image



Gabriele Ketterl


Die Raben der Kastiliens 


 Venetian Vampires 2

 








Edel Elements

Zu dieser Trilogie gehören:

Venetian Vampires 1: Kinder der Dunkelheit

Venetian Vampires 2: Die Raben Kastiliens

Venetian Vampires 3: Geschenk der Nacht

Das Buch:

Der Spanier Angel ist ein Hüter der Dunkelheit. Er erfährt seine Wandlung im 17. Jahrhundert, als seine kleine Familie von der Pest dahingerafft wird und er selbst einen grausamen Tod erleiden soll. Doch Vittorio, Anführer der Raben Kastiliens und einer der Ältesten, bringt ihn ins Leben zurück.

Über Jahrhunderte verschließt Angel sein Herz, bis er 2011 in Córdoba der schönen Italienerin Veronica begegnet.

Eine Begegnung mit unerwarteten Folgen, denn die Feinde aus der Vergangenheit sind längst nicht alle ausgelöscht. Veronica steht im Mittelpunkt der Aktionen eines gefräßigen Imperiums, das durch Drogen und Mord sein Geschäft ausweitet. Unterstützung erfährt der mächtige Tycoon ausgerechnet durch den Erben des alten Feindes, der mit allen Mitteln daran geht, den großen Plan zur Vernichtung der Kinder der Dunkelheit zu vollenden …

Die Autorin:

Gabriele Ketterl wurde in München geboren, wo sie auch heute wieder mit ihrer Familie lebt.

Sie ist u. a. Autorin von Kinderbüchern, Essays und Drehbüchern.

Sie absolvierte ein Studium der Amerikanistik und Theaterwissenschaften an der Ludwig- Maximilians-Universität in München.

Die Autorin lebte über zwei Jahre auf den Kanarischen Inseln, wo erste Kurzgeschichten entstanden, und bekam viele weitere Inspirationen durch weitere Auslandsaufenthalte, unter anderem in Los Angeles und London.

© 2019 Edel Germany GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburg

Für

Tina, Melanie, Markus und Corina

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Zwischenspiel

Dritter Teil

Epilog

Danksagung

Prolog

SEIN VERSTAND WAR KAUM MEHR in der Lage zu erfassen, was mit ihm geschah. Blut lief in seine Augen und nur langsam begriff er, dass der letzte Schwertstreich Adolfos ihm eine tiefe Kopfwunde beschert hatte. Er versuchte, sein Schwert erneut anzuheben, doch es entglitt seinen kraftlosen Fingern.

Adolfos siegessicher grinsendes Gesicht verschwamm vor seinen Augen und seine Beine versagten ihm den Dienst. Kraftlos sank Angel zu Boden. Das letzte, was er fühlte, war, wie sie ihn grob unter den Armen packten und fortzerrten. Wie aus weiter Ferne nahm er das Knarzen des kleinen Stadttores wahr, dann umfing ihn tiefe Dunkelheit.

B

Als Angel wieder zu sich kam, schossen unbeschreibliche Schmerzen durch seinen Körper. Bestialischer Gestank stieg ihm in die Nase. Es war der faulige Geruch des Todes. Sein Versuch, Arme und Beine zu bewegen, scheiterte kläglich. Mühsam öffnete er die Augen. Das Bild, das sich ihm bot, hätte er lieber nicht gesehen. Er lag zwischen bewegungslosen, starren Körpern. Man hatte ihn sterbend zu den Pesttoten vor die Mauern der Stadt geworfen. Noch vor Ende der Nacht würde er mit ihnen brennen.

Wut kochte in ihm hoch. Noch nie in seinem ganzen Leben war Angel so zornig gewesen.

Jetzt zu sterben war so sinnlos. Sein Kampf mit den Schutztruppen des Bischofs war viel zu kurz ausgefallen. Allein gegen eine ganze Einheit, was hatte er erwartet? Es war blanker Wahnsinn gewesen. Genauso wie es Wahnsinn war, die Unschuldigen, die Bewohner des Armenviertels der von der Pest heimgesuchten Stadt einfach krepieren zu lassen.

Was aber hatte sein persönlicher Rachefeldzug gebracht? Eine Handvoll toter Soldaten. Diejenigen, die er tatsächlich hatte treffen wollen, waren noch immer in Sicherheit, versteckt hinter den hohen Mauern ihrer Paläste. Sicher vor dem Hauch des Todes, den die Seuche über die Stadt sandte.

Wirr schossen Gedankenfetzen durch seinen Kopf. Angel schloss die Augen. Sich gegen den Tod zu wehren schien zwecklos. Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, ihn klaglos anzunehmen. Nur so würde er seinen Lieben wieder nah sein können. Sie wieder in die Arme zu schließen, erschien im erstrebenswerter als alles andere und doch brannte da noch etwas in ihm.

Ein Funke, der sich beharrlich weigerte zu erlöschen:

Der verzweifelte Wunsch weiterzuleben.

Ein Wunsch, der ihm wohl nicht mehr erfüllt werden würde, denn er fühlte die Dunkelheit kommen. Mit sanften und doch fordernden Fingern griff sie nach ihm und endlich glaubte er sich bereit dazu, sein Leben loszulassen. Es würde gut sein, diese grauenvollen Schmerzen nicht mehr ertragen zu müssen, dem goldenen Schein inmitten der samtenen Schwärze näherzukommen.

Angel hieß den unausweichlichen Tod willkommen.

Die warme, tiefe Stimme drang nur noch wie aus der Ferne zu ihm durch, erreichte mit Mühe seinen Geist:

»Nein, mein Sohn. Du wirst uns nicht wegsterben. Schon gar nicht hier und heute. Bleib bei uns. Ja, bleib bei uns, auf lange, lange Zeit.«

ERSTER TEIL

1.
Provinz Toledo, 1690

VORWITZIGE SONNENSTRAHLEN KITZELTEN SEINE NASE. Der Frühling hatte, besonders am frühen Morgen, einen ganz besonderen Geruch. Blütenkelche öffneten sich, die Blumen auf den umliegenden Wiesen und auch das frische Grün der Bäume, all das vereinte sich zu einer Symphonie aus wundervollen Düften.

Angel ließ die Lider geschlossen, verabschiedete sich von seinen letzten, durchaus angenehmen Träumen und genoss die Eindrücke des beginnenden Tages. Erst als sich zaghaft das köstliche Aroma von Kaffee in diese unvergleichliche Komposition der Natur mischte, öffnete er erwartungsvoll die Augen. »Ach nein, der edle Herr geruht zu erwachen und sich, so ich doch hoffe, seinen ergebenen Untertanen anzuschließen?« Xavier, sein langjähriger Freund und zuverlässigster Mitstreiter, hielt ihm grinsend einen Becher entgegen, aus dem verheißungsvoller Dampf aufstieg.

Dankbar ergriff Angel das heiße Gefäß und schälte sich aus den Fellen, in die er sich eingehüllt hatte. Vorsichtig, um nichts von dem Kaffee zu verschütten, rutschte er zu seinen Gefährten ans flackernde, wärmende Feuer.

