3Michael Wildt

Die Ambivalenz des Volkes

Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte

Suhrkamp

7Einleitung

Der Begriff des Volkes führt stets die blutigen Kämpfe, die in seinem Namen ausgefochten werden, mit sich: die Abgrenzungen nach oben und unten, nach innen und außen. Staatsvolk will nichts gemein haben mit dem Pöbel, der Menge, den Massen; allein das Wort Volksherrschaft, gar in der Doppelung Volksdemokratie, ruft die Assoziationen Terror, Anarchie und Willkür wach. Das auserwählte Volk Gottes glaubt sich gegenüber den ungläubigen Völkern in einer unzweifelhaften Position der Überlegenheit; das Volk, zur Nation gekürt, verwandelt die Bevölkerung eines Territoriums in eine Abstammungsgemeinschaft oder in Staatsbürger, die sich ebenfalls mit der ganzen Kraft des naturrechtlichen Vernunftanspruchs zur zivilisierenden Herrschaft über andere Völker und Nationen berufen sehen können. In eine »Volksgemeinschaft« verwandelt, werden alle »Gemeinschaftsfremden« aus dem Volk ausgeschlossen, vertrieben, ermordet. Aber es war auch das »Volk«, das 1789 die Bastille stürmte, das im 20. Jahrhundert die Könige und Zaren zum Teufel jagte und die kommunistischen Diktaturen stürzte. »Wir sind das Volk« ist ein mächtiger Satz, gerade in demokratischen Ordnungen, in denen das Volk herrschen soll – aber wer ist »wir«? Wer »Volk« in den Mund nimmt, wird sich fragen lassen müssen, welches Volk gemeint sei.

I.

Für Immanuel Kant schien die Antwort – und die Hierarchie – klar: »Unter dem Wort Volk (populus) versteht man die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, insofern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heißt Nation (gens); der Theil, der sich von diesen Gesetzen ausnimmt (die wilde Menge in diesem Volk), heißt Pöbel (vulgus), dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottiren (agere per turbas) ist; ein Verhalten, welches ihn von 8der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt.«[1] In Kants Welt der Aufklärung ist die »wilde Menge«, der »Pöbel«, messerscharf vom ordentlichen Staatsbürgervolk getrennt. Das ›gemeine Volk‹, der plebs, die Diener, Tagelöhner, Frauen, gehören nicht dazu. Wenn von minores, multitudo, vulgus die Rede war, vom niederen Volk, von der unberechenbaren Menge, dem Pöbel, dann lag Bürgerkrieg und Aufruhr, ›Rottiren‹ in der Luft.

Das Volk, das in der nordamerikanischen Verfassung 1787 mit »We, the people of the United States« emphatisch beschworen wird, umfasste freie, weiße Männer, keine Frauen, keine Indigenen und erst recht keine schwarzen Sklavinnen und Sklaven. Wenn in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die die französische Nationalversammlung zwei Jahre später am 26. August 1789 feierlich verabschiedete, festgehalten wurde, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren würden und die Souveränität im Staat nur beim Volk liegen könne, so waren Frauen weniger gleich, denn sie gehörten nicht zu diesem Volk, was schon damals Olympe de Gouges empörte. Und auch die Sklavinnen und Sklaven der französischen Kolonie Saint-Domingue, die für sich nun das Recht in Anspruch nahmen, freie Menschen zu sein, stießen auf Widerspruch im revolutionären Paris und mussten ihre Anerkennung mit einem gewaltsamen Aufstand erzwingen.[2] Überhaupt herrschte eine eklatante Diskrepanz, wie Susan Buck-Morss vor etlichen Jahren in ihrem bahnbrechenden Aufsatz »Hegel und Haiti« aufgezeigt hat, zwischen den pathetischen Proklamationen zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen und der Gleichgültigkeit gegenüber der realen Sklaverei auf der anderen Seite. »Dieselben Philosophen, die die Freiheit als den natürlichen Zustand des Menschen betrachteten und sie zu einem unveräußerlichen Menschenrecht erklärten, akzeptierten die millionenfache Ausbeutung der Sklavenarbeiter in den Kolonien als Teil der gegebenen Weltordnung.«[3]

