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Edith Kneifl

Todesreigen in der Hofreitschule

Ein historischer Wien-Krimi

1. November 1900. Das Attentat

Ein ohrenbetäubender Knall, markerschütterndes Wiehern. Aus dem Inneren einer geschlossenen schwarzen Karosse ertönten gellende Schreie.

Eine zweite Detonation erschütterte die Wiener Hofburg, Fleischteile flogen durch die Luft. Begleitet von lautem Zischen und Krachen regneten Holzsplitter und Eisenstücke auf die Passanten nieder.

Die Wucht des Feuerstoßes erfasste eine junge Dame, die gerade den Michaelerplatz überqueren wollte, brachte sie zu Fall. Ein blutiger Pferdekopf landete in ihrem Schoß, Blut vermischt mit Asche breitete sich auf ihrem weißen Kleid aus. Der Saum ihres Kleides fing Feuer. Kurz danach ereilte sie die Gnade der Ohnmacht.

Ein Mann, der sich auf sie gestürzt hatte, trampelte auf ihrem Kleid herum, bis die Flammen erloschen. Dann packte er die leblose Frau unter den Armen und zerrte sie vom Tatort weg.

Vom Kutschbock fiel eine menschliche Fackel.

Zwei beherzte Passanten eilten dem schreienden Mann zu Hilfe, warfen ihre Mäntel über sein lichterloh brennendes Gewand und retteten ihm das Leben.

Die Insassen der Karosse hatten weniger Glück. Sie schafften es nicht mehr ins Freie.

Gustav von Karoly, der mit seinem leiblichen Vater, dem Grafen Batheny, im Café Central saß, hatte den lauten Knall gehört. Da er jahrelang bei der Armee gewesen war, begriff er sogleich, dass es sich um eine explodierende Sprengladung gehandelt hatte.

Als er zur Tür ging, sah er draußen aufgeregte Passanten vorbeilaufen. Er forderte seinen Vater auf mitzukommen, wartete aber nicht auf ihn, holte seinen Mantel aus der Garderobe und eilte der aufgeregten Menge nach.

Vor dem Michaelertor bot sich ihm ein schauriger Anblick. An der halb niedergebrannten Kutsche züngelten noch vereinzelt Flammen hoch. Verkohlte Leichenteile lagen zwischen den Überresten der Pferde auf dem Pflaster. Der Gestank von verbranntem Menschen- und Pferdefleisch verpestete die Luft. Auch die schwarz lackierten Holzteile der Karosse verströmten einen scheußlichen Geruch.

Kurz nach Gustav von Karoly trafen Polizei und Feuerwehr ein. Sie sperrten den Platz großräumig ab und befahlen ihm, sich zu entfernen. Leider war sein Freund Polizei-Oberkommissär Rudi Kasper nicht dabei. Er hätte ihm sicher erlaubt, den Tatort genauer zu inspizieren.

Als Gustav seinen früheren Untermieter Edi mit seinem Gefährt vor der k. u. k. Hofzuckerbäckerei Demel am Kohlmarkt entdeckte, ging er zu ihm.

Der Fiakerstandplatz am Michaelertor war anscheinend wegen des hohen Gastes in der Hofburg auf den Kohlmarkt verlegt worden. Hinter Edi standen zwei Droschken. Lautstark kommentierten die Kutscher das entsetzliche Ereignis.

Gustav bekam mit, dass es sich bei den Opfern des Attentats um den Budapester Polizeipräsidenten und um den stellvertretenden Wiener Polizeidirektor Hofrat Hoffinger handelte. Die Fiaker waren sich uneins darüber, ob das dritte Opfer, ein Schwerverletzter, auch in der Karosse gewesen war oder ob es sich um den Attentäter handelte.

Edi war nicht allein. In seinem Wagen saß eine junge Dame. Sehr bleich und völlig ermattet lehnte sie auf der rot gepolsterten Bank. Ihr weißes Kleid war blutbefleckt und völlig verdreckt.

„Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, gnädiges Fräulein?“, fragte Gustav.

Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie ihn verzweifelt an, brachte aber kein Wort heraus.

„Ein Pferdeschädel hat sie erwischt.“ Edi tippte mit dem rechten Zeigefinger auf seine Stirn – was wohl bedeutete, dass die junge Dame nicht ganz bei Sinnen war.

Gustav fand sie entzückend. Unter ihrem eng geschnürten, mit Rüschen besetzten Kleid zeichneten sich wundervolle Brüste und eine schlanke Taille ab. Ihr Kleid war hochgerutscht, gab ihre wohlgerundeten Waden und zarten Fesseln frei.

Während er dem hübschen Fräulein versicherte, dass sie sich nicht mehr in Gefahr befände, weil das Schlimmste vorüber wäre, nahmen zwei Wachmänner Edi ins Gebet. Sie forderten ihn auf mitzukommen, behaupteten, er wäre ein wichtiger Zeuge.

Edi, der einem Wachmann normalerweise meilenweit aus dem Weg ging, weigerte sich, seinen Fiaker und das hilflose Frauenzimmer im Stich zu lassen.

„Nehmt eure dreckigen Hände weg“, hörte Gustav ihn schreien.

„Herr von Karoly, so helfen Sie mir doch!“

Zögernd löste Gustav seine Augen von dem lieblichen Antlitz.

„Verraten Sie mir Ihren Namen, gnädiges Fräulein?“, fragte er sie rasch.

„Emma von Zoloto“, seufzte sie.

„Gustav von Karoly.“

Mittlerweile war ein kleiner Tumult vor dem Fiaker ausgebrochen. Einige Passanten hatten sich zu dem Trio gesellt. Edi hatte sich kräftig zur Wehr gesetzt, als ihn die beiden Polizisten links und rechts an den Armen gepackt hatten.

Die neugierigen Zuschauer waren geteilter Meinung:

„Ja, nehmts ihn mit, der hat a richtige Verbrechervisage.“

„Lasst den Mann in Frieden, der hat nichts getan.“

„Hängts den Pülcher auf!“

„Das ist doch nur ein armer Fiaker.“

„Alles Falotten, diese Fiaker …!

„Was ist los, meine Herren? Hat dieser Mann etwas angestellt?“ Gustavs hohe, vornehme Gestalt, seine elegante Kleidung und sein leicht nasaler Tonfall schienen auf die Wachmänner Eindruck zu machen. Sie lockerten ihre Griffe um Edis Oberarme.

Ein Fehler, wie sich herausstellte, denn Edi hieb ihnen seine Ellbogen in die Seiten und rannte los.

Idiot, schimpfte Gustav in Gedanken. Am liebsten wäre er ihm selbst nachgelaufen. Andererseits amüsierte er sich über die wohlbeleibten Wachmänner, die dem Flüchtenden völlig verdattert nachblickten und keinerlei Anstalten machten, ihn zu verfolgen.

„Den kriegen wir schon“, beteuerte der ältere der beiden.

„Kennen Sie diesen Kerl?“, wandte sich der andere an Gustav.

„Ja.“

„Wie heißt er?“

„Sein Name ist Edi Doubek.“

„Ah, ein rabiater Behm.“

„Aber meine Herren, wer wird denn so voreingenommen sein? Fragen Sie Polizei-Oberkommissär Rudi Kasper. Er wird Ihnen bestätigen, dass Edi Doubek zwar manchmal gachzornig, im Grunde jedoch ein friedfertiger und angenehmer Mensch ist, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann.“

Die beiden Dicken schauten Gustav zweifelnd an, waren aber zu duckmäuserisch, um sich auf ein Streitgespräch mit dem feinen Herrn einzulassen.

„Darf man nach Ihrem werten Namen fragen?“, meldete sich dann der Jüngere kleinlaut zu Wort.

Gustav von Karoly, Privatdetektiv, wohnhaft in den k. k. Hofstallungen. Ich war mit meinem Vater, dem Grafen Batheny, im Café Central, als ich die Explosion hörte.“

„Ein Privater, soso“, brummte der ältere Wachmann in seinen Schnauzbart.

Der andere hatte seinen Notizblock gezückt und fragte: „Wie buchstabiert man Bat…?“

„Sie kennen den Grafen Batheny nicht?“ Gustav gab sich entrüstet. „Wenden Sie sich an Polizei-Oberkommissär Rudi Kasper. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.“

Bevor er hocherhobenen Hauptes von dannen stolzierte, warf er noch einen Blick in Edis Kutsche.

Die schöne Fremde hatte sich während des Tumults aus dem Staub gemacht.

2. Komplizierte familiäre Verhältnisse

Als Gustav in seine Wohnung über den k. k. Hofstallungen zurückkehrte, wurde er von lauten Stimmen und fröhlichem Gelächter empfangen. Seine Tante Vera von Karoly, mit der er sich die Wohnung teilte, hatte Besuch von einigen Freundinnen und Mitkämpferinnen.

Diese politisch engagierten Damen hielten ihre wöchentlichen konspirativen Treffen normalerweise in den Räumen des Österreichischen Frauenvereins ab. In den vergangenen Wochen hatte sich der sogenannte harte Kern des Vereins öfters in der Wohnung der Karolys getroffen, da die Damen befürchteten, in ihren offiziellen Räumlichkeiten bespitzelt zu werden. Der Verdacht, dass die Geheimpolizei eine Spionin bei ihnen eingeschleust hatte, lag nahe, denn in letzter Zeit wurde ihr Journal manchmal verboten, noch bevor es erschienen war.

Vera war eine schlanke, hochgewachsene Frau Anfang fünfzig. In ihrem dunkelblonden Haar zeigten sich wenige graue Strähnen, und ihre graublauen Augen strahlten oft wie die eines jungen Mädchens. Sie war dreizehn Jahre älter als Gustav und eine Art Mutterersatz für ihn.

Gustavs Mutter war mit vierzig an Brustkrebs gestorben. Seither kümmerte sich Vera mit Hilfe von seinem ehemaligen Kindermädchen Josefa um ihn. Obwohl von Kümmern eigentlich kaum die Rede sein konnte. Vera war keine mütterliche Frau. Sie forderte ihren Neffen – sowohl intellektuell als auch emotional. Zwar liebte sie ihn sehr, zeigte ihm ihre Liebe aber selten.

Gustav verstand sich bestens mit seiner Tante, doch ihre frauenrechtlerischen Aktivitäten erleichterten ihm nicht gerade das Leben.

Die resoluten Damen des Österreichischen Frauenvereins empfingen Gustav mit schrillem Gelächter und herzhaften Küssen. Verlegen wand er sich aus der Umarmung einer alten, schwarz gekleideten Matrone, die ihm zwei herzhafte Busserln auf die Wangen drückte.

„Was ist er nur für ein fescher Mann geworden. Schaut euch den kleinen Gustl mal an! Er ist bestimmt ein schlimmer Herzensbrecher“, scherzte die Dame mit den grauen Löckchen.

Ihr Name war Baronin von Millstätt, wenn Gustav sich richtig erinnerte. Er errötete, küsste rasch Bertha, eine Jugendfreundin von Vera, auf die Wange und sah dabei seine Tante verzweifelt an.

„Was ist los?“, fragte Vera von Karoly.

„Ein Attentat in der Hofburg. Beim Michaelertor. Habt ihr den Krach nicht gehört?“

„Nein. Was ist passiert? – Ich bitte um Ruhe, meine Damen.“

Das Getratsche und Gelächter verstummte augenblicklich.

Mit wenigen Worten schilderte Gustav den Frauen das Attentat und erwähnte auch, dass die Polizei seinen ehemaligen Untermieter Edi verdächtigte, bei diesem Anschlag seine Hände mit im Spiel gehabt zu haben.

„Schwachsinn! Edi ist kein Terrorist“, empörte sich Vera.

„Wie viele Tote?“, fragte eine andere Dame.

„Zwei, vielleicht drei. Der dritte Mann ist schwer verletzt. Der Budapester Polizeipräsident soll eines der Opfer sein. Der andere Tote ist Hofrat Hoffinger, der Adlatus des österreichischen Polizeipräsidenten. Die Identität des Schwerverletzten ist noch unbekannt.“

„War bestimmt auch kein Guter“, sagte Bertha schnippisch.

Die Damen scheinen ja nicht gerade betrübt über die Ermordung der hohen Polizeibeamten zu sein, dachte Gustav.

„Anarchisten?“, fragte Rosa, eine jüngere hagere Frau, die im Gegensatz zu den anderen eher ärmlich gekleidet war. Gustav schätzte sie wegen ihres scharfen Verstandes, fürchtete sich jedoch ein bisschen vor ihr.

„Wahrscheinlich“, sagte er.

„Haben auch Unschuldige dran glauben müssen?“, fragte Vera.

„Kommt darauf an, wen du als unschuldig betrachtest. Der Kutscher scheint überlebt zu haben.“

„Gott sei Dank!“ Baronin von Millstätt bekreuzigte sich.

Daraufhin entfachte Vera eine Diskussion über die Legitimität von Terror im politischen Kampf. Die meisten der anwesenden Frauen waren Pazifistinnen, lehnten Gewalt prinzipiell ab und reagierten empört auf ihre provokanten Worte.

„Ist für den revolutionären Wandel nicht manchmal Gewalt notwendig?“, legte Vera ein Schäuflein nach.

„Das behaupten zumindest die Anarchisten“, sagte Rosa.

„Entsetzlich“, stöhnte Annemarie von Lautern, eine eher biedere ältere Dame.

„Glaubt ihr nicht, dass man sehr wohl manchmal zu ungewöhnlichen, ja sogar brutalen Mitteln greifen muss, um eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen?“, fragte Rosa.

Einige Damen fielen sogleich über sie her. Bezichtigten sie, einen Hang zur Grausamkeit zu besitzen.

„Rosa ist eben radikaler als wir“, nahm Vera ihre junge Freundin in Schutz. „Und wenn ihr ehrlich seid, macht es euch doch ebenfalls nichts aus, wenn es ein paar Henkersknechte weniger auf der Welt gibt. Denkt nur an all die Hinrichtungen unschuldiger Menschen.“

Seit wann hatte seine Tante Sympathien für Verbrecher, wunderte sich Gustav. Seiner Meinung nach waren politische Attentäter nichts anderes als Mörder.

„Versteht mich nicht falsch, selbstverständlich verurteile ich Mord und Totschlag, aber ich versuche die Verzweiflung dieser Terroristen nachzuvollziehen. Und ich hasse nichts mehr als Falschheit und Verlogenheit. Deswegen gestehe ich euch, dass ich wegen des gewaltsamen Todes dieser hohen Polizeibeamten nicht so entsetzt bin, wie ich es sein sollte. Leider wird das Attentat unserer Bewegung schaden. Das ist ein viel größeres Problem. Jeder Terroranschlag hat schlimme Restriktionen der Regierenden zur Folge, die auch uns betreffen werden. Verschärfte Überwachung, noch mehr Bespitzelung, noch mehr Kontrolle … Die Anarchisten erreichen mit ihren Anschlägen das, wogegen wir kämpfen. Und trotzdem beteuern sie, auf unserer Seite zu stehen.“

„Vera, was ist in dich gefahren? Du wirst doch nicht tatsächlich Sympathien für diese Mörder haben“, echauffierte sich Baronin von Millstätt.

„Keine Sympathie, ich teile ihre Verzweiflung.“

„Die Anarchisten wollen Angst verbreiten“, wandte Frau von Lautern ein.

„Das stimmt nicht, Annemarie. Hast du die Schriften von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin gelesen? Es geht um viel mehr, es geht um das Prinzip der Enteignung. Wenn man den Arbeitern und Arbeiterinnen keine Arbeit gibt, sollen sie nach Brot verlangen, schrieb er. Wenn sie weder Arbeit noch Brot erhalten, sollen sie sich das Brot nehmen. Ist dir bewusst, was er damit sagen wollte?“

Annemarie nickte eifrig. „Marie Antoinette hat angeblich auch gesagt: Wenn das Volk kein Brot hat, soll es Kuchen essen, oder so ähnlich. Aber wenn es kein Brot gibt, gibt es auch keinen Kuchen. Oder?“

Vera schickte der älteren Dame einen irritierten Blick. „So habe ich es nicht gemeint. Kropotkin hat behauptet, dass das Privateigentum der Grund für die Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes ist. Deshalb hat er eine umfassende Kollektivierung des Eigentums vorgeschlagen.“

„Wir sollen alle enteignet werden?“ Der gewaltige Busen der Baronin von Millstätt hob und senkte sich vor Empörung.

„Ja, im Grunde läuft es darauf hinaus. Die Anarchisten wollen den Kapitalismus und die Herrschaft des Geldes abschaffen.“

„Dagegen hätte ich absolut nichts einzuwenden“, sagte Rosa.

„Weil du ohnehin nichts besitzt“, keifte die wohlhabende Baronin.

Oh, oh, jetzt geben es sich die Damen aber gegenseitig, dachte Gustav und wollte sich rasch zurückziehen, als Dr. Dorothea Palme, Veras Patentochter, die seit einigen Monaten wieder bei den Karolys wohnte, mitten in die Diskussion hineinplatzte.

Sie kam von ihrer Arbeit im Gerichtsmedizinischen Institut. Dorothea hatte dort seit kurzem eine Stelle als Assistenzärztin.

Die junge Frau war eine auffallende Schönheit. Sie war einen Meter siebzig groß, schlank und hatte eine ausgezeichnete Figur: volle Brüste, schmale Hüften und lange Beine. Die vielen Sommersprossen, die ihre Nase und ihre Wangen zierten, und der Schalk, der in ihren blauen Augen saß, ließen sie jünger als sechsundzwanzig wirken. Ihre rotgoldene Haarpracht war schwer zu bändigen. Meistens hielt sie ihre wilden Locken mit einem Band im Nacken zusammen. Nach diesem langen Arbeitstag hingen ihr einige widerspenstige Löckchen ins Gesicht.

Gustav fand, dass sie bezaubernd aussah. Als sie mit vierzehn unglücklich in Gustav verliebt gewesen war, hatte sie ihm eine Locke geschenkt. Er hatte dieses überaus liebevolle Geschenk damals nicht so richtig zu schätzen gewusst, bewahrte die Locke aber bis heute in einem Medaillon mit dem Bild seiner verstorbenen Mutter in einer verschließbaren Schreibtischschublade auf.

Dorothea hatte bereits von dem Attentat gehört.

„Ihr müsst damit rechnen, dass die Geheimen euch und eure Aktivitäten in Zukunft noch strenger unter die Lupe nehmen werden“, sagte sie, während sie Hut und Mantel ablegte. „Zufällig habe ich im Institut eine Unterhaltung zwischen zwei Polizeibeamten belauscht. Sie waren sich einig, dass man alle unzuverlässigen und aufmüpfigen Elemente sowie die heimlichen Sympathisanten dieser Radikalen sorgfältig im Auge behalten müsse. Und ich nehme nicht an, dass sie vor den Frauenvereinen Halt machen werden.“

„Seit der Gründung unseres Vereins wird ohnehin jeder unserer Schritte beobachtet und dokumentiert. Ich fürchte, dass sie bei uns längst ihre Konfidenten eingeschleust haben.“ Bei diesen Worten sah Rosa die dicke Baronin misstrauisch an.

„Jetzt übertreibst du wieder einmal, liebe Rosa“, versuchte Bertha zu schlichten.

Ihr schien ebenso wenig wie Gustav entgangen zu sein, dass das Gesicht der Baronin knallrot angelaufen war und sie verzweifelt nach Luft schnappte.

Dorothea, die offensichtlich keine Lust auf eine neue Leiche am Seziertisch hatte, bereinigte die kritische Situation, indem sie Vera fragte: „Wo ist eigentlich Josefa?“

„Die Arme hat nach wie vor fürchterliche Zahnschmerzen. Wir haben es mit Kamillentee, Gewürznelken und Knoblauch versucht … Es hat alles nichts geholfen, nicht einmal das Schnapserl. Ich hoffe, dass sie nach dem dreifachen Wacholder wenigstens schlafen kann.“

„Sicher nicht, wenn ihr so laut seid. Die beiden Zähne müssen auf jeden Fall gezogen werden. Sie sind total verfault. Ich habe ihr das erklärt und ihr einen Kollegen empfohlen, der sehr sanft mit seinen Patienten umgeht.“

„Sie hat halt Angst.“

„Wer hat keine Angst vor Zahnärzten?“, mischte sich Bertha ein.

„Ich zum Beispiel.“ Dorothea grinste und zeigte den Damen ihre strahlend weißen Zähne.

Dorothea Palme war die Tochter von Veras Jugendfreundin Valerie, die einen Hamburger Arzt geheiratet und mit ihm in der Hansestadt Typhus und Cholera bekämpft hatte. Als Valerie nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer Tochter nach Wien zurückkehrte, setzte sie ihren Kampf gegen die Armut und die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in den Vorstädten fort. Als Frau hatte sie damals kein Medizinstudium absolvieren können, doch ihr Mann hatte ihr das Wichtigste beigebracht. Da sie ihre medizinischen Kenntnisse den Armen kostenlos zur Verfügung stellte, wurde sie eines Tages von missgünstigen und reaktionären Ärzten denunziert, der Scharlatanerie beschuldigt und in die k. k. Irrenanstalt auf dem Michelbeuerngrund abgeschoben. Ein paar Monate später erlag sie den unmenschlichen Torturen, denen sie dort unterzogen wurde. Vera und Dorothea sprachen bis heute von Mord.

Nach dem Tod ihrer Mutter lebte Dorothea eine Zeitlang bei den Karolys, ging jedoch dann nach Zürich, um Medizin zu studieren. In Wien waren damals immer noch keine Frauen an der Medizinischen Fakultät zugelassen. Nach dem Abschluss ihres Studiums bekam sie von Dr. Samuel Abendrot, einem ehemaligen Freund ihres Vaters, eine Stelle am Gerichtsmedizinischen Institut angeboten. Sie war die erste Pathologin in Wien, nahm ihre Arbeit sehr ernst, arbeitete oft zwölf Stunden täglich in dem gruseligen Institutsgebäude.

Gustav bekam sie kaum zu Gesicht, da er, wenn sie die Wohnung verließ, meistens noch schlief, und wenn sie heimkam, oft nicht zuhause war. Und das war besser so, redete er sich zumindest ein.

Gustav liebte Dorothea. Vor ein paar Monaten hatte er ihr einen etwas überstürzten Heiratsantrag gemacht. Doch sie hatte ihm den Smaragdring seiner Großmutter zurückgegeben. Anfangs war er schwer gekränkt gewesen, hatte kaum mehr ein Wort mit ihr gewechselt.

Da sie seit ihrer Rückkehr aus Zürich wieder bei ihnen wohnte, gestaltete sich ihr Zusammenleben anfangs ziemlich kompliziert. Inzwischen pflegten Dorothea und er jedoch wieder einen freundschaftlichen Umgang miteinander. Er schien sich damit abgefunden zu haben, dass sie ledig bleiben, besser gesagt, ihr Leben in den Dienst der Medizin stellen wollte.

Obwohl er sie nach wie vor abgöttisch liebte, war er inzwischen eine Affäre mit einer verheirateten Dame der besseren Gesellschaft eingegangen. Er bemühte sich nicht besonders, diese Liaison vor Dorothea geheim zu halten, und hoffte insgeheim, sie würde Anzeichen von Eifersucht zeigen. Seine Hoffnung war aber auch in dieser Hinsicht vergeblich. Sie hatte anscheinend beschlossen, sein Techtelmechtel einfach zu ignorieren.

Die Karolys wohnten über den Ställen in dem von Fischer von Erlach erbauten Palast für die Pferde des Herrscherhauses. Gustavs Großvater, Albert von Karoly, war Stallübergeher gewesen. Die große Wohnung in den k. k. Hofstallungen hatte er vom Stallmeister Seiner Majestät Kaiser Franz Joseph als Dienstwohnung zugesprochen bekommen.

Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen. Albert von Karoly, seine Gattin und ihre beiden Töchter Gisela und Vera lebten in relativem Wohlstand. Erst nach dem Tod von Gustavs Großeltern und der schweren Erkrankung von Gustavs Mutter, genannt Giselle, ging es finanziell bergab.

Giselle, eine stadtbekannte Operettensängerin mit einem fixen Engagement im Theater an der Wien, hatte sich unsterblich in den Grafen Alexander von Batheny verliebt. Gustav war das Kind dieser Liebe. Kurz nach seiner Geburt heiratete Graf Batheny auf Druck seiner Eltern die Tochter des schwerreichen Fürsten Schaumburg, zeugte mit ihr zwei Töchter, liebte aber seine Giselle bis zu ihrem Tode.

In den letzten Jahren pflegte Gustav, der seinen Vater früher abgelehnt hatte, einen regen Verkehr mit ihm und seiner Halbschwester Marie Luise.

Der Graf war seit langem Witwer und hatte seinen illegitimen Sohn inzwischen anerkannt. Gustav würde nach dem Tod seines Vaters den Grafentitel erben. Diese Aussicht war ihm, obwohl er mit einer Republik liebäugelte, absurderweise eine Genugtuung.

3. Beste Freunde

Am späten Nachmittag, als sich die Sonne längst hinter den hohen Häusern in Mariahilf verabschiedet hatte, traf sich Gustav mit seinem besten Freund Polizei-Oberkommissär Rudi Kasper im Café Sperl in der Gumpendorfer Straße.

Rudi war der Sohn eines Wirtes aus Margareten. Obwohl er aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte er mit Gustav gemeinsam das Gymnasium besucht. Er war ein kluger Kopf.

Zu Gustavs Leidwesen hatte sein Freund als Erwachsener Eigenschaften und Verhaltensweisen entwickelt, die ihm missfielen. Zum Beispiel benahm er sich dem weiblichen Geschlecht gegenüber meistens unmöglich. Die einzigen Frauen, die Rudi mit Respekt behandelte, waren Dorothea und Vera von Karoly.

Auch in ihren politischen Ansichten waren die beiden Freunde oft uneins. Während Gustav ein überzeugter Liberaler war, der jedoch das österreichische Kaiserhaus respektierte, bezeichnete sich Rudi als Sozialdemokrat und hasste den Adel. Er machte sich oft über Gustavs zukünftigen Grafentitel lustig.

Im Café Sperl waren an diesem frühen Abend einige freizügig gekleidete Sängerinnen und Tänzerinnen aus dem benachbarten Theater an der Wien und einige Künstler, vor allem Secessionisten, anwesend. Gustav mochte dieses von Schülern Theophil Hansens eingerichtete Kaffeehaus an sich gerne und überlegte, sein Büro hierher zu verlegen, denn das Sperl war von den k. k. Hofstallungen aus einfacher und schneller zu erreichen als das Café Schwarzenberg am Ring.

Früher hatte Gustav das Sperl eher gemieden, weil er schmerzliche Erinnerungen mit diesem Kaffeehaus verband. Seine Mutter hatte sich während ihrer Krankheit hier oftmals mit ehemaligen Kollegen getroffen, um Klatsch und Tratsch aus der Theaterwelt zu hören. In ihren letzten Lebensjahren waren diese Kaffeehausbesuche ihr einziges Vergnügen gewesen.

Außer Sängerinnen, Schauspielern und Malern waren auch Militärs aus der benachbarten k. u. k. Kriegsschule im Café Sperl Stammgäste. Zwei seiner ehemaligen Kameraden, die bei der militärischen Laufbahn geblieben waren, Oberstabsarzt zweiter Klasse Freiherr Wilhelm von Landau und ein anderer Offizier, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, begrüßten Gustav mit einem kurzen Nicken und widmeten sich sogleich wieder ihrer Billardpartie. Verübelten sie ihm nach wie vor seinen überstürzten Abschied von der Armee?

Gustav war nach dem Tod seiner Mutter freiwillig aus dem Militärdienst geschieden, hatte es aber immerhin zum Rang eines Oberleutnants gebracht. Wie lange war das her? Weit weg erschienen ihm die Jahre, die er in einer öden galizischen Garnisonstadt an der Grenze zum russischen Reich vergeudet hatte.

Bevor er länger bei seinen Erinnerungen an die eintönigste Zeit seines Lebens verweilen konnte, fragte ihn Rudi, wie weit sein Verhältnis mit Frau von Dalheim mittlerweile gediehen war.

Gustav hatte keine Lust, mit seinem Freund über diese Affäre zu reden, würgte seine Frage mit einer Gegenfrage ab: „Hat der Anschlag tatsächlich dem Budapester Polizeipräsidenten gegolten?“

„Ja und nein. Ich denke, der ist zum Handkuss gekommen, um es salopp auszudrücken. Wahrscheinlich hatten sie es auf den Wiener Polizeipräsidenten abgesehen. Stattdessen haben der hohe Gast aus Budapest und der Adlatus seines österreichischen Gastgebers dranglauben müssen.“

„Wenn ich mich richtig erinnere, war Hofrat Hoffinger, dem die sicherheits- und gerichtspolitische Abteilung unterstand, nicht unbedingt dein Freund?“

„Na und? Soll ich deswegen jubeln? Der Hoffinger war ein Idiot, den Tod habe ich ihm aber nicht gewünscht.“

„Wie ist es zu dieser Verwechslung gekommen?“

„Der hohe Gast aus Ungarn war vom Kaiser empfangen worden, hatte ein paar höfliche Phrasen zu hören bekommen und die Hofburg gerade verlassen wollen. Er und seine Begleiter haben kurz auf den Wiener Polizeidirektor gewartet. Der ließ ihnen ausrichten, sie sollten vorausfahren, er würde sich verspäten und mit einem anderen Wagen nachkommen. Als die Kutsche mit seinem ungarischen Gast unterm Michaelertor explodierte, befand er sich noch im kaiserlichen Vorzimmer und konferierte mit dem Innenminister. Die Anarchisten haben also ziemlich sicher die falsche Karosse in die Luft gesprengt. Der Kutscher hat übrigens überlebt, er hat aber schwere Brandverletzungen.“

„Und ihr wisst bereits, dass dieser Sprengstoffanschlag von Anarchisten verübt worden ist?“

„Wer soll es sonst getan haben? Seit der blutigen Niederschlagung der Pariser Commune durch die französische Regierung im 1871er-Jahr kommt es in ganz Europa zu Terroranschlägen von militanten Anarchisten. Diese Dynamitarden, wie wir die Sprengstoffattentäter nennen, verbreiten sich wie die Schwammerln, vor allem im russischen und im deutschen Reich. Denk an deine geliebte Kaiserin Elisabeth. Ihre Majestät ist zwar nicht von einem Dynamitarden umgebracht worden, aber so einem Anarchisten reicht auch manchmal eine Feile …“

„Erinnere mich nicht daran. Das war einer der schwärzesten Tage meines Lebens!“ Gustav, der Ihre Majestät Kaiserin Elisabeth sehr verehrt hatte, bekam prompt feuchte Augen.

„Das Wetter war übrigens ideal für einen Sprengstoffanschlag. Solche Attentate gelingen meist nur bei trockenem Wetter, sonst funktionieren die Zünder für die Granaten nicht verlässlich. – Es waren wahrscheinlich zwei Täter. Die erste Granate hat ihr Ziel verfehlt, ist vor den Füßen der Pferde gelandet. Das zweite Geschoss, eine mit Dynamit gefüllte Dose, ist aus einer anderen Richtung gekommen und hat direkt die edle Karosse getroffen.“

„Deine Kollegen scheinen zu glauben, dass ein tschechischer Nationalist diesen Anschlag verübt hat. Zumindest verdächtigen sie unseren Fiaker Edi, weil er zur fraglichen Zeit am Tatort war. Er bezeichnet sich übrigens selbst gerne als radikalen Sozialisten, obwohl er im Grunde keine Ahnung von Politik hat. Eure Leute haben ihn jedenfalls gleich mitnehmen wollen.“

„Ah, das war der Edi! Ich habe von diesem Verdächtigen gehört. Er ist ihnen entwischt, oder?“

„Zum Glück, ja. Edi ist ein Prahlhans, hat aber ein weiches Herz. Wenn eines seiner Pferde krank ist, sitzt er die ganze Nacht lang neben dem Tier im Stall. Vergiss ihn! Er kommt keinesfalls als Täter in Frage.“

„Der Gedanke, dass es sich um den Racheakt eines tschechischen Nationalisten handeln könnte, ist nicht komplett von der Hand zu weisen. Denk an die Brutalität der Polizei beim letzten Aufstand der hungernden Ziegelbehm. Vize-Polizeidirektor Hoffinger hat damals seine Leute angewiesen, in die aufgebrachte Menge zu schießen. Vierzehn Tote und zahlreiche Verwundete, darunter viele Kinder unter zwölf Jahren. So ein Gemetzel schreit doch förmlich nach Rache. Dabei haben die Leute nur was zum Essen verlangt. Die sind alle unterernährt und müssen sechzehn Stunden am Tag hackeln. Da würde ich auch durchdrehen.“

„Soviel ich weiß, haben sie nur mit Pflastersteinen geworfen.“

„Ja, aber als ein Stein den fetten Wanst eines Berittenen getroffen hat und der daraufhin vom Pferd gefallen ist, hat dieser kleine Zwischenfall sogleich den Schussbefehl zur Folge gehabt. Der Hoffinger war eben ein brutaler Hund.“

„Der Gaul hat bestimmt die Gelegenheit genützt, um diesen Fettwanst endlich loszuwerden.“

Rudi musste bei Gustavs Worten wider Willen grinsen.

„Die Ziegelbehm engagieren sich normalerweise nicht politisch. Das sind keine Nationalisten. Sie machen diese Drecksarbeit, um zu überleben, und haben ständig Angst, arbeitslos zu werden“, fuhr er fort.

„Tschechen sind halt in Wien nicht gern gesehen. Sie haben einen schlechten Ruf.“

„Nichts als idiotische Vorurteile der Deutschnationalen. Die benötigen immer ein Feindbild, einen Sündenbock, besser gesagt. Entweder sind es die Juden oder die Zigeuner, oder eben die Tschechen. Warst du schon mal draußen am Wienerberg in einer der Barackensiedlungen? Hast du gesehen, wie die Leute dort hausen?“

„Ein einziges Mal, und das hat mir gereicht.“

„Als ich bei der Sicherheitswache angefangen habe, bin ich ständig nach Favoriten rausgeschickt worden. Auch heute kommt es oft zu Messerstechereien und anderen Gewaltdelikten in diesem Bezirk.“

„Elend und Armut erzeugen notgedrungen Kriminalität“, murmelte Gustav.

„Für den Bau der Wiener Ringstraße hat man die Leute dringend gebraucht, hat sie extra aus Böhmen und Mähren herangekarrt. Und dann hat man sie ausgepresst wie Zitronen. Die Ziegelbehm sind die schlechtbezahltesten Arbeiter der Welt. Einquartiert hat man sie in elendiglichen Baracken. Bis zu siebzig Leute schlafen in einem Raum. In einiger Entfernung von den Hütten wurden Löcher ausgehoben, darüber Pfosten gelegt – dort müssen sie ihre Notdurft verrichten. Der Gestank in dieser Siedlung ist bestialisch, vor allem bei Ostwind.“

„Hör auf, mir wird gleich schlecht.“

„Hast du mal einem Ziegelschläger zugeschaut? Körperlich bin ich gut beieinander, aber so eine Hacken würde ich keinen Tag durchhalten. Ein Lehmscheiber muss zum Beispiel für tausend Ziegel zweiunddreißig Scheibtruhen führen. Der legt täglich mindestens sieben Kilometer mit den schweren Scheibtruhen zurück. Am Schlagtisch stehen auch Frauen und schlagen die Ziegel in eigene Formen. Angeblich siebentausend Ziegel pro Woche. In die Formen wird zuerst Sand gestreut, damit die Ziegel nicht haften bleiben. Diese Arbeit wird von den Sandlern erledigt. Das sind Leute, die zu keiner anderen Arbeit taugen.“

„Mir musst du das nicht erzählen. Ich war, wie gesagt, einmal da draußen – meine Tante hatte mich mitgeschleppt. Als ich all den ausgemergelten Frauen zugesehen habe, wie sie den Mörtel mischten …“

„Du meinst die Maltaweiber?“

„Ja. Noch mehr entsetzt war ich über die vielen Kinder, die Schwerstarbeit verrichtet haben. Vera hat damals eine Reportage über die hohe Kindersterblichkeit in den Elendsquartieren geschrieben. Vier Familien haben sich einen Raum geteilt. Es hat keine sanitären Einrichtungen gegeben, das Wasser zum Waschen haben sie den Tümpeln der Lehmgruben entnommen. In diesem einen Raum hat sich alles unter den Augen der Kinder abgespielt: Sexualität, Geburt, Tod. Die Gschrappen waren voller Krätze und hatten Hungerbäuche. Ich sage dir, ich hab nachher tagelang keinen Bissen mehr hinuntergebracht.“

„Dein Mitgefühl in Ehren! Davon haben aber diese armen Leute nichts. Mich wundert’s nicht, dass die Kleinen stehlen wie die Raben. ‚Der Hungernde hat das Recht auf ein Stück Brot seines Nachbarn‘, hat mal irgendein englischer Kardinal, ich glaube, er hieß Manning, gesagt. Mundraub ist also selbst für die Vertreter der heiligen römisch-katholischen Kirche kein Verbrechen.“

„Vera und ich waren an einem Sonntag dort. Schließlich wollte sie ja die Frauen befragen. Wir haben tatsächlich fast nur Frauen und Kinder angetroffen.“

„Kein Wunder, die Männer schmeißen sonntags ihren kümmerlichen Wochenlohn im Böhmischen Prater für Hutschen, Bier und mechanische Karussells raus. Der Prater für die Armen, den sie im Laaer Wald auf den Gründen der Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft errichtet haben, füllt die Hosensäcke der Kriminellen mit einem Haufen Geld. Es würde mich nicht wundern, wenn die Fabrikbesitzer an den Einkünften beteiligt wären.“

„Das hat Vera auch vermutet.“

„Ich war unlängst mal in so einem Gasthaus am Laaerberg. Die Luft war zum Speiben. Eine Mischung aus Rauch, Staub und menschlichen Ausdünstungen. Während des Fünf-Kreuzer-Tanzes haben sich einige Frauenzimmer tatsächlich übergeben müssen. Die anwesenden Soldaten schienen das lustig zu finden, haben gebrüllt vor Lachen und zu stänkern angefangen. Eine Rauferei war unausweichlich. Die Arbeiter waren in der Überzahl, haben es den besoffenen Vaterlandsverteidigern ordentlich gegeben. Ich bin heute noch froh, dass sie nicht gewusst haben, dass ich ein Polizeibeamter bin, denn sonst hätten sie mich womöglich auch zusammengeschlagen.“

„Die Soldaten?“

„Nein, die Hackler …“

„Das hast du mir nie erzählt.“

„Warum auch? Hätte ich dich aus deinem Elfenbeinturm aufscheuchen und deine zarten Gefühle verletzen sollen? Du hast keine Ahnung, was sich in unserer Reichshaupt- und Residenzstadt wirklich abspielt.“

Nach dem zweiten Kapuziner, einem Mocca mit wenigen Tropfen Schlagobers, die dem Kaffee die Farbe einer Kapuzinerkutte verliehen, drängte Rudi zum Aufbruch.

„Lass uns woanders hingehen. Ich fühle mich unter all diesen hochnäsigen Künstlern und Offizieren nicht wohl.“

Gustav ahnte, welche Art von Lokal sein Freund aufsuchen wollte. „Ich trinke gerne noch hier ein Bier mit dir, aber dann muss ich nach Hause. Meine Schwester Marie Luise hat Dorothea und mich eingeladen, mit ihr morgen früh der Messe in der Hofburgkapelle beizuwohnen.“

„Wirst du auf deine alten Tage fromm?“

„Ach was! Dorothea möchte unbedingt einmal die Hofburgsängerknaben hören.“

„Na gut, lass uns aufbrechen. Ich muss ebenfalls früh raus. Ein ungarischer Kollege, mit dem ich bereits bei einem anderen Fall zusammengearbeitet habe, kommt heute Abend nach Wien. Ich werde ihm morgen beim Frühstück in seinem Hotel Gesellschaft leisten.“

„Will er euch bei den Ermittlungen auf die Finger schauen?“

„Vielleicht. Istvan von Serényi ist jedenfalls ein kluger Kopf. Ich bin froh, wenn er mich unterstützt, denn meine eigenen Leute sind mir keine große Hilfe. Am liebsten würden sie die üblichen Verdächtigen festnehmen und irgendeinem armen Schwein das Attentat vor der Hofburg anhängen, nur damit sie diesen Fall rasch wieder los sind.“

4. Der ungarische Major

Die Comtesse von Batheny hatte bei der Messe in der Hofburgkapelle Bekannte getroffen und sich mit ihnen ins Hotel Sacher begeben, um dort zu frühstücken. Sie hatte Gustav und Dorothea gebeten mitzukommen. Die beiden hatten sich angesehen und gesagt, dass sie lieber heimgehen und Vera Gesellschaft leisten wollten.

„Graf Basti und Gräfin Bumsti können mir gestohlen bleiben“, kicherte Dorothea. „Aber ich bin Marie Luise sehr dankbar, dass sie uns heute mitgenommen hat. Die Kapellknaben waren grandios. Ich habe noch nie in meinem Leben so wunderbare Knabenstimmen gehört.“

Glücklich lächelnd tätschelte Gustav ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht.

Der Tag war gerettet!

Sie standen vor der Schatzkammer im Schweizerhof. Der Himmel war blau. Es war kalt, doch einige Sonnenstrahlen hatten sich in den Renaissancehof verirrt, tauchten ihn in ein helles, freundliches Licht.

Dorothea schien das bis an die Zähne bewaffnete Wachpersonal zu missfallen. „Hier sind mir zu viele Schießwütige. Lass uns lieber spazieren gehen“, schlug sie vor und hängte sich bei ihm ein.

Arm in Arm lustwandelten sie über den Kohlmarkt. An der zugigen Ecke zum Graben stießen sie auf Polizei-Oberkommissär Rudi Kasper und einen großen, schlanken Mann in einer farbenprächtigen Uniform.

„Major Istvan von Serényi“, stellte Rudi seinen ungarischen Gast vor.

Der Major verbeugte sich tief vor Dorothea und küsste ihr galant die Hand. Gustav bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick, erwiderte jedoch seinen freundlichen Gruß.

Der Ungar besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Gustav, war ebenso groß wie er und hatte auch dunkelbraune Augen und schwarzes, leicht gewelltes Haar. Allerdings trug er keinen Schnurrbart und seine Gesichtszüge waren gröber.

Während sie zu viert über den Graben schlenderten, bemerkte Istvan von Serényi, dass er den Stephansdom gerne von innen sehen würde: „Bei uns in Budapest wird auch gerade eine St.-Stephans-Basilika errichtet. Es soll die größte Kathedrale Ungarns werden.“

Dorothea erklärte sich sofort bereit, ihm den Wiener Dom zu zeigen.

Die Frühmesse war vorbei, als sie am Stephansplatz ankamen. Rudi hatte offensichtlich keine Lust, in die Kirche zu gehen. Er schlug vor, mit Gustav im Café gegenüber auf Istvan und Dorothea zu warten.

„Das ist eine ausgezeichnete Idee. Gustav hat ja seit einem seiner letzten Fälle, bei dem er auf unzählige tote Kinder in den Katakomben gestoßen ist, eine Aversion gegen den Steffl“, sagte Dorothea mit ernster Miene zu Istvan von Serényi.

„Von diesem Fall müssen Sie mir unbedingt berichten, Herr von Karoly“, bat ihn der ungarische Major.

„Später.“ Dorothea schritt energisch voran.

Dem Major blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Und Gustav blieb nichts anderes übrig, als Dorothea mit dem schneidigen Ungarn ziehen zu lassen.

Als die beiden eine halbe Stunde später aus dem Dom kamen, wirkten sie recht vertraut miteinander. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lächelte vergnügt. Gustav spürte Zornesröte in sein Gesicht schießen. Dorothea und der fesche Magyar waren seiner Meinung nach vom ersten Augenblick an zu gut miteinander ausgekommen.

Er schalt sich selbst einen Idioten, weil er nach wie vor Besitzansprüche an sie stellte. Hatte sie ihm nicht letztens, als sie ihm den Smaragdring seiner Großmutter zurückgab, eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie ihn nicht liebte?

Bevor sie oder einer der Männer ein gemeinsames Mittagessen vorschlagen konnten, verabschiedete Gustav sich rasch von seinem Freund und dessen Gast: „Wir müssen nach Hause. Sonntags gibt es bei uns Schnitzel mit Erdäpfelmayonnaisesalat. Josefa würde uns nie verzeihen, wenn wir zu spät kommen, nicht wahr, Dorothea?“

Er bemerkte ihr Zögern. Zum Glück hörte sie ausnahmsweise auf ihn, verabschiedete sich von Rudi und dem Major und hängte sich bei ihm ein.

Auf dem Heimweg warf Gustav Dorothea vor, mit Istvan von Serényi geflirtet zu haben: „Angehimmelt hast du ihn wie ein Schulmädchen.“

„Spinnst du?“ Dorothea entzog ihm ihren Arm und lief ein paar Schritte voraus.

Er hatte sie bald eingeholt: „Sei ehrlich, er gefällt dir, oder?“

„Und wenn es so wäre? Was geht es dich an?“ Sie funkelte ihn mit ihren wunderschönen blauen Augen, die im kalten Novemberlicht fast dunkelblau wirkten, wütend an. Wieder einmal staunte er darüber, dass sie ihre Farbe wechseln konnten wie ein Chamäleon.

„Er ist bestimmt verheiratet.“

„Ist er nicht.“

„Wieso weißt du das? Seid ihr bereits so intim miteinander?“

„Ach Gustl, lass mich in Ruh!“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

Er kam sich wie eine lästige Fliege vor.

„Hat er dir explizit gesagt, dass er ledig ist?“ Er konnte es einfach nicht lassen.

„Hat er nicht. Ich spüre es, wenn ein Mann in festen Händen ist.“

„Das bildest du dir zumindest ein.“

„Halt lieber deinen Mund. Ich weiß zum Beispiel, dass du momentan wieder eine Geliebte hast …“

„Ah, Mademoiselle verfügen über den sechsten Sinn?“

„Mach dich nur lustig über mich. Du bist und bleibst ein Gigolo, egal, wie oft du beteuerst, mich zu lieben. Ich möchte keinen Mann, der seine Finger nicht von anderen Frauen lassen kann.“

„Soll ich ins Kloster gehen, weil du mich nicht willst?“

Sein aggressiver Tonfall tat ihm sogleich leid. Bevor er sich dafür entschuldigen konnte, sagte sie: „Ich habe dich vor kurzem mit deiner neuen Flamme gesehen. Als ich mit der Elektrischen am Ring beim Rathauspark vorbeigefahren bin, wäre ich fast in Ohnmacht gefallen. Wen sah ich Arm in Arm aus dem Park kommen? Dich und die fesche Ada von Dalheim. Hast du denn keine Angst, dass ihr Mann von eurer Affäre Wind bekommt? Du bist mehr als leichtsinnig, lieber Freund.“

„Mir ist alles egal, seit du unsere Verlobung gelöst hast.“

„Wovon sprichst du? Wir waren nie miteinander verlobt. Du hast mir in einem abfahrenden Zug den Smaragdring deiner Großmutter an den Finger gesteckt. Aber ich habe nicht Ja gesagt. Im Gegenteil, ich habe deinen Antrag abgelehnt. Leidest du etwa an Gedächtnisverlust?“

„Du hast mir falsche Hoffnungen gemacht. Außerdem bist du sowieso eine Meisterin im Auflösen von Verlobungen. Deinen Züricher Arzt hast du ja auch von heute auf morgen in die Wüste geschickt.“

„Ich bitte dich, Gustav, lass diese alten Geschichten ruhen. Ich will deine Freundschaft nicht verlieren. Du bist wie ein Bruder für mich …“

„Oh Gott!“

Schlimmeres hätte sie kaum sagen können. Gustav raufte sich das Haar.

„I…ich bin n…nicht d…d…dein Bruder“, stammelte er.

5. Unliebsames Geplänkel im Café Schwarzenberg

Am Montagmorgen betrat Gustav von Karoly um zwanzig nach elf das Café Schwarzenberg. Er erschien dort jeden Montag, Mittwoch und Freitag um zehn Uhr vormittags. Heute hatte er sich ziemlich verspätet. Der Tisch links vom Eingang war jedoch nach wie vor für ihn reserviert.