Ibn Taymiyya

Islam – Weg der Mitte

IBN TAYMIYYA

Islam – Weg der Mitte

TEXTE VON IBN TAYMIYYA

Aus dem Arabischen übertragen,
eingeführt und kommentiert
von
YAHYA MICHOT

Aus dem Französischen und
Englischen übertragen
von
YUSUF KUHN

Ibn Taymiyya verbindet
Idealismus und
Realismus zu einem
islamischen Humanismus.

Yahya Michot

Man kann nur bass erstaunt
sein angesichts der Weite
der Gelehrtheit von Ibn Taymiyya –
dem bedeutendsten Leser der
falāsifa (Philosophen) in der
sunnitischen Welt nach Fakhr ad-
Dīn ar-Rāzī. Seine Virtuosität und
Treffsicherheit bei seiner
Behandlung der Werke, die er
studiert, werfen ein besonders
erhellendes Licht auf das Werden
des muslimischen Denkens und
gesellschaftlichen Lebens. Sollte ich
es wagen, anzufügen, dass die
Pflicht, den »geistigen Vater des
gegenwärtigen Islamismus«
nunmehr in die angesehene
Ahnenreihe der Kommentatoren
des Aristoteles aufzunehmen,
durchaus weder eines gewissen
Witzes noch Charmes entbehrt?

Yahya Michot

Inhalt

VORWORT DES VDM E.V.

EINFÜHRUNG

DIE RELIGION DER MITTE

EINHEIT UND ACHTUNG VOR DER VIELFALTINNERHALB DER GEMEINSCHAFT

MENSCHENRECHTE GEGENÜBER GOTT?

DAS ERLÖSCHEN(FANĀ)

DAS SEIN(kawn)UND DIE RELIGION(dīn)

DIE DIENERSCHAFT (UBŪDIYYA): VOM UNTERWORFENSEIN ZUM DIENST AN GOTT

DIE LIEBE UND DER WEG(scharīA)

GEHORSAM GEGENÜBER DEN AUTORITÄTEN

»GOTT HAT FÜR JEDE SACHE EIN MASS BESTIMMT«

10 AHĀMID AL-GHAZĀLĪ & FAKHR AD-DĪN AR-RĀZL

11 INTELLEKTUELLE NICHTIGKEITEN; DIE SACKGASSE DER RATIONALISMEN GEMÄSS DER WIDERLEGUNG DES WIDERSPRUCHS VON IBN TAYMIYYA

12 IBN TAYMIYYA, SALAFISMUS UND BARMHERZIGKEIT

ANHANG

AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT DES VDM E.V.

Zu Ibn Taymiyya

Zu Yahya Michot

Einführung

DIE RELIGION DER MITTE

Einführung

Übersetzung

Die »gerettete Gruppe«

Eine Prophetologie der Mitte

Religiöse Gebote der Mitte

Eine Theodizee der Mitte

Eine Ethik der Mitte

Eine mittlere Lehre der Attribute Gottes

Eine mittlere Lehre des Handelns

Eine mittlere Lehre des Glaubens

Eine mittlere Lehre der Gefährten

Eine mittlere Position allseits

EINHEIT UND ACHTUNG VOR DER VIELFALT INNERHALB DER GEMEINSCHAFT

Einführung

Übersetzung

Die Pflicht der Einheit

Die Pflicht der Toleranz

MENSCHENRECHTE GEGENÜBER GOTT?

Einführung

Übersetzung

Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Gott zu dienen, verleiht kein Recht Ihm gegenüber

Sechs Unterschiede zwischen Schöpfer und Geschöpfen

Der Diener hat Gott gegenüber ein Recht, das Gott Sich Selbst auferlegt hat

DAS ERLÖSCHEN (fanā)

Einführung

Übersetzung

Arten des »Erlöschens« (fanā1)

Erlöschen des Willens

Erlöschen der Schau

»Erlöschen« der Leute des Irregehens

DAS SEIN (KAWN) UND DIE RELIGION (DĪN)

Einführung

Übersetzung

Verwirrungen der Leute

… und koranische Unterscheidungen

Ontologischer Wille und religiöser Wille

Ontologischer Befehl und religiöser Befehl

Ontologische Erlaubnis und religiöse Erlaubnis

Ontologische Bestimmung und religiöse Bestimmung

Ontologische Erweckung und religiöse Erweckung

Ontologische Sendung und religiöse Sendung

Ontologisches Machen/Festlegen und religiöses Machen/Festlegen

Ontologisches Verbot und religiöses Verbot

Ontologische Worte und religiöse Worte

Freunde und Feinde Gottes

DIE DIENERSCHAFT (UBÜDIYYA):

VOM UNTERWORFENSEIN ZUM DIENST AN GOTT

Einführung

Übersetzung

Das ontologische Unterworfensein: Die Dienerschaft der Geschöpfe und die Herrschaftlichkeit Gottes

Der religiöse Dienst: Der Dienst der Gläubigen und die Göttlichkeit Gottes

Ontologische Wirklichkeiten und religiöse Wirklichkeiten, tawhīd der Herrschaftlichkeit und tawhīd der Göttlichkeit…

Betrachter der ontologischen Wirklichkeit,Glaubensleugner, Juden und Nazarener

Drei Gedanken Ibn Taymiyyas

DIE LIEBE UND DER WEG (SCHARĪʿA)

Einführung

Übersetzung

Die Exzesse mancher Sufis

Ein Feuer, das im Herzen verbrennt

Die jüdischen und nazarenischen Prätentionen

auf die Liebe zu Gott

Manche Sufis »nazarenisieren« den Islam

GEHORSAM GEGENÜBER DEN AUTORITÄTEN

Einführung

Übersetzung

A. Einer frevlerischen und unwissenden

Autorität gehorchen?

B. Gehorchen im Gehorsam gegenüber Gott

C. Klarheit Schaffen über jede Sache

D. »Sechzig Jahre mit einem tyrannischen Imām…«

»GOTT HAT FÜR JEDE SACHE EIN MASS BESTIMMT«

Einführung

Übersetzung

Verbot der Bezichtigung der Glaubensleugnung (takfīr)

Die Kämpfe zwischen Muslimen

Hinter wem beten?