9»Alle Gewalt geht vom Volke aus« – dieser Satz begründet in den demokratischen Verfassungen die Volkssouveränität. Aber die Souveränität des Volkes kennt keine Grenzen, außer denen, die es selbst setzt – oder einreißt, wie Georg Büchner in seinem Theaterstück Dantons Tod, das 1834/35 entstand, hellsichtig beschrieben hat: Robespierre greift in eine Szene auf der Straße, in der eine Menge einen vermeintlichen Aristokraten lynchen will, mit den Worten ein: »Im Namen des Gesetzes!« Darauf fragt ein Bürger: »Was ist das Gesetz?« und Robespierre antwortet mit gravitätischem Gestus: »Der Wille des Volkes«, worauf der Bürger erwidert: »Wir sind das Volk, und wir wollen, dass kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!«[4]

Wenn alle Gewalt vom Volke ausgeht, wenn der Volkswille die Verfassung begründet, dann kann sich, wenn das Volk es will, auch die Verfassung ändern. Die stets mögliche Revolution ist, wie der Staatsrechtler Martin Kriele schreibt, die »Sprengkraft, die in der Idee der Volkssouveränität liegt«.[5] Mit der Erfahrung der nationalsozialistischen Volksherrschaft im Rücken haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes daher als gute Demokraten zwar an dem Prinzip der Volkssouveränität festgehalten, aber die Macht des Volkes verfassungsmäßig eingehegt. Die Staatsgewalt sollte »vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« (Artikel 20 Grundgesetz) werden. Die ungeschlachte Gewalt des Volkes wird institutionalisiert und an feste Regeln und rechtsstaatliche Prozeduren gebunden; das Volk selbst möglichst unsichtbar gemacht. »Das Volk«, beteuert Jürgen Habermas, »von dem alle staatlich organisierte Gewalt ausgehen soll, bildet kein Subjekt mit Willen und Bewußtsein. Es tritt nur im Plural auf, als Volk ist es im ganzen weder beschluß- noch handlungsfähig.«[6]

10In der Tat ist das Volk als Ganzes nicht sichtbar, zu greifen oder empirisch zu erfassen; es ist »introuvable« (Pierre Rosanvallon), unauffindbar – und doch springt es mitunter auf die Bühne der Geschichte. Gerade in jenen revolutionären Momenten, in denen eine historische Zäsur gesetzt, ein Anfang gemacht wird, zeigt das Volk sich mit seiner Gewalt. Die städtischen Massen in Paris, die im Juli 1789 die Bastille stürmten und damit der Macht des Ancien Régime ein Ende bereiteten, waren weder gewählte Vertreter des französischen Volkes noch legitimiert, das Volk zu repräsentieren.

Die Massen, die 1989/90 in Prag, Kiew, Moskau, Warschau, Leipzig, Berlin den Sturz des Kommunismus bewirkten, waren ebenso wenig wie in Paris 1789 als Volksvertreter legitimiert, die alte Verfassung zu stürzen und eine neue, demokratische zu errichten. Aber niemand zweifelte an ihrer Legitimation, als Volk zu handeln. Die Demonstranten, die in Leipzig im Oktober 1989 riefen: »Wir sind das Volk!«, taten dies nicht, weil sie gewählte Volksvertreter waren, sondern weil sie der morschen Obrigkeit, die sich selbst als Volksvertretung inszenierte, unmissverständlich deutlich machen wollten, dass sie diesen Anspruch längst verloren habe und das Volk nun für sich selbst spreche. »Das Volk siegt«, titelte Der Spiegel im November 1989. Die verfassunggebende, konstituierende Gewalt des Volkes wurde mit der französischen – und haitianischen[7] – Revolution, so der französische Historiker Pierre Rosanvallon, zum »getreuesten Ausdruck des Demokratieideals«. Sie ist »eine radikal schöpferische, weil ursprüngliche Macht, reiner Ausdruck eines aufsteigenden Willens, eine absolut nackte, durch nichts bedingte Gewalt«.[8]

