bist ungerecht zu ihm.« Domenico kratzte sich grübelnd an seinem mit Bartstoppeln übersäten Kinn. »Wenn ich es mir recht überlege, so warst du stets ungerecht zu ihm. Egal, wie stolz er auf etwas war, das ihm gelang, obwohl es unmöglich schien. Stets hast du ihn gerügt, ihm Vorhaltungen gemacht, dass er sich und andere in Gefahr brächte. Das war oft eine Enttäuschung für ihn. Er wünschte sich immer so sehr, dass du stolz auf ihn wärst. Ist es denn so schwer, sein ungestümes Wesen anzunehmen? Ihn einfach nur zu lieben?« Domenico legte die Netze sorgfältig in das Boot, um sie in der nächsten Nacht zügig auswerfen zu können, und ging dann auf seine Frau zu. Seufzend schloss er die schweigende Lucia in seine Arme.

»Er wünscht sich doch nur Anerkennung und dass wir ihn so akzeptieren, wie er nun einmal ist.«

»Ich habe Angst um ihn. Ich will ihn nicht verlieren. Sein Wagemut wird ihn eines Tages das Leben kosten.« Lucia wand sich ein wenig in Domenicos Umarmung. »Du weißt, dass ich ihn liebe.«

»Ja, das weiß ich. Und nun verscheuch deine ewige Angst um unseren Jungen. Komm, geliebtes Weib, wir ziehen unsere guten Sachen an, holen Giannina und gehen zum Hafen. Wir wollen ihn doch gebührend begrüßen.«

Zwei Stunden später stand Lucia in ihrem Sonntagskleid, gemeinsam mit dem aufgeregten Domenico und der noch viel aufgeregteren Giannina, der Verlobten ihres Sohnes, an der Anlegestelle für die großen Segler. Sie waren nicht allein. Lucias Blick irrte über die vielen Menschen, die sich entweder das Spektakel nicht entgehen lassen wollten, wenn das nächste riesige Schiff anlegen würde, oder die, so wie sie, auf den Sohn, Vater oder Bruder warteten. Ihr Blick traf auf Domenico, der, nervös von einem Bein aufs andere hüpfend, den Horizont fixierte. Wie sollte sie ihm nur klarmachen, was in ihr vor sich ging? Das konnte sie nicht, das würde sie nie können. Nie würde Domenico verstehen, wie sehr sie Stefano liebte, mehr als alles andere auf dieser Welt. Nur darum war sie stets in Sorge um ihn, nur darum verfolgte sie seine waghalsigen Unternehmungen mit Argwohn. Stefano war wild und ungestüm, dennoch nahm er alles und jeden im Sturm für sich ein. Egal was er in Angriff nahm, es gelang ihm, er biss sich durch alle Probleme und Schwierigkeiten und gelangte stets an sein Ziel. Nicht immer ohne Blessuren, aber immer mit Erfolg. Tief in ihrem Innern wusste Lucia, warum das so war. Sie musste nur in die Augen ihres Sohnes blicken. Sie waren von einem solch dunklen Braun, dass sie fast schwarz erschienen, doch das irisierende Blau, das sie oft in seinem Blick suchte, fand sie nicht. Nein, Stefano hatte ihre und Domenicos Augen – aber es war das Blut eines anderen, das sie so oft fühlte. Er hatte sie gewarnt. Er hatte ihr gesagt, ihr Kind würde sie an ihn erinnern. Und das tat Stefano! Tag für Tag! Wie oft sah sie ihm zu, wenn er sich unbeobachtet glaubte, wenn er unten am Meer von den Klippen sprang und sich ohne Furcht und lachend in die Tiefe stürzte. Wenn er in letzter Sekunde die sich zurückziehenden Brecher erwischte, die verhinderten, dass sein Körper auf den Felsen zerschellte. Stets zog sich ihr Herz schmerzerfüllt zusammen, bis sie ihn auftauchen sah, draußen in der wilden Brandung, seine langen blauschwarzen Haare glänzend im grellen Schein der heißen Sonne. Nein, Domenico würde niemals verstehen, wie sehr sie Stefano liebte und er würde niemals erfahren, warum. Guter, lieber Domenico! Sie trat auf ihn zu und umfasste fest seinen Arm.

»Er kommt sicher gleich. Jeden Augenblick wird es soweit sein. Wenn du vorab wegen deiner Aufregung einen Herzanfall erleidest, dann hilft das deinem Sohn auch nicht.« Lächelnd schmiegte sie sich an ihn.

»Giannina, komm doch zu uns. Gleich hast du ihn wieder.«

Giannina starrte aufs Meer hinaus. Sie konnte es kaum noch erwarten.