Tun, wozu man fähig ist

10 A HĀMID AL-GHAZĀLĪ & FAKHR AD-DĪN AR-RĀZL

Einführung

Übersetzung

A. Phantasmen der Beigeseller

B. Für eine wahrhafte Treue zur prophetischen Botschaft….

11 INTELLEKTUELLE NICHTIGKEITEN

DIE SACKGASSE DER RATIONALISMEN GEMÄSS DER WIDERLEGUNG DES WIDERSPRUCHS VON IBN TAYMIYYA

Einführung

Übersetzung

12 IBN TAYMIYYA, SALAFISMUS UND BARMHERZIGKEIT

ANHANG

Verzeichnis der Quellenangaben zu den Texten von Yahya Michot

Verzeichnis der Quellenangaben zu den Texten von Ibn Taymiyya

Verzeichnis der Abbildungen

Vorwort des VDM e.V.

(Verein für denkende Menschen e.V.)

Ibn Taymiyya – ein Name, der in aller Munde ist. An allen möglichen und unmöglichen Orten taucht er auf. Die einen rechtfertigen ihre Taten damit, während die anderen die Untaten derjenigen, die sie in seinem Namen begehen, erklären. Islamisten, Salafisten, Extremisten, Terroristen, Orientalisten, Islamexperten, Extremismusforscher und andere Terrorspezialisten – ein buntes Völkchen also bedient sich seiner und bestätigt sich gegenseitig. Dieser Diskurs erzeugt Heilige und Monster – oder besser: heilige Monster.

Was aber wissen sie wirklich über und von diesem großen Gelehrten und Denker, der Ibn Taymiyya ist? Welcher böse Traum gebiert diese Ungeheuer? Wer hat je etwas – mögen es auch nur kleine Texte sein, von einem Autor, der zehntausende Seiten und dutzende Bücher mit seiner Feder füllte – von ihm gelesen?

Wir wollen dem freilich keine Heiligenverehrung entgegensetzen, die Ibn Taymiyya selbst ohnehin verhasst gewesen wäre, der zweifelsohne sich und jeden anderen für fehlbar und nur allzumenschlich hielt. Nein, wir meinen nur, dass Urteile, positive wie negative, über einen Menschen und seine Gedanken nicht lediglich von Vorurteilen, sondern von einer gewissen Kenntnis getragen sein sollten. Dieser Aufgabe also soll unser bescheidener Beitrag einer kleinen Textsammlung dienen: Vorurteile abbauen und Kenntnisse vermitteln, um allererst sachgemäße und vernünftige Urteile zu ermöglichen, sowie den Diskurs versachlichen.

Damit soll kein Urteil vorgegeben oder gar aufgenötigt werden, sondern lediglich die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer selbständigen Urteilsbildung erst geschaffen werden. Wir wollen mit unserer Ansicht aber auch nicht hinter dem Berg halten. Freilich hätten wir dieses Projekt nicht in Angriff ge - nommen, wären wir nicht davon überzeugt und hätte uns nicht die Lektüre der Texte selbst davon überzeugt, dass der allseits betriebene Diskurs, an dessen ungeheuerlichem Bilderstrom sich alle nähren, mehr auf Phantasmen, Gespenstern und Konstrukten basiert, denn auf Wissen, Einsicht und echter Wahrnehmung. Wie? Ibn Taymiyya kein heiliges Monster? Gar mit Vernunft begabt und dieser das Wort redend? Und gleichwohl einträchtig der Offenbarung folgend? Wie geht das zu? Möge in dieser Textsammlung – und das heißt: Ibn Taymiyyas Worte selbst – lesen, wer sich davon prüfend überzeugen oder zumindest ein redliches Urteil bilden möchte.

Dabei sollte sich von selbst verstehen: Diese Texte müssen unter Berücksichtigung ihres historischen und sozialen Kontextes gelesen und verstanden werden. Ibn Taymiyya selbst hätte sicherlich alle Versuche verwehrt, seine Überlegungen mit dem Glorienschein zeitloser Gültigkeit zu versehen. Denn es war ihm stets sehr daran gelegen, den jeweiligen konkreten Umständen und Bedingungen gerecht zu werden und die gebührende Beachtung widerfahren zu lassen. Diesem Verständnis liefe freilich eine umstandslose Übertragung auf anders geartete Gegebenheiten und Verhältnisse grundsätzlich zuwider.

Und wer sich einmal auf diese Suche begeben hat, wird – so ist es auch uns ergangen – kaum vermeiden können, auf einen der profundesten Kenner der Schriften Ibn Taymiyyas zu stoßen: Yahya Michot. Denn dieser außerordentlich fleißige Leser Ibn Taymiyyas ist seit Jahrzehnten darum bemüht, dessen Denken in seinen eigenen Worten zu Gehör zu bringen. Dafür hat er seit 1990 dutzende Auszüge aus dem riesigen Werk von Ibn Taymiyya ausgewählt, ins Französische übersetzt, eingeleitet, kommentiert sowie in verschiedenen muslimischen Zeitschriften und im Internet im Rahmen von drei aufeinander folgenden Reihen veröffentlicht, deren erste den Titel trug: Textes spirituels d’Ibn Taymiyya (Spirituelle Texte von Ibn Taymiyya). Zudem hat er zahlreiche Artikel mehr akademischen Charakters über das Denken Ibn Taymiyyas, großteils in englischer Sprache, für wissenschaftliche Zeitschriften und Sammelbände verfasst. Eine Auswahl der französischen Texte wurde schließlich ins Englische übersetzt und 2012 in dem Buch mit dem bezeichnenden Titel Against Extremisms (Gegen Extremismen) veröffentlicht.1 Und diese Textsammlung sollte zum Anstoß und Vorbild für unser Projekt werden, ebenfalls einige Texte aus diesem reichen Schatz herauszugreifen und ins Deutsche zu übersetzen, um Ibn Taymiyya selbst zu Wort kommen zu lassen, gegen die Extremismen aller Seiten und für das Verständnis des Islam als Weg der Mitte.

Die Auswahl der Texte, die wir mit Yahya Michot abgestimmt haben, überschneidet sich teilweise mit der in Against Extremisms getroffenen Wahl. Da Kenntnisse des Französischen im deutschsprachigen Raum weniger verbreitet sind als die des Englischen, wollten wir weitere Texte aus der französischen Originalsprache zugänglich machen. Die Texte 1, 2, 7, 8 und 9 sind in beiden Büchern enthalten. Wie diese entstammen die Texte 3, 4, 5, 6 und 10 den erwähnten Textreihen. Die Texte 11 und 12 gehören zu den Artikeln mehr akademischen Charakters und können durchaus als relativ ausführliche Abhandlungen zu einigen grundsätzlichen Fragen betrachtet werden – nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung einerseits sowie nach Salafismus und Barmherzigkeit andererseits. Die Texte wurden aus dem Französischen übertragen, mit Ausnahme von Text 12, der aus dem Englischen übersetzt wurde. Die Illustrationen entsprechen weitgehend der Gestaltung der Originaltexte und stammen von Yahya Michot selbst.

Die einzelnen Kapitel lassen sich unabhängig voneinander lesen. Einstieg und Abfolge der Lektüre mögen also Vorlieben und Interessen gemäß erfolgen. Der Textsammlung selbst ist eine Einführung vorangestellt, die Yahya Michot für diesen Band verfasst hat. Ohne seine unermüdliche Arbeit an den Schriften Ibn Taymiyyas und seine bereitwillige Zusammenarbeit hätte dieses Projekt nie realisiert werden können. Ihm gilt daher unser herzlicher Dank – wie auch dem Übersetzer Yusuf Kuhn und allen anderen Ungenannten, die wichtige Beiträge zur Projektarbeit geleistet haben. Möge Allah es ihnen allen mit reichlich Gutem vergelten und das Projekt zum Gelingen führen!

Es folgen zwei Abschnitte, um die beiden Autoren dieser Textsammlung in gebotener Kürze vorzustellen.

Zu Ibn Taymiyya

Taqī ad-Dīn Ahmad Ibn Taymiyya wurde 1263 in eine hanbalitisch geprägte Gelehrtenfamilie geboren. Seine Geburtsstadt Harrān liegt im Südosten der heutigen Türkei und gehörte damals zum Mamlukenreich (1250–1517). Wegen der mongolischen Invasionen war seine Familie 1269 zur Flucht gezwungen. Sie ließ sich in Damaskus nieder, das eines der geistigen Zentren der damaligen muslimischen Welt war. Ibn Taymiyya wuchs in Damaskus auf und studierte dort. Sein Vater starb früh, und Ibn Taymiyya übernahm im Alter von 18 oder 19 Jahren von seinem Vater den Lehrstuhl in der größten hanbalitischen Moschee in Damaskus. Ibn Taymiyya war vielseitig gebildet und meisterte alle Wissenschaften des Islam.

Ibn Taymiyya unterscheidet sich in entscheidender Hinsicht von allen früheren hanbalitischen Gelehrten. Denn er tat, was diese nie getan haben: Er las die Werke seiner Gegner. Er studierte jede Philosophie und Ideologie, die es damals gab: kalām (Theologie), tasawwuf (Sufismus), falsafa (Philosophie), griechische Logik, Werke des Aristoteles usw. Dadurch erwarb er einen einmaligen Geist und Stil, den es bis dahin nicht gegeben hat. Und darauf gründete er sein originelles Denken mit seinem ganzen Reichtum und seiner tief verwobenen Vielschichtigkeit, das sich zugleich immer wieder auf die wahren Grundlagen des Islam – Koran und Sunna – besann. Von da aus unterzog er alle Denkweisen und Philosophien einer strengen, oftmals als polemisch empfundenen, aber meist argumentativen Kritik, die sich keineswegs Vernunft und Rationalität entzog oder widersetzte. Ganz im Gegenteil, denn es war ihm dabei stets und mit unermüdlicher Leidenschaft darum zu tun, den Einklang von Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken aufzuzeigen. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die falāsifa (Philosophen) wie Ibn Sīnā und die philosophierenden mutasawwifa (Sufis) wie Ibn al-ʿArabī, sparte aber keineswegs den aschʿaritischen kalām aus, denen er allesamt ein ungenügendes Verständnis der harmonischen Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung vorhielt, das zur einseitigen und mitunter extremen Betonung des einen oder anderen Pols führte.

Ibn Taymiyya war stets ein entschiedener Unterstützer des mamlukischen Sultanats in Ägypten und Syrien, insbesondere im Widerstand gegen die wiederholten Einfälle der Mongolen nach Syrien in den Jahren 1299-1303. Doch sein unabhängiges Denken und Wirken brachte indes zuweilen die etablierte Gemeinschaft der Gelehrten und die politischen Herrscher gegen ihn auf. Dies trug ihm mehrere öffentliche Prozesse, Gefängnisstrafen und ein siebenjähriges Exil in Ägypten (1306-1313) ein. Auch nach seiner Rückkehr nach Damaskus kam es aufgrund seiner Ansichten zu Fragen der Scheidung und der Heiligenverehrung wiederholt zu Konflikten mit den herrschenden Autoritäten. Infolgedessen wurde er 1326 in der Zitadelle von Damaskus in Haft genommen. Der Aufenthalt im Gefängnis hatte ihn nicht davon abgehalten, seiner Schreibtätigkeit unablässig nachzugehen. Doch nun verstarb er 1328 in der Zitadelle von Damaskus, nachdem man ihn, der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hatte, seine Gedanken auf Abertausenden von Seiten zu Papier zu bringen, seiner Feder und anderer Schreibwerkzeuge beraubt hatte.