Doch verleugnet die Abgründe der Demokratie, wer glaubt, dass der Volkswille sich stets auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit richtet. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zeigen, dass Demokratien nicht mehr allein durch Militärputsche wie 1973 in Chile gestürzt werden, sondern antidemokratische Politiker heute durch Wahlen an die Macht gelangen können. »Wie Chávez in Venezuela 11haben gewählte Politiker demokratische Institutionen ausgehöhlt – in Georgien, Nicaragua, Peru, den Philippinen, Polen, Russland, Sri Lanka, der Türkei, der Ukraine und Ungarn. Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne.«[9] Und auch für das Deutschland in den Jahren 1932/33 ließe sich mit Sebastian Haffner fragen: »Was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will?«[10]

Volk geht nicht allein im demos auf, sondern kann sich ebenso als ethnos begreifen. Das Volk der Verfassung ist keineswegs an die Gemeinsamkeit von Abstammung, Sprache oder Kultur gebunden. Das Volk lässt sich auch vorkonstitutionell behaupten, aufgrund seiner Geschichte, Kultur oder gar seines gemeinsamen Blutes. Gerade die klassische, konservative Staatsrechtsdefinition des 19. Jahrhunderts, die Trinität von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt, war in einer ethnonationalen Interpretation geeignet, die Staatenordnung Europas auseinanderzusprengen, indem junge Nationalstaaten wie Serbien, Griechenland oder Bulgarien eigenen »Volksboden« außerhalb ihrer Staatsgrenzen beanspruchten. Die Balkankriege 1912/13 waren durch all jene Gewaltphänomene gekennzeichnet, die wir heute als »ethnische Säuberungen« identifizieren. Die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die der US-Präsident Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkrieges in die Debatte um eine europäische, post-imperiale Nachkriegsordnung einbrachte, konnte deshalb eine enorme politische Strahlkraft entfalten, weil sie auf ein Europa traf, das sich völkisch trennte. Während Wilson darunter in erster Linie das Recht auf demokratische Selbstregierung verstand, verwandelte sich die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in Europa rasch in eine Forderung nach nationaler Unabhängigkeit und ethnischer Homogenität.[11]

12II.

In Deutschland war es die »Volksgemeinschaft«, die, so Hans-Ulrich Thamer, zur »beherrschenden politischen Deutungsformel« wurde.[12] Zwar waren es zu Beginn der Weimarer Republik vor allem Demokraten, die nach der Erfahrung des verlorenen Weltkrieges, nach der politischen Gewalt von Revolution und Konterrevolution den Begriff der »Volksgemeinschaft« im Munde führten, um die Einheit der Nation, das Ende gesellschaftlicher Spaltungen zu erreichen. Auch die völkische Rechte propagierte Inklusion, die »Volksgemeinschaft« wurde jedoch vor allem durch Exklusion konstituiert, durch die Ausgrenzung all derer, die nicht zu ihr gehören durften: Marxisten, »Gemeinschaftsfremde«, erbbiologisch »Minderwertige«, »Fremdrassige«, allen voran Juden.[13]

Der Antisemitismus spielte dabei die entscheidende Rolle. Denn in die nationalsozialistische Konstruktion des Volkes als »natürlicher Blutsgemeinschaft« war die rassistische, antisemitische Grenzlinie untrennbar eingelassen. Antisemitismus konstituierte die nationalsozialistische Volksgemeinschaft; er befeuerte auch deren Radikalität und Destruktionspotential. »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein«, hieß es unmissverständlich im Parteiprogramm der NSDAP aus dem Jahre 1920.[14]

Was die nationalsozialistische Vergemeinschaftung von anderen Gruppenbildungen unterschied, war die Gewalttätigkeit der Ausgrenzung und die Irreversibilität der Zugehörigkeitskriterien. In Luhmanns Modell der alltäglichen Inklusion und Exklusion in modernen Gesellschaften ist der Ausschluss aus einer Gruppe stets verbunden mit dem Einschluss in eine andere. Niemand »fällt« 13ganz aus der Gesellschaft, sondern ist stets irgendwo und vielfältig zugehörig, und sei es allein als Staatsbürger und Rechtssubjekt.[15] Für die Juden galt dies nicht. In der rassistischen Definition von Nicht-Zugehörigkeit sollten Juden vollständig aus allen sozialen, politischen, kulturellen, rechtlichen Zusammenhängen der deutschen Gesellschaft herausgedrängt werden, die »Volksgemeinschaft« als nationalsozialistische Gesellschaftsordnung ohne Juden hergestellt werden.

Aber auch innerhalb der »Volksgemeinschaft« herrschte keine Gleichheit. »Volksgenossen« waren keine Bürger mit verbrieften Freiheitsrechten, es ging nicht um Gleichheit von Individuen. Vielmehr bildete das Volk, und zwar im organisch-biologistischen Sinn als »Volkskörper«, das Zentrum der »Volksgemeinschaft«. »Du bist nichts, dein Volk ist alles« lautete der Kernsatz des Regimes. Nicht Egalität, sondern rassistische Mobilisierung kennzeichnete die Volksgemeinschaft, nicht nationaler Sozialismus, vielmehr Leistungssteigerung zur Optimierung des deutschen »Volkskörpers«.

III.

Darum stellte Arbeit ein zentrales Thema des Nationalsozialismus dar.[16] Nur wer arbeitsfähig war, hatte Wert für die »Volksgemeinschaft«. Zum einen diente Arbeit als zentrales Praxisfeld der Inklusion von »Volksgenossinnen und Volksgenossen«, Arbeit als »Dienst an der Volksgemeinschaft«. In den Lagern des Reichsarbeitsdienstes, der HJ und anderer Organisationen bildete die von allen gleichermaßen geleistete Handarbeit die grundlegende Praxis erlebter Gemeinschaft. Die Kluft zwischen geistiger und manueller Arbeit, zwischen den »Arbeitern der Stirn« und den »Arbeitern der Faust«, sollte in den Inklusionslagern überwunden werden. Handarbeit stand hoch im Kurs bei den Nationalsozialisten. Der Begriff der »deutschen Qualitätsarbeit«, seit Ende des 19. Jahrhunderts von Unternehmern wie Gewerkschaften verbreitet und vom NS-Re14gime symbolisch überhöht, bot Arbeitern im Nationalsozialismus diskursive Möglichkeiten der Bindung an das Regime und später als Soldaten die Begründung für die Teilnahme am Vernichtungskrieg: Krieg als Arbeit.

Zum anderen war Arbeit Mittel der Gewalt und Exklusion. In den vielen Presseberichten über die Konzentrationslager vor dem Krieg war stets davon die Rede, dass die Häftlinge durch harte körperliche Arbeit umerzogen werden sollten. »Arbeit macht frei« lautete das zynische Motto auf den Lagertoren von Dachau, Groß-Rosen, Theresienstadt und Auschwitz. Durch sinnlose Schwerstarbeit wurden Häftlinge gequält und gedemütigt. Insbesondere die jüdischen Häftlinge sollten »arbeiten lernen«, wie es in den hämischen Bildberichten über Zwangsarbeit von Juden hieß.

Für die jüdischen Menschen im nationalsozialistischen Machtbereich war Zwangsarbeit nur ein zeitlicher Aufschub der Ermordung. Die Formulierung aus dem Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 ist wörtlich zu nehmen, dass die »arbeitsfähigen Juden straßenbauend« in die besetzten sowjetischen Gebiete geführt werden sollten, »wobei zweifellos ein Grossteil durch natürliche Verminderung ausfallen«, d. h. an Entkräftung sterben werde. Der »allfällig endlich verbliebene Restbestand« müsse dann getötet werden. »Vernichtung durch Arbeit« lautete diese Politik.

Hingegen hofften Juden in den Ghettos, dass die Zwangsarbeit ihre Überlebenschancen erhöhen könnte. Arbeitseinsatz und damit die Einteilung als »arbeitsfähig« war unabdingbar, wollte man dem Morden vorerst entkommen. Die Feststellung von angeblicher Arbeits- bzw. Nichtarbeitsfähigkeit diente den Tätern als entscheidendes Selektionskriterium für Leben und Tod. Wer als »arbeitsunfähig« galt, so vor allem Kinder, alte und kranke Menschen, wurde getötet. Auch der »Euthanasie«-Mord an kranken und behinderten Menschen im Deutschen Reich wurde damit legitimiert, dass sie keinen produktiven Beitrag zur »Volksgemeinschaft« leisteten und ihr als »unnütze Esser« zur Last fielen.

Arbeit wurde die wichtigste Ressource für die Kriegswirtschaft, denn mit der militärischen Niederlage vor Moskau im Dezember 1941 war klar, dass der Krieg länger dauern würde und die Soldaten nicht als Arbeiter in die Produktion zurückkehren könnten, sondern weiterhin an der Front würden bleiben müssen. Damit gewann die Anwerbung und Zwangsrekrutierung ausländischer 15Arbeitskräfte einen zentralen Stellenwert. Millionen von Menschen wurden nach Deutschland gelockt, gebracht oder mit Gewalt verschleppt; ebenso viele arbeiteten in den besetzten Gebieten für die Wehrmacht und die deutsche Wirtschaft. Am Ende des Krieges gab es im Deutschen Reich nach über einem Jahrzehnt nationalsozialistischer Herrschaft keine ethnisch homogene, deutsche »Volksgemeinschaft«, sondern eine äußerst heterogene Gesellschaft, die dennoch rassistisch und gewalttätig strukturiert war. Das Volk, auf das sich die Nationalsozialisten vehement beriefen, war durch die eigene Politik nach außen wie nach innen so umgeformt, zerklüftet, zerrissen worden, dass Detlev Peukert, Hannah Arendt aufgreifend, von einer »Atomisierung der Gesellschaft« sprach.[17]

IV.

Was die Gesellschaft zusammenhält, ist das Recht. Mit der Entstehung der Nationalstaaten und ihrer Verfassungen bildete sich das Recht als eine der wichtigsten Ressourcen für die soziale und politische Ordnung heraus. Im Recht trafen Bürger – und zunehmend, wenn auch stets bekämpft und langsam, die Bürgerinnen – als Gleichberechtigte aufeinander; Gerichte, nicht mehr allein die Machthaber regelten Konflikte; der Staat wurde zum Regelwerk, dessen Funktion Gesetze bestimmten, die vom Parlament als gewählter Volksvertretung beschlossen wurden. Der Bürgerstaat war der Rechtsstaat.

Doch stimmt Recht mit Gerechtigkeit nicht überein. So sehr und klug die Jurisprudenz das Recht als komplexes, korrespondierendes und widerspruchsfreies System von Geltungsansprüchen ausarbeitete, so wenig konnte sie das Problem der außerrechtlichen Normen, an denen das Recht sich zu orientieren habe, aus der Welt schaffen. Das Verhältnis von Recht und Moral blieb ungelöst, obwohl herausragende Rechtstheoretiker wie Hans Kelsen die Autopoiesis des Rechts nahezu vollendet hatten.

Die Nationalsozialisten haben dieses Verhältnis radikal zugunsten der Moral und der Politik bestimmt. »Recht ist, was dem Volke nutzt« lautete der Grundsatz nationalsozialistischer Rechtstheorie, 16wobei das Volk keineswegs als demos begriffen wurde, sondern als rassistisch und antisemitisch definierter ethnos. Die Transformation des Bürgervolks in eine nationalsozialistische Volksgemeinschaft ging einher mit der »Erneuerung« des Rechts. Zahllose Juristen haben als Wissenschaftler wie Praktiker daran mitgewirkt, das Recht im nationalsozialistischen Sinne umzuformen und die Freiheitsrechte der Individuen auszulöschen. Besaß im liberalen Verständnis der Staat die Aufgabe, die Freiheit und Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen, so hing im Nationalsozialismus das Recht, Rechte zu haben, allein davon ab, ob man als zugehörig zur »Volksgemeinschaft« galt. »Rechtserneuerung« im NS-Staat bedeutete daher vor allem Exklusion all derer, die als »Gemeinschaftsfremde« und »Fremdvölkische« bereits sprachlich ausgegrenzt waren, allen voran die Juden.[18]

V.

Zugehörigkeitsfragen bestimmen auch die Debatte um das Volk heute. Vordergründig verlangen populistische Bewegungen, dass das »Volk« wieder in seine Rechte als Souverän eingesetzt wird und nicht die »Eliten« über die politischen Geschicke entscheiden – ein in einer Demokratie mächtiges Argument, da demokratische Verfassungen auf dem Prinzip der Volkssouveränität gründen. Darüber, dass populistische Bewegungen »anti-elitär« eingestellt sind, ist sich die Forschung einig.[19] Allerdings zeigt die Wahl von populistischen Politikern wie Hugo Chavez, Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan oder Donald Trump an die Spitze des Staates, dass Populismus keineswegs mit dem Verlangen nach demokratischer Partizipation des Volkes überein gehen muss, sondern im Gegenteil autoritäre Eliten an die Macht bringt, die die demokratische 17Verfassung zerstören. Populistische Bewegungen könnten daher vielleicht treffender charakterisiert werden, wenn man sie als anti-institutionell bezeichnet.[20] In jedem Fall umfasst das »Volk«, das die Rechtspopulisten im Munde führen, nicht einfach alle nicht-elitären Teile der Bevölkerung. Vielmehr haben sie klare Vorstellungen davon, wer nicht zum »Volk« dazugehören darf, in erster Linie Migranten, gleich ob sie bereits die jeweilige Staatsangehörigkeit erworben haben oder nicht. So kann der Partei- und Bundestagsfraktionsvorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD), Alexander Gauland, öffentlich fordern, dass eine Politikerin, deren Familie aus der Türkei stammt, die jedoch in Deutschland geboren und deutsche Staatsbürgerin, also Deutsche nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist, »in Anatolien entsorgt« werden soll, ohne als Politiker für seine verfassungsfeindliche Äußerung Konsequenzen ziehen zu müssen – ganz abgesehen von der Wortwahl, die Menschen mit Giftmüll gleichsetzt.[21]

In den rechtspopulistischen Bewegungen Europas kommt eine islamfeindliche Einstellung hinzu, die in der Konsequenz bedeutet, dass Staatsbürgerinnen und Staatsbürger muslimischen Glaubens nicht zum »Volk« gehören sollen. »War das historische Thema der Islamfeindlichkeit«, so die Soziologin und Religionswissenschaftlerin Naime Çakir, die von einer »Ethnisierung des Islam« spricht, »den Fremden in der Fremde zu bekämpfen, ist das Thema der modernen Islamfeindlichkeit, den ›Fremden‹ im Innern zu bekämpfen.«[22] Das rechtspopulistische »Volk« umfasst eben nicht alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, gleich welchen Geschlechts, Glaubens, welcher Hautfarbe oder Abstammung sie sind, sondern ist kulturell, ethnisch abgegrenzt.

Diese rechtspopulistische Vorstellung von der Homogenität des Volkes hat Jan-Werner Müller im Sinn, wenn er die Populisten nicht nur als anti-elitär, sondern auch als anti-pluralistisch charakterisiert. Zur Kritik an den Eliten hinzu kommt »der dezidiert moralische Anspruch, dass einzig die Populisten das wahre Volk vertreten; alle anderen vermeintlichen Repräsentanten der Bürger seien 18auf die eine oder andere Art illegitim«.[23] In dieser Richtung einer »identitären Demokratie«, deren Inklusion auf Exklusion beruht, argumentierte 1923 bereits Carl Schmitt: »Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.«[24]

In diese Identitätsfalle geraten auch diejenigen, die einen Populismus von links entwerfen. Für Chantal Mouffe sind die populistischen Bewegungen Europas »Zeichen für die Krise der neoliberalen hegemonialen Formation, die im Laufe der achtziger Jahre in Westeuropa nach und nach errichtet wurde«.[25] Gegen diese Hegemonie gelte es ein »Volk« zu konstruieren, im Sinne eines »kollektiven Willens, der der Mobilisierung gemeinsamer Affekte zur Verteidigung der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit entspringt«. Auch wenn dieses »Volk« explizit anti-essentialistisch gedacht ist und vielfältig sein soll, gibt es doch, ganz nach Carl Schmitts Freund-Feind-Kennung, eine klare politische Frontstellung zwischen »dem Volk« und »der Oligarchie«. Zwar sei ein Bruch mit den liberalen, demokratischen Institutionen nicht nötig, aber »ohne einen Gegner zu definieren, kann man keine gegenhegemoniale Offensive starten«.[26] Es ist bemerkenswert, dass bereits in den 1960er Jahren jüdische Emigranten wie Ernst Fraenkel das Abgründige in der linken »Volks«-Konstruktion erkannten.[27]

Denn in dieser Konstruktion eines »Wir« gegen »die Oligarchie« steckt sowohl die Gefahr der Homogenisierung des »Volkes« auf der einen als auch die Exklusion des »Anderen« aus dem »Volk« auf der anderen Seite. Die Annäherung an den Rechtspopulismus wird erkennbar, wenn Chantal Mouffe erklärt, dass »der hegemoniale Kampf um die Wiederherstellung der Demokratie zuerst auf der Ebene des Nationalstaates stattfinden« müsse. Eine links19populistische Strategie könne »die starke libidinöse Involvierung, die bei nationalen – oder regionalen – Identifikationsformen am Werk ist, nicht ausblenden, und es wäre hochriskant, dieses Terrain dem Rechtspopulismus zu überlassen«.[28] Noch einen Schritt weiter geht Claire Moulin-Doos, wenn sie in Fortführung von Mouffes Argumentation die »Errichtung einer Grenze zwischen guten Demokraten und schlechten extremen Rechten« kritisiert. Rechte Populismen in Europa seien »nicht antidemokratisch per se, sie beanspruchen sogar die Demokratie für sich, sind aber antiliberal«.[29]

Vielleicht ist es an der Zeit, sich vom Begriff des »Volkes« zu verabschieden. Unweigerlich führt die Vorstellung eines »Volkes« in die Grenzen von Nationalstaaten, in denen einst das »Volk« seine Souveränität durchgesetzt hat. Heute haben die europäischen Nationalstaaten bereits eine Vielzahl von ihren Souveränitätsrechten an die Europäische Union abgegeben. Das Europäische Parlament als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger in Europa und der Europäische Gerichtshof, der die Kompetenz besitzt, Gesetze der nationalen Volksvertretungen für rechtswidrig zu erklären, sind Institutionen »jenseits« des »Volkes«.

Um gegen die Hegemonie eines globalisierten Neoliberalismus zu kämpfen, braucht es den Volksbegriff nicht, der stets die Entscheidung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit in sich birgt. Wenn Jacques Rancière argumentiert, dass Politik erst dort entsteht, wo das »Volk« von sich selbst unterschieden ist, »dort, wo die Rechnung/Zählung der Anteile und Teile der Gesellschaft von der Einschreibung eines Anteils des Anteillosen gestört wird«,[30] dann tritt der Begriff des »Volkes« bei ihm zurück zugunsten des »Sozialen«, das »in der modernen Epoche genau der Ort gewesen [sei], an dem sich die Politik abgespielt« habe.[31] Im Unterschied zu Entwürfen der Gesellschaft, die auf zunehmende Individualisierung setzen, wie zum Beispiel bei Pierre Rosanvallon, der von einer 20»Gesellschaft der Singularitäten« spricht,[32] spräche viel dafür, eben das »Soziale« in das Zentrum politischer Praxis zu rücken – gerade auch in Kritik am Neoliberalismus. Wenn Demokratie die Anerkennung der gleichen Freiheit aller ist, dann sollte heute nicht mehr das »Volk« als Akteur gelten, sondern konkrete Menschen, die über gleiche Rechte verfügen, die es zu schützen gilt, gleich aus welchem Land sie kommen, an welchem Ort sie wohnen. Solche Menschen wären eben nicht als atomisierte Monaden zu verstehen, sondern ihre Freiheit und Gleichheit könnte sich nur im Zusammenleben mit anderen Menschen entfalten. Vielleicht weist ein Begriff wie »Solidarität« in eine Richtung, die der weltumspannenden gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessener ist als das »Volk«, dem das »Völkische« nicht mehr auszutreiben ist. Oder in den Worten des deutsch-jüdischen Philosophen Ernst Bloch, geschrieben zwischen 1938 und 1947 im Exil in den USA: Erst wenn der »die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch« sich erfasst und »das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet [habe], so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«.[33]

21Volksgemeinschaft