»Du wirst entschuldigen, mein alter Freund, wenn ich noch ein wenig müde bin. Darf ich dich daran erinnern, dass ich es war, der die erste Wache hatte und ein ganz gewisser Herr erst fast zwei Stunden zu spät zur Ablösung erschien?« Der feixende Unterton, der in Angels Stimme mitschwang, zeigte, dass er nicht ernstlich verärgert war.

Ihrer aller Blick glitt zu einem in eine warme Decke eingewickelten Bündel hinüber. Nur eine Nasenspitze lugte gerade noch so daraus hervor. Der Träger dieser Nase schlief ganz offensichtlich den Schlaf des Gerechten.

Angel lächelte nachsichtig. »Mir war schon gestern Abend klar, dass Manuel und diese hübsche Schwarzhaarige wohl ein wenig länger in, wie sage ich das am besten, nennen wir es ›angeregter Konversation‹ versunken sein würden. Kein Wunder, dass meine Ablösung erst an zweiter Stelle in seinem Kopf stand. Aber gönnen wir es ihm. Er ist jung und er war lange weg von zu Hause.« Seufzend streckte Angel die langen Beine aus und legte die Hände um den wärmenden Kaffeebecher.

»Du bist zu gutmütig, Angel. Aber was soll’s? Eigentlich hast du ja recht. Der Bengel hat auf der Reise gute Arbeit geleistet, gönnen wir ihm den Spaß.« Xavier warf einen neuerlichen Blick auf das Deckenbündel. »Aber irgendwann wird er wohl aufwachen müssen.«

»Lass gut sein. Ich denke, wir haben noch eine Weile.« Angels Blick huschte hinüber zu dem kleinen Gasthaus, in dem ihr Dienstherr sicher noch selig schlummerte. »So wie ich Don Raul kenne, wird er die letzten Tage der Reise, und vor allem die damit verbundene Ruhe, noch genießen. Sobald er wieder bei Frau und Töchtern ist, hat es sich mit Müßiggang und Frieden.«

»Das Argument hat was. Dona Clara ist eine liebe Frau, aber schrecklich anstrengend. Ganz zu schweigen von seinen vier Töchtern. Mal im Ernst, Männer, ich bin verdammt froh, dass ich zwei Söhne habe.«

Jesús, der Vierte im Bunde, kratzte sich lachend an seinem von Bartstoppeln überzogenen Kinn. »Aber selber schuld, was muss er vier Mädchen in die Welt setzen?«

Angel räusperte sich leise. »Das sagt der Richtige! Eine Welt ohne Frauen käme doch für dich dem Fegefeuer gleich. Du kannst von Glück sagen, dass deine Frau andauernd beide Augen zudrückt und eine Engelsgeduld an den Tag legt. Ansonsten hätte sie dich längst in die Wüste geschickt.«

»Einen Mann mit meinen Qualitäten schickt man nicht in die Wüste, mein Lieber. Wie nannte mich die reizende Schankmaid an unserem letzten Rastplatz so richtig? Augenblick, gleich fällt es mir wieder ein: Ein Geschenk Gottes! Lasst euch das gesagt sein. Macht das erst einmal nach.« Genüsslich lächelnd versenkte Jesús die Nase in seinem Kaffeebecher.

Xavier, der Älteste der Truppe, zog eine Grimasse und wandte sich an Angel. »Was ist mit dir? Ich erinnere mich an Fahrten, bei denen du keinen einzigen Frauenrock ausgelassen hast. Seit du verheiratet bist, scheinst du mit Scheuklappen durch die Welt zu laufen. Versteh mich nicht falsch, mein Freund, ich bin der Letzte, der es dir nicht gönnt, wenn du vor Liebe blind bist. Aber es fällt mir schwer, mich an diesen neuen Angel zu gewöhnen. Falls du weißt, was ich meine.«

Angel grinste leise in sich hinein, stellte seinen leeren Becher ab und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das lange, dunkelbraune Haar. »Was soll ich sagen? Ich verstehe es ja selber kaum. Die letzten drei Jahre waren für mich wie ein Wunder. Als ich Sarah erblickte, war es, als ob zum ersten Mal in meinem Leben die Sonne aufgehen würde. Ich hatte nur noch Augen für sie und konnte an nichts anderes mehr denken. In dem Augenblick wusste ich, wie sich echte, wahre Liebe anfühlt. Sie ist alles, was ich je wollte, wonach ich mich je gesehnt habe. Es fühlt sich so absolut richtig an, dass ich das auf gar keinen Fall zerstören möchte. Glaub nicht, dass ich die vielen hübschen Mädchen nicht mehr sehe, aber sie reizen mich einfach nicht mehr. Ich brauche nur noch Sarah und meinen süßen kleinen Sohn. Mehr will ich nicht.«

»Gütiger Himmel. Du klingst wie ein satter, zufriedener alter Mann, Angel. Was ist nur aus unserem wilden Anführer geworden, der zwei Frauen pro Nacht glücklich machen konnte?« Jesús warf Angel einen herausfordernden Blick zu.

»Na, dafür haben wir ja dich, Jesús. Du tust dein Möglichstes, um die Lücke, die ich hinterlassen habe, nach Leibeskräften auszufüllen. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Angel schlug seinem langjährigen Weggefährten kräftig auf die Schulter. »Versuch nicht, dich an mir zu messen. Du könntest jämmerlich scheitern, das wäre miserabel für dein ansehnliches Selbstbewusstsein.«

Jesús kam nicht mehr dazu, eine passende Antwort zu finden, denn drüben im Gasthaus öffnete sich die Vordertür und die eindrucksvolle Silhouette Don Rauls erschien in der Morgensonne.

»Guten Morgen, Männer! Kommt herüber und wir essen gemeinsam. Ihr seid sicher hungrig!« Don Rauls tiefe Stimme tönte durch die Stille des sonnigen Morgens.

»Sehr gern, Don Raul, wir kommen sofort!« Angel winkte seinem Herrn erfreut zu. Leise wandte er sich an Xavier. »Wir haben mit ihm wirklich das große Los gezogen. Einen Dienstherrn wie ihn findet man nicht alle Tage.«

»Wie wahr. Glaub mir, ich bin dafür auch sehr dankbar. Los, wecken wir den Jungen auf. Auch wenn er uns verfluchen wird, wer weiß, welche süßen Träume er gerade hat.« Lächelnd erhob sich Xavier und stapfte zu dem schlafenden Manuel hinüber. Ruckartig zog er ihm die wärmende Decke weg.

Der schoss erschrocken hoch. »He, seid ihr verrückt geworden? Ich werde erbärmlich erfrieren.« Schimpfend zog sich der so rüde Geweckte die Decke wieder über den Leib.

»Nichts da! Los, aufstehen. Don Raul hat uns alle eingeladen, mit ihm das Frühstück einzunehmen. Du kommst gefälligst mit.« Angels Stimme duldete keinen Widerspruch.

Der kam auch nicht, im Gegenteil. »Oh, essen? Das ist etwas anderes. Ich bin ja so was von hungrig.« Eilig sprang Manuel auf, rieb sich den Schlaf aus den schwarzen Augen und schüttelte die widerspenstigen Locken. »Gehen wir?«

Jesús runzelte die Stirn. »Weiber und Essen, gibt’s sonst noch was, das dich derzeit beschäftigt?«

Manuel gelang ein – nur leicht – schuldbewusstes Grinsen. »Um ehrlich zu sein, nicht viel. Wozu auch? Das reicht doch vollkommen.«

Angel betrachtete lächelnd seine Männer. »Eure Probleme möchte ich haben. Vorwärts, wir räumen rasch auf und dann essen wir. Ich möchte Don Raul nicht warten lassen.«

In Windeseile löschten sie das Feuer, spülten ihr Geschirr aus und verstauten alles auf dem Wagen mit dem Reisegepäck. Wenige Minuten später liefen sie über den Hof des Gasthauses, wobei der Duft frisch gebackenen Brotes ihre Schritte zusätzlich beflügelte.

B

Don Raul lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme über seinem stattlichen Bauch. »Angel, diese Reise geht ihrem Ende entgegen. Morgen werden wir Toledo erreichen. Meine Erwartungen wurden in jeder Weise erfüllt. Ich habe fast meine ganze Ware verkauft und beste neue mitgebracht. Diese Stoffe werden mir die Damen Toledos aus den Händen reißen, lass dir das gesagt sein. Du und deine Männer waren mir eine große Hilfe und ich habe mich, wie immer, vollkommen sicher gefühlt.«

»Es freut mich, das zu hören. Die Reise war friedlich, bis auf einige kleine Strauchdiebe, die glaubten, uns überlisten zu können. Es war schön, wieder mit Euch durch die Welt zu fahren, Don Raul.« Angel sah seinen Herrn fast schon liebevoll an.

Seit mehr als acht Jahren begleitete er ihn nunmehr auf seinen Handelsfahrten. An seinem achtzehnten Geburtstag hatte der Don ihn, den Sohn eines einfachen Tischlers, gefragt, ob er ihn nicht begleiten wolle. Als helfende Hand und zum Schutz der Wagen. Fast jedes Jahr war er seither mit ihm losgezogen und seit fünf Jahren war er gar der Anführer der kleinen Truppe, die den Don begleitete. Don Raul war ihm fast wie ein zweiter Vater und Angel schätzte und liebte den Mann, dessen Haar nun langsam weiß wurde, sehr.

»So soll es sein. Auch wenn ich weiß, dass du derzeit lieber bei Frau und Kind wärst. Freu dich! Morgen wirst du sie wiedersehen. Ich merke doch, dass du es kaum mehr erwarten kannst. Allein wenn ich sehe, wie deine Augen strahlen, wenn ich nur von ihnen spreche. Warte mal.« Don Raul erhob sich dank seiner Leibesfülle etwas mühsam aus dem wuchtigen Lehnstuhl und bedeutete Angel, ihm zu folgen.

Bei den großen Planwagen angekommen, steuerte Raul zielsicher auf das Fuhrwerk mit den Stoffen zu. Er löste die schwere Plane mit sicherem Griff und schlug sie zurück. Rasch hatten seine tastenden Finger gefunden, wonach er gesucht hatte. Vorsichtig zog er einen kleinen Ballen mit burgunderrotem, feingewebtem Stoff hervor.

»Sieh doch, Angel. Ist diese Farbe nicht perfekt für Sarah? Sie wird ihre natürliche Schönheit noch unterstreichen. Hier, nimm. Ich schenke ihn dir. Bring ihn ihr mit, damit sie eine kleine Entschädigung für deine lange Abwesenheit hat.«

Angel nahm das kostbare Geschenk hocherfreut und dankbar an. »Don Raul, Ihr seid zu großzügig. Das ist wirklich sehr freundlich von Euch. Ich weiß, dass Sarah sehr glücklich darüber sein wird.« Vorsichtig glitten seine Finger über den weichen Stoff.

»Dann ist es gut, ich werde auch jedem der anderen noch eine Kleinigkeit für zu Hause mitgeben, aber ich wollte, dass du den hier schon einmal hast. Ich will, dass du weißt, wie sehr ich dich schätze und wie sehr du mir ans Herz gewachsen bist, Angel. Du bist mir zu dem Sohn geworden, den ich nie hatte.« Don Raul ergriff Angels Oberarme und drückte ihn kurz an sich. »Und bevor wir jetzt allzu sentimental werden, brechen wir auf. Ich hole noch rasch meine persönlichen Dinge aus dem Gasthaus. Bitte lass anspannen. Es geht nach Hause, Angel!«

2.

Unruhig ließ Nunzio seinen Blick über die Stadt schweifen, die dort im Schein der Morgensonne vor ihm lag. Die Stille war trügerisch. Im Augenblick war es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Natürlich wusste er, wie er eigentlich hätte handeln sollen. Eigentlich! Denn er gedachte durchaus nicht seinem, sich zaghaft zu Wort meldendem, Gewissen zu folgen.

Wie lange hatte er alle Last auf sich genommen, um endlich hier zu stehen? Es durfte keinesfalls alles vergebens gewesen sein. Nein, zu hart war sein Weg gewesen, um nun das Falsche zu tun.

Das Falsche? Schade, dass man seine Gedanken nicht einfach abzustellen vermochte, doch auch das würde er noch meistern. Ein zaghaftes Klopfen riss Nunzio aus seiner Nachdenklichkeit.

»Ja? Wer ist denn da?«

»Eminenz, ich bin es, darf ich eintreten?«

»Komm herein, ich habe schon auf dich gewartet.« Nunzio straffte seine Schultern und sah seinem Adlatus mit strengem Blick entgegen. »Du weißt, dass ich es nicht schätze, wenn andere meine Zeit vertändeln.«

Isaias Blick ließ deutlich erkennen, was er von den Worten seines Herrn hielt, doch er zog es vor zu schweigen. Weder hatte ihn Nunzio rufen lassen, noch war er in irgendeiner Weise zu spät. Folglich war er sich keiner Schuld bewusst. Daher verbeugte er sich vor Nunzio und nuschelte eine kaum hörbare Entschuldigung.

»Schon gut, sag mir lieber, was die ausgesandten Boten zu berichten hatten.« Nunzios Nervosität ließ sich kaum verbergen.

»Herr, die Krankheit hat sich ausgebreitet. Derzeit sind bereits drei Stadtviertel betroffen.«

»Welche sind das?«

»Die drei hinter den östlichen Toren, Herr. Das Viertel der Handwerker ist leider seit letzter Nacht auch mit der Krankheit geschlagen.«

Nunzio atmete tief ein. Das war höchst ärgerlich. Die Handwerker wurden gebraucht. Dringend! »Wie viele sind dort schon erkrankt?«

»Nur Carlos, der alte Tischler. Er war in den Hütten im Armenviertel unterwegs und hat Nahrung und irgendwelche Heilmittel verteilt. Dabei muss er sich wohl angesteckt haben.«

»Sind das alle, kein anderer?«

»Nein, Eminenz, nicht, soweit ich weiß.« Isaias Blick ruhte fragend auf seinem Herrn.

Doch der trat schweigend ans Fenster und schien ihn kurzfristig vergessen zu haben. »Isaia, wer ist das da unten?«

Isaia eilte an seine Seite und folgte dem ausgestreckten Zeigefinger. Nunzio zeigte auf eine junge Frau, die, ihr Kind in einem Tuch vor dem Körper tragend, verzweifelt gestikulierend vor der Wache im Innenhof stand. Er kniff die Augen zusammen, um die Frau gegen die aufsteigende Sonne erkennen zu können.

»Oh, das ist die Tochter des Schmiedes, mit ihrem kleinen Jungen. Ich habe sie vorhin gesehen, als ich über den Hof lief. Soweit ich gehört habe, bat sie um Medizin für die Kranken und darum, Ärzte zu ihnen zu schicken.«

»Was in aller Welt tut die Frau hier im Hof? Wer hat sie hereingelassen? Werft sie hinaus! Sofort! Ist euch Dummköpfen denn nicht bewusst, dass sie die Krankheit in sich tragen kann? Schick sie weg. Los, geh schon!«

»Eminenz? Sie bittet doch nur um Hilfe. Können wir ihr denn nicht ein paar Mittel aus unserem Arzneivorrat mitgeben?« Isaia klang fassungslos, auch wenn es so schien, als versuche er seine Gefühle vor Nunzio zu verbergen.

»Nein, das können wir nicht. In jeder Sekunde, die sie hier verbringt, kann allein ihr Atem den Tod bringen. Du gehorchst jetzt sofort und sorgst dafür, dass sie dieses Haus verlässt.« Ohne Isaia eines Blickes zu würdigen drehte Nunzio sich um und schickte sich an, den Raum zu verlassen. An der Tür angelangt, wandte er sich Isaia noch einmal kurz zu. »Und wenn du sowieso unten bist, dann schick mir Adolfo. Er soll sich beeilen.«

Isaia verbeugte sich tief. Er schien Nunzio gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es nicht erstrebenswert war, ihn zu verärgern. Mit mürrischem Gesicht trollte sich Isaia in den Innenhof.

Die junge Frau war ausgerechnet auf Adolfo getroffen und versuchte noch immer, den Hauptmann der bischöflichen Wache zu überzeugen, dass die Menschen in der Stadt Hilfe brauchten.

»Adolfo, wir kennen uns seit Kindertagen. Was ist denn nur mit dir geschehen? Ich bitte dich nicht um Gold oder Silber, sondern nur um Heilmittel für die Menschen. Ein wenig Nahrung, damit sie bei Kräften bleiben und sich gegen die Krankheit wehren können.« Ihre sanften braunen Augen ruhten fragend auf dem hochgewachsenen Mann.

»Lass es gut sein, Sarah. Ich habe meine Anweisungen und denen leiste ich Folge. Es ist besser, du gehst jetzt.« Adolfo konnte der einstigen Freundin offenbar nicht in die Augen blicken, denn er sah stur über ihren Kopf hinweg.

Sarah schüttelte traurig den Kopf. »Du enttäuschst mich fürchterlich. Ich hatte ein wenig mehr Menschlichkeit von dir erwartet, von allen hier. Gerade hier!«

Noch ehe Adolfo zu Wort kommen konnte, tippte Isaia ihm auf die Schulter. »Du sollst zu seiner Eminenz kommen, jetzt gleich. Ich kümmere mich darum.«

»Ja, tu das!« Adolfo lief mit solch schnellen Schritten über den Hof, dass ein Blinder hätte erkennen können, wie froh er war, dieser Situation entronnen zu sein.

Isaia war nicht weniger unglücklich, aber Order war Order. »Sarah, ich kann dir auch nichts anderes sagen. Es tut mir aufrichtig leid, aber ich darf dir nicht helfen.«

Sarah seufzte leise und traurig. »Du kannst nicht oder du willst nicht?«

»Ich kann nicht. Klare Anweisung des Bischofs. Es tut mir ehrlich leid. Ich habe versucht, ihn umzustimmen. Er will nicht, dass Menschen, die schon erkrankt sein könnten, hier um Medizin betteln.«

»Das werden sie auch, wenn niemand hilft und alle nur zusehen.« Aus der Stimme der jungen Frau klang Verzweiflung. »Kaum einer arbeitet mehr, sei es, dass er krank ist oder sich aus Furcht vor Ansteckung nicht mehr aus dem Haus wagt. Es gibt fast keine Nahrungsmittel mehr in unserem Viertel. Sag mir, wie wir überleben sollen.«

»Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Ich muss dich jetzt, so sehr ich es bedaure, bitten zu gehen.« Isaia fühlte sich nicht wohl in seiner Haut.

Sarah sah noch einmal hinauf zu den Fenstern in den oberen Räumen. Isaia folgte ihrem Blick und bemerkte die dunkle Gestalt, die sich hastig in den Schatten zurückzog. »Sag deinem heiligen Mann dort oben, dass er die Menschen ebenso gut eigenhändig töten könnte. Sein Handeln ist alles andere als christlich!«

»Sarah, ich denke, es ist jetzt wirklich besser, du gehst. Du weißt doch, dass die Wände hier Ohren haben. Bitte, geh. Ich hoffe, du schaffst es, und der Kleine auch.« Isaia wich Sarahs Blick aus und zeigte halbherzig auf das Tor, das nur noch zur Hälfte geöffnet war.

Wie auf Kommando begann in diesem Augenblick das Kind in Sarahs Armen zu weinen. Sie wandte sich um, weg von Isaia, weg von den Menschen hier, die jede Hilfe verweigerten und damit so viele zu einem grausamen Tod verurteilten.

Mit müden Schritten schlurfte Sarah zum Tor, das direkt hinter ihr mit lautem Krachen geschlossen wurde.

Das Weinen ihres kleinen Sohnes wurde lauter und als sie ihm im Gehen zärtlich über das Köpfchen streichelte, fühlte sie zu ihrem Entsetzen, dass Juanitos kleiner Körper im Fieber brannte.

B

»Ein Goldstück für deine Gedanken!« Angel war eine Weile neben Xavier geritten, ohne dass jener ihn überhaupt wahrgenommen hätte. Er schien in Gedanken sehr weit weg zu sein.

»Was ich denke, darfst du gern erfahren, ohne dich dafür ruinieren zu müssen.« Xavier lächelte seinen langjährigen Weggefährten nachsichtig an. »Ich freue mich ganz einfach auf mein Weib und meine Tochter. Man vermag es kaum zu glauben, doch sie ist schon vierzehn Jahre alt. Sie ist ein großes Mädchen geworden und uns eine wahre Hilfe. Soll ich dir etwas verraten? Wir alle haben wahrlich viel Glück gehabt in unserem Leben. Der Herr hat es gut mit uns gemeint.«

Angel grinste zurück. »Dem hast du das Mädchen ja nicht zu verdanken, ich denke, das warst du selbst, mein Freund.«

»Hüte deine Zunge, du Lästermaul. Irgendwann wirst du auf jemanden treffen, der deine leichtfertigen Reden nicht mit so viel Humor nimmt wie ich.« Xavier warf Angel einen mahnenden Blick zu.

Der zuckte nachlässig die Schultern. »Für mein Leben bin allein ich verantwortlich. Aber wenn es dich beruhigt, ich wage zu glauben, ein gutes Verhältnis zu den himmlischen Obrigkeiten zu haben.«

Xavier grunzte resignierend. »Du bist ein hoffnungsloser Fall, Angel. Aber das musst du selbst wissen.« Er nahm die Zügel in die rechte Hand und streckte sich auf dem sich sanft wiegenden Pferderücken. »Wie sehen denn deine Pläne aus, wenn du wieder in Toledo bist?«

»Die für die erste Nacht oder ganz im Allgemeinen?«

»Angel! Nun sei doch einmal ernst.« Xavier runzelte die Stirn. »Du weißt, Don Raul wird erst in etwa fünf Monaten wieder losfahren. Mein Bruder ist schon vor einem Jahr in den Dienst der Kirche getreten. Er bewacht die Transporte zwischen den diversen Bistümern. Die Heilige Kirche zahlt nicht schlecht, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Du solltest dir das auch überlegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was Don Raul dir hierfür gibt, so lange reichen wird.«

Angel verzog das Gesicht. »Für die Kirche arbeiten? Um ehrlich zu sein, mein lieber Freund, das ist nicht mein innigster Wunsch. Aber wenn es dich beruhigt, ich werde darüber nachdenken. Ich möchte schließlich, dass es Sarah und Juanito an nichts fehlt.«

»Gut so. Wir können eben nicht immer nur unseren eigenen Wünschen und Träumen folgen. Träume zahlen kein Brot!«

»Das ist ein gutes Argument. Wie gesagt, ich werde darüber nachdenken. Es wird ja nicht für ewig sein. Früher oder später bricht Don Raul wieder auf und ich werde an seiner Seite sein.«

»Ich ebenso. Aber ich muss leben und essen, du verstehst? Jedoch gestehe ich ein, dass ich, sobald ich wieder in meinem gemütlichen Heim bin, erst einmal Wein, Weib und Ruhe genießen werde. Wenigstens für zwei oder drei Wochen, das habe ich mir verdient. Das haben wir uns alle verdient.« Der erfahrene Recke wechselte erneut seine Sitzposition auf dem großen Rappen. »Und ich gebe zu, ich freue mich auf eine Sitzgelegenheit, die einfach nur stillhält!«

»Nur noch dieser Tag und eine Nacht! Wenn alles gut geht, sehen wir bereits morgen zur Mittagsstunde die Mauern von Toledo, also halt durch.« Angel stieß Xavier freundschaftlich in die Seite, gab seinem Pferd mit einem leisen Lachen die Sporen und ritt zum Ende des Wagenzugs, um dort nach dem Rechten zu sehen.

B

Das Gesicht des alten Benito war von tiefer Sorge gezeichnet. »Sarah, mein Kind, das sieht gar nicht gut aus. Warum hast du nicht auf mich hören wollen? Ich hatte dich gewarnt, nicht zu den Kranken zu gehen.« Benitos Hand ruhte auf der heißen Stirn des kleinen Juanito. »Dies hier ist kein normales Fieber. So sehr ich den Gedanken auch hasse, aber ich befürchte, du hast diese schreckliche Krankheit zu deinem eigenen Kind getragen.«

»Bitte nicht! Sag mir, dass das nicht wahr ist, Vater. Es darf nicht wahr sein! Ich habe mein eigenes Kind in Gefahr gebracht?« Sarahs Gesicht war kalkweiß.

Die Reaktion ihres Vaters ließ wenig Raum für Hoffnung. »Es tut mir unendlich leid, meine Kleine, aber so sieht es aus.« Der alte Schmied, der in seinem langen Leben schon viel mit Kranken zu tun gehabt hatte, strich erneut über die Stirn seines kleinen Enkelsohnes. »Er ist so heiß. Wir müssen für Abkühlung sorgen.«

»Geht beiseite. Ich habe kaltes Wasser hier, schnell, ich brauche Tücher. Wir machen ihm kalte Wickel!« Estella, Juanitos Großmutter, machte sich geräuschvoll bemerkbar und balancierte die große Wasserschüssel über die Köpfe der bei dem Kind kauernden Familienmitglieder.

Sarah rannte zu dem großen Regal, in dem sie all ihre Tücher und Laken aufbewahrte. Ohne darauf zu achten, dass ein großer Packen der ordentlich gestapelten Tücher zu Boden fiel, zog sie einige heraus und eilte zurück zu ihrem Kind.

Estella arbeitet rasch und konzentriert. Die Frau hatte in ihrem Leben bereits vielen Menschen geholfen, sie gedachte nicht, ihren Enkel dieser mörderischen Krankheit zu überlassen.

»Mama, bitte hilf ihm.« Sarahs Stimme war leise und müde.

»Das versuche ich, meine Kleine. Aber auch du machst mir Sorge. Du bist viel zu blass. Etwas stimmt nicht mit dir. Hast du dir wirklich jedes Mal gewissenhaft die Hände gewaschen, wenn du das Haus eines Kranken verlassen hast? Hast du immer ein mit Essig getränktes Tuch vor dem Mund getragen?« Estella bedachte ihre Tochter mit einem strengen, fragenden Blick.

Der wurde noch kälter, als es ihr sowieso schon war. Sie zog die Schultern ein wie ein gescholtenes Kind. »Nein, als ich am letzten Sonntag bei Horacio und seiner Frau war, hatte ich den Essig vergessen. Aber meine Hände habe ich mir gründlich gewaschen.«

Estella wechselte stillschweigend die Wickel ihres kleinen Enkels. Offenbar hatte sie genug gehört und es sah aus, als kostete es sie viel Kraft, nicht in Tränen auszubrechen.

»Mama, das ist doch nicht so schlimm, oder?«

»Bitte nicht. Nicht jetzt.« Estella hob abwehrend die Hand und bedeutete ihrer Tochter zu schweigen. Erst als sie den Kleinen erneut versorgt und seine Stirn gefühlt hatte, wandte sie sich ihrem eigenen Kind zu. »Sarah, du und das Kind, ihr tragt die Krankheit in euch. Es bricht mir das Herz, aber es ist wie es ist: Ihr habt die Pest!«

B

»Dort, seht ihr? Unser letztes Nachtlager ist in greifbarer Nähe!« Don Rauls Stimme riss Angel aus seinen Tagträumen.

»Tatsächlich. Sehr gut. Ich habe Hunger wie ein Wolf.« Natürlich war es der ständig hungrige Manuel, der am glücklichsten über das Auftauchen des Gasthauses war.

»Kannst du mir verraten, wohin die Unmengen an Essen, die du in dich hineinschaufelst, eigentlich verschwinden?« Jesús sah Manuel kopfschüttelnd an.

»Keine Ahnung«, antwortete der grinsend. »Vielleicht ja in meine unglaubliche Klugheit und meine harten Muskeln.« Der Junge lächelte Jesús herausfordernd an und hieb ihm dabei gönnerhaft auf die Schulter.

»Freche kleine Ratte. Das mit der Klugheit halte ich für ein Märchen, der Rest mag stimmen.« Jesús seufzte. »Kinder!«

»Hört auf, euch zu zanken. Vorwärts, lasst uns die Pferde abspannen und sie gut versorgen. Sie haben treue Dienste geleistet.« Angel brachte rasch wieder Ordnung in seine Truppe.

Der große, ruhig gelegene Gasthof La Cabra Negra lockte mit hell erleuchteten Fenstern und dem Flackern des Kaminfeuers.

»Männer, sobald ihr fertig seid, kommt hinein. Ich sorge währenddessen für einen schönen, gemütlichen Tisch, einige Krüge Wein und einen anständigen Braten für uns alle. Lasst uns den letzten Abend gebührend feiern. Das haben wir uns alle verdient.« Don Raul stapfte unternehmungslustig auf die Schänke zu, während Angel und die anderen mit geübten Handgriffen Pferde und Wagen versorgten. Die Aussicht auf ein wohlschmeckendes Mahl ließ ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen. Angel freute sich. Eine gute Reise, ein schöner Abschluss und morgen würde er seine Frau in die Arme schließen.

B

Es war Mitternacht geworden und ein herrlicher Sternenhimmel wölbte sich über Toledo. Benito blickte zum Firmament und konnte es doch nicht erkennen. Seine Augen, durch die Arbeit in der Schmiede sowieso nicht mehr die besten, waren jetzt auch noch blind von Tränen. Dort, in der kleinen Hütte hinter ihm, kämpfte sein kleiner Enkel um sein Leben. Warum? Jahrzehntelang hatte er geschuftet, um Frau und Kind ein schönes Leben zu ermöglichen. Er war so glücklich gewesen, als Sarah sich in Angel verliebt hatte, auch wenn der nicht gerade den besten Ruf genoss. Doch Benito hatte schon immer gewusst, dass in dem verrückten, wilden Kerl ein liebevoller Ehemann und Vater steckte. Er hatte Recht behalten! Angel hatte seine Tochter vom ersten Tag an auf Händen getragen und er betete seinen kleinen Sohn geradezu an. Was würde er sagen, wenn er nun zurückkam? Benito war verzweifelt, denn er ahnte, dass es Angels Herz brechen würde. Doch was konnten sie tun, was, außer zu beten? Sarah hatte ihm erzählt, wie sie heute am Morgen aus dem Sitz des Bischofs geworfen worden war. Man hatte sich glatt geweigert, ihr zu helfen. Um der Wahrheit Genüge zu tun, hätte es Sarah und ihrem Kind wahrscheinlich auch nicht mehr geholfen, doch allein die Tatsache, dass man Hilfesuchende so rüde abwies, verstörte ihn. Es passte nicht zu dem gütigen Gott, an den er aus tiefstem Herzen glaubte.

»Papa? Warum gehst du nicht schlafen? Ich will nicht, dass du auch noch krank wirst.« Leise war Sarah neben ihren Vater getreten.

Benito seufzte tief. »Hab keine Angst. Ich glaube, ich habe so viel mit Feuer gearbeitet und meinen Körper so viel Hitze ausgesetzt, dass die Krankheit mich meidet. Und für den Rest sorgt deine Mutter mit ihren Essigwaschungen und Essigtüchern. Ab und an rieche ich schon überall Essig. Aber sie scheint – wie immer – das Richtige zu tun. Weder sie noch ich haben uns je angesteckt, obwohl wir oft bei Kranken sind.«

»Und ich dumme Gans nehme ihre Warnung nicht ernst und töte wahrscheinlich mein Kind und auch mich. Gut so. Wenn Juanito stirbt, will ich auch nicht mehr leben.«

Hilflos hielt der alte Mann seine leise weinende Tochter in den Armen. Welchen Trost hätte er ihr spenden sollen? Ihm fiel nichts ein.

Estella kam zu ihnen. »Juanito schläft. Er ist sehr schwach, wollte auch nichts trinken. Ich habe ihn dazu gebracht, zumindest etwas Wasser zu sich zu nehmen. Sarah, ich bin hilflos. Versuch zu schlafen, ein wenig an Kraft zu gewinnen, trink, so viel du kannst. Dein Körper braucht Flüssigkeit. Wir werden jetzt nach Hause gehen und uns auch ein wenig ausruhen. Morgen kommen wir wieder und werden sehen, was wir tun können.«

Estella hatte den Satz gerade beendet, als ein Trupp Soldaten im Gleichschritt an ihnen vorbei zum östlichen Stadttor eilte. Sie gingen sehr leise, fast so, als solle man sie nicht hören. Wollten sie die Kranken nicht stören oder nur möglichst rasch aus der Gegend fortkommen, in der die Pest wütete? Benito war sich sicher, dass es Letzteres war, das sie zu solch stillschweigender Eile antrieb.

»Wohin wollen denn unsere Stadttruppen? Jetzt, mitten in der Nacht?«

Benito zuckte müde mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es die mitternächtliche Ablösung. Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal. Lass uns gehen. Umso schneller sind wir morgen zurück.« Er wandte sich seiner in sich zusammengesunkenen Tochter zu. »Nun komm schon, Kind. Was geschehen ist, können wir nicht ändern. Wir können aber noch immer auf ein Wunder hoffen. Bete, meine Kleine, bete.« Der alte Schmied nahm das Gesicht seiner Tochter in beide Hände, fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn und spürte die Verzweiflung in sich aufsteigen. Es kostete ihn große Anstrengung, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. »Mut, meine Kleine! Du warst doch immer meine starke Tochter. Sei es auch jetzt!«

Sarah nickte unter Tränen. »Ich verspreche es dir, Vater. Du sollst dich nicht für mich schämen müssen.«

»Als ob ich das jemals getan hätte.« Ein letztes Mal strich Benito Sarah über die Wange, dann wandte er sich ab und nahm sein Bündel auf.

Estella hatte ihren Korb über den Arm gehängt und umarmte ihre Tochter liebevoll. »Passt gut auf euch auf. Wir kommen so schnell wie möglich zurück.«

Sie folgte Benito mit müden Schritten und als beide sich noch einmal umwandten, sahen sie ihre Tochter dort im Mondlicht vor den kleinen Häuschen stehen und ihnen nachwinken. Die Ahnung, ihr Kind nie wiederzusehen, überfiel sie wie eine Flutwelle. Eilig versuchten sie dieses grässliche Gefühl zu verscheuen, doch es wollte ihnen nicht gelingen.

B

»Ihr sichert das Stadttor! Lasst niemanden hinein oder hinaus. Ab dieser Nacht ist das Tor für jedermann gesperrt. Die Kranken sind – auch wenn es bedauerlich ist – ab sofort auf sich selbst gestellt. Nur die Leichenwagen dürfen passieren. Zwei Stunden nach Mitternacht werden alle Toten in die ausgehobenen Gruben geworfen und verbrannt. Bedenkt, es dauert lange, bis ein Mensch verbrennt. Daher trödelt nicht. Wenn die Sonne aufgeht, wird die Grube zugeschüttet. So ist es ab sofort jede Nacht zu handhaben!« Adolfo ließ den Blick über seine Männer schweifen. »Alles verstanden?«

Aus einigen Gesichtern konnte er das blanke Entsetzen lesen. »Aber Adolfo, damit verurteilen wir auch die zum Tode, die nicht zwingend sterben müssten. Und wir verwehren den Toten ein christliches Begräbnis. Wer kann solch eine harte Entscheidung fällen? Weiß das der Bischof?«

Adolfo lächelte milde. »All dies hier geschieht auf seinen Befehl. Er will nur die Krankheit eindämmen, eine Ausbreitung auf andere Viertel verhindern. Und was das christliche Begräbnis betrifft, auch dafür ist gesorgt.« Mit suchendem Blick wandte Adolfo sich um. »Ah, da ist er ja, kommt nach vorn, Pater.« Der Hauptmann der bischöflichen Stadtwache hatte seine Hand auf die Schulter eines kleinen dürren Mönches gelegt und schob ihn vor seine Männer.

»Seht ihr? Anselmo hier wird jeder Verbrennung beiwohnen und den von uns Gegangenen den letzten Segen spenden. Hat noch jemand Fragen oder gar Einwände gegen die Anweisungen seiner Eminenz?«

Einhelliges, wenn auch teilweise zögerliches Kopfschütteln war die Antwort. Nein, keine Fragen mehr. Niemand wollte sich der Gefahr aussetzen, sich mit Nunzio anzulegen. Alles, was man über ihn hörte, ermutigte niemanden dazu, ihn sich zum Feind zu machen. Daher bezogen die Männer stillschweigend die ihnen zugewiesenen Posten und ließen mit leisem Grauen den ersten Leichenwagen in dieser Nacht passieren.

3.

Es war weit nach Mitternacht, als Angel und Xavier die Schänke verließen. Beide waren nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen. Zu würzig war der schwere Rotwein ihre Kehlen hinabgeronnen, zu wohlschmeckend war der zarte Rinderbraten gewesen, als dass sie früher hätten aufstehen wollen.

Angel breitete die Arme aus, als wolle er die Nacht umarmen. »Ist es hier nicht herrlich?« Eilig brachte er seine Gliedmaßen wieder in eine vernünftige Position, denn ausladende Bewegungen waren seinem Gleichgewicht gerade wenig zuträglich. »Der Wein war stark, mein lieber Mann, die Welt scheint tanzen zu wollen.« Angel lachte. »Ach, Xavier, ich freue mich so auf morgen.«

Xavier blickte nachdenklich zum Himmel. »Auch wenn ich einzelne Sterne wohl doppelt sehe, glaub mir, mein Freund, du freust dich auf heute.«

»Auch gut, das ist mir alles ziemlich einerlei. In wenigen Stunden bin ich bei Frau und Kind. Ah, ich kann es kaum erwarten.«

»Dann roll dich jetzt lieber in deine Felle, mein Guter. Du solltest diesen Rausch ausgeschlafen haben, wenn du sie in die Arme nimmst.«

»Wohl wahr«, sagte Angel kichernd. »Lass uns schlafen, Jesús höre ich sowieso schon schnarchen, und wo Manuel ist, will ich gar nicht erst wissen.

»Wo der Tunichtgut gerade steckt, ahne ich sehr wohl.« Xavier zog eine spöttische Grimasse und ließ sich auf seine eilig ausgerollten Decken fallen.

Angel war nicht betrunken genug, um die Zweideutigkeit dieser Worte nicht mehr zu erkennen. »Und das ist gut so. Er ist jung, gönnen wir es ihm. Auch wir waren mal so.«

Xavier fixierte Angel mit leicht amüsiertem Blick. »Ja, alter Mann, gönnen wir es ihm. Schlaf jetzt, ich denke, morgen wirst du deine Kräfte für deine Frau brauchen.«

Angel rollte sich leise lächelnd in seine Felle und Decken. Kaum hatte er die Augen geschlossen, fiel er schon in einen tiefen Schlaf. Er träumte, doch es war ein seltsamer Traum. Er sah Toledo im Sonnenlicht, sah, wie er durch das Stadttor ritt und die schmale Gasse zu seinem Haus hinabtrabte. Sarah arbeitete in ihrem kleinen Garten, hatte ihm den Rücken zugewandt. Leise glitt er vom Pferd, wollte seine Frau überraschen, doch als er sich ihr auf Zehenspitzen näherte, begann sein Haus, sich samt seiner Frau langsam von ihm zurückzuziehen. So sehr er sich mühte, er konnte nicht zu ihr gelangen. Mit jedem Schritt, den er auf sie zu tat, entfernte sie sich noch weiter von ihm. Er begann nach ihr zu rufen und endlich schien Sarah ihn zu hören. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, doch kein Lächeln erschien auf ihren Lippen. Stattdessen rannen Tränen über ihre Wangen. Sie hob die Hand und winkte ihm zu. Es war kein Willkommengruß, es war ein Abschied!

B

»Das könnt Ihr nicht machen! Wir müssen zu unserer Tochter und unserem Enkel.« Benito stand fassungslos vor dem hochgewachsenen Soldaten, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. Selbst wenn der nicht dort gestanden hätte, wären sie nicht weitergekommen. Aus Baumstämmen hatte man in aller Eile Barrikaden errichtet und so das komplette Viertel, in dem Sarah und sein Enkel lebten, abgesperrt.

»Ich bedaure, doch es geht nicht mehr. Auf Anweisung des Bischofs ist das ganze Viertel in quarantaine. Niemand darf hinein, niemand heraus. Es tut mir leid.« Das Gesicht des Mannes blieb bei diesen Worten so gleichgültig, als habe er verkündet, dass das Wetter sich ändern würde.

»Damit verurteilt Ihr die Menschen dort drin zum Tod. Seid Ihr Euch dessen bewusst?« Benito verstand die Welt nicht mehr.

»Falsch, Benito, damit schützen wir die Gesunden. Jetzt seid vernünftig und geht weiter. Ihr könnt hier nicht den ganzen Tag stehenbleiben.« Adolfo löste sich mit einer lässigen Bewegung aus dem Schatten eines Hauses, in den er sich zurückgezogen hatte.

Benito wollte auffahren, doch Estella hinderte ihn daran. Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Sie kannte den Ruf, der Adolfo vorauseilte, seit er zum Hauptmann befördert worden war, nur zu gut.

»Komm, Benito, wir gehen. Es ist zwecklos. Für dich, Adolfo, kann ich nur hoffen, dass die Seelen derer, die du hier zum Tode verurteilst, dich auch weiterhin ruhigen Schlaf finden lassen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte Estella sich um und zog ihren Mann, der noch immer nicht begreifen konnte, wie Menschen etwas Derartiges tun konnten, mit sich fort.

»Was sollen wir denn jetzt nur machen? Sarah braucht uns, und erst der Kleine! Mein Gott, wie furchtbar. Wenn doch nur Angel endlich käme!« Benito setzte seine ganze Zuversicht in seinen Schwiegersohn.

Estella aber hatte nicht einmal mehr diese Hoffnung. Sie wusste, wie sehr Adolfo Angel hasste. Jetzt, so fürchtete sie, war der Zeitpunkt für seine Rache gekommen.

»Nimmst du etwa an, dass Adolfo Sarah lieber sterben sehen würde, als sie zu retten?« Benito war ratlos.

»Genau das denke ich. Leider! Adolfo ist ein kleiner Geist. Dumm und brutal, das ist eine sehr schlechte Mischung. Ja, ich denke – vielmehr, ich bin mir sicher, er würde Sarah sterben lassen, um Angel Schmerz zuzufügen.« Estella hatte den Griff ihres großen Korbes so fest umklammert, dass es sie selbst schmerzte. »Nein, ich muss es anders sagen. Er wird sie sterben lassen.«

Mittlerweile hatten sie einen höher gelegenen Punkt der Stadt erreicht und konnten das von engen Gassen durchzogene Viertel ihrer Tochter überblicken. Sie sahen nichts als verlassene Gärtchen, leere Gassen – ein Ort der Geister. Nur ganz selten huschte ein Mensch zwischen den kleinen Häusern umher. Das Leben dort schien fast gänzlich erloschen zu sein. Sie fühlten sich unendlich hilflos.

B

»Auf, auf! Es sind nur noch wenige Stunden und ihr seid wieder bei euren Lieben!« Don Raul war sichtlich gut gelaunt und wirkte aufgeregt. Offensichtlich freute auch er sich auf seine Familie.

»Ja, Don Raul, wir sind fertig für die Abreise, noch Wünsche?« Angel saß bereits auf seinem Pferd und lenkte das schöne Tier neben den Wagen, auf dem Don Raul die Zügel schon in den Händen hielt.

»Nein, ich bin wunschlos glücklich. Ist das nicht wundervoll, solch eine Aussage treffen zu können?« Raul atmete die frische Morgenluft tief in seine Lungen, dann schnalzte er mit der Zunge und die Planwagen setzten sich, einer nach dem anderen, langsam in Bewegung. In einer langen, sich gemächlich vorwärts bewegenden Reihe zuckelten sie vom Hof des Gasthauses und hielten auf die breite Straße nach Toledo zu.

Während Manuel und Jesús am Ende der Kolonne die Augen offen hielten, ritten Angel und Xavier voran. Beide ließen zwar ihre Blicke aufmerksam über die Ebene schweifen, ansonsten aber hingen sie schweigend ihren Gedanken nach. Vor allem Angel beschäftigte noch immer der dunkle Nachhall seines seltsamen Traums. Hatte er etwas zu bedeuten? Nein, Angel weigerte sich zu glauben, dass etwas passiert sein könnte. Benito und Estella wachten stets gut über Sarah, wenn er unterwegs war. Seit sein Sohn geboren war, sogar noch mehr als zuvor. Was also hätte den beiden geschehen können?

Don Rauls Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. »Seht doch, dort kommen mehrere Kutschen, lasst uns etwas beiseite fahren, damit sie passieren können. Sie scheinen es eilig zu haben. Gütiger Himmel, sie scheinen es überaus eilig zu haben!« Rasch lenkte Don Raul sein Gespann etwas mehr nach rechts, um den in raschem Tempo herannahenden Kutschen den Weg freizumachen.

Die aber verringerten ihre Geschwindigkeit, als sie näher kamen. Die Kutscher zwangen die Pferde in einen langsamen Schritt.

Die beiden Männer auf dem Kutschbock des vorderen Gefährtes winkten Don Rauls Kolonne zu und bedeuteten ihnen, stehenzubleiben. Sofort waren Angel und seine Männer auf ihren Posten. Dass keine Gefahr drohte, erkannten sie schnell, doch sie verstanden nicht, was die Fremden ihnen zuriefen. Erst als sie ganz nah waren, drangen deren aufgeregte Rufe an ihre Ohren.

»Haltet ein, bleibt stehen! Wohin wollt ihr denn?« Aus den Zügen des Mannes, der sie angehalten hatte, sprach Besorgnis.

»Buenos días! Wir sind auf dem Weg nach Hause, in unsere Heimatstadt«, rief Don Raul dem Mann freundlich zu.

»Ihr wollt nach Toledo? Das lasst besser sein! Dort herrscht das Chaos. Die Stadt ist zum Teil abgeriegelt.«

Angel hörte zwar seine Worte, verstand sie aber nicht. »Abgeriegelt? Chaos? Wovon sprecht Ihr?«

»Mein Freund, ich spreche davon, dass in Toledo die Pest wütet. Wenn ihr vernünftig seid, bleibt der Stadt fern. Es ist zu gefährlich.«

Angel wurde trotz der wärmenden Sonne plötzlich eiskalt. »Die Pest? In ganz Toledo?«

»Nun ja, soweit wir das mitbekommen haben, nicht in ganz Toledo. Sie haben die zwei tiefer gelegenen Viertel direkt hinter dem östlichen Stadttor unter quarantaine gestellt. Niemand darf hinein, keiner kommt heraus. Dort ist fast jeder zweite Bewohner krank.«

Xavier stieß einen erschrockenen Schrei aus. »Aber dort lebt meine Familie!«

»Nicht nur deine.« Angels Stimme klang hohl.

»Bleibt ruhig, Männer. Vielleicht klärt sich alles auf. Wir fahren erst einmal zum südlichen Tor. Dort werden wir weitersehen.« Raul versuchte seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben, doch es gelang ihm nicht. »Ich danke euch, meine Herren, vielen Dank für eure gut gemeinte Warnung. Doch da unsere Familien dort sind, müssen wir nach Toledo.«

»Das verstehen wir, wir wünschen euch Glück und möge es nicht so schlimm sein, wie es erscheint.« Die Männer auf dem Kutschbock neigten kurz die Häupter zum Gruß.

»Eilt euch, treibt die Pferde an, wir müssen in Erfahrung bringen, was geschehen ist.« Don Raul wirkte nicht minder besorgt. Rasch brachten sie die Fuhrwerke wieder in Fahrt und wesentlich schneller als zuvor strebten sie ihrem Zuhause entgegen.

B

»Nein, bitte nein! Juanito, mein Engel, bitte wach auf!« Sarah drückte den kleinen Körper ihres Kindes an sich, küsste die schwarzen, noch vom Fieberschweiß verklebten Locken. Doch die Hitze, die ihn die ganze Nacht hindurch gequält hatte, war jetzt der Kälte gewichen. Vorsichtig hielt Sarah ihren Sohn im linken Arm und strich mit der freien Hand zärtlich über seine kühlen Wangen. Als sie kurz zuvor nach einem kurzen, wenig erholsamen Schlaf erwacht war, hatte er noch geatmet. Verzweifelt hatte Sarah versucht, ihm heilenden Salbeitee einzuflößen, doch er wollte nicht trinken. Erst als sie die vorbereiteten Wickel anlegen wollte, bemerkte sie, dass die kleine Brust sich nicht mehr hob. Juanito hatte aufgehört zu atmen, sein kleiner, schwacher Körper hatte den Kampf gegen die Seuche verloren.

Immer wieder streichelte sie das Gesichtchen, das nun so friedlich aussah. Wie ein schlafender Engel. Ja, Juanito schlief, er konnte nicht tot sein.

Liebevoll wiegte Sarah das tote Kind in ihren Armen, stemmte sich mit aller ihr noch verbliebenen Kraft gegen die Wahrheit. Mit leiser Stimme sang sie das Lieblingslied ihres Sohnes.

B