Ibn Taymiyya war einer der größten, scharfsinnigsten und produktivsten muslimischen Gelehrten in der Geschichte des islamischen Denkens. Seine Wirkung in all ihren Verästelungen ist so umfangreich und gewaltig, dass sie schier unermesslich erscheint und kaum zu überschätzen ist. Daran und an seiner unabgegoltenen Bedeutung und Aktualität ist nicht zu zweifeln. Bei allem Streit um Ibn Taymiyya sind sich darin wohl alle einig. Und ist das nicht schon Grund und Anlass genug für eine nähere Befassung mit seinen Gedanken in Gestalt seines eigenen Wortes? Das ist bislang zweifellos viel zu wenig geschehen. Möge diese Textsammlung einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, dem Abhilfe zu schaffen.

Zu Yahya Michot

Yahya M. Michot (geb. in Belgien, 1952) war seit 2008 Professor of Islamic Thought and Christian-Muslim Relations (Professor für islamisches Denken und christlich-muslimische Beziehungen) am Hartford Seminary (Connecticut, USA). Er ist gegenwärtig Mitherausgeber der Zeitschrift The Muslim World (Die muslimische Welt), die vom Hartford Seminary veröffentlicht wird. Von 1983 bis 1997 lehrte er Arabische Philosophie in Louvain (Belgien) und von 1998 bis 2008 Islamische Theologie in Oxford (UK). Er veröffentlichte eine Vielzahl von Büchern und Artikeln über das klassische islamische Denken – insbesondere Ibn Sīnā (Avicenna) und Ibn Taymiyya –, Drogen in muslimischen Gesellschaften und europäischen Islam. Diese Veröffentlichungen beinhalten Ibn Taymiyya: Against Extremisms (2012), Ahmad al-Aqhisārī: Against Smoking. An Ottoman Manifesto (Arabische Edition & Englische Übersetzung, 2010), Ibn Sīnā: Réfutation de l’astrologie (Arabische Edition & Französische Übersetzung, 2006), Ibn Sīnā. Lettre au vizir Abū Saʿd (Arabische editio princeps & Französische Übersetzung, 2000), und das Kapitel Revelation (Offenbarung) in Cambridge Companion to Classical Islamic Theology (2008).

Es sei hier Yahya Michots Kollegen Jon Hoover2, der sich in seiner wissenschaftlichen Forschung ebenfalls intensiv mit Ibn Taymiyya beschäftigt, das Wort überlassen. Denn er hat unlängst in einem Aufsatz mit dem Titel Ibn Taymiyya zwischen Mäßigung und Radikalismus3die jahrzehntelange beharrliche Arbeit von Yahya Michot, auf der das vorliegende Buch basiert, ausgesprochen trefflich charakterisiert:

Yahya Michot verbrachte seine frühe Karriere bis 1997 an der Katholischen Universität von Louvain, wo er sich seine Reputation als führende Autorität zu Ibn Sīnā erwarb. Er arbeitete dann für zehn Jahre an der Fakultät für Theologie an der Universität von Oxford und am Oxford Centre for Islamic Studies, bevor er im Jahr 2008 seine jetzige Professur am Hartford Seminary in den USA übernahm. Michots frühe wissenschaftliche Arbeiten sind in seiner französischen Muttersprache verfasst, und er schreibt weiterhin in dieser Sprache, obgleich mittlerweile ein erheblicher Teil seiner Arbeiten auf Englisch oder in englischer Übersetzung erscheint. Michot begann 1990, Ibn Taymiyya zu übersetzen und zu kommentieren, und er hat dies seitdem mit großer Energie fortgeführt, wodurch er zum kenntnisreichsten Leser von Ibn Taymiyya in der westlichen akademischen Welt aufstieg. Michot bringt ein hohes Maß an philologischer Fertigkeit und historischer Gelehrsamkeit in seine wissenschaftliche Forschung ein. Eine beträchtliche Zahl seiner Veröffentlichungen sind in erster Linie philologisch und historisch und tragen keinen normativen religiösen Stempel. Seine übrige Arbeit ist ebenso von philologischer und historischer Strenge geprägt, bringt aber auch die ausdrücklich moralische und theologische Stimme eines muslimischen Religionsgelehrten ein. Ein großer Teil dieses letzteren Werkes der Gelehrsamkeit besteht aus übersetzten taymiyyanischen Texten samt vollständigem wissenschaftlichen Apparat und versehen mit historischen, linguistischen, moralischen und theologischen Kommentaren, gewöhnlich in den Fußnoten und einleitenden Abschnitten. Das Herz von Michots Vorgehensweise bei der Interpretation von Ibn Taymiyya besteht darin, ausgewählte Texte zu übersetzen und in einer solchen Weise zu kontextualisieren, dass die toleranten und pragmatischen Aspekte seiner Ethik und Spiritualität hervorgehoben werden. Neben mehr als fünfundzwanzig Büchern und akademischen Artikeln über Ibn Taymiyya veröffentlichte Michot drei Reihen von kurzen ausgewählten Texten aus den Schriften Ibn Taymiyyas in französischer Übersetzung. Sechzehn dieser Texte und zwei von Michots kleineren Büchern mit Übersetzungen sind in seinem 2012 erschienenen Buch Against Extemisms4ins Englische übersetzt worden.5

Yahya Michot, Ibn Taymiyya. Against Extremisms. Texts translated, annotated and introduced. With a foreword by Bruce B. Lawrence, Beirut - Paris, Albouraq, Safar 1433 / Januar 2012.

Jon Hoover ist Professor für islamische Studien an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften an der Universität von Nottingham.

Jon Hoover, Ibn Taymiyya between Moderation and Radicalism, in: Elisabeth Kendall & Ahmad Khan (Hg.), Reclaiming Islamic Tradition: Modern Interpretations of the Classical Heritage, August 2016, Edinburgh University Press, S. 177-203.

Op. cit.

Jon Hoover, Ibn Taymiyya between Moderation and Radicalism, S. 182-183.

Einführung

Der Damaszener Theologe-Mufti Ibn Taymiyya (gest. 728/1328) wird immer wieder in Dabiq und Rumiyah, den digitalen Zeitschriften des sogenannten »Islamischen Staates« (IS), angeführt und von ihm in Anspruch genommen, um den Martertod von Muʿād al-Kasāsba zu rechtfertigen.1 Manche zögern sogar nicht, ihn als »den Gründer von ISIS« zu bezeichnen, 2 während andere herausstreichen, was Boko Haram in Nigeria ihm alles schuldet.3 Offensichtlich hat sich seine Akte seit der Zeit nicht verbessert, als er präsentiert wurde als »der Vater der islamischen Revolution« in Iran4, der Inspirator von Usāma bin Lādin und als die ferne Ursache der Anschläge vom 11. September 2001.5 Wie sollte es da noch verwundern, dass Ägypten verordnet, seine Werke aus den Bibliotheken der Moscheen zu entfernen,6 und dass in Jordanien dazu aufgerufen wird, sie zu verbrennen7?

Nahezu siebenhundert Jahre nach seinem Tod in einem Gefängnis in Damaskus bleibt Ibn Taymiyya gleichwohl einer der einflussreichsten klassischen islamischen Denker – vielleicht mehr noch als selbst al-Ghazālī, Ibn al-ʿArabī oder Rūmī. Ihm wird nicht nur Fundamentalismus, Intoleranz und radikaler Extremismus vorgeworfen, sondern er wird auch oftmals mit der Kritik überzogen, sich der Vernunft oder der Mystik entgegenzustellen. Und das immergleiche Gerede wird wieder und wieder aufgegriffen und wiedergekäut – wie beispielsweise das sogenannte Zeugnis von Ibn Battūta, dass er »eine Schraube locker hatte«8. Den Denker sich selbst erklären zu lassen, das würde ja wohl heißen, seine zahlreichen Werke zu lesen, von denen die meisten in westlichen Sprachen bis jetzt nicht verfügbar sind und die nicht selten umfangreich und gelehrt sowie in einem Arabisch geschrieben sind, das sehr anspruchsvoll ist, und die durchsetzt sind von Begriffen technischster Art der islamischen Wissenschaften – wie etwa tafsīr (Korankommentar), hadīth (Überlieferungen), fiqh (Recht), kalām (Theologie), falsafa (Philosophie), tasawwuf (Sufismus) usw. Was auf die Feststellung hinausläuft, dass nur wenige sich darauf eingelassen haben, sich von dieser Aussicht verlocken zu lassen, selbst wenn sie dazu bereit waren, die elementare Vorbereitung (die gleichermaßen von getreuen Schülern wie von modernen Wissenschaftlern zu erwarten ist) jeder sachkundigen und kritischen Lektüre zu überspringen.

Die wesentliche Absicht, die wir mit der vorliegenden Sammlung von Übersetzungen einiger Texte von Ibn Taymiyya verfolgen, ist daher so einfach wie klar: den Damaszener Schaykh al-Islām selbst sprechen zu lassen, ihm aufmerksam zuzuhören und dabei zu einem besseren Verständnis dafür zu kommen, dass er nie aufhörte, auch ein großer spiritueller Meister der via media, des Weges der Mitte zu sein, der im Herzen des traditionellen Islam liegt. Aber sind sich denn diejenigen, die Ibn Taymiyya also immer noch lesen, ihn in verschiedene europäische Sprachen übersetzen und kommentieren, nicht des offenbar »dämonischen« Charakters dieser Person bewusst? Und da der Kampf gegen den Terrorismus sich mittlerweile in Europa und andernorts nicht nur mit begrüßenswerten, legitimen Maßnahmen wappnet, sondern mitunter auch mit Hexenjagden – sind sie sich da der persönlichen Risiken bewusst, die sie möglicherweise eingehen, wenn sie Interesse für einen so umstrittenen muslimischen Denker zeigen?

Das vorliegende Werk ist unter diesem Gesichtspunkt ein Manifest der Vernunft und des Mutes. Es gründet sich auf zwei Prinzipien. Erstens: Das Setzen von Büchern auf den Index und ihre Autodafés sind Zeichen der Barbarei, niemals des Humanismus. Zweitens: Was ein Autor schreibt, ist stets repräsentativer für sein Denken als das, was andere ihm in den Mund legen aus Unwissenheit, Fehllektüre, Dekontextualisierung, Fokalisierung auf eine beschränkte Zahl seiner Schriften sowie Inanspruchnahme und Verdrehung ihres Sinnes. Für einen Augenblick sei es uns erlaubt, gewissermaßen als Arbeitshypothese anzunehmen, dass das Werk von Ibn Taymiyya eine ganz besondere Art von Garten ist, der mit Minen gespickt ist, deren Explosion fürwahr die sagenhafte »Gefahr für die Zivilisation selbst« heraufbeschwören mag… Nun kann wohl die Anpflanzung eines Feldes von Mohnblumen vor einem solchen Garten in keiner Weise das derart ausgemalte Problem lösen. Doch diese Sorte von Maßnahme ist ziemlich genau das, was gewisse Experten zu empfehlen scheinen: Sufismus als Gegengift zum Salafismus, die Zuckerkrankheit einer süßlichen Irenik als Patentrezept für den Krebs des Terrorismus. Auf der Grundlage des einfachen gesunden Menschenverstandes ziehe ich es vor zu glauben, dass es, wenn es in der Tat Minen in einem Garten gibt, für gewöhnlich nicht der Gärtner ist, der sie dort legt. Und warum außerdem nicht die Anstrengung unternehmen, den Garten von Minen zu befreien, wenn man sich noch seiner erfreuen möchte? Seit vielen Jahren habe ich mich nunmehr dieser Aufgabe gewidmet, die, wenn ich das mal so sagen darf, weniger gesundheitsgefährdend und gefährlich ist, als manche vermeinen mögen. Wie eine Reihe von Ibn Taymiyya-Spezialisten vor mir habe ich insbesondere aufgezeigt und nachgewiesen, dass die drei Anwürfe politischer Natur, die üblicherweise gegen ihn erhoben werden, gänzlich unbegründet und haltlos sind. Nein, er unterteilte die Welt nicht in einen Bereich »des Islam« und einen Bereich »des Krieges«. Nein, er war kein Tyrannenmörder; er blieb vielmehr stets loyal zum mamlukischen Sultan an-Nāsir Muhammad. Und nein, er war auch kein berufsmäßiger Exkommunikator.9

Während einige der Texte von Ibn Taymiyya, auf die ich diese Analyse gestützt habe, in der vorliegenden Sammlung enthalten sind, wäre es gleichwohl falsch, dieses Buch lediglich als eine Anstrengung zu betrachten, Minen in einem Garten zu entschärfen, mit anderen Worten, als ausschließlich reaktiv. Es ist in Wirklichkeit proaktiv, da es dazu einlädt, sich mit den Gedanken ihres Autors in ihrer Komplexität zu befassen, indem etwa eine Reihe seiner Schriften untersucht werden, denen gewöhnlich nicht die Beachtung geschenkt wird, die sie verdienen. Die Wahrheit ist freilich, dass Ibn Taymiyyas Garten immer für jeden offenstand, der ihn betreten wollte, und dass er einer der faszinierendsten Gärten der muslimischen Theologie und Spiritualität bleibt. Diese Sammlung von Texten von Ibn Taymiyya in deutscher Übertragung wurde daher eher als eine Blütenlese entworfen und konzipiert: In ihr wird eine Auswahl von Texten gesammelt und vorgestellt, wie man Blumen in einem Garten aufliest und sammelt und dann in einem Strauß arrangiert. Die Vielfalt, die Schönheit und der Duft dieses Straußes sind die eigenen Worte des Gärtners selbst und bieten das authentischste Zeugnis seiner Kunst.

Wie bei den Blumen eines Straußes können die zwölf Kapitel dieser taymiyyanischen Sammlung in jeder Abfolge genossen und geschätzt werden, jedes um seiner selbst willen, für seinen eigenen besonderen Bau und Duft. Freilich mögen manche von ihnen aus einer traditionell christlichen Sicht fremd und exotisch erscheinen oder einen für westliche Nasen weniger annehmlichen Duft verströmen. Aber auch Rosen haben ihre Dornen, und der Strauß wird dadurch in nichts gemindert. Oder kann es nicht anders sein, als dass, da wir es hier mit muslimischem Denken zu tun haben, der Baum den Wald verbergen muss?

Die in dieser taymiyyanischen Blütenlese gesammelten Texte wurden natürlich ausgewählt, doch die Auswahl wurde keineswegs vorgenommen, um »die Pille« des Denkens des Schaykh al-Islām zu »versüßen« oder um ihn »in Denkraster eingepasst zu präsentieren«, wie es die Medien nur allzu oft mit den Themen tun, über die sie berichten. Vor ein paar Jahren habe ich in einem Artikel gezeigt, wie eine revisionistische Einpassung in Denkraster (framing) von Ibn Taymiyyas Mardin- Fatwa – der Revisionismus ist dabei integraler Bestandteil eines Projekts für einen Genetisch Veränderten Islam (GVI) – sich rasch als krebserregend herausstellte.10 Mir stand daher keineswegs der Sinn danach, in die gleiche Falle zu tappen; allenfalls wünschte ich mir, durch eine Zusammenstellung neuer Übersetzungen die von Unwissenheit zeugenden Prätentionen zu erschüttern und einen gewissen Abbau überzogener Gewissheiten zu befördern. Das in diesem Sinne dargebotene Bild weist daher einen hohen Farbenreichtum und eine tiefenscharfe Ausgeglichenheit auf, mit nicht wenigen gänzlich unerwarteten Eigenheiten und Zügen. Ibn Taymiyya ist selbstverständlich nicht unfehlbar: Einzig der Prophet – Friede sei mit ihm! – ist vor Irrtum geschützt (maʿsūm) worden. Der Damaszener Gelehrte war indes ein emsiger Leser der Theologen des kalām, der sufischen Mystiker und der Denker der falsafa wie auch des Koran und der prophetischen Überlieferung. Als an Ort und Stelle praktizierender Mufti befand er sich zudem im Gleichklang mit der Gesellschaft seiner Zeit. Im Verhältnis zu vielen klassischen muslimischen Gelehrten zeichnet ihn dieser Zug ebenso aus wie die unermessliche Größe seines geistigen Rüstzeugs, die Weite seines Blicks und der Reichtum seines Denkens. Und schließlich, aber nicht zuletzt ist da dieses lebhafte Empfinden, das sein gesamtes religiöses Denken beseelt – sei es, dass er das Wesen der Religion und den Dienst an Gott erkundet, die Natur wahrer Liebe und Ekstase erläutert, die Schwächen und Fehler der Gläubigen (als Gemeinschaft wie Einzelne) untersucht, die Ansprüche der Vernunft und die Meinungen einiger der größten muslimischen Denker vor ihm einer erneuten kritischen Prüfung unterzieht oder dass er sich selbst im Verhältnis zu den Autoritäten und zu anderen, Muslimen wie Nicht-Muslimen, verortet. Und all dies tut er, ohne nachzulassen in der Erinnerung und Mahnung an die Anforderungen, im eigentlichen Herzen der Religion selbst, von Wahrheit und Licht, des Kampfes gegen Ungerechtigkeit und Übel, von Glauben und Tat, von Hören und Gehorchen, des Beschreitens des geraden Weges und der Abkehr vom Irrtum, von einsichtsvollem Verstehen und sorgfältiger Überlegung, von Geschwisterlichkeit und Toleranz, von Frieden, gesellschaftlichem Engagement und Barmherzigkeit.

Welche Bedeutung kommt da dem Umstand zu, ob der Damaszener Schaykh al-Islām nun tatsächlich ein Sufi war oder nicht? Jenseits solcher Etiketten hatte er nie ein anderes Anliegen als einen tawhīd an-nubuwwa oder Monotheismus durch Prophetenschaft: nämlich wie wir, da wir der letzten Offenbarung folgen und dem Vorbild des Siegels der Gesandten nacheifern, Gott zu einer Wirklichkeit in unserem Leben machen oder vielmehr eigentlich zur einzigen Wirklichkeit, die unser alltägliches Leben beseelt; oder auch, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, Ihn für uns »wichtiger als Wasser für den Fisch« zu machen. Er legt Zeugnis aus Erfahrung ab, da er diese »Süße des Glaubens« selbst gekostet hat: Ein solches Ziel ist nicht unerreichbar. Daher lädt er auf die Reise ein, versieht den Pfad mit Wegzeichen und reicht jedem eine Hand, der sich ihm anvertraut, hinter diesem Führer, ohne den das Universum keinen Sinn hätte, zusammen mit den anderen Muslimen, unter den Söhnen und Töchtern Adams. Und kein Sünder sollte zögern, sich dieser Karawane anzuschließen, da es nichts gibt, was Gott mehr liebt, als Er Reumütige liebt.

Viele andere Blumen müssten offenkundig diesem Strauß hinzugefügt werden, um ein endgültiges Bild von Ibn Taymiyyas spirituellem Garten zu entwerfen. Viel Arbeit bleibt noch zu tun, um den Grund hinter manchen seiner härtesten Taten in bezug auf seine Verpflichtung auf eine Religion des Weges der Mitte zu verstehen. Ein grundsätzliches Problem ergibt sich allerdings daraus, dass es in Ermangelung chronologischer Daten unmöglich ist, zu bestimmen, in welchen Kontexten die meisten Texte in der vorliegenden Sammlung zuerst das Licht des Tages gesehen haben und welche Entwicklung in seinem Denken manche von ihnen aufzeigen könnten. Selbst wenn solche chronologischen Daten verfügbar wären, wäre es immer noch notwendig, eine wesentliche Tatsache in Erinnerung zu behalten: Von den Umständen, wie sie nun einmal sind, beeinflusst und darauf reagierend, kann von den Meinungen eines Theologen-Mufti nicht immer erwartet werden, dass sie ein umfassendes und integriertes Denksystem bilden. Wie könnte ein Weg, selbst ein gerader Weg, nicht aufs Engste mit den Umrissen der Landschaft, die er durchzieht, verbunden sein?

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Neben verschiedenen Büchern habe ich in der Form von Artikeln in französischer Sprache von 1990 bis 1998 sechzehn Textes spirituels d’Ibn Taymiyya (Spirituelle Texte von Ibn Taymiyya) in der Zeitschrift Le Musulman (Der Muslim) der Association des Étudiants Islamiques de France (Vereinigung der islamischen Studierenden Frankreichs) veröffentlicht. Auf diese Textes spirituels folgten zwischen 1999 und 2002 einundzwanzig Pages spirituelles d’Ibn Taymiyya (Spirituelle Seiten von Ibn Taymiyya), die in der monatlich erscheinenden Zeitschrift Action des Vereins Action Islamique auf Mauritius veröffentlicht wurden. Im Jahr 2009 lancierte ich eine neue Reihe von Textes spirituels d’Ibn Taymiyya (Spirituelle Texte von Ibn Taymiyya), die im Internet direkt zugänglich sind, ohne, wie zuvor, zuerst auf Papier gedruckt zu werden. Bis heute sind dreiundzwanzig Textes spirituels (Spirituelle Texte) dieser neuen Reihe digital verteilt worden. Im Jahr 2012 wurde eine Auswahl von sechzehn der Textes spirituels (Spirituelle Texte) und Pages spirituelles (Spirituelle Seiten), die von 1990 bis 2010 zunächst auf Französisch veröffentlicht oder verteilt worden waren, ins Englische übersetzt und in einem Buch veröffentlicht, unter dem Titel: Ibn Taymiyya: Against Extremisms.11Die Initiative für die vorliegende taymiyyanische Blütenlese in einer deutschen Version ging von Yusuf Kuhn aus. In Abstimmung mit mir wählte er diese Texte aus und übersetzte sie ins Deutsche. Aufgrund meiner allzu geringen Deutschkenntnisse konnte ich zu diesem Prozess keinen Beitrag leisten.

Wie alle anderen Texte meiner Textes spirituels und Pages spirituelles wurden die Übersetzungen von Texten von Ibn Taymiyya, die hier auf Deutsch versammelt sind, ursprünglich für eine vorwiegend muslimische Leserschaft verfasst,12 und zwar mit zwei Anliegen: in keiner Weise von der geforderten wissenschaftlichen Strenge abzuweichen und für Nicht-Spezialisten zugänglich zu bleiben. Vielleicht kann das Maß, in dem diesen Anliegen Genüge getan wurde, ermessen werden an der Zahl der muslimischen Websites, die diese Übersetzungen reproduziert oder in ihre Diskussionsplattformen aufgenommen haben, wie auch an der Zahl der universitären Studien im Westen, die auf sie Bezug nehmen. Die Bemerkungen, die diese Übersetzungen einführen, beinhalten mitunter Überlegungen mehr persönlicher Natur.13 Im Gegensatz zu den Schriften von Ibn Taymiyya sind alle diese Bemerkungen überholt. Aus der Feder eines muslimischen Intellektuellen, dessen Ideen mitunter zu Kontroversen geführt haben, mögen manche dieser Bemerkungen als Wegmarken seines Engagements als Gläubiger dienen. Da es keinen Grund gibt, sie zu widerrufen, wurden auch diese Bemerkungen für diesen Band ins Deutsche übertragen. Sie sollten gelesen werden als das, was sie sind, nämlich ohne jegliche Erwartung entweder einer ausschließlich gelehrsamen Herangehensweise oder einer umfassenden doktrinellen Analyse der Texte, die sie einführen. Was diejenigen anbelangt, die sich für den spirituellen Fortschritt eines der Barmherzigkeit des Erha - benen Bedürftigen interessieren, so mögen sie dessen eingedenk sein, dass dies lediglich einige unter verschiedenen anderen Schriften sind und dass ein letztes Urteil über jemanden keinen Sinn macht, außer nach dessen Verscheiden.

Ein Wort zu den Illustrationen. Wie in meinen früheren Arbeiten habe ich mich dafür entschieden, die Lektüre dieser (mitunter schwierigen) Texte mit Bildern zu beleben, die einen angenehmen Anblick und gelegentlich eine Überraschung bieten. Abgesehen von persönlichen Photographien und manchen orientalistischen oder anderen Gravuren, bestehen die Bilder hauptsächlich aus arabischen Kalligraphien und Illustrationen, die aus antiken, vormodernen oder zeitgenössischen muslimischen Quellen stammen. Gemäß dem hadīth: »Gott ist schön, und Er liebt die Schönheit«. Allzu oft fehlt diese Schönheit heutzutage im alltäglichen Leben der Muslime und bleibt in ihrem Verständnis der Religion unberücksichtigt, obgleich sie die Spiritualität der Gläubigen in der Vergangenheit bereicherte. Habe ich dazu einen Beitrag geleistet, indem ich ein zugleich schönes und nützliches Buch produziert habe? Ich weiß es nicht, aber es war meine bewusste Absicht, dies zu tun.14

Yusuf Kuhn und die Projektgruppe um ihn herum waren die treibende Kraft, ohne die dieses Buch nicht das Tageslicht hätte erblicken können. Sie haben es mit bewunderungswürdiger Kenntnis, Hingabe und Geduld verfertigt. Ich bin ihnen außerordentlich dankbar und bitte den Erhabenen, die Anstrengungen, die sie für seine Herstellung aufgewandt haben, zu vergelten, ohne zu rechnen. Fa-dschazā-kum Allāh khayr al-dschazāʾ!

Yahya Michot
Hartford, 7. Oktober 2017

Muʿādh al-Kasāsba ist ein jordanischer Pilot, der 2015 von IS bei lebendigem Leibe verbrannt wurde.

Siehe Islamic Philosopher, Ibn Taymiyyah: The Founder of ISIS, 9.12.2015, Website »Islamic Philosophy«, http://islam.hilmi.eu/ibn-taymiyyah-thefounder- of-isis.

Siehe A. Barkindo, »Join the Caravan«: The Ideology of Political Authority in Islam from Ibn Taymiyya to Boko Haram in North-Eastern Nigeria, in: Perspectives on Terrorism, 7/3, Juni 2013, S. 30-43.

Siehe Emmanuel Sivan, Ibn Taymiyya: Father of the Islamic Revolution. Medieval Theology & Modern Politics, in: Encounter, Bd. LX/v, 1983, S. 41- 50.

Siehe T. H. Kean, The 9/11 Commission Report. Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks Upon the United States, New York – London, W. W. Norton & Company, 2004, S. 362.

Siehe Abū Hudhayfah, Egypt to remove books of Ibn Taymiyyah, Ibn Baz and Ibn Uthaymeen from all mosques, 27. Juni 2015, Website »DOAM. Documenting Oppression Against Muslims«, http://www.doamuslims.org/? p=3861.

Siehe F. Abū Hilāl, ʿAn ihrāq al-Kasāsba wa »ihrāq« Ibn Taymiyya, 7. April 2015, Website »ʿArabī 21«, http: http://arabi21.com/story/8225y9/.

Siehe D. P. Little, Did Ibn Taymiyya Have a Screw Loose?, in: Studia Islamica, Bd. XLI, Paris, 1975, S. 93-111. – Nachgedruckt in seiner History and Historiography of the Mamlūks, VIII, London, Variorum Reprints, 1986.

Siehe Yahya Michot, Mamlūks, Qalandars, Rāfidīs, and the »Other« IbnTaymiyya. The Thirteenth Annual Victor Danner Memorial Lecture, 15. April 2015, Bloomington, Indiana University, Department of Near Eastern Languages and Cultures, 2016.

10 Siehe Yahya Michot, Ibn Taymiyya’s »New Mardin Fatwa«. Is genetically modified Islam (GMI) carcinogenic?, in: The Muslim World, 101/2, April 2011, S. 130-181; S. 148.

11 Siehe Yahya Michot, Ibn Taymiyya. Against Extremisms. Texts translated, annotated and introduced. With a foreword by Bruce B. Lawrence, Beirut - Paris, Albouraq, Safar 1433 / Januar 2012.

12 Mit Ausnahme der Kapitel 11 und 12. Der erste Text wurde ursprünglich als ein Artikel in einer akademischen Zeitschrift veröffentlicht; der andere als ein Kapitel im Sitzungsbericht einer akademischen Konferenz.

13 Eine Klarstellung für jene, die sich über die ziemlich ungleiche Länge dieser einführenden Bemerkungen verwundern: In den ursprünglichen Textes spirituels und Pages spirituelles war ihre Länge im allgemeinen abhängig von den Zeilen, die auf der Seite verfügbar waren, nachdem der Text und seine Anmerkungen verfasst und gesetzt worden waren, wobei keinerlei freie Stellen oder ein Übergreifen auf irgendeine folgende Seite erlaubt waren. Ein Autor, der den Satz seiner Schriften übernimmt, kommt eben nicht umhin, auch diese Art von Anliegen zu befolgen!

14 Ich bin mir dessen bewusst, dass manche Leser aufgrund des figurativen Charakters mancher der Illustrationen ein Unbehagen befallen mag. Die Lösung, zu der in einer vergleichbaren Situation ein puritanischer Leser des wunderbaren Sankt-Petersburg-Manuskripts der Maqāmāt von al- Harīrī griff, bestand darin, die dargestellten lebendigen Wesen ihres Lebens zu berauben, indem er ihren Hals mit einem Federstrich durchgestrichen hat!