»Das sagt sich leicht! Über fünf Monate war er nun fort. Nur zwei Briefe habe ich bekommen. Es fühlte sich an, als seien es fünf Jahre gewesen.« Giannina lächelte schuldbewusst und errötete ein wenig. »Er hat mir so sehr gefehlt!« Sie sah ihre zukünftigen Schwiegereltern fast schon entschuldigend an. »Ihr versteht das doch sicher?«

Domenico umfasste nun seinerseits den Arm seiner Frau etwas fester und zog sie enger an sich. »Und wie wir das verstehen, meine Kleine!«

Giannina zog eine leichte Grimasse und ließ ihren Blick erneut über den Horizont schweifen … und dann erspähte sie die Umrisse des großen Seglers, der dort in der Ferne auftauchte. »Sie kommen, dort ist die Ana Maria, sie kommen!«

Mit vor Aufregung glühenden Wangen zeigte sie hinaus aufs Meer. Ungeduldig warf sie ihre langen Haare zurück und zupfte sich die weiße Bluse zurecht. Ihr Blick glitt an ihr hinab. Würde sie ihm gefallen? Oder würde er nun an schöne, edle Damen gewöhnt sein? Jetzt, da er ein Offizier war? Hatte er sie womöglich vergessen? Unsicher strich Giannina sich ihren langen, roten Rock glatt, unter dem sich die Spitze des frisch gewaschenen und nur für diesen Anlass mit einem neuen Band versehenen weißen Unterrocks hervorstahl. Ihre schmale Taille hatte sie mit einem schönen bunten Tuch betont und ihr dunkles Haar trug sie extra offen, da sie wusste, wie gut ihm das gefiel. Zögerlich betrachtete sie ihre von der Sonne gebräunten Arme, wohl wissend, dass diese Farbe sich in ihrem Gesicht wiederholte. Sie war nun einmal keine edle Dame mit weißer Haut – wollte sie auch gar nicht sein. Aber würde Stefano das jetzt noch gutheißen? Giannina hörte auf, an sich herumzuzupfen und zu ziehen. Es nutzte ja alles nichts. Sie würde schon sehen, ob er sie noch haben wollte. Draußen, auf dem eindrucksvollen Dreimaster, hatte man mittlerweile die Segel fast gänzlich eingeholt. Nur die Fock war noch gehisst, um die Einfahrt in den Hafen zu erleichtern. Schon konnte man die Befehle, die gerufen wurden, hören und sie konnte die ersten Matrosen erkennen, die eifrig über die Deckplanken eilten, um sie auszuführen. Sie hob die Hand, um ihre Augen vor der Sonne zu beschatten und besser sehen zu können. Wo war er denn? In dem Gewimmel an Bord vermochte sie ihn nicht auszumachen, zumindest zuerst, denn dann ging der Segler gemächlich längsseits. Die leicht beängstigende Bugfigur wandte sich langsam ab und Giannina konnte den ersten Blick auf das Achterdeck werfen. Dort waren die Offiziere inzwischen angetreten und sorgten dafür, dass alles reibungslos ablief. Sie erkannte Stefano sofort!

Er mochte nicht mehr der Jüngste sein, aber seine Augen waren allemal noch hervorragend. Domenico sah seinen einzigen Sohn auf den ersten Blick. Kein Wunder. Schließlich war Stefano der größte Mann an Deck. Sein langes schwarzes Haar war im Nacken streng zusammengefasst, umso besser konnte man sein edles Gesicht erkennen. Eine Welle des Stolzes überflutete Domenico bei seinem Anblick. Er sah so gut und so eindrucksvoll aus, dass er es kaum zu begreifen vermochte, dass das dort sein eigener Sohn war. Das Schiff legte an, die Taue wurden festgebunden und der Anker wurde zu Wasser gelassen. Der aufgeregte Mann erhaschte einen Blick auf den Kapitän, der sich von den Offizieren und der in Reih und Glied angetretenen Mannschaft verabschiedete, und endlich gingen die Ersten von Bord. Als Stefano über die breiten Holzplanken schritt, hüpfte Domenico schier das Herz aus der Brust. Sein Sohn in Offiziersuniform! Er hatte es geschafft, wieder einmal war aus einem der Pläne, die Stefano sich in den Kopf gesetzt hatte, Realität geworden. Anerkennende Blicke der Herren und bewundernde der Damen folgten dem jungen Offizier auf seinem Weg zu seiner Familie.

Stefano lief mit dem für ihn so typischen breiten Lächeln auf die drei Menschen zu, die sein Leben waren. »Giannina, meine Morgensonne, du bist ja noch schöner geworden!« Stefano breitete lachend die Arme aus und seine Verlobte warf sich strahlend hinein. Himmel, was hatte er sie vermisst! Ihr fröhliches Lachen, ihre blitzenden Augen, ihre wunderschönen Lippen, ihren himmlischen Körper. Er drückte sie so fest an sich, dass sie nach Luft japste.

»Stefano, wenn du willst, dass sie am Leben bleibt, solltest du sie langsam wieder loslassen.« Die warme Stimme seines Vaters rief ihn zurück in die Gegenwart und grinsend ließ er von Giannina ab.

»Gütiger Himmel, man wird sich doch noch freuen dürfen.« Sein Blick wanderte über den vor Glück strahlenden Vater zu seiner erwartungsvoll, aber doch ziemlich ernst an dessen Seite stehenden Mutter.

»Mama, freust du dich denn gar nicht, dass ich wieder hier bin? Du siehst ja fast schon traurig aus.«

Seine Mutter wehrte heftig ab. »Nein, nein, keinesfalls! Ich bin, um ehrlich zu sein, noch dabei, deinen Anblick zu verdauen. Du siehst so … beeindruckend aus. Du weißt sehr wohl, dass ich glücklich bin, dich wieder hier zu wissen.«

Lucia hob den Kopf, um ihn zu begrüßen und fand sich schneller, als sie reagieren konnte, in einer festen Umarmung ihres Sohnes. Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn, so fest sie konnte.

»Stefano, ich bin sehr froh, dich wieder bei uns zu haben.«

Er fühlte ihre Tränen an seinem Hals und setzte seine Mutter sanft auf dem Boden ab. »Mama, was hast du denn? Ich bin wieder hier und ich bin gesund. Alles ist gut. Du sollst doch nicht weinen, du weißt, dass ich das nicht ertrage.« Liebevoll streichelte er die Wange seiner Mutter und wischte ihr vorsichtig die Tränen ab.

»Es tut mir leid, es sind Tränen der Erleichterung, also wirst du sie mir wohl gestatten müssen.« Lucia gelang sogar ein kleines Lächeln, als sie zu ihm nach oben sah.

»Na, dann will ich mal nicht so sein. Vor Freude zu weinen, sei dir ausnahmsweise gestattet.«

Lachend küsste er seine Mutter auf die Stirn. Wenn sie doch endlich davon ablassen könnte, fortwährend in Sorge um ihn zu leben. Stefano drückte sie noch einmal aufmunternd an sich, ehe er sich seinem Vater zuwandte.

»Papa, ich sehe, zumindest einer freut sich so richtig mit mir über das, was ich erreicht habe.« Stefano überragte seinen Vater um fast einen Kopf, und so verschwand Domenicos Gesicht an seiner breiten Brust, als er ihn freudig in seine Arme nahm.

»Das darfst du aber getrost glauben. Ich platze fast vor Stolz. Deine harte Arbeit, dein Ehrgeiz und deine Geduld haben sich ausgezahlt.«

Es war etwas schwer, Domenico zu verstehen, und so trat Stefano einen kleinen Schritt zurück. »Du kannst sicher deutlicher sprechen, wenn ich dir nicht dicke Silberknöpfe an die Stirn quetsche.«

Es war schön, wieder daheim zu sein. Stefano legte seinen Arm um Gianninas Schultern und hakte seine Mutter unter. »Kommt, lasst uns gehen. Ich sehne mich nach etwas Vernünftigem zu essen. Nichts gegen die Verpflegung für die Offiziere, aber ich habe deine Küche schon sehr vermisst, Mama.«

Mit Freude nahm er ihr Strahlen zur Kenntnis. Endlich! Er konnte nur hoffen, dass sie sich mit ihm über das, was er erreicht hatte, freuen würde, vielleicht irgendwann. Was allerdings geschehen würde, wenn er seiner Familie von seinen neuesten Plänen erzählte, das verdrängte er für den Augenblick lieber.

2.
London, Mai 1718

»Die Spanier bereiten mir zunehmend Sorge. Sie übertreiben es langsam. Geht das so weiter, werden wir sie wohl in ihre Schranken weisen müssen.« Der untersetzte Mann, um dessen Kopf sich nur noch ein schmaler Kranz aus Haaren wand, trat an eines der Fenster im Salon des Landgutes und versuchte die graue Wand aus Regen zu durchdringen. »Himmel, was ist denn das für ein Wetter? Geben Sie es doch zu, George, ein Einsatz im sonnigen Mittelmeer wäre gar nicht zu verachten.«

Sein Gesprächspartner erhob sich aus seinem Sessel und trat an eine langgezogene Anrichte aus Kirschholz. Mit geschickten Fingern öffnete er den Verschluss einer Karaffe und goss sich ein Glas Sherry ein. Nachdenklich hielt er das Glas mit seinem goldbraunen Inhalt gegen das Licht einer Kerze und betrachtete eine Weile schweigend das schimmernde Kristall samt seinem Inhalt. Endlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gast zu.

»Samuel, ich kann nicht verleugnen, dass ich das Klima des Mittelmeerraumes sehr zu schätzen weiß, doch ich gestehe auch ein, dass mir im Grunde nicht der Sinn nach erneuten Auseinandersetzungen mit unseren spanischen Freunden steht. Eigentlich hatte ich mich der, wenn auch vagen Hoffnung hingegeben, den Rest des Jahres in Frieden verbringen zu können.« In genießerischen Schlucken trank er seinen Sherry aus und stellte das Glas wieder auf der Anrichte ab. »Kommen Sie, Samuel, setzen Sie sich doch. Sie machen mich nervös, wenn Sie da so herumstehen.«

Lächelnd setzte sich der ehemalige Admiral ihrer Majestät. »Ich kann nicht glauben, dass Sie keinerlei Interesse daran hätten, in Neapel das Zünglein an der Waage zu mimen.«

Der erfahrene Seemann lächelte in seinen wohlgestutzten Bart. »Das wird sich zeigen.«

Er durchmaß mit langsamen Schritten den Salon und öffnete die Tür eines Schranks. Im Innern reihte sich eine eindrucksvolle Sammlung unterschiedlichster Pfeifen aus aller Welt auf. Sorgsam wählte er ein sehr schönes, aus dunklem glänzendem Holz geschnitztes Exemplar, klappte den Deckel seiner Tabaksdose auf und stopfte sich die Pfeife gewissenhaft.

»George, um Himmels willen, reden Sie mit mir. Sie planen doch etwas, das kann ich Ihnen an der Nasenspitze ansehen. Ich bitte Sie, lassen Sie mich nicht im Ungewissen. Sie kennen meine Neugierde.«

Er entzündete seine Pfeife an einem Streichholz und blies einen kleinen Ring gen Decke, dem er, scheinbar in Gedanken versunken, hinterher blickte.

»Samuel, erinnern Sie sich an den Besuch der Ana Maria in Plymouth vor ein paar Wochen? Der Kapitän ist ein alter, sehr lieber Freund von mir. Es war etwas mehr als der Freundschaftsbesuch, als den wir es verkündet haben.« Er ging zurück zu seinem Sessel und sah seinen Freund eindringlich an. »Sollten die Spanier ihre, nennen wir es, unfreundliche Art aufrecht erhalten, so werden wir mit Sicherheit die Segel setzen. Die Ana Maria segelte mit einer komplett neuen Mannschaft und mein lieber Freund stellte mir seine neuen Offiziere im Verlauf eines sehr gemütlichen und interessanten Dinners vor. Ich muss sagen, ich war beeindruckt. Vor allem einer hat mein Interesse geweckt. Mein Freund Rudolfo war zwar nicht begeistert, doch er wird, sollte es dazu kommen, zustimmen.«

Samuel sah ein klein wenig verwirrt aus. »Zustimmen? Wozu denn, bitteschön?«

»Oh, sollte ich das noch nicht erwähnt haben?« Er nahm schmunzelnd einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und kurzfristig hüllte ihn Tabakrauch ein. »Er hat eigentlich jetzt schon seine Zustimmung erteilt. Der junge Mann, der derzeit noch sein zweiter Offizier ist, wird im Fall des Falles, mein Erster werden.«

»Ein Italiener als Offizier auf einem Kriegsschiff Ihrer Majestät?«

»Oh ja, ein Italiener! Und was für ein Italiener! Ich darf Ihnen versichern, mein lieber Freund, dieser junge Mann ist mehr als beeindruckend. Falls wir nach Neapel segeln, dann wird er an meiner Seite stehen.«

George Byng erhob sich aus seinem Ledersessel und trat ans Fenster. »Ja, Stefano Borello wird der erste italienische Offizier auf einem englischen Kriegsschiff sein.«

B

Das Essen war köstlich gewesen wie immer. Seine Mutter war und blieb eine begnadete Köchin. Nun aber stand ihm der Sinn nur nach einem – endlich mit dieser unglaublich begehrenswerten Frau allein zu sein. Stefano küsste seine Mutter und seinen Vater zum Abschied, nahm Gianninas Hand und zog sie mit einem »ich komme dann irgendwann nach Hause« mit sich hinaus ins Freie. Sternenklarer Himmel und eine laue Mainacht erwarteten sie und Stefano lief mit seiner Verlobten hinunter zu ihrer beider Lieblingsplatz am Strand. Geschickt wie die Bergziegen kletterten sie über eine kleine Felsformation und kamen so zu der winzigen, vor neugierigen Blicken verborgenen Bucht am Ende des langen Sandstrands. Stefano zog sich seine Jacke aus, legte sie in den kühlen Sand und ließ sich mit einem lauten Seufzen darauf fallen. Giannina schlang sich ihren Schal fester um die Schultern. »Es ist kühl heute. Ich hätte erwartet, dass es schon etwas wärmer ist.«

Stefano lächelte sie vielsagend an. »Das soll das geringste Problem sein. Komm her zu mir und ich sorge in Windeseile dafür, dass dir warm wird.« Einladend streckte er die Arme nach ihr aus und sie setzte sich zwischen seine langen Beine und schmiegte sich an seine breite Brust.

»Ich habe dich vermisst!«

»Das höre ich doch sehr gern. Ich wäre ein klein wenig enttäuscht gewesen, wenn dem nicht so wäre. Der letzte Abend vor meiner Abreise war eigentlich schon dazu gedacht, dich auf lange Zeit an mich zu erinnern.«

Flammende Röte überzog Gianninas Wangen nach seinen Worten.

»Stefano, du solltest dich schämen, so zu sprechen. Das war eine Sünde! Wir sind noch nicht verheiratet.«

»Ach? Eine Sünde? Liebling, dass du es für Sünde gehalten hast, konnte ich in jener Nacht beim besten Willen nicht spüren!« Er schlang seine Arme noch fester um sie und suchte ihren Blick.

»Das war, weil ich dich liebe. Weil ich jedes Mal, wenn du dort hinaus fährst, vor Angst schier umkomme, da ich nicht weiß, ob ich dich jemals wiedersehen werde. Ich weiß doch nicht einmal, was sich dort hinter dem Horizont verbirgt. Ich kenne nur dies hier.« Ihre Hand beschrieb einen Bogen über die Bucht bis hinüber zu der großen Stadt.

Stefanos Lächeln vertiefte sich. »Dort wartet eine andere Welt, nein, dort warten viele andere Welten. Länder mit Menschen, die so anders sind als wir, herrliche Schlösser, Burgen, bunte Städte, die Mündungen riesiger Flüsse, die ins Meer fließen, Flüsse, die die Erinnerungen der Menschen mit sich tragen, die an ihren Ufern leben. Dort gibt es endlos scheinende Wasserflächen, gigantische Fische, ich habe Wale gesehen, sie sind das Unglaublichste, was meinen Augen jemals untergekommen ist. Sanfte Riesen, die seit einer Zeit, die wir uns gar nicht mehr vorzustellen vermögen, die Meere durchpflügen. Ich habe einem von ihnen in die Augen gesehen, gut, in ein Auge, da sein Kopf so groß war, dass ich Mühe hatte, alles zu erkennen. Giannina, ich sage dir, in diesen Augen liegt die Weisheit von Jahrtausenden. Die Menschen könnten von diesen sanften Lebewesen viel lernen.«

Seine Verlobte schüttelte tadelnd den Kopf. »Stefano, du versündigst dich. Der Mensch ist dazu auserwählt, über die Erde und alles, was auf ihr ist, zu herrschen.«

Er war in diesem Augenblick froh darüber, dass sie nicht sehen konnte, wie ihm bei ihren Worten die Gesichtszüge entglitten. Wenn Gianninas Mutter ihrer Tochter ein wenig mehr über das tatsächliche Leben und etwas weniger über die zweifelhaften Lehren der Kirche beibringen würde, so wäre das für ihr zukünftiges Leben sicher sinnvoller. Aber er gedachte das Schritt für Schritt in den Griff zu bekommen, sobald sie erst verheiratet wären.

»Liebes, du siehst die Dinge oft ein wenig verklärt, aber das mag daran liegen, dass du noch nie aus Neapel und Umgebung heraus gekommen bist. Sobald wir verheiratet sind, werde ich dich, so oft ich kann, mitnehmen. Ich möchte dir diese Welt zeigen und ich möchte dir zeigen, was sie dir zu bieten hat. Für den Augenblick aber würde ich dir für mein Leben gern zeigen, was ich so zu bieten habe.«

»Stefano, du solltest dich schämen!« Spielerisch schlug sie mit dem Ende ihres Schultertuches nach ihm.

Er zuckte nur die Achseln. »Na, hör mal! Wofür sollte ich mich denn schämen? Etwa dafür, dass ich dich mehr liebe als mein Leben? Dafür, dass ich dort draußen auf See vor Sehnsucht nach dir fast umgekommen bin? Dafür, dass ich in mondheller Nacht am Bug stand und trotz all der Schönheit, die ich sah, nur an dich denken konnte? Dafür, dass ich während eines verheerenden Sturms, als die Ana Maria zu sinken drohte, nur daran denken konnte, dass ich dich nun vielleicht nicht mehr wiedersehen würde? Dafür, dass mir diese Angst fast das Herz zerrissen hat? Soll ich mich dafür schämen?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist so schön, das zu hören. Aber für deine sündigen Gedanken.« Giannina blickte bei diesen Worten stur hinaus auf die leichten Wellen.

»Ich sehe schon, deine Mutter hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Was bezweckt sie denn damit? Fürchtet sie, dass ich Schande über dich bringen könnte? Selbst sie sollte mittlerweile wissen, wie viel du mir bedeutest. Ist ihr denn noch immer nicht klar, dass ich ihre Tochter heiraten werde? Versteht sie nicht, dass es mir wichtig war, dass du einen Mann heiratest, der dir ein gutes Leben bieten kann? Ab sofort kann ich das! Ich verdiene genug, um uns ein hübsches Haus zu kaufen, hier in der Nähe, nahe genug bei unseren Eltern, aber auch weit genug von ihnen entfernt, wenn du weißt, was ich meine.« Stefano legte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand unter ihr Kinn und hob es sanft zu sich an.

»Sieh mich an, Giannina, sag mir, habe ich dich jemals enttäuscht? Habe ich je mein Wort nicht gehalten?«

»Nein, niemals! Ich liebe dich doch auch, Stefano, ich möchte nur nicht, dass sich die Leute hier das Maul über uns zerreißen.«

Stefano zog eine spöttische Grimasse. »Und schon wieder höre ich nur die Worte deiner Mutter. Kein Mensch zerreißt sich hier irgendwas, und soll ich dir sagen, warum? Weil sie alle genug damit zu tun haben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, weil sie hart arbeiten. Sei mir nicht böse, es ist sehr schlimm, dass dein Vater so früh verstarb, doch er hinterließ euch wohlversorgt. Wenn auch nicht mit Reichtümern gesegnet, hatte deine Mutter stets ein Dach über dem Kopf und das Ersparte deines Vaters half ihr im Leben. Sie litt nie Not, doch statt dankbar zu sein, mischt sie sich fortwährend in die Leben anderer Menschen ein. Sie sollte einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen, das würde sie beschäftigen und von den Priestern fernhalten, die ihr das Gehirn mit Märchen vernebeln.«

»Stefano, hör auf, so über sie zu sprechen. Sie meint es nur gut. Wenn du weiter so redest, dann muss ich gehen.«

Er grinste leise in sich hinein, denn statt von ihm abzurücken, kuschelte sie sich fester an ihn.

»Schon gut, wir wollen uns nicht unser Wiedersehen verderben.« Zärtlich fuhren seine Finger von ihrer Wange über ihren Hals hinab zu ihrer Brust. Während er mit der Linken ihren Kopf umfing und sie sanft auf ihr Haar und dann auf die Stirn küsste, umspielten die Finger seiner Rechten die Häkchen ihrer Bluse und fanden den Weg hindurch. Er war ausgesprochen geschickt darin, die Tücken der weiblichen Kleidung zu eliminieren, und so fuhr seine Hand unter den dünnen Blusenstoff und liebkoste zärtlich den Ansatz ihrer Brüste, die aus dem Mieder spitzten.

»Stefano, wir sollten das nicht tun.«

»Das ist schon in Ordnung, Liebes, du tust ja nichts, ich tue es, und da ich, wenn es nach deiner Mutter geht, sowieso in der Hölle lande, ist alles in bester Ordnung.«

Ehe sie ihm antworten konnte, worauf er gerade so gar keine Lust verspürte, hob er ihr Gesicht erneut an, umgriff ihre Brust ein klein wenig fester und küsste dann zärtlich und doch fordernd ihre vollen roten Lippen. Er konnte spüren, wie ihr Widerstand in sich zusammenfiel wie eine Sandburg im Sommerwind. Giannina wandte sich ihm zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss mit der Leidenschaft, die er so an ihr liebte. Als sie voneinander abließen, rang seine Verlobte ein wenig nach Atem.

Er grinste sie an. »Habe ich dich atemlos werden lassen? Das tut mir leid!«

»Tut es nicht, ich sehe es dir doch an. Aber es ist nicht von Belang, denn auch mir tut nichts leid.« Sie zog ihn noch etwas fester an sich und er spürte ihre festen Brüste durch den dünnen Stoff seines Hemdes.

»Liebes, du machst es mir nicht leicht. Wenn ich mich jetzt – lass mich die Worte deiner Mutter gebrauchen – nicht versündigen soll, dann sollten wir aufhören, denn mein ganzer Körper freut sich schon sehr, dich wieder zu spüren, und zwar wirklich mein ganzer.«

Giannina wurde zwar brennend rot, doch sie wich kein Stück zurück. »Wer sagt denn, dass ich aufhören will? Dich bei mir zu haben und dich dann nicht zu berühren, erscheint mir immer so … unsinnig.«

Stefano lachte laut auf. »Das ist mein Mädchen, komm her, die Nacht ist noch jung!«

3.
Neapel, 4. August 1718

»Stefano, du hast einen Brief bekommen. Er liegt auf dem Küchentisch. Das Siegel sieht sehr herrschaftlich aus. Wer schreibt dir denn solche Briefe?« Lucia sah ihm von der Veranda des weißen Häuschens aus neugierig entgegen und schien schwer beeindruckt zu sein. Über die Näharbeit, die sie in der Hand hielt, hinweg, zeigte sie in die Küche hinein. »Gleich dort liegt er.«

»Schon gut, Mama, das kann warten.«

»Junge, was kann denn wichtiger sein als solch ein Schreiben?«

»Na, das hier!« Stefano trat zu seiner Mutter, zog sie an sich, umarmte sie und küsste sie herzhaft auf beide Wangen.

»Stefano!«

»Ja?«

Lucia strahlte ihren Sohn an. »Alter Charmeur! Früher hattest du meist etwas ausgefressen, wenn du das getan hast.«

»Na siehst du, davor musst du dich heute nicht mehr fürchten. Heute bin ich erwachsen und sehr, sehr vernünftig.«

Lucia hüstelte leise, zog es aber offenbar vor zu schweigen.

Breit grinsend stapfte Stefano ins Haus. Er sah den Umschlag sofort und schon auf den ersten Blick ahnte er, woher er kam. Er ergriff das Schriftstück und wog es in Händen. Das war schweres, edles Papier, nicht das seltsam raue, auf dem die italienische Obrigkeit ihre Schreiben verfasste. Fast schon schuldbewusst warf er einen Blick hinaus zu seiner Mutter, die sich erneut darauf konzentrierte, die Hemden, die er und sein Vater fortwährend ruinierten, wieder zu flicken und sie in einen passablen Zustand zu versetzen. Er setzte sich auf den Küchentisch und betrachtete eingehend das rote Siegel. Er hätte es wissen müssen. Seit Wochen schon rüsteten sie im Hafen die großen Segler auf, seit Wochen fuhren sie draußen vor der Küste ihre Manöver und beobachteten die spanischen Fregatten, die sich immer bedrohlicher den Küsten näherten. Bereits Anfang Juli war er zum Kapitän beordert worden, der ihm lediglich mitgeteilt hatte, was er eigentlich schon wusste. Die Schiffe der britischen Krone würden Neapel im Kampf gegen die spanische Kriegsflotte unterstützen. Die Entscheidung hatte irgendwann fallen müssen, und nun war es wohl soweit. Stefano atmete tief durch und dann brach er das Siegel, entfaltete das Schreiben und las.

»Mama, Papa, ich muss mit euch sprechen.«

Lucia wurde schon übel, als sie die Stimme ihres Sohnes vernahm. Sie klang nicht wie sonst, nicht so unbeschwert. So hatte Stefano noch nie geklungen.

Domenico schien ebenfalls zu ahnen, dass das, was er ihnen mitzuteilen hatte, etwas Schwerwiegendes sein musste. »Was ist los, mein Sohn? Ist etwas geschehen?«

»So kann man es auch sagen. Bitte, setzt euch.«

»Stefano, mach mir keine Angst.«

»Mama, hab keine Sorge. Es mag schlimmer klingen, als es ist.«

Sie setzte sich auf die hölzerne Bank, die direkt unter ihrem Küchenfenster stand, zog Domenico neben sich und starrte in das schöne Gesicht ihres Sohnes. »Erzähl, Stefano, wir hören dir zu.«

Es dauerte etwas, bis er begann zu sprechen. Fast schien es, als wählte er seine Worte so, dass sie nicht allzu schwerwiegend klingen sollten.

»Während meiner ersten Fahrt als Offizier auf der Ana Maria ankerten wir für vier Tage in Plymouth. Dort lagen auch die George I und mehrere britische Fregatten vor Anker, um überholt zu werden. Unser Kapitän ist ein langjähriger Freund des Admirals, der die George I befehligt. Admiral George Byng lud den Kapitän und die Offiziere zu sich zum Dinner ein. Für die beiden Folgetage waren Manöver geplant, ein freundschaftliches Kräftemessen. Nun, langer Rede kurzer Sinn, obwohl die George I der Ana Maria weit überlegen ist, gewannen wir, da unser Kapitän meinen Ratschlag annahm und wir die Größe der George I zu unserem Vorteil nutzten. Der Admiral war wohl ziemlich von unserem Sieg überrascht und angetan von unserer Strategie. Er zeigte gesteigertes Interesse an meiner Person, und das Ende vom Lied war, dass ich, falls die Spanier sich nicht aus unseren Gewässern zurückziehen und die britische Flotte zusammen mit der Allianz eingreifen würde, auf der George I als zweiter Offizier mitsegeln werde.«

Stefano schwieg und sah ein wenig betreten zu Boden.

Das klang bedrohlich. Lucia schluckte schwer.

»Du versuchst also gerade uns beizubringen, dass du auf ein britisches Kriegsschiff gehen wirst, wenn es sich so ergeben sollte?«

Stefano nickte zaghaft.

»Und in diesem Schreiben stand, dass es irgendwann geschehen wird?«

Wieder nickte ihr Sohn.

»Stefano! Bei allen Heiligen, sprich mit uns. Wann sollst du Neapel verlassen und wie lange? Wenn das stimmt, was man in der Stadt hört und ich mir ansehe, dass über zweitausend deutsche Soldaten hier eingetroffen sind, dann macht mir das doch ziemlich große Angst.«

»Ja, ich bin sonst nicht gerade furchtsam, das weißt du, aber das klingt nicht gut«, pflichtete ihr Domenico bei.

»Nun ja, um ehrlich zu sein: Ich werde übermorgen gemeinsam mit den deutschen Truppen hier abgeholt. Bitte, sorgt euch nicht. Die britische Flotte ist ungeheuer schlagkräftig, sie haben die besten Taktiker und sie haben einen exzellenten Admiral. George Byng wird diesen Einsatz zu einem für Neapel, nein, für ganz Italien siegreichen Ende bringen. Bitte, wir können und dürfen nicht zulassen, dass diese gierigen Spanier sich erneut hier breitmachen, dass sie schon wieder damit anfangen, sich unsere Schätze anzueignen und unsere Steuern nach Spanien wandern. Wir werden sie zurückschlagen und dann wird alles gut. Neapel wird frei sein!«

»Ja, und du wahrscheinlich auch, mein Sohn. Dir ist schon bewusst, dass du und Giannina am 15. August heiraten wolltet?« Lucia warf ihren letzten Trumpf ins Spiel, ahnte aber sehr wohl, dass er nicht stechen würde.

»Mama, das werden wir doch auch! Ich komme heil und gesund zu euch zurück. Mir geschieht nichts auf der George I

»Weiß Giannina schon Bescheid?«

Stefano seufzte. »Nein, sie weiß es noch nicht.«

Lucia erhob sich, strich ihren Rock glatt und wandte sich zum Gehen. »Dann würde ich an deiner Stelle es ihr sofort mitteilen! Von Dritten zu erfahren, dass der Verlobte in einen Krieg zieht, hat sie beileibe nicht verdient.«

Lucia beeilte sich, das Haus zu verlassen, denn die Tränen, die nun über ihre Wangen rollten, sollten weder Stefano noch Domenico zu sehen bekommen.

B

»Liebes, ich bitte dich! Hör mir doch richtig zu. Mit den Briten zu segeln ist nichts anderes als mit der Ana Maria in diesen Kampf zu ziehen.«

»Kampf? Danke, nun hast du es selbst gesagt. Stefano, das ist Krieg! Ihr werdet die Spanier angreifen. Ich war vor zwei Wochen mit meiner Mutter bei Tante Sofia, oben in den Bergen. Ich habe von dort aus die spanische Armada gesehen! Ihr müsst wahnsinnig sein, es überhaupt in Erwägung zu ziehen, sie anzugreifen!«

»Aber wir sind doch nicht allein, mein Herz. Die englische Flotte ist von Menorca aus auf dem Weg hierher. Die Deutschen haben ebenfalls Soldaten geschickt und wir haben eine schlagkräftige Marine – du sorgst dich zu Unrecht.«

»Das tue ich nicht, und das weißt du ganz genau. Jeder Krieg fordert seine Toten …«

»Unter denen ich nicht sein werde!«

»Du lästerst Gott! Denkst du, dass du unsterblich bist, Stefano? Und was ist mit unserer Hochzeit? Alles ist geplant, die Gäste sind eingeladen, und was macht der Bräutigam? Er zieht in den Krieg. Stefano, du liebst mich nicht, du kannst mich nicht lieben!«

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, denn auf diese Anklage wusste er im ersten Moment wenig zu erwidern. Und doch, je länger er nachdachte, desto mehr stieg Ärger in ihm auf.

»Giannina, so denk bitte nach. Möchtest du, dass wir und unsere Kinder in einem versklavten Land leben? Willst du, dass wir niemals unser eigener Herr sind? So vertrau mir doch. Die Allianz wird nur eine einzige Seeschlacht benötigen, um den Spaniern ein für allemal zu zeigen, wer die Herren sind.«

»Es wird nie Kinder geben, wenn du in dieser einzigen Schlacht fällst.«

Stefano seufzte. »Wie oft soll ich noch sagen, dass das nicht passieren wird?«

»Bleib hier, Stefano, ich flehe dich an, bleib bei mir. Schreib diesem Admiral, dass er ohne dich auskommen muss, dass du bei deiner Familie bleiben musst.«

Er war, vorsichtig ausgedrückt, fassungslos.

»Liebling, das kann und darf nicht dein Ernst sein! Du verlangst von mir, den Schwanz einzuziehen und mich wie ein Feigling hinter meiner Familie zu verschanzen, während dort draußen Männer um die Freiheit unseres Landes kämpfen? Ich verstehe dich nicht! Das ist doch nicht meine stolze Verlobte, wo ist die kämpferische Frau geblieben, die ich so sehr liebe?«

»Oh, die ist schon noch da! Sie steht genau vor dir und sie kämpft mit aller Kraft um ihr Glück und um dein Leben, du Wahnsinniger. Willst du als Held in die Geschichte eingehen? Was nutzt mir ein Held, wenn er tot ist? Versteh mich doch! Ich habe unbeschreibliche Angst, dich zu verlieren.«

Stefano sah, wie die Tränen sich den Weg aus ihren haselnussbraunen Augen bahnten und in kleinen Strömen über ihre Wangen liefen.

»Hör mir zu, Giannina! So hör mir doch zu …« Er griff nach ihren Armen und schüttelte seine zukünftige Frau leicht. »Ich komme zurück, ich schwöre es dir! Ich komme zu dir zurück und ich werde leben!« Sacht zog er sie an sich und schlang seine Arme um sie. Er spürte, wie ihre Schultern unter ihren Schluchzern bebten.

»Ich komme zu dir zurück!«

In jenem Moment war Stefano sich für einen kleinen Augenblick nicht mehr ganz sicher, wen er mehr zu überzeugen suchte, Giannina oder sich selbst.

Sie schniefte leise und löste ihren Kopf von seiner Brust. »Ich habe Angst, Stefano, ich habe unbeschreibliche Angst. Aber dir zuliebe will ich es glauben. Ich will glauben, dass wir am 15. August dort unten in dem schönen Saal heiraten werden, dass wir bei Sonnenuntergang auf der Terrasse stehen und als Mann und Frau hinaus auf das Mittelmeer blicken.«

»Siehst du, so erkenne ich dich wieder. Das ist die Frau, die ich über alles liebe.« Lächelnd schob Stefano sie ein wenig von sich. »Genau diese Frau würde ich nun gern ein letztes Mal, bevor ich auf dieses Schiff gehe, entführen. Komm, lass uns eine Flasche Wein einpacken und zu unserer Bucht gehen.«

»Stefano, sei still! Meine Mutter wird jeden Moment zurückkommen.« Giannina warf einen ängstlichen Blick zur Tür.

»Eben. Und da ich ihr nicht erst lange erklären möchte, was ich mit dir vorhabe, was mich wahrscheinlich sowieso meiner Schwiegermutter berauben würde, da sie mit Sicherheit umgehend einen Herzanfall erleiden würde, sobald ich ihr aufzähle, was ich mit dir so anstellen werde, verschwinden wir von hier. Nun komm schon. Wir sündigen ja auch nur noch ein klein wenig … so kurz vor unserer Hochzeit.«

»Stefano, du bist unmöglich. Du hast Glück, dass ich dich so liebe.«

»Habe ich! Und nun lass uns gehen, dort ist die Weinflasche, du brauchst sonst nichts mitzunehmen, es ist herrlich warm am Strand. Das spart die Mühe, es dir nachher alles wieder auszuziehen.«

»Stefano!«

Stefano lachte befreit auf. »Los, raus hier!« Er griff sich die Rotweinflasche auf dem Tisch, zog die nur höchst halbherzig widerstrebende Giannina mit sich und dankte im Stillen allen möglichen Göttern dafür, dass sich alles zum Guten gewandt hatte.

Während er schnellen Schrittes – ein letztes Mal als freier Mann – mit ihr zu der kleinen Bucht lief, war er einfach nur glücklich. Er würde auf